XV

Die zweihundert Mann des neuen Bergungskommandos waren in einer langen Reihe über die Straße verteilt. Es war das erste Mal, daß sie innerhalb der Stadt zum Aufräumen eingesetzt wurden. Bisher hatte man sie nur in den eingestürzten Fabriken der Vororte beschäftigt. Die SS hatte die Ausgänge der Straße besetzt und außerdem Mannschaften der Länge nach über die linke Seite als Wachen verteilt. Die Bomben hatten hauptsächlich die rechte Seite getroffen; Mauern und Dächer waren über den Fahrdamm gestürzt und machten fast jeden Verkehr unmöglich. Die Häftlinge hatten nicht genug Schaufeln und Hacken; sie mußten zum Teil mit den bloßen Händen arbeiten. Die Kapos und Vorarbeiter waren nervös; sie wußten nicht, ob sie prügeln und antreiben oder sich zurückhalten sollten. Zivilisten war es zwar untersagt, die Straße zu benutzen; aber die Mieter, die in den heilgebliebenen Häusern wohnten, konnten nicht hinausgeworfen werden. Lewinsky arbeitete neben Werner. Beide hatten sich mit einer Anzahl gefährdeter politischer Gefangener zum Bergungskommando gemeldet. Die Arbeit war schwerer als anderswo; aber sie waren auf diese Weise tagsüber dem Zugriff der SS im Lager entzogen; abends, nach dem Einrücken, wenn es dunkel war, konnten sie sich dann bei Gefahr leichter unsichtbar machen und unauffindbar bleiben. »Hast du gesehen, wie die Straße heißt?« fragte Werner leise. »Ja.« Lewinsky grinste. Die Straße hieß Adolf-Hitler-Straße. »Heiliger Name. Hat aber gegen Bomben nichts genützt.«

Sie schleppten einen Balken fort. Die Rücken ihrer gestreiften Jacken waren dunkel von Schweiß. An der Sammelstelle trafen sie auf Goldstein. Er war trotz seines schwachen Herzens mit zum Kommando gekommen, und Lewinsky und Werner hatten nichts dagegen gesagt – er gehörte zu den gefährdeten Häftlingen. Sein Gesicht war grau. Er schnupperte. »Es stinkt hier. Nach Leichen. Nicht nach frischen – hier müssen noch alte Leichen liegen.« »Stimmt.« Sie kannten das. Sie wußten genau, wie Leichen rochen. Sie schichteten jetzt losgebrochene Steine neben einer Mauer auf. Der Mörtel wurde in kleinen Wagen fortgeschafft. Hinter ihnen, auf der anderen Seite der Straße, befand sich ein Kolonialwarenladen. Die Fenster waren geplatzt; aber einige Plakate und Kartons waren schon wieder in die Auslage hineingestellt worden. Ein Mann mit einem Schnurrbart schaute hinter ihnen hervor. Er hatte eines der Gesichter, die man 1933 in Mengen bei Demonstrationen hinter Schildern mit der Aufschrift:»Kauft nicht bei Juden« gesehen hatte. Der Kopf schien durch die Rückwand des Schaufensters abgeschnitten zu sein – ähnlich wie bei billigen Fotografien auf Rummelplätzen, wo die Klienten ihre Köpfe über gemalte Kapitänsuniformen halten. Dieser stand über leeren Schachteln und verstaubten Plakaten; es schien zu ihm zu passen. In einem unzerstörten Torweg spielten Kinder. Neben ihnen stand eine Frau in einer roten Bluse und blickte auf die Gefangenen. Ein paar Hunde brachen plötzlich aus dem Torweg und rannten über die Straße zu den Sträflingen hinüber. Sie schnupperten an ihren Hosen und Schuhen, und einer wedelte und sprang an dem Sträfling Nr. 7105 hoch. Der Kapo, der diesen Abschnitt beaufsichtigte, wußte nicht, was er tun sollte. Der Hund war ein Zivilhund und kein Mensch; trotzdem schien es ungebührlich, daß er freundlich zu einem Sträfling war, besonders in Gegenwart der SS. 7105 wußte noch weniger Rat. Er tat das einzige, was ein Gefangener tun konnte; er stellte sich, als sei das Tier nicht da. Aber der Hund folgte ihm; er hatte eine rasche Zuneigung zu ihm gefaßt. 7105 bückte sich und arbeitete mit angestrengtem Eifer. Er war besorgt; der Hund konnte seinen Tod bedeuten. »Weg da, Lauseköter«, schrie der Kapo endlich und hob einen Knüppel. Er hatte seinen Entschluß gefaßt; es war immer besser, scharf zu sein, wenn die SS zusah. Aber der Hund kümmerte sich nicht um ihn; er sprang und tanzte wieder um 7105 herum. Es war ein großer, braunweißer deutscher Vorstehhund. Der Kapo hob Steine und warf nach ihm. Der erste Stein traf 7105 am Knie; erst der dritte traf den Hund quer gegen den Bauch. Das Tier heulte auf, sprang beiseite und bellte den Kapo an. Der Kapo hob den nächsten Brocken. »Scher dich weg, du Aas!« Der Hund wich aus, aber er lief nicht weg. Geschickt machte er einen Bogen und sprang den Kapo an. Der Mann stürzte über einen Haufen Mörtel, und der Hund stand sofort knurrend über ihm. »Hilfe!« schrie der Kapo und verhielt sich still. Die SS-Leute in der Nähe lachten. Die Frau in der roten Bluse kam herangelaufen. Sie pfiff dem Hund. »Hierher! Sofort hierher! O dieser Hund! Bringt einen noch ins Unglück!« Sie zerrte ihn hinweg, in den Torbogen hinein. »Er ist 'rausgelaufen«, sagte sie ängstlich zu dem nächsten SS-Mann. »Bitte! Ich habe es nicht gesehen! Er ist weggelaufen! Er wird Prügel dafür kriegen!« Der SS-Mann grinste. »Dem da hätte er ruhig ein Stück von seiner dämlichen Fresse wegbeißen können.« Die Frau lächelte schwach. Sie hatte geglaubt, der Kapo gehöre zur SS. »Danke! Danke vielmals! Ich werde ihn gleich anbinden!« Sie zog den Hund am Halsband fort, aber streichelte ihn plötzlich. Der Kapo klopfte sich den Kalkstaub ab. Die SS-Wachen grinsten immer noch. »Warum hast du ihn nicht gebissen?« rief einer dem Kapo zu.

Der Kapo antwortete nicht. Das war immer besser. Er klopfte noch eine Zeitlang an sich herum. Dann stapfte er ärgerlich zu den Häftlingen hinüber. 7105 bemühte sich gerade, ein Klosett aus dem Haufen von Steinen und Mörtel hervorzuziehen. »Los, fauler Hund!« zischte der Kapo und gab ihm einen Tritt in die Kniekehle. 7105 fiel nieder und hielt sich mit den Armen am Klosettdeckel fest. Alle Häftlinge beobachteten den Kapo aus den Augenwinkeln. Der SS-Mann, der mit der Frau gesprochen hatte, schlenderte jetzt heran. Er ging auf den Kapo zu und stieß ihn von hinten mit dem Stiefel an. »Laß den da in Ruhe! Der ist nicht schuld. Beiß lieber den Hund, du Nachteule!« Der Kapo drehte sich überrascht um. Die Wut schwand aus seinem Gesicht und wich einer dienstfertigen Grimasse. »Jawohl! Ich wollte nur -« »Los!« Er bekam einen zweiten Stoß in den Bauch, stand halbwegs stramm und trollte sich. Der SS-Mann schlenderte zurück. »Hast du das gesehen?« flüsterte Lewinsky Werner zu. »Zeichen und Wunder. Vielleicht hat er es wegen der Zivilisten gemacht.« Die Häftlinge beobachteten verstohlen weiter die andere Seite der Straße, und die andere Seite der Straße beobachtete sie. Sie waren nur wenige Meter voneinander getrennt; aber es war weiter, als wenn sie auf zwei verschiedenen Erdteilen gelebt hätten. Die meisten der Gefangenen sahen zum ersten Male, seit sie eingesperrt waren, die Stadt so nahe. Sie sahen wieder Menschen ihren täglichen Gewohnheiten nachgehen. Sie sahen es wie Dinge auf dem Mars. Ein Dienstmädchen in einem blauen Kleid mit weißen Punkten putzte in einer Wohnung die heilgebliebenen Fenster. Es hatte die Ärmel aufgekrempelt und sang. Hinter einem anderen Fenster stand eine alte, weißhaarige Frau. Die Sonne fiel auf ihr Gesicht und auf die offenen Vorhänge und die Bilder des Zimmers. An der Ecke der Straße befand sich eine Apotheke. Der Apotheker stand vor der Tür und gähnte. Eine Frau in einem Pelzmantel aus Leopardenfell ging sehr nahe an den Häusern entlang über die Straße. Sie trug grüne Handschuhe und Schuhe. Die SS an der Ecke hatte sie durchgelassen. Sie war jung und trippelte geschmeidig über die Schutthaufen. Viele Gefangene hatten seit Jahren keine Frau mehr gesehen. Alle bemerkten sie; aber niemand sah ihr nach, außer Lewinsky. »Paß auf!« flüsterte Werner ihm zu. »Hilf hier.« Er zeigte auf ein Stück Stoff, das unter dem Mörtel hervorkam. »Da liegt jemand.« Sie scharrten den Mörtel und die Steine beiseite. Ein völlig zerschmettertes Gesicht mit blutigem, kalkverschmiertem Vollbart kam darunter hervor. Eine Hand war dicht daneben; der Mann hatte sie wahrscheinlich zum Schutz erhoben, als das Gebäude einstürzte. Die SS-Leute auf der anderen Seite der Straße riefen der zierlich kletternden Person in dem Leopardenmantel aufmunternde Witze zu. Sie lachte und kokettierte. Plötzlich begannen die Sirenen zu heulen. Der Apotheker an der Ecke verschwand in seinem Laden. Die Frau im Leopardenfell erstarrte und rannte dann zurück. Sie fiel über die Schutthaufen; ihre Strümpfe zerrissen, und ihre grünen Handschuhe wurden weiß vom Kalkstaub. Die Häftlinge hatten sich aufgerichtet. »Stehenbleiben! Wer sich rührt, wird erschossen!« Die SS von den Straßenecken rückte heran. »Aufschließen! Gruppen formieren, marsch, marsch!« Die Häftlinge wußten nicht, welchem Kommando sein gehorchen sollten. Ein paar Schüsse fielen bereits. Die SS-Wachen von den Straßenecken trieben sie schließlich zu einem Haufen zusammen. Die Scharführer berieten, was sie tun sollten. Es war erst die Vorwarnung; aber alle blickten unruhig jeden Augenblick nach oben. Der strahlende Himmel schien heller und düsterer zugleich geworden zu sein. Die andere Straßenseite wurde jetzt lebendig. Leute, die vorher nicht zu sehen gewesen waren, kamen aus den Häusern. Kinder schrieen. Der Kolonialwarenhändler mit dem Schnurrbart schoß mit giftigen Blicken aus seinem Laden und kroch wie eine fette Made über die Trümmer. Eine Frau in einem karierten Umhängetuch trug sehr vorsichtig einen Bauer mit einem Papagei weit ausgestreckt vor sich her. Die weißhaarige Frau war verschwunden. Das Dienstmädchen rannte mit hochgehobenen Röcken aus der Tür. Lewinskys Augen folgten ihr. Zwischen ihren schwarzen Strümpfen und der prallen blauen Hose schimmerte das weiße Fleisch ihrer Beine. Hinter ihr kletterte eine dünne, alte Jungfer wie eine Ziege über die Steine. Es war plötzlich alles umgekehrt; die friedliche Ruhe auf der Seite der Freiheit war jäh zerstört; angstvoll stürzten dort die Menschen aus ihren Wohnungen und liefen um ihr Leben zu den Luftschutzkellern. Die Häftlinge auf der gegenüberliegenden Seite dagegen standen jetzt schweigend und ruhig vor den zerstörten Mauern und sahen die Fliehenden an. Einem der Scharführer schien das aufzufallen. »Ganze Abteilung kehrt!« kommandierte er. Die Sträflinge starrten jetzt auf die Ruinen. Die Trümmer waren grell von der Sonne bestrahlt. Nur in einem der gebombten Häuser war ein Durchgang zu einem Keller freigeschaufelt worden. Dort sah man Stufen, ein Eingangstor, einen dunklen Korridor und in dem Dunkel einen Streifen Licht von einem nach hinten führenden Ausgang. Die Scharführer waren unschlüssig. Sie wußten nicht, wohin mit den Sträflingen. Keiner dachte daran, sie in einen Luftschutzkeller zu führen; die Keller waren ohnehin voll von Zivilisten. Aber die SS hatte auch kein Interesse daran, selbst ungeschützt zu bleiben. Einige von ihnen durchsuchten rasch die nächsten Häuser. Sie fanden einen betonierten Keller. Der Ton der Sirenen wechselte. Die SS lief auf den Keller los. Sie ließ nur zwei Posten im Hauseingang und je zwei an den Straßeneingängen zurück. »Kapos, Vormänner, aufpassen, daß keiner sich muckst! Wer sich bewegt, wird erschossen!« Die Gesichter der Häftlinge spannten sich. Sie blickten auf die Mauern vor sich und warteten. Es war ihnen nicht befohlen worden, sich hinzulegen; die SS konnte sie stehend besser überwachen. Stumm standen sie, zu einem Haufen gedrängt, umkreist von den Kapos und Vormännern. Zwischen ihnen lief der Vorstehhund umher. Er hatte sich losgerissen und suchte 7105. Als er ihn fand, sprang er an ihm hoch und versuchte, sein Gesicht zu lecken. Für einen Augenblick verstummte der Lärm. In die unerwartete Stille, die wie ein luftleerer Raum war und an allen Nerven riß, klangen plötzlich die Töne eines Klaviers. Sie klangen laut und klar und waren nur kurze Zeit deutlich hörbar; Werner erkannte trotzdem, in der ungeheuren Bereitschaft des Lauschens, daß es der Chor der Gefangenen aus Fidelio war, der gespielt wurde. Es konnte kein Radio sein; das spielte keine Musik bei Fliegeralarm. Es mußte ein Grammophon sein, das vergessen wurde, abzustellen, oder aber es war jemand, der bei offenem Fenster Klavier spielte. Der Lärm setzte wieder ein. Werner klammerte sich mit aller Konzentration an die wenigen Töne, die er gehört hatte. Er preßte die Kiefern zusammen und versuchte, sie im Gedächtnis weiterzuführen. Er wollte nicht an Bomben und Tod denken. Wenn es ihm gelang, die Melodie zu finden, würde er gerettet werden. Er schloß die Augen und fühlte die harten Knoten der Anstrengung hinter der Stirn. Er durfte nicht jetzt noch sterben. Nicht auf diese sinnlose Weise. Er wollte nicht einmal daran denken. Er mußte die Melodie finden; die Melodie dieser Gefangenen, die befreit wurden. Er ballte die Fäuste und versuchte, die Töne des Klaviers weiter zu hören; aber sie waren ertrunken im metallischen Toben der Angst. Die ersten Explosionen erschütterten die Stadt. Das Gellen der stürzenden Bomben schnitt durch das Sirenengeheul. Der Boden zitterte. Von einer Mauer fiel langsam ein Stück Gesims. Einige der Gefangenen hatten sich in den Schutt geworfen. Vorarbeiter rannten heran. »Aufstehen! Aufstehen!« Man hörte ihre Stimmen nicht. Sie zerrten an den Leuten. Goldstein sah, wie einem Gefangenen, der sich hingeworfen hatte, der Schädel brach und Blut heraussprudelte.

Der Mann, der neben ihm stand, griff nach seinem Bauch und fiel vornüber. Es waren keine Bombensplitter; es war die SS, die schoß. Die Schüsse waren nicht zu hören gewesen. »Der Keller!« rief Goldstein durch den Lärm Werner zu. »Dort der Keller! Sie werden uns nicht verfolgen!« Sie starrten auf den Eingang. Er schien größer zu werden. Die Dunkelheit darin war kühle Rettung. Sie war ein schwarzer Strudel, dem zu widerstehen. fast unmöglich schien. Die Häftlinge starrten wie hypnotisiert hin. Ihre Reihen wankten. Werner hielt Goldstein fest. »Nein!« Er starrte selbst auf den Keller und schrie durch den Lärm. »Nein! Nicht! Alle würden erschossen werden! Nein! Stehenbleiben!« Goldsteins graues Gesicht drehte sich ihm zu. Die Augen lagen wie flache, glänzende Schieferstücke darin. Der Mund war vor Anstrengung verzerrt. »Nicht verbergen«, stieß er hervor. »Fliehen! Hindurch! Da ist ein Ausgang nach hinten!« Es traf Werner wie ein Schlag in den Magen. Er zitterte plötzlich. Nicht seine Hände oder seine Knie zitterten; tief in ihm zitterten die Adern. Das Blut bebte. Er wußte, daß die Flucht nur sehr schwer gelingen konnte; aber der Gedanke allein war Versuchung genug: wegzulaufen, in irgendeinem Hause Kleider zu stehlen und im Durcheinander zu entkommen. »Nein!« Er glaubte zu flüstern, aber er schrie es durch das Getöse. »Nein!« Es war nicht nur für Goldstein, es war für ihn selbst. »Jetzt nicht mehr! Nein, jetzt nicht mehr!« Er wußte, daß es Wahnsinn war; alles, was bis jetzt erreicht worden war, würde dadurch gefährdet werden. Kameraden würden getötet werden, zehn für jeden, der zu entkommen versuchte, ein Blutbad in der gedrängten Menge hier, neue Maßnahmen im Lager – und trotzdem, da gähnte und lockte -»Nein!« rief Werner und hielt Goldstein fest, und sich selbst dadurch, daß er Goldstein hielt. Die Sonne! dachte Lewinsky. Diese verdammte Sonne! Sie gab alles unbarmherzig preis. Warum schoß man nicht die Sonne aus? Es war, als stände man nackt unter riesigen Scheinwerfern, fertig für die Zielvorrichtungen der Flugzeuge. Wenn nur eine Wolke käme, einen Augenblick nur! Schweiß strömte ihm in Bächen den Körper entlang. Die Mauern zitterten. Eine ungeheure Erschütterung nahebei donnerte, und in das Donnern fiel langsam ein Stück Mauer, mit einem leeren Fensterrahmen darin, nach vorn. Es sah kaum gefährlich aus, als es über die Häftlinge schlug. Das Stück war etwa fünf Meter breit gewesen. Nur der Häftling, über den das leere Fensterviereck gefallen war, stand noch und starrte ohne Verständnis um sich. Er begriff nicht, warum er plötzlich bis an den Magen im Schutt stand und noch lebte. Neben ihm schlugen Beine, die aus dem niedergestürzten Haufen ragten, einige Male auf und nieder und wurden still. Langsam ließ der Druck nach. Es war fast unmerklich im Anfang, nur die Klammer um Gehirn und Ohren lockerte sich etwas. Dann begann Bewußtsein hindurchzufiltern wie schwaches Licht in einem Schacht. Der Lärm tobte noch wie vorher; aber trotzdem wußten alle auf einmal: es war vorüber. Die SS kroch aus ihrem Keller. Werner sah auf die Mauer vor sich. Es wurde allmählich wieder eine gewöhnliche Mauer, die von der Sonne beleuchtet war, mit einem ausgeschaufelten Kellereingang darin; nicht mehr ein greller Block Hohn, in dem ein Wirbel dunkler Hoffnung raste. Er sah auch wieder das tote Gesicht mit dem Bart vor seinen Füßen; und er sah die Beine seiner verschütteten Kameraden. Dann hörte er durch das abflauende Feuer überraschend das Klavier noch einmal durchkommen. Er preßte die Lippen fest zusammen. Befehle erschollen. Der gerettete Häftling, der im Fensterrahmen stand, kletterte aus dem Schutthaufen. Sein rechter Fuß war verdreht. Er zog ihn hoch und stand auf einem Bein. Er wagte nicht, sich fallen zu lassen. Einer der SS-Leute kam heran. »Los! Grabt die hier aus!« Die Gefangenen rissen Schutt und Steine beiseite. Sie arbeiteten mit Händen, Schaufeln und Picken. Es dauerte nicht lange, bis sie die Kameraden freigelegt hatten.

Es waren vier. Drei waren tot. Einer lebte noch. Sie hoben ihn heraus. Werner suchte nach Hilfe. Er sah die Frau mit der roten Bluse aus dem Toreingang kommen. Sie war nicht zum Luftschutzkeller gelaufen. Behutsam trug sie eine Blechschale mit Wasser und ein Handtuch. Ohne sich um etwas zu kümmern, brachte sie das Wasser an der SS vorbei und stellte es neben den Verletzten. Die SS-Leute blickten sich unschlüssig an, sagten aber nichts. Sie wusch das Gesicht frei. Der Verletzte brach blutigen Schaum. Die Frau wischte ihn weg. Einer der SS-Leute begann zu lachen. Er hatte ein unausgereiftes, zusammengeworfenes Gesicht, mit so hellen Wimpern, daß die blassen Augen nackt erschienen. Das Flakfeuer hörte auf. In der Stille dröhnte wieder das Klavier. Werner sah jetzt, woher es kam; aus einem Fenster im ersten Geschoß des Kolonialwarenladens. Ein blasser Mann mit einer Brille spielte dort an einem aufrechten braunen Klavier immer noch den Chor der Gefangenen. Die SS grinste. Einer tippte sich auf die Stirn. Werner wußte nicht, ob der Mann gespielt hatte, um für sich über das Bombardement hinwegzukommen, oder ob er etwas anderes gewollt hatte. Er entschloß sich, zu glauben, daß es eine Botschaft gewesen sei. Er glaubte immer das Bessere, wenn es ohne Risiko war. Es machte das Dasein einfacher. Leute kamen herangelaufen. Die SS wurde militärisch. Kommandos erschollen. Die Häftlinge formierten sich. Der Zugführer befahl einem SS-Mann, bei den Toten und Verletzten zu bleiben; dann kam der Befehl, im Laufschritt die Straße entlangzurennen. Die letzte Bombe hatte einen Luftschutzkeller getroffen. Die Gefangenen sollten ihn ausgraben. Der Krater stank nach Säuren und Schwefel. Ein paar Bäume standen mit offenen Wurzeln schräg am Rande. Das Gitter der Rasenanlagen starrte losgerissen in den Himmel. Die Bombe hatte den Keller nicht direkt getroffen; sie hatte ihn seitlich eingedrückt und verschüttet. Die Häftlinge arbeiteten über zwei Stunden an dem Eingang. Stufe auf Stufe legten sie die Treppe frei. Sie war schiefgedrückt worden. Alle arbeiteten, so rasch sie konnten; sie arbeiteten, als seien es ihre eigenen Kameraden, die verschüttet waren. Nach einer weiteren Stunde hatten sie den Eingang frei. Sie hörten Schreie und Wimmern lange vorher. Der Keller mußte irgendwoher noch Luft bekommen. Das Schreien schwoll an, als sie die erste Öffnung machten. Ein Kopf schob sich hindurch und schrie, und zwei Hände erschienen direkt unter dem Kopf und kratzten im Schutt, als wollte ein riesiger Maulwurf sich durcharbeiten. »Vorsicht!« schrie ein Vorarbeiter. »Es kann noch einstürzen.« Die Hände arbeiteten weiter. Dann wurde der Kopf von hinten zurückgerissen, und ein anderer erschien schreiend. Auch er wurde weggerissen. Die Leute kämpften drinnen in einer Panik um den Platz am Licht. »Stoßt sie zurück! Sie werden verletzt! Das Loch muß größer gemacht werden. Stoßt sie zurück!« Sie stießen in die Gesichter. Die Gesichter bissen nach ihren Fingern. Sie rissen mit den Picken den Zement los. Sie arbeiteten, als ob es um ihr eigenes Leben ginge. Dann war die Öffnung groß genug, daß der erste hindurchkriechen konnte. Es war ein kräftiger Mann. Lewinsky erkannte ihn sofort. Es war der Mann mit dem Schnurrbart, der im Kolonialwarengeschäft gestanden hatte. Er hatte sich an die erste Stelle gearbeitet und schob und ächzte, um durchzukommen. Sein Bauch blieb stecken. Die Schreie drinnen wurden stärker; er verdunkelte den Keller. Man zerrte an seinen Beinen, um ihn zurückzureißen. »Hilfe!« stöhnte er mit einer hohen, pfeifenden Stimme. »Hilfe! Helft mir 'raus! 'raus hier! 'raus! Ich will euch -ich gebe euch -« Seine kleinen schwarzen Augen quollen aus dem runden Gesicht. Der Hitlerschnurrbart zitterte.

»Hilfe! Meine Herren! Bitte! Meine Herren!« Er wirkte wie ein eingeklammerter Seehund, der sprechen konnte.


Sie packten ihn unter die Arme und bekamen ihn endlich durch. Er fiel, sprang auf und rannte ohne ein Wort davon. Sie preßten ein Brett gegen den Eingang und erweiterten ihn. Dann traten sie zurück.

Die Menschen kletterten hinaus. Frauen, Kinder, Männer – manche eilig, blaß, schwitzend, einem Grabe entkommend, andere hysterisch, schluchzend, schreiend, fluchend -, und dann langsam und schweigend die, die nicht von der Panik gepackt worden waren.

Sie rannten und kletterten an den Gefangenen vorbei.

»Meine Herren«, flüsterte Goldstein. »Habt ihr das gehört? Bitte, meine Herren! Der Mann meinte uns -«

Lewinsky nickte. »Ich gebe euch -«, wiederholte er die Worte des Seehundes. »Gar nichts«, fügte er hinzu. »Abgehauen ist er wie ein Waldaffe.« Er sah Goldstein an.

»Was ist los mit dir?«

Goldstein lehnte sich an ihn. »Zu komisch!« Er konnte kaum noch atmen. »Anstatt – daß sie uns befreien -«, keuchte er,»befreien wir – sie -«

Er kicherte und kippte langsam zur Seite. Sie hielten ihn fest und ließen ihn auf den Erdhaufen gleiten. Dann warteten sie, bis der Bunker leer war.

Sie standen da, die Gefangenen vieler Jahre, und sahen die, die für wenige Stunden Gefangene gewesen waren, an sich vorüberhasten. Lewinsky erinnerte sich, daß es schon einmal ähnlich gewesen war – als die Häftlinge auf der Straße dem Zug der Flüchtlinge aus der Stadt begegnet waren. Er sah das Dienstmädchen in dem blauen Kleid mit den weißen Tupfen aus dem Eingang kriechen. Es schüttelte seine Röcke und lächelte ihm zu. Ein einbeiniger Soldat folgte. Er richtete sich auf, schob die Krücken unter die Arme und grüßte die Gefangenen, bevor er weiterhumpelte.

Als einer der letzten kam ein sehr alter Mann heraus. Sein Gesicht hatte lange Falten wie das eines Bluthundes. Er sah die Häftlinge an. »Danke«, sagte er. »Drinnen sind noch Verschüttete.«

Langsam, gebrechlich und mit Würde ging er die schiefen Stufen hinauf. Hinter ihm kletterten die Häftlinge in den Bunker.


Sie marschierten zurück. Sie waren kaputt. Sie trugen ihre Toten und Verwundeten.

Der Verschüttete war inzwischen gestorben. Ein herrliches Abendrot stand am Himmel. Die Luft war ganz durchleuchtet davon, und es war von einer so weiten Schönheit, daß es schien, als stünde die Zeit still und als könnte es für eine Stunde keine Ruinen und keinen Tod geben.

»Schöne Helden sind wir«, sagte Goldstein. Er hatte sich von seinem Anfall erholt.

»Schuften uns ab für die hier -«

Werner sah ihn an. »Du darfst nicht mehr mit aufräumen gehen. Es ist verrückt. Du machst dich kaputt, auch wenn du dich noch so drückst.«

»Was soll ich sonst machen? Warten, daß die SS mich oben findet?«

»Wir müssen dir etwas anderes verschaffen.«

Goldstein lächelte mühsam. »Ich gehöre wohl allmählich ins Kleine Lager, was?«

Werner war nicht überrascht. »Warum nicht? Es ist sicher, und wir könnten jemand von uns da gebrauchen.«

Der Kapo, der 7105 getreten hatte, kam heran. Er ging eine Weile neben ihm her, dann schob er ihm etwas in die Hand und blieb wieder zurück. 7105 sah nach. »Zigarette«, sagte er erstaunt.

»Sie werden weich. Die Ruinen gehen ihnen auf die Nerven«, erklärte Lewinsky. »Sie denken an die Zukunft.«

Werner nickte. »Sie kriegen Angst. Merk dir den Kapo. Vielleicht können wir ihn verwenden.«


Sie schleppten sich weiter durch das weiche Licht. »Eine Stadt«, sagte Münzer nach einer Weile. »Häuser. Freie Menschen. Zwei Meter von einem entfernt. Es ist, als wäre man schon nicht mehr ganz so eingesperrt.« 7105 hob den Schädel. »Ich möchte wissen, was die von uns denken?« »Was sollen sie sich denken? Gott weiß, wieviel sie überhaupt von uns wissen. Sie sehen selber nicht glücklich aus.« »Jetzt nicht«, sagte 7105. Niemand antwortete. Sie begannen den schweren Aufstieg zum Lager. »Ich wollte, ich hätte den Hund«, sagte 7105. »Es wäre ein guter Braten«, erwiderte Münzer. »Sicher dreißig Pfund netto.« »Ich meine nicht zum Essen. Einfach so.« Der Wagen kam nicht mehr durch. Die Straßen waren überall verschüttet. »Fahr zurück, Alfred«, sagte Neubauer. »Warte bei meinem Hause auf mich.« Er stieg aus und versuchte, zu Fuß weiterzukommen. Er kletterte über eine zusammengestürzte Wand, die quer über die Straße gefallen war. Der Rest des Hauses stand noch. Die Wand war abgerissen worden wie ein Vorhang, und man sah in die Wohnungen. Die Treppen wanden sich nackt empor. Im ersten Stock war ein Mahagonischlafzimmer vollständig erhalten. Die beiden Betten standen nebeneinander; nur ein Stuhl war umgefallen, und der Spiegel war zerbrochen. Im Stock darüber war die Wasserleitung in der Küche abgerissen worden. Das Wasser floß über den Fußboden und von da in Kaskaden ins Freie; ein glitzernder, dünner Wasserfall. Im Salon stand ein rotes Plüschsofa aufrecht. Bilder in Goldrahmen hingen schief auf einer gestreiften Tapete. Ein Mann stand da, wo die Vorderwand weggerissen war. Er blutete und starrte regungslos nach unten. Hinter ihm rannte eine Frau mit Koffern hin und her, in die sie Nippsachen, Sofakissen und Wäsche zu stopfen versuchte. Neubauer fühlte, daß sich unter seinem Fuß die Trümmer bewegten. Er trat zurück. Die Trümmer bewegten sich weiter. Er beugte sich nieder und riß Steine und Mörtel weg. Eine verstaubte Hand und ein Stück Arm kamen grau hervor wie eine müde Schlange. »Hilfe!« schrie Neubauer. »Hier ist noch jemand! Hilfe!« Niemand hörte ihn. Er sah sich um. Es waren keine Menschen auf der Straße. »Hilfe!« schrie er zu dem Mann im zweiten Stock empor. Der Mann wischte sich langsam das Blut vom Gesicht und reagierte nicht. Neubauer schob einen Klumpen Mörtel beiseite. Er sah Haar und griff hinein, um es hochzuziehen. Es gab nicht nach. »Alfred!« schrie er und blickte sich um. Der Wagen war nicht mehr da. »Schweine«, sagte er, plötzlich sinnlos wütend. »Wenn man sie braucht, sind sie nicht da.« Er arbeitete weiter. Schweiß lief ihm in den Uniformkragen. Er war keine Anstrengung mehr gewohnt. Polizei, dachte er. Rettungskolonnen! Wo sind all diese Gauner? Ein Stück Mörtel zerbrach und gab nach, und Neubauer sah darunter das, was kurz vorher noch ein Gesicht gewesen war. Es war jetzt eine flache, grauverschmierte Masse. Die Nase war eingedrückt. Die Augen waren nicht mehr da, sie waren ausgefüllt mit Kalkstaub; die Lippen waren verschwunden, und der Mund war eine Masse von Mörtel und losen Zähnen. Das ganze Gesicht war nur noch ein graues Oval mit Haaren darüber, durch das etwas Blut sickerte. Neubauer würgte und begann zu kotzen. Er kotzte ein Mittagessen von Sauerkraut, harter Mettwurst, Kartoffeln, Reispudding und Kaffee neben den platten Kopf. Er versuchte, sich irgendwo festzuhalten, aber es war nichts da. Er drehte sich halb um und kotzte weiter. »Was ist denn hier los?« fragte jemand hinter ihm. Ein Mann war herangekommen, ohne daß er es gehört hatte. Er trug eine Schaufel. Neubauer deutete auf den Kopf in den Trümmern. »Einer verschüttet?«

Der Kopf bewegte sich etwas. Gleichzeitig bewegte es sich in der grauen Masse des Gesichtes. Neubauer kotzte wieder. Er hatte viel zu Mittag gegessen. »Der erstickt ja«, rief der Mann mit der Schaufel und sprang heran. Er rieb mit den Händen über das Gesicht, um die Nase zu finden und frei zu bekommen, und bohrte mit den Fingern da, wo der Mund sein mußte. Das Gesicht fing plötzlich stärker an zu bluten. Die flache Maske wurde lebendig durch den hinzutretenden Tod. Der Mund röchelte jetzt. Die Finger der Hand kratzten über den Mörtel, und der Kopf mit den blinden Augen zitterte. Er zitterte und wurde dann still. Der Mann mit der Schaufel richtete sich auf. Er wischte die verschmierten Hände an einem gelben, seidenen Vorhang ab, der mit einem Fenster heruntergestürzt war. »Tot«, sagte er. »Sind noch mehr da unten?« »Ich weiß es nicht.« »Sind Sie keiner aus dem Hause?« »Nein.« Der Mann deutete auf den Kopf. »Verwandter von Ihnen? Bekannter?« »Nein.« Der Mann blickte auf das Sauerkraut, die Wurst, den Reis und die Kartoffeln, sah Neubauer dann an und zuckte die Achseln. Er schien nicht viel Respekt vor einem hohen SS-Führer zu haben. Es war allerdings auch ein reichliches Essen für diese Zeit des Krieges. Neubauer fühlte, wie er errötete. Er drehte sich rasch weg und kletterte die Trümmer hinunter.

Es dauerte fast eine Stunde, bis er endlich zur Friedrichsallee kam. Sie war unbeschädigt. Er ging sie aufgeregt entlang. Wenn in der nächsten Querstraße die Häuser unzerstört waren, würde sein Geschäftshaus auch noch stehen, dachte er abergläubisch. Die Straße war heil. Die folgenden zwei auch. Er faßte Mut und ging rascher. Ich werde es noch einmal probieren, dachte er; wenn in der folgenden Straße die ersten zwei Häuser nichts abgekriegt haben, dann bin auch ich glatt davongekommen. Es klappte. Erst das dritte Haus war ein Trümmerhaufen. Neubauer spuckte aus; seine Kehle war trocken vom Staub. Zuversichtlich bog er um die Ecke zur Hermann-Göring-Straße und blieb stehen. Die Bomben hatten gründliche Arbeit geleistet. Die oberen Stockwerke seines Geschäftshauses waren völlig zusammengebrochen. Die Eckfront fehlte. Sie war zur anderen Straßenseite hinübergeschleudert worden, in ein Antiquitätengeschäft hinein. Der Gegendruck hatte einen bronzenen Buddha von dort weithin auf die Straße geworfen. Der Heilige saß allein auf einem Stück heilen Pflasters. Er hielt die Hände im Schoß und blickte gelassen lächelnd über die abendländische Zerstörung hinweg in die Richtung der Bahnhofsruinen – als warte er auf einen asiatischen Geisterzug, der ihn zurückholen solle zu den einfachen Gesetzen des Dschungels, wo man tötete, um zu leben, und nicht lebte, um zu töten. Neubauer hatte im ersten Moment das. törichte Gefühl, vom Schicksal in niederträchtiger Weise betrogen worden zu sein. Die Querstraßen hatten alle gestimmt – und da passierte dieses hier! Es war wie die schwere Enttäuschung eines Kindes. Er hätte weinen mögen. Ihm, ihm mußte so etwas geschehen! Er sah die Straße entlang. Einige Häuser standen noch. Warum die nicht? dachte er. Warum geschieht das gerade mir, einem anständigen Patrioten, einem guten Ehemann, einem sorgenden Vater? Er ging um den Krater in der Straße herum. Alle Schaufenster der Modeabteilung waren zerbrochen. Wie Eis lagen überall die Splitter. Sie knirschten unter seinen Füßen. Er kam zur Abteilung:»Letzte Mode für die deutsche Frau«. Das Schild hing halb herunter. Er bückte sich und trat in den Raum. Es roch nach Brand, aber er sah kein Feuer. Die Modepuppen waren durcheinandergeworfen. Es wirkte, als seien sie von einer Horde Wilder vergewaltigt worden. Einige lagen auf dem Rücken, die Kleider hochgeblasen, die Beine aufgestellt; andere, mit gebrochenen Armen, die Wachshintern herausgereckt, auf dem Bauch. Eine war nackt bis auf ihre Handschuhe; eine andere stand in einer Ecke, ein Bein weggebrochen, einen Hut auf und einen Schleier vor dem Gesicht. Alle lächelten in ihren Stellungen – und das machte sie schauerlich unzüchtig. Kaputt, dachte Neubauer. Kaputt. Verloren. Was würde Selma jetzt sagen? Es gab keine Gerechtigkeit. Er ging zurück und watete durch Trümmer und Glas um das Haus herum. Als er die Ecke erreichte, sah er auf der anderen Seite eine Figur, die, als sie ihn hörte, sich duckte und weglief. »Halt!« schrie Neubauer. »Stehenbleiben! Oder ich schieße!« Die Figur blieb stehen. Es war ein kleiner zerdrückter Mann. »Herkommen!« Der Mann schlich heran. Neubauer erkannte ihn erst, als er dicht vor ihm stehenblieb. Es war der frühere Besitzer des Geschäftshauses. »Blank«, sagte er erstaunt. »Sind Sie das?« »Jawohl, Herr Obersturmbannführer.« »Was machen Sie denn hier?« »Verzeihen, Herr Obersturmbannführer. Ich – ich -« »Reden Sie vernünftig, Mann! Was machen Sie hier?« Neubauer hatte mit der Wirkung seiner Uniform seine Autorität und sich selbst rasch wiedergefunden. »Ich – ich -«, stotterte Blank. »Ich bin nur einmal hergekommen, um – um -« »Was, um, um?« Blank machte eine hilflose Bewegung nach dem Trümmerhaufen hin. »Um sich darüber zu freuen, was?« Blank sprang fast zurück. »Nein, nein, Herr Obersturmbannführer. Nein, nein! Nur – es ist schade«, flüsterte er. »Schade.« »Natürlich ist es schade. Jetzt können Sie ja lachen.« »Ich lache nicht! Ich lache nicht, Herr Obersturmbannführer.« Neubauer musterte ihn. Blank stand ängstlich vor ihm, die Arme eng an den Körper gepreßt. »Sie sind besser weggekommen als ich«, sagte Neubauer nach einer Weile bitter. »Gut bezahlt worden. Oder nicht?« »Jawohl, sehr gut, Herr Obersturmbannführer.« »Sie haben bares Geld gekriegt. Ich einen Trümmerhaufen.« »Jawohl, Herr Obersturmbannführer! Bedaure – bedaure außerordentlich. Dieses Ereignis -« Neubauer starrte vor sich hin. Er war jetzt tatsächlich der Ansicht, daß Blank ein glänzendes Geschäft gemacht hatte. Einen Augenblick überlegte er, ob er ihm den Trümmerhaufen nicht für teures Geld zurückverkaufen könne. Aber das war gegen die Parteigrundsätze. Und außerdem war selbst der Schutt mehr wert, als er Blank seinerzeit gezahlt hatte. Nicht zu reden von dem Grundstück. Fünftausend hatte er gezahlt. Die Jahresmieten allein waren fünfzehntausend gewesen. Fünfzehntausend Mark! Verloren!»Was haben Sie denn? Was fummeln Sie mit Ihren Armen herum?« »Nichts, Herr Obersturmbannführer. Ich bin gefallen, vor Jahren -« Blank schwitzte. Dicke Tropfen liefen ihm von der Stirn in die Augen. Er blinkte mehr mit dem rechten Auge als mit dem linken. Im linken, das aus Glas war, spürte er den Schweiß nicht so. Er hatte Angst, daß Neubauer sein Zittern als freches Zittern auffassen könne. So etwas war schon vorgekommen. Aber Neubauer dachte im Augenblick an nichts dergleichen; nicht daran, daß Weber Blank damals vor dem Verkauf im Lager verhört hatte. Er betrachtete nur den Trümmerhaufen. »Sie haben es besser getroffen als ich«, sagte er. »Haben das vielleicht seinerzeit nicht so geglaubt. Aber jetzt hätten Sie alles verloren gehabt. So haben Sie Ihr gutes Geld.«

Blank wagte nicht, sich den Schweiß abzuwischen. »Jawohl, Herr Obersturmbannführer«, murmelte er.

Neubauer blickte ihn plötzlich prüfend an. Ein Gedanke hatte ihn durchzuckt. Es war ein Gedanke, der immer öfter gekommen war in den letzten Wochen. Er hatte ihn das erste Mal gespürt, als die Mellener Zeitung zerstört worden war; er hatte ihn verscheucht, aber er war stets wieder erschienen wie eine lästige Fliege. Konnte es tatsächlich sein, daß die Blanks mal wieder herankamen? Der Kerl vor ihm sah nicht so aus; er war eine Ruine. Aber die Trümmerhaufen rundherum waren auch nichts anderes. Sie sahen nicht nach Siegen aus. Besonders nicht, wenn sie einem selber gehörten. Selma mit ihren Unkenrufen fiel ihm ein. Die Zeitungsnachrichten dazu! Die Russen waren vor Berlin, daran war nicht zu drehen. Die Ruhr war eingekreist, das stimmte auch.

»Hören Sie, Blank«, sagte er kordial. »Ich habe Sie doch sehr anständig behandelt, wie?«

»Überaus! Überaus!«

»Das müssen Sie doch zugeben, was?«

»Unbedingt, Herr Obersturmbannführer. Unbedingt.«

»Menschlich -«

»Sehr menschlich, Herr Obersturmbannführer. Zutiefst dankbar -«

»Na ja«, sagte Neubauer. »Vergessen Sie das nicht! Ich habe allerlei für Sie riskiert.

Was machen Sie hier überhaupt? In der Stadt?«

Warum sind Sie nicht längst in einem Lager, hätte er fast gefragt.

»Ich – ich -«

Blank war naß. Er wußte nicht, worauf das hinaus sollte. Er hatte nur die Erfahrung, daß Nazis, die freundlich redeten, immer einen besonders grausigen Spaß in Reserve hatten. Weber hatte so geredet, bevor er ihm das Auge ausgeschlagen hatte. Er verfluchte sich, weil er es nicht hatte lassen können, sein Versteck zu verlassen, um nach seinem alten Geschäft zu sehen.

Neubauer sah seine Verwirrung. Er benutzte die Gelegenheit. »Daß Sie frei sind, Blank – das wissen Sie doch, wem Sie das zu verdanken haben, wie?«

»Jawohl – danke -, danke vielmals, Herr Obersturmbannführer.«

Blank hatte es Neubauer nicht zu verdanken. Er wußte das, und Neubauer wußte es auch. Doch vor dem schwelenden Trümmerhaufen begannen plötzlich alte Begriffe zu schmelzen. Nichts war mehr sicher. Man mußte Vorsorgen. Es schien irrsinnig für Neubauer, aber man wußte tatsächlich nicht, ob man nicht so einen Juden noch eines Tages brauchen konnte. Er zog eine »Deutsche Wacht« heraus. »Hier, nehmen Sie, Blank. Gutes Kraut. Das damals war harte Notwendigkeit.

Denken Sie immer daran, wie ich Sie geschützt habe.«

Blank rauchte nicht. Er hatte Jahre gebraucht, nach Webers Experimenten mit glühenden Zigaretten, beim Geruch von Tabak nicht hysterisch zu werden.

Aber er wagte nicht, abzulehnen. »Danke vielmals. Sehr gütig, Herr Obersturmbannführer.«

Vorsichtig zog er sich zurück, die Zigarre in der lahmen Hand. Neubauer sah sich um.

Niemand hatte ihn mit dem Juden reden sehen. War auch besser. Er vergaß Blank sofort und fing an zu rechnen. Dann begann er zu schnuppern. Der Brandgeruch war stärker geworden. Er ging eilig auf die andere Seite. Das Modegeschäft dort brannte jetzt. Er rannte zurück und schrie:»Blank! Blank!«, und als er ihn nicht sah:»Feuer! Feuer!«

Niemand kam. Die Stadt brannte an vielen Plätzen, und die Feuerwehr kam längst nicht mehr durch. Neubauer lief wieder zu den Modeauslagen. Er sprang hinein, raffte einen Stoffballen auf und schleppte ihn heraus. Beim zweiten Male kam er schon nicht mehr durch. Ein Spitzenkleid, das er erwischt hatte, flammte in seiner Hand auf. Das Feuer züngelte über die Stoffe und die Kleider.

Er kam gerade noch hinaus.

Ohnmächtig sah er von der anderen Straßenseite dem Feuer zu. Es ergriff die Modepuppen, lief über sie hin, fraß die Kleider – und plötzlich schmelzend, brennend, bekamen sie ein seltsames Leben. Sie wanden und bäumten sich. Arme hoben sich und bogen sich, es war eine Wachshölle -, dann versank alles, und das Feuer schlug darüber zusammen wie über Leichen im Krematorium. Neubauer wich vor der Hitze zurück, bis er auf den Buddha stieß. Ohne hinzusehen, setzte er sich darauf, fuhr aber gleich wieder hoch. Er hatte übersehen, daß der Kopfputz des Heiligen eine bronzene Spitze hatte. Wütend starrte er auf den Ballen zu seinen Füßen, den er gerettet hatte; es war ein hellblauer Stoff, in den fliegende Vögel gedruckt waren. Er stieß mit den Stiefeln dagegen. Verdammt! Wozu schon! Er schleppte den Ballen zurück und warf ihn in die Flammen. Sollte alles zum Teufel gehen! Verdammt! Er stapfte davon. Er wollte nichts mehr davon sehen! Gott war nicht mehr mit den Deutschen. Wotan auch nicht. Wer eigentlich? Hinter einem Schutthaufen, der Straße gegenüber, hob sich langsam ein bleiches Gesicht. Josef Blank sah Neubauer nach. Und zum ersten Male seit vielen Jahren lächelte er. Er lächelte, während er die Zigarre zwischen den lahmen Fingern zerbrach.

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