XXII

»Was?« fragte Berger ungläubig. »Überhaupt kein Abendessen?« »Nichts.« »Keine Suppe?« »Keine Suppe und kein Brot. Ausdrücklicher Befehl von Weber.« »Und die anderen? Das Arbeitslager?« »Nichts. Kein Abendessen für das ganze Lager.« Berger wandte sich um. »Versteht einer das? Wäsche haben wir gekriegt, aber kein Essen?« »Primeln haben wir auch gekriegt.« 509 zeigte auf zwei kümmerliche Flecken zu beiden Seiten der Tür. Ein paar Pflanzen standen halb verwelkt darin. Sie waren mittags von Gefangenen aus der Gärtnerei hergesetzt worden. »Vielleicht kann man sie essen.« »Versuch es nicht. Wenn sie fehlen, kriegen wir eine Woche lang nichts zu essen.« »Warum nur?« sagte Berger. »Nach all dem Getue von Neubauer habe ich gedacht, daß wir vielleicht sogar Kartoffeln in die Suppe kriegen würden.« Lebenthal kam heran. »Es ist Weber. Nicht Neubauer. Weber ist wütend über Neubauer. Denkt, er will sich den Rücken decken. Will er sicher auch. Deshalb arbeitet Weber gegen ihn, wo er kann. Habe es von der Schreibstube. Lewinsky und Werner und die anderen drüben sagen es auch. Wir müssen darunter leiden.« »Das wird viele Tote geben.« Sie starrten in den roten Himmel. »Weber hat auf der Schreibstube gesagt, es solle sich keiner was einbilden; er würde schon dafür sorgen, daß wir kurzgehalten würden.« Lebenthal holte sein Gebiß aus dem Mund, besah es flüchtig und setzte es wieder ein. Von der Baracke her kam dünnes Schreien. Die Nachricht hatte sich verbreitet. Skelette taumelten aus der Tür und inspizierten die Eßkannen – ob sie nach Essen rochen und die anderen sie betrogen hätten. Die Kannen waren blank und trocken. Das Jammern wurde stärker. Viele Leute ließen sich einfach zu Boden fallen und hämmerten mit ihren Knochenfäusten auf die schmutzige Erde. Die meisten aber schlichen fort oder lagen bewegungslos mit offenen Mündern und großen Augen herum. Aus den Türen kamen die leisen Stimmen derer, die nicht mehr aufstehen konnten. Es war kein artikuliertes Schreien; es war nur noch ein schwacher Choral der Verzweiflung, ein Singsang, der nicht einmal mehr Worte und Bitten und Flüche für die Verzweiflung hatte. Es war jenseits davon; es war das letzte bißchen untergehendes Leben, das da summte und zirpte und pfiff und kratzte, als seien die Baracken riesige Kisten mit sterbenden Insekten. Um sieben Uhr begann die Lagerkapelle zu spielen. Sie stand außerhalb des Kleinen Lagers, aber so nahe, daß sie gut zu hören war. Neubauers Anweisung war prompt befolgt worden. Das erste Stück war wie immer der Lieblingswalzer des Kommandanten:»Rosen aus dem Süden.« »Laßt uns Hoffnung fressen, wenn wir nichts anderes haben«, sagte 509. »Laßt uns all die Hoffnung fressen, die es gibt. Laßt uns das Geschützfeuer fressen! Wir müssen durchkommen. Wir werden durchkommen!« Die kleine Gruppe hockte nahe der Baracke zusammen. Es war eine kühle, dunstige Nacht. Sie froren nicht zu sehr. Die Baracke hatte bereits achtundzwanzig Tote in den ersten Stunden gehabt; die Veteranen hatten ihnen die Suchen ausgezogen, die sie gebrauchen konnten, und sie selbst angezogen, um nicht zu frieren und krank zu werden. Sie wollten nicht in die Baracke. In der Baracke keuchte, stöhnte und schmatzte der Tod. Sie waren drei Tage ohne Brot geblieben und heute auch noch ohne Suppe. Auf allen Betten kämpfte es, ergab sich und starb. Sie wollten nicht hinein. Sie wollten nicht dazwischen schlafen. Das Sterben war ansteckend, und es schien ihnen, als seien sie wehrlos dagegen im Schlaf. So saßen sie draußen, die Sachen der Toten über sich gezogen, und starrten zum Horizont, von dem die Freiheit kommen mußte.

»Es ist nur diese Nacht«, sagte 509. »Nur diese eine Nacht! Glaubt es mir. Neubauer wird es erfahren und die Verordnung morgen aufheben. Sie sind bereits uneinig. Es ist der Anfang vom Ende. Wir haben so lange ausgehalten. Nur noch diese Nacht!«

Niemand antwortete. Sie saßen dicht zusammengedrängt wie eine Gruppe von Tieren im Winter.

Es war nicht nur Wärme, die sie sich gaben; es war vervielfachter Lebensmut. Er war wichtiger als Wärme. »Laßt uns über etwas reden«, sagte Berger.

»Aber etwas, was nichts mit diesem hier zu tun hat.« Er wandte sich zu Sulzbacher, der neben ihm hockte. »Was willst du machen, wenn du hier herauskommst?«

»Ich?« Sulzbacher zögerte. »Besser, nicht darüber zu reden, bevor es soweit ist. Es bringt Unglück.«

»Es bringt kein Unglück mehr«, erwiderte 509 heftig. »Wir haben nicht darüber geredet durch all die Jahre, weil es uns zerfressen hätte. Jetzt aber müssen wir darüber reden. In einer solchen Nacht! Wann sonst? Laßt uns fressen, was wir an Hoffnung haben. Was willst du machen, wenn du herauskommst, Sulzbacher?«

»Ich weiß nicht, wo meine Frau ist. Sie war in Düsseldorf. Düsseldorf ist zerstört.«

»Wenn sie in Düsseldorf ist, ist sie sicher. Düsseldorf ist von den Engländern besetzt.

Das Radio hat es längst zugegeben.« »Oder sie ist tot«, sagte Sulzbacher.

»Damit muß man rechnen. Was wissen wir schon von denen, die draußen sind?«

»Und die draußen von uns«, sagte Bucher.

509 blickte ihn an. Er hatte ihm immer noch nicht gesagt, daß sein Vater tot »ei und wie er gestorben war. Es hatte Zeit, bis er frei war. Er würde es dann besser ertragen.

Er war jung und hatte als einziger jemanden, der mit ihm hinausging. Er würde es früh genug erfahren.

»Wie wird das nur sein, wenn wir herauskommen?« sagte Meyerhof. »Ich bin seit sechs Jahren im Lager.«

»Ich seit zwölf«, sagte Berger.

»So lange? Warst du politisch?«

»Nein. Ich habe nur einen Nazi, der später Gruppenführer wurde, von 1928 bis 1932 ärztlich behandelt. Vielmehr nicht ich; er ist zu mir in die Sprechstunde gekommen und dort behandelt worden durch einen Freund von mir, der Facharzt war. Der Nazi kam zu mir, weil er im selben Hans wohnte wie ich. Es war für ihn bequemer.«

»Und deshalb hat er dich einsperren lassen?«

»Ja. Er hatte Syphilis.«

»Und der Facharzt?«

»Er hat ihn erschießen lassen. Ich selbst konnte ihm vormachen, daß ich nicht wußte, was er hätte, und glaubte, es seien nur Entzündungen vom letzten Krieg. Er war trotzdem vorsichtig genug, mich einsperren zu lassen.«

»Was wirst du machen, wenn er noch lebt und du 'rauskommst?«

Berger dachte nach. »Ich weiß es nicht.«

»Ich würde ihn totschlagen«, erklärte Meyerhof.

»Und dafür wieder ins Gefängnis kommen, was?« sagte Lebenthal. »Für Totschlag. Noch einmal zehn oder zwanzig Jahre.«

»Was willst du machen, Leo, wenn du 'rauskommst?« fragte 509.

»Ich mache ein Mantelgeschäft auf. Gute Halbkonfektion.«

»Mäntel? Im Sommer? Es wird Sommer, Leo!«

»Es gibt Sommermäntel! Ich kann Anzüge dazunehmen. Und Regenmäntel, natürlich.«


»Leo«, sagte 509. »Warum willst du nicht in der Nahrungsmittelbranche bleiben? Das wird mehr gebraucht als Mäntel, und du warst hier großartig darin.« »Meinst du?« Lebenthal war deutlich geschmeichelt.

»Unbedingt!«

»Vielleicht hast du recht. Ich werde es mir überlegen. Amerikanische Lebensmittel, zum Beispiel.

Das wird groß gehen. Erinnert ihr euch an den amerikanischen Speck nach dem letzten Krieg? Er war dick, weiß und zart wie Marzipan, mit rosa -«

»Halt's Maul, Leo! Bist du verrückt?«

»Nein. Es fiel mir nur plötzlich ein. Ob sie diesmal auch welchen schicken werden?

Für uns wenigstens?«

»Sei ruhig, Leo!«

»Was willst du machen, Berger?« fragte Rosen.

Berger wischte sich die entzündeten Augen. »Ich werde bei einem Apotheker in die Lehre gehen.

Versuchen, so was Ähnliches zu werden. Operieren – mit solchen Händen? Nach so langer Zeit?«

Er ballte die Hände unter der Jacke zusammen, die er über sich gezogen hatte. »Unmöglich. Ich werde Apotheker werden. Und du?«

»Meine Frau hat sich scheiden lassen, weil ich Jude war. Ich weiß nichts mehr von ihr.«

»Du willst sie doch nicht suchen?« fragte Meyerhof.

Rosen zögerte. »Sie hat es vielleicht unter Zwang getan. Was hätte sie sonst tun sollen? Ich habe es ihr selbst geraten.«

»Vielleicht ist sie inzwischen so mies geworden, daß es kein Problem für dich ist«, sagte Lebenthal.

»Vielleicht bist du froh, daß du sie los bist.«

»Wir sind auch nicht jünger geworden.«

»Nein. Neun Jahre.« Sulzbacher hustete. »Wie wird das sein, wenn man jemand nach so langer Zeit wiedersieht?«

»Sei froh, daß einer da ist zum Wiedersehen.«

»Nach so langer Zeit«, wiederholte Sulzbacher. »Wer kennt sich da noch?«


Sie hörten im Schuffeln der Muselmänner einen festeren Schritt. »Achtung«, flüsterte Berger.

»Vorsicht, 509.«

»Es ist Lewinsky«, sagte Bucher. Er konnte Leute am Schritt erkennen. Lewinsky kam heran.

»Was macht ihr? Kein Fressen heute. Wir haben einen Verbindungsmann in der Küche. Er konnte Brot und Kartoffeln stehlen. Gekocht worden ist nur für die Bonzen. Da war nichts zu schnappen.

Hier ist etwas Brot. Und hier sind ein paar rohe Karotten. Es ist wenig; aber wir haben auch nichts gekriegt.«

»Berger«, sagte 509. »Verteile es.«

Jeder bekam eine halbe Schnitte Brot und eine Karotte. »Eßt es langsam. Kaut, bis es weg ist.«

Berger gab ihnen erst die Karotten; dann, einige Minuten später, das Brot.

»Man fühlt sich wie ein Verbrecher, daß man heimlich frißt«, sagte Rosen. »Dann tu es nicht«, erwiderte Lewinsky lakonisch. »Du Quatschkopf.« Lewinsky hatte recht.

Rosen wußte es. Er wollte erklären, daß er nur heute, In dieser sonderbaren Nacht, in der sie über die Zukunft geredet hatten, um über ihren Hunger hinwegzukommen, einen solchen Gedanken gehabt habe und daß es eben mit der Zukunft zusammenhänge; aber er gab es auf. Es war zu kompliziert. Und zu unwichtig.

»Sie fallen um«, erklärte Lewinsky heiser und atemlos. »Grüne fallen ebenfalls um.

Wollen mitmachen. Wir lassen sie. Kapos, Blockälteste, Stubenälteste. Später werden wir sortieren. Zwei SS-Leute auch. Dazu der Hospitalarzt.« »Das Schwein«, sagte Bucher.


»Wir wissen, was er ist. Aber wir können ihn gebrauchen. Wir kriegen Nachrichten durch ihn.

Heute abend ist ein Befehl für einen Abtransport gekommen.«

»Was?« fragten Berger und 509 zugleich. »Transport. Zweitausend Mann sollen abtransportiert werden.« »Sie wollen das Lager räumen?« »Sie wollen zweitausend Mann. Vorläufig.« »Der Transport. Das haben wir gefürchtet«, sagte Berger. »Seid ruhig. Der Schreiber mit den roten Haaren paßt auf. Wenn sie eine Liste machen, kommt ihr nicht mit drauf. Unsere Leute sind jetzt überall. Außerdem heißt es, daß Neubauer zögert. Er hat den Befehl noch nicht weitergegeben.«

»Sie werden nicht nach einer Liste gehen«, sagte Rosen. »Sie werden sie zusammenfangen, wie sie es bei uns getan haben, wenn sie sie nicht anders kriegen können. Die Liste machen sie dann nachher.«

»Regt euch nicht auf. Es ist noch nicht soweit. Jede Stunde kann alles ändern.« »Regt euch nicht auf, sagt er.« Rosen zitterte.

»Wir schmuggeln euch zur Not ins Hospital. Der Arzt drückt jetzt beide Augen zu.

Wir haben schon eine Anzahl gefährdeter Leute drin.«

»Haben sie davon gesprochen, daß auch Frauen abtransportiert werden?« fragte Bucher.

»Nein. Das werden sie auch nicht machen. Es sind noch viel zu wenige hier.«


Lewinsky stand auf. »Komm mit«, sagte er zu Berger. »Ich wollte dich holen. Deshalb bin ich hier.«

»Wohin?«

»Zum Lazarett. Wir verstecken dich da für ein paar Tage. Wir haben einen Raum neben der Flecktyphusabteilung; kein Nazi wagt sich dort in die Nähe. Es ist alles arrangiert.«

»Und warum?« fragte 509.

»Das Krematoriumskommando. Sie erledigen es morgen. Das sind die Gerüchte. Ob sie ihn dazu rechnen, weiß keiner von uns. Ich glaube, ja.« Er wandte sich zu Berger.

»Du hast unten zuviel gesehen. Komm zur Vorsicht mit. Zieh dich um. Laß deine Sachen hier an einem Toten. Nimm seinen Kram.«

»Geh«, sagte 509.

»Und der Blockälteste? Könnt ihr das machen?«

»Ja«, sagte Ahasver überraschend. »Er wird den Mund halten. Wir können das machen.«

»Gut. Der rothaarige Schreiber ist informiert. Dreyer im Krematorium zittert vor Angst um sich selbst. Er wird nicht nach dir unter den Toten suchen.« Lewinsky zog geräuschvoll Luft durch die Nase ein. »Es sind auch zu viele da. Man stolpert den ganzen Weg hierher darüber. Dauert sicher vier, fünf Tage, bis alle verbrannt sind.

Dann sind neue da. Das Durcheinander ist überall» schon so groß, daß niemand mehr Bescheid weiß. Die Hauptsache ist, daß du nicht zu finden bist.« Ein Grinsen flackerte über sein Gesicht. »In solchen! Zeiten ist das immer die Hauptsache. Weit vom Schuß sein.«

»Los«, sagte 509. »Laßt uns einen Toten suchen, der nicht tätowiert ist.«

Sie hatten wenig Licht. Ein schwelendes, unruhiges Rot am westlichen Horizont half ihnen nicht. Sie mußten sich tief über die Arme der Toten beugen, um festzustellen, ob Nummern auf die Arme tätowiert waren. Sie fanden einen, der ungefähr in Bergers Größe war, und zogen ihm seine Sachen aus.

»Los, Ephraim!«

Sie saßen an der Seite der Baracke, die von den Posten abgekehrt war. »Zieh dich rasch hier um«, flüsterte Lewinsky. »Je weniger es wissen, um so besser. Gib deine Jacke und Hose her!«


Berger zog sich aus. Er stand wie ein gespenstischer Harlekin gegen der Himmel. Bei dem unvermuteten Wäscheempfang hatte er eine Frauenunterhose zugeworfen bekommen, die ihm bis zur halben Wade ging. Dazu trug er ein tief ausgeschnittenes Hemd ohne Ärmel.

»Meldet ihn morgen früh als tot.«

»Ja. Der SS-Blockführer kennt ihn nicht. Mit dem Blockältesten werden schon fertig.«

Lewinsky grinste flüchtig. »Ihr habt euch ganz gut rausgemacht. Komm, Bürger.«


»Also doch ein Transport!« Rosen starrte hinter Berger her. »Sulzbacher hat recht gehabt. Wir hätten nicht über die Zukunft reden sollen. Es bringt Unglück.«

»Unsinn! Wir haben zu essen gekriegt. Berger ist gerettet worden. Es ist nicht sicher, ob Neubauer den Befehl weitergibt. Was willst du mit deinem Unglück? Willst du Garantien auf Jahre haben?«

»Kommt Berger wieder?« fragte jemand hinter 509.

»Er ist gerettet«, sagte Rosen bitter. »Er kommt nicht in den Transport.«

»Halt die Schnauze!« erwiderte 509 scharf. Dann wandte er sich um. Hinter ihm stand Karel.

»Natürlich kommt er wieder, Karel«, sagte er. »Warum bleibst du nicht in der Baracke?«

Karel zog die Schultern hoch. »Ich dachte, ihr hättet ein bißchen Leder zum Kauen.«

»Hier ist etwas Besseres«, sagte Ahasver. Er gab ihm sein Stück Brot und die Karotte.

Er hatte sie für ihn aufbewahrt.

Karel begann sehr langsam zu essen. Nach einer Weile sah er die Blicke der anderen.

Er stand auf und ging weg. Als er wiederkam, kaute er nicht mehr. »Zehn Minuten«, sagte Lebenthal und blickte auf seine Nickeluhr. »Eine gute Leistung, Karel. Bei mir hat es zehn Sekunden gedauert.«

»Können wir die Uhr nicht gegen Essen tauschen, Leo?« fragte 509.

»Heute nacht können wir nichts tauschen. Nicht einmal Gold.«

»Man kann Leber essen«, sagte Karel.

»Was?«

»Leber. Frische Leber. Wenn man sie gleich herausschneidet, kann man sie essen.«

»Wo herausschneidet?«

»Aus den Toten.«

»Woher hast du das, Karel?« fragte Ahasver nach einiger Zeit.

»Von Blatzek.«

»Von was für einem Blatzek?«

»Blatzek im Brünner Lager. Er sagte, es sei besser, als selber zu sterben. Die Toten seien tot und würden sowieso verbrannt. Er hat mir viel beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man sich tot stellt und wie man laufen muß, wenn hinter einem geschossen wird: Zickzack, unregelmäßig, auf und nieder. Auch wie man Platz zum Atmen im Massengrab behält und sich nachts ausgräbt. Blatzek wußte viel.«

»Du weißt auch genug Karel.«

»Natürlich. Sonst wäre ich nicht mehr hier.«

»Stimmt. Aber laßt uns an etwas anderes denken«, sagte 509.

»Wir müssen dem Toten noch Bergers Sachen anziehen.«

Es war leicht. Der Tote war noch nicht starr. Sie packten einige andere Leichen über ihn. Dann hockten sie sich wieder hin. Ahasver murmelte halblaut. »Du hast viel zu beten diese Nacht, Alter«, sagte Bucher finster.

Ahasver blickte auf. Er horchte einen Augenblick auf das ferne Rollen. »Als der erste Jude von ihnen erschlagen wurde, ohne daß Gericht über die Mörder gehalten wurde, haben sie das Gesetz des Lebens gebrochen«, sagte er langsam. »Sie haben gelacht.


Sie haben gesagt: Was sind schon ein paar Juden gegen das größere Deutschland? Sie haben weggesehen. Dafür werden sie jetzt von Gott geschlagen. Ein Leben ist ein Leben. Auch das ärmste.« Er begann wieder zu murmeln. Die anderen schwiegen. Es wurde kühler. Sie krochen enger zusammen.

Der Scharführer Breuer erwachte. Er knipste schlaftrunken die Lampe neben seinem Bett an. Im gleichen Moment leuchteten zwei grüne Lichter auf seinem Tisch auf. Es waren zwei kleine elektrische Birnen, die geschickt in den Augenhöhlen eines Totenschädels angebracht worden waren. Wenn Breuer noch einmal knipste, erloschen alle anderen Lampen – nur der Totenschädel leuchtete durch das Dunkel weiter. Es war ein interessanter Effekt. Breuer liebte ihn sehr. Auf dem Tisch standen ein Teller mit Kuchenkrümeln und eine geleerte Kaffeetasse. Daneben lagen ein paar Bücher – Abenteuerromane von Karl May. Breuers literarische Bildung erschöpfte sich damit und mit einem obszönen Privatdruck über die Liebesabenteuer einer Tänzerin. Gähnend richtete er sich auf. Er hatte einen schlechten Geschmack im Munde. Eine Weile lauschte er. Die Zellen im Bunker waren stumm. Niemand wagte zu jammern; Breuer hätte den Insassen schon Disziplin beigebracht. Er griff unter das Bett, holte eine Flasche Kognak hervor und langte ein Weinglas vom Tisch herunter. Er füllte es und trank es aus. Dann lauschte er wieder. Das Fenster war geschlossen: trotzdem glaubte er das Grollen der Geschütze zu hören. Er goß sich noch ein Glas ein und trank es. Dann stand er auf und blickte auf seine Uhr. Es war halb drei. Er zog seine Stiefel über seinen Pyjama. Er brauchte die Stiefel; er trat gern gegen Bäuche. Ohne Stiefel hatte das wenig Effekt. Der Pyjama war praktisch; der Bunker war sehr heiß. Breuer hatte genug Kohlen. Das Krematorium war schon knapp daran; aber Breuer hatte sich rechtzeitig einen Vorrat für seine Zwecke gesichert. Langsam ging er den Korridor entlang. Jede Zelle hatte ein Fenster, durch das man hineinsehen konnte. Breuer hatte das nicht nötig. Er kannte seine Menagerie, und er war stolz auf diesen Ausdruck. Ab und zu nannte er ihn auch seinen Zirkus; dann kam er sich mit seiner Peitsche wie ein Dompteur vor. Er ging die Zellen ab wie ein Weinliebhaber seinen Keller. Und so, wie ein Weinkenner den ältesten Wein wählt, so beschloß Breuer, seinen ältesten Gast für heute vorzunehmen. Es war Lübbe in Zelle 7. Er schloß sie auf. Die Zelle war klein und unerträglich heiß. Sie hatte einen sehr großen Zentralheizungskörper, der voll aufgedreht war An den Röhren war ein Mann mit Händen und Füßen angekettet. Er hing bewußtlos knapp über dem Boden. Breuer betrachtete ihn eine Zeitlang; dann holte er eine Gießkanne mit Wasser vom Korridor und besprengte den Mann wie eine verdorrte Pflanze. Das Wasser zischte auf den Heizungsröhren und verdampfte. Lübbe rührte sich nicht., Breuer schloß die Ketten auf. Die angebrannten Hände fielen nieder. Der Rest der Gießkanne sprühte über die Figur am Boden. Eine Wasserlache bildete sich. Breuer ging mit der Gießkanne hinaus, um sie noch einmal zu füllen. Draußen blieb er stehen. Zwei Zellen weiter stöhnte jemand. Er stellte die Kanne ab, schloß die zweite Zelle auf und ging gemächlich hinein. Man hörte ihn murmeln; dann kamen dumpfe Geräusche wie Tritte; dann Poltern, Klirren, Stoßen, Schieben und plötzlich gellende Schreie, die langsam in Röcheln übergingen. Noch ein paar dumpfe Aufschläge, und Breuer erschien wieder. Sein rechter Stiefel war naß. Er füllte die Gießkanne und schlenderte zurück zur Zelle 7. »Sieh da!« sagte er. »Aufgewacht!«

Lübbe lag flach am Boden, das Gesicht nach unten. Er versuchte, mit beiden Händen das Wasser auf dem Fußboden zusammenzuscharren, um es aufzulecken. Er bewegte sich ungeschickt, wie eine halbtote Kröte. Plötzlich sah er die volle Gießkanne. Mit einem leisen Krächzen bäumte er sich auf, warf sich herum und haschte danach.

Breuer trat ihm auf die Hände. Lübbe konnte sie nicht unter den Stiefeln fortziehen. Er reckte seinen Hals, so weit er konnte, zur Gießkanne hin; seine Lippen bebten, sein Kopf zitterte, und er krächzte mit großer Anstrengung.

Breuer betrachtete ihn mit den Augen des Fachmannes. Er sah, daß Lübbe fast fertig war. »Na, sauf schon«, knurrte er. »Sauf deine Henkersmahlzeit.«

Er grinste über seinen Witz und stieg von den Händen herunter. Lübbe warf sich über die Kanne mit solcher Hast, daß sie schwankte. Er glaubte nicht an sein Glück. »Sauf langsam«, sagte Breuer.

»Wir haben Zeit.«

Lübbe trank und trank. Er hatte Stufe sechs des Breuerschen Erziehung«-Programms hinter sich: Ernährung mit nichts anderem als Salzheringen und Salzwasser für einige Tage; dazu volle Hitze, angekettet an die Heizungsröhren.

»Schluß«, erklärte Breuer schließlich und riß die Kanne weg. »Steh auf. Komm mit.«

Lübbe stolperte hoch. Er lehnte an der Wand und erbrach Wasser. »Siehst du«, sagte Breuer.

»Ich habe dir gesagt, trink langsam. Marsch!«

Er stieß Lübbe vor sich her, den Korridor entlang, in sein Zimmer. Lübbe fiel hinein.

»Steh auf«, sagte Breuer. »Setz dich auf den Stuhl. Los.«

Lübbe kroch auf den Stuhl. Er schwankte und lehnte sich zurück und wartete auf die nächste Tortur. Er kannte nichts anderes mehr.

Breuer sah ihn nachdenklich an. »Du bist mein ältester Gast, Lübbe. Sechs Monate, wie?«

Das Gespenst vor ihm schwankte. »Wie?« wiederholte Breuer. Das Gespenst nickte.

»Eine schöne Zeit«, erklärte Breuer. »Lange. So was verbindet direkt. Du bist mir irgendwie ans Herz gewachsen. Das ist komisch, aber es ist tatsächlich so ähnlich. Ich habe ja persönlich nichts gegen dich, das weißt du -« »Das weißt du«, wiederholte er nach einer Pause. »Oder nicht?« Das Gespenst nickte wieder. Es wartete auf die nächste Folter.

»Es geht einfach gegen euch alle. Der einzelne ist piepegal.« Breuer nickte gewichtig und schenkte sich Kognak ein. »Piepegal. Schade, ich dachte, du hättest durchgestanden. Wir hatten nur noch Aufhängen an den Füßen und eine Kürübung, dann wärest du durch gewesen und 'rausgekommen, das weißt du?«

Das Gespenst nickte. Es wußte es nicht genau; aber es stimmte, daß Breuer manchmal Gefangene entließ, für die nicht ausdrücklich Todesbefehl vorlag, nachdem sie alle Foltern durchgestanden hatten. Er hatte da eine Art von Bürokratie; wer durchkam, hatte eine Chance. Es hing mit einer widerwilligen Bewunderung dafür zusammen, daß der Gegner so viel aushielt. Es gab Nazis, die so dachten, und die sich deshalb für sportlich und für Gentlemen hielten.

»Schade«, sagte Breuer. »Ich hätte dich eigentlich ganz gern laufenlassen. Du hast Courage gehabt.

Schade, daß ich dich trotzdem erledigen muß. Weißt du, warum?«

Lübbe antwortete nicht. Breuer zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster.

»Darum.« Er horchte einen Augenblick. »Hörst du es?« Er sah, daß Lübbes Augen ihm verständnislos folgten. »Artillerie«, sagte er. »Feindliche Artillerie. Sie kommen näher. Deshalb!

Deshalb wirst du heute nacht umgelegt.«

Er schloß das Fenster. »Pech, was?« Er grinste ein schiefes Lächeln. »Gerade ein paar Tage, bevor sie euch hier «herausholen können. Richtiges Pech, was?«

Er freute sich über seinen Einfall. Es gab dem Abend Finesse; ein Stück seelischer Folter als Abschluß. »Wirklich, verdammtes Pech, was?«

»Nein«, flüsterte Lübbe.


»Was?«

»Nein.«

»Bist du so lebensmüde?«

Lübbe schüttelte den Kopf. Breuer sah ihn überrascht an. Er spürte, daß nicht ganz dasselbe Wrack mehr vor ihm saß wie vor einer Minute. Lübbe sah plötzlich aus, als habe er einen Tag Ruhe gehabt. »Weil sie euch jetzt holen werden«, flüsterte er mit zerrissenen Lippen. »Alle.«

»Quatsch! Quatsch!« Breuer war einen Moment wütend. Er merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Anstatt Lübbe zu quälen, hatte er ihm einen Dienst erwiesen.

Wer konnte auch ahnen, daß der Kerl so wenig an seinem Leben hing?»Bilde dir nur nichts ein!

Ich habe dir was vorgeschwindelt. Wir verlieren nicht! Wir räumen hier nur! Die Front wird verlegt, das ist alles!«

Es wirkte nicht überzeugend. Breuer wußte es selbst. Er nahm einen Schluck. Ist auch gleich, dachte er und trank noch einmal. »Denk, was du willst«, sagte er dann. »Ist trotzdem dein Pech.

Zwingt mich, dich umzulegen.«

Er spürte den Alkohol. »Schade für dich, und schade für mich. War ein| schönes Leben. Na ja, für dich nicht, wenn man gerecht sein will.«

Lübbe beobachtete ihn trotz seiner Schwäche. »Was mir an dir gefällt« sagte Breuer,»ist, daß du nicht klein beigegeben hast. Aber ich muß dich umlegen, damit du nichts erzählst. Gerade dich, den ältesten Gast. Dich zuerst. Die anderen kommen auch ran«, fügte er begütigend hinzu. »Keine Zeugen hinterlassen. Alte nationalsozialistische Parole.«

Er holte einen Hammer aus der Tischschublade. »Ich will es kurz machen mit dir.« Er legte den Hammer neben sich. Im selben Moment torkelte Lübbe vom Stuhl hoch und versuchte, mit den verbrannten Händen nach dem Hammer zu greifen. Breuer stieß ihn mit der Faust leicht beiseite.

Lübbe fiel. »Sieh da«, sagte Breuer gutmütig. »Immer noch mal ein Versuch! Hast ganz recht.

Warum nicht? Bleib nur auf dem Boden sitzen. Ich habe dich da besser zur Hand.« Er hielt die Hand ans Ohr. »Was? Was sagst du?« »Sie werden euch alle – alle genauso -«

»Ach Unsinn, Lübbe. Das möchtest du wohl. Die machen so was nicht. Sind viel zu fein dazu. Ich werde auch vorher weg sein. Und von euch wird keiner mehr reden.« Er nahm wieder einen Schluck. »Willst du noch eine Zigarette?« fragte er plötzlich.

Lübbe sah ihn an. »Ja«, sagte er.

Breuer steckte ihm eine Zigarette zwischen die blutenden Lippen. »Hier!«

Er zündete ihm die Zigarette an und mit demselben Streichholz auch sich eine.

Beide rauchten und schwiegen. Lübbe wußte, daß er verloren war. Er horchte zum Fenster hinüber. Breuer trank sein Glas aus. Dann legte er die Zigarette weg und griff nach dem Hammer.

»Also, los jetzt.«

»Sei verflucht!« flüsterte Lübbe. Die Zigarette fiel ihm nicht aus dem Mund. Sie klebte an seiner blutigen Oberlippe fest. Breuer schlug einige Male mit der stumpfen Seite des Hammers zu. Es war ein Kompliment für Lübbe, der langsam zusammensank, daß er nicht die spitze Seite genommen hatte.

Eine Weile saß Breuer und brütete vor sich hin. Dann fiel ihm ein, was Lübbe gesagt hatte. Er fühlte sich in einer unklaren Weise betrogen. Lübbe hatte ihn betrogen. Er hätte jammern sollen.

Aber Lübbe hätte nie gejammert; auch nicht, wenn er ihn langsam getötet hätte. Er hätte gestöhnt; aber das galt nichts, das war nur der Körper.

Es war wie lautes Luftholen, nicht mehr. Breuer hörte wieder das Rollen hinter dem Fenster. Irgend jemand mußte noch einmal jammern, diese Nacht, sonst brach alles kaputt. Das war es; er wußte es jetzt. Es konnte nicht so aufhören, mit Lübbe. Lübbe hätte sonst gewonnen gehabt. Schwerfällig stand er auf und ging zur Zelle 4. Er hatte Glück. Eine entsetzte Stimme begann bald zu heulen, zu betteln, zu schreien, zu jammern, und erst nach langer Zeit wurde sie leiser und leiser und verstummte endlich ganz. Breuer kam befriedigt in sein Zimmer zurück. »Siehst du! Wir haben euch doch noch in der Gewalt«, sagte er zur Leiche Lübbes und stieß sie mit dem Fuße an. Der Stoß war nicht heftig; aber irgend etwas in Lübbes Gesicht bewegte sich. Breuer beugte sich hinab; ihm war, als habe Lübbe ihm eine graue Zunge herausgestreckt. Dann entdeckte er, daß die Zigarette im Munde des Toten weitergebrannt hatte bis auf die Lippen; die kleine Aschensäule war durch den Stoß heruntergefallen. Breuer war plötzlich müde. Er hatte keine Lust mehr, den Toten hinauszuschleifen; er schob ihn deshalb mit den Füßen unter das Bett. Es hatte Zeit bis morgen. Eine dunkle Spur blieb auf dem Fußboden. Breuer grinste schläfrig. Und ich konnte mal kein Blut sehen, als ich klein war, dachte er; zu komisch!

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