VI

Neubauer saß in seinem Büro. Ihm gegenüber saß der Stabsarzt Wiese, ein kleiner, affenähnlicher Mann mit Sommersprossen und einem zerfransten, rötlichen Schnurrbart.

Neubauer war schlecht gelaunt. Er hatte einen dieser Tage, an dem alles schiefzugehen schien. Die Nachrichten in den Zeitungen waren mehr als vorsichtig gewesen; Selma hatte zu Hause herumgemurrt; Freya war mit roten Augen durch die Wohnung geschlichen; zwei Rechtsanwälte hatten ihre Büros in seinem Geschäftshaus gekündigt – jetzt kam auch noch dieser lausige Pillendreher mit seinen Wünschen daher.

»Wieviel Leute wollen Sie denn haben?« fragte er mürrisch.

»Sechs genügen einstweilen. Körperlich ziemlich weit herunter.«

Wiese gehörte nicht zum Lager. Er besaß vor der Stadt ein kleines Hospital und hatte den Ehrgeiz, ein Mann der Wissenschaft zu sein. Er machte, wie manche andere Ärzte, Experimente an lebenden Menschen, und das Lager hatte ihm einigemale Gefangene dafür zur Verfügung gestellt.

Er war mit dem früheren Gauleiter der Provinz befreundet gewesen, und niemand hatte deshalb viel gefragt, wozu er die Leute benutzte. Die Leichen waren immer ordnungsgemäß später im Krematorium abgeliefert worden; das hatte genügt.

»Und sie brauchen die Leute für klinische Experimente?« fragte Neubauer.

»Ja. Versuche für die Armee. Geheim, vorläufig, natürlich.« Wiese lächelte. Die Zähne unter seinem Schnurrbart waren überraschend groß. »So, geheim -« Neubauer schnaufte. Er konnte diese überlegenen Akademiker nicht leiden. Überall mischten sie sich ein und verdrängten mit ihrer Wichtigtuerei die alten Kämpfer. »Sie können haben, so viele Sie wollen«, sagte er. »Wir sind froh, wenn die Leute noch zu etwas gut sind. Alles, was wir hier dafür brauchen, ist ein Überweisungsbefehl.«

Wiese blickte überrascht auf. »Ein Überweisungsbefehl?«

»Gewiß. Ein Überweisungsbefehl von meinem übergeordneten Amt.«

»Aber wieso – ich verstehe das nicht -«

Neubauer unterdrückte seine Genugtuung. Er hatte Wieses Überraschung erwartet.

»Ich verstehe wirklich nicht -« sagte der Stabsarzt noch einmal. »Ich habe doch bis jetzt nie etwas Derartiges gebraucht.«

Neubauer wußte das auch. Wiese hatte es nicht gebraucht, weil er den Gauleiter gekannt hatte.

Aber der Gauleiter war inzwischen wegen einer undurchsichtigen Angelegenheit ins Feld verschickt worden; das gab Neubauer jetzt eine willkommene Gelegenheit, dem Stabsarzt Schwierigkeiten zu machen.

»Das Ganze ist eine reine Formsache«, erklärte er leutselig. »Wenn die Armee die Überweisung für Sie beantragt, bekommen Sie die Leute ohne weiteres.«

Wiese hatte wenig Interesse daran; er hatte die Armee nur als Vorwand benutzt.

Neubauer wußte das ebenfalls. Wiese zerrte nervös an seinem Schnurrbart. »Ich verstehe das alles nicht. Ich habe bisher immer ohne weiteres Leute bekommen.«

»Für Experimente? Von mir?«

»Hier vom Lager.«

»Da muß ein Irrtum vorliegen.« Neubauer griff zum Telefon. »Ich werde mich einmal erkundigen.«

Er brauchte sich nicht zu erkundigen, er wußte auch so Bescheid. Nach ein paar Fragen legte er den Hörer nieder. »Ganz, wie ich vermutet habe, Herr Doktor. Sie haben früher Leute für leichte Arbeit angefordert und bekommen. So etwas macht unser Arbeitsamt ohne Formalitäten. Wir versorgen täglich Dutzende von Betrieben mit Arbeitskommandos. Die Leute bleiben dabei dem Lager unterstellt. Ihr Fall heute liegt anders. Sie verlangen dieses Mal Leute für klinische Experimente. Das macht eine Überweisung notwendig. Die Leute verlassen damit offiziell das Lager.

Dafür brauche ich einen Befehl.«

Wiese schüttelte den Kopf. »Das ist doch eins wie das andere«, erklärte er ärgerlich.

»Früher sind die Leute ebenso für Experimente benutzt worden wie jetzt.«

»Davon weiß ich nichts.« Neubauer lehnte sich zurück. »Ich weiß nur, was in den Akten steht.

Und ich glaube, es ist besser, wir lassen es dabei. Sie haben zweifellos kein Interesse daran, die Aufmerksamkeit der Behörden auf einen solchen Irrtum zu lenken.«

Wiese schwieg einen Moment. Er merkte, daß er sich selbst gefangen hatte. »Hätte ich Leute bekommen, wenn ich sie für leichte Arbeit angefordert hätte?« fragte er dann.

»Sicherlich. Dafür ist unser Arbeitsamt ja da.«

»Gut. Dann bitte ich um sechs Leute für leichte Arbeit.«

»Aber, Herr Stabsarzt!« Neubauer genoß die Situation mit vorwurfsvollem Triumph.

»Mir fehlen, offen gestanden, die Grundlagen für einen so plötzlichen Wechsel ihrer Wünsche. Erst wollen Sie Leute haben, die körperlich möglichst weit herunter sind, und dann verlangen Sie sie für leichte Arbeit. Das ist doch ein Widerspruch! Wer bei uns körperlich weit genug herunter ist, kann nicht einmal mehr Strümpfe stopfen, das können Sie mir glauben. Wir sind hier ein mit preußischer Ordnung geführtes Erziehungs- und Arbeitslager -« Wiese schluckte, stand brüsk auf und griff nach seiner Mütze. Neubauer erhob sich ebenfalls. Er war zufrieden damit, Wiese geärgert zu haben. Es lag ihm nichts daran, sich den Mann völlig zum Feinde zu machen. Man konnte nie wissen, ob der alte Gauleiter nicht eines Tages wieder in Gnaden aufgenommen werden würde. »Ich habe einen anderen Vorschlag, Herr Doktor«, sagte er deshalb. Wiese drehte sich um. Er war blaß. Die Sommersprossen stachen scharf aus seinem käsigen Gesicht. »Bitte?« »Wenn Sie die Leute so dringend brauchen, könnten Sie nach Freiwilligen fragen. Das erspart die Formalitäten. Wenn ein Häftling der Wissenschaft einen Dienst leisten will, so haben wir nichts dagegen. Es ist nicht ganz offiziell, aber das nehme ich auf meine Kappe, besonders bei den nutzlosen Fressern im Kleinen Lager. Die Leute unterschreiben eine entsprechende Erklärung, fertig.« Wiese antwortete nicht gleich. »In einem solchen Falle ist nicht einmal eine Bezahlung für Arbeitsleistungen nötig«, sagte Neubauer herzlich. »Die Leute bleiben offiziell im Lager. Sie sehen, ich tue, was ich kann.« Wiese blieb mißtrauisch. »Ich weiß nicht, weshalb Sie plötzlich so schwierig sind. Ich diene dem Vaterland -« »Das tun wir alle. Ich bin auch nicht schwierig. Nur ordentlich. Bürokram. Scheint einem wissenschaftlichen Genie wie Ihnen unnötig zu sein; aber für uns ist es nun mal die halbe Welt.« »Ich kann also sechs Freiwillige haben?« »Sechs und mehr, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen sogar unseren ersten Lagerführer auf die Tour mitgeben; er kann Sie zum Kleinen Lager führen. Sturmführer Weber. Überaus fähiger Mann.« »Gut. Danke.« »Nichts zu danken. War ein Vergnügen.« Wiese ging. Neubauer griff zum Telefon und instruierte Weber. »Lassen Sie ihn sich ordentlich abzappeln! Keine Befehle! Nur Freiwillige. Er soll sich meinetwegen die Schwindsucht an den Hals reden. Wenn keiner will, können wir ihm eben auch nicht helfen.« Er schmunzelte und legte den Hörer wieder auf. Seine schlechte Laune war verschwunden. Es hatte ihm gut getan, einem dieser Kulturbolschewisten einmal zu zeigen, daß man auch noch etwas zu melden hatte. Das mit den Freiwilligen war ein besonders guter Einfall gewesen. Es würde Wiese schwerfallen, jemand zu ergattern. Die Gefangenen wußten fast alle Bescheid. Selbst der Lagerarzt, der sich ebenfalls für einen Gelehrten hielt, muß sich seine Opfer auf den Straßen zusammenfangen, wenn er gesunde Leute für Experimente brauchte. Neubauer grinste und beschloß, später nachzuforschen, was aus der Sache geworden war. »Kann man die Wunde sehen?« fragte Lebenthal. »Kaum«, sagte Berger. »Die SS sicher nicht. Es war der vorletzte Backenzahn. Der Kiefer ist jetzt starr.« Sie hatten die Leiche Lohmanns vor die Baracke gelegt. Der Morgenappell war vorbei. Sie warteten auf den Wagen für die Toten. Ahasver stand neben 509. Seine Lippen bewegten sich. »Für diesen brauchst du nicht Kaddisch zu sagen, Alter«, erklärte 509. »Dieser war ein Protestant.« Ahasver blickte auf. »Es wird ihm nicht schaden«, sagte er ruhig und murmelte weiter.

Bucher erschien. Hinter ihm kam Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei. Seine Beine waren dünn wie Stöcke und das Gesicht winzig wie eine Faust unter dem viel zu großen Schädel. Er schwankte.

»Geh zurück, Karel«, sagte 509. »Hier ist es zu kalt für dich.«

Der Junge schüttelte den Kopf und kam näher. 509 wußte, warum er bleiben wollte.

Lohmann hatte ihm manchmal etwas von seinem Brot gegeben. Und dieses hier war Lohmanns Beerdigung; es war der Weg zum Friedhof, es waren die Kränze und Blumen mit bitterem Geruch, es war Beten und Klagen, es war alles, was sie noch für ihn tun konnten – dieses: da zu stehen und mit trockenen Augen auf den Körper zu starren, der in der frühen Sonne lag.

»Da kommt der Wagen«, sagte Berger.

Das Lager hatte früher nur Leichen träger gehabt; dann, als die Toten zahlreicher wurden, außerdem einen Wagen mit einem Schimmel. Der Schimmel war gestorben, und jetzt hatte man ein ausgedientes, flaches Lastauto mit einer Lattenverschalung, wie es zum Transport von geschlachtetem Vieh benutzt wurde. Es fuhr von Baracke zu Baracke, die Toten zu sammeln.

»Sind Leichenträger dabei?«

»Nein.«

»Dann müssen wir ihn selbst aufladen. Holt Westhof und Meyer.«

»Die Schuhe«, flüsterte Lebenthal plötzlich aufgeregt.

»Ja. Aber er muß etwas an den Füßen haben. Haben wir was?«

»In der Baracke ist noch das zerrissene Paar von Buchsbaum. Ich hole es.«

»Stellt euch hier herum«, sagte 509. »Rasch! Paßt auf, daß man mich nicht sehen kann.«

Er kniete neben Lohmann nieder. Die anderen stellten sich so, daß er gegen das Lastauto, das vor Baracke 17 hielt, und gegen die Posten auf den nächsten Türmen geschützt war. Er konnte die Schuhe leicht abziehen; sie waren viel zu groß. Die Füße Lohmanns bestanden nur noch aus Knochen.

»Wo ist das andere Paar? Rasch, Leo!« »Hier -«

Lebenthal kam aus der Baracke. Die zerrissenen Schuhe hatte er unter seiner lacke.

Er trat zwischen die anderen und drehte sich so, daß er sie vor 509 fallen lassen konnte. 509 gab ihm die anderen in die Hände. Lebenthal schob sie unter seiner Jacke hoch, bis sie in seinen Achseln verborgen waren, und ging dann zur Baracke zurück. 509 streifte Lohmann die zerrissenen Schuhe Buchsbaums über die Füße und stand taumelnd auf. Das Auto hielt jetzt vor Baracke 18.

»Wer fährt es?«

»Der Kapo selbst. Strohschneider.«

Lebenthal kam zurück. »Wie konnten wir das nur vergessen!« sagte er zu 509. »Die Sohlen sind noch gut.«

»Kann man sie verkaufen?«

»Tauschen.«

»Gut.«

Das Auto kam näher. Lohmann lag in der Sonne. Der Mund war schief gezogen und etwas offen, und eines der Augen schimmerte wie ein gelber Hörnknopf. Keiner sagte mehr etwas. Alle sahen ihn an. Er war endlos weit weg.

Die Leichen der Sektionen B und C waren aufgeladen. »Los!« schrie Strohschneider.

»Wollt ihr noch eine Predigt? Schmeißt die Stinker 'rauf.«

»Kommt«, sagte Berger.

Sektion D hatte diesen Morgen nur vier Leichen. Für die drei ersten fand sich noch Platz. Dann aber war der Wagen voll. Die Veteranen wußten nicht mehr, wo sie Lohmann unterbringen sollten.

Die übrigen Leichen lagen bis oben hin übereinander.


Die meisten waren steif. »Oben drauf!« schrie Strohschneider. »Soll ich euch Beine machen? Laßt ein paar 'raufklettern, ihr faulen Schweine! Das ist doch die einzige Arbeit, die ihr noch zu machen braucht. Krepieren und aufladen!«

Sie konnten Lohmann nicht von unten auf den Wagen heben. »Bucher! Westhof!« sagte 509.

»Kommt!«

Sie legten die Leiche wieder auf den Boden. Lebenthal, 509, Ahasver und Berger halfen Bucher und Westhof, auf den Wagen zu klettern. Bucher war fast oben, als er ausrutschte und schwankte.

Er griff nach einem Halt; aber die Leiche, an der er sich hielt, war noch nicht starr. Sie gab nach und glitt mit ihm zusammen herunter. Es sah entsetzlich demütig aus, wie sie so widerstandslos auf die Erde glitt, als bestände sie aus nichts als aus Gelenken.

»Verdammt!« schrie Strohschneider. »Was ist das für eine Sauerei?«

»Rasch, Bucher! Noch einmal!« flüsterte Berger.

Sie keuchten und schoben Bucher wieder hoch. Es gelang ihm diesmal, sich festzuhalten. »Erst die andere«, sagte 509. »Sie ist noch weich. Wir können sie leichter weiterschieben.«

Es war der Körper einer Frau. Sie war schwerer, als die Leichen im Lager gewöhnlich waren. Sie hatte auch noch Lippen. Sie war gestorben, nicht verhungert.

Sie hatte noch Brüste, keine Hautsäcke. Sie war nicht aus der Frauenabteilung, die an das Kleine Lager grenzte; dann wäre sie magerer gewesen. Sie mußte vom Austauschlager der Juden mit südamerikanischen Einreisepapieren sein; dort waren noch Familien zusammen.

Strohschneider war von seinem Sitz geklettert und sah die Frau. »Wollt euch wohl aufgeilen, ihr Ziegenböcke, was?«

Er brüllte vor Lachen über seinen Witz. Als Kapo des Leichenträgerkommandos hätte er den Wagen nicht selbst zu fahren brauchen; er tat es, weil es ein Auto war.

Er war früher Chauffeur gewesen und fuhr, wo er nur konnte. Er war auch stets gut gelaunt, wenn er am Steuer saß.

Zu acht brachten sie den weichen Körper endlich wieder hinauf. Sie zitterten vor Erschöpfung.

Dann hoben sie Lohmann an, während Strohschneider Kautabaksaft nach ihnen ausspuckte.

Lohmann war sehr leicht nach der Frau.

»Hakt ihn fest«, flüsterte Berger Bucher und Westhof zu. »Hakt seinen Arm an einem anderen fest.«

Es gelang ihnen, einen Arm Lohmanns durch die seitliche Lattenverschalung des Wagens zu schieben. Der Arm hing dadurch heraus, aber die Querstrebe hielt den Körper unter der Achselhöhle fest.

»Fertig«, sagte Bucher und ließ sich herunterfallen.

»Fertig, ihr Heuschrecken?«

Strohschneider lachte. Die zehn hastigen Skelette hatten ihn an riesige Heuschrecken erinnert, die eine starre, elfte, herumschleppten. »Ihr Heuschrecken«, wiederholte er und sah die Veteranen an.

Keiner lachte mit. Sie keuchten nur und starrten auf das Ende des Lastautos, aus dem die Füße der Toten ragten. Viele Füße. Ein paar Kinderfüße in schmutzigen weißen Schuhen waren darunter.

»Nun«, sagte Strohschneider, während er auf seinen Sitz kletterte. »Wer von euch Typhusbrüdern ist der nächste?«

Niemand antwortete. Strohschneiders gute Laune schwand. »Scheißer«,knurrte er.

»Und selbst dazu seid ihr noch zu dämlich.«

Er gab überraschend Gas. Der Motor knatterte wie eine Maschinengewehrsalve. Die Skelette sprangen zur Seite. Strohschneider nickte erfreut und wendete den Wagen.

Sie standen im blauen Ölrauch. Lebenthal hustete. »Dieses dicke, vollgefressene Schwein«, schimpfte er.

509 blieb in dem Qualm stehen. »Vielleicht ist das gut gegen Läuse.«


Der Wagen fuhr zum Krematorium hinunter. Lohmanns Arm hing seitlich heraus.

Der Wagen wippte auf der unebenen Straße, und der Arm schwankte, als winke er.

509 sah hinterher. Er fühlte die Goldkrone in der Tasche. Einen Moment war ihm, als hätte der Zahn auch verschwunden sein müssen, zusammen mit Lohmann.

Lebenthal hustete immer noch. 509 wandte sich um. Er fühlte in seiner Tasche jetzt auch das Stück Brot vom Abend vorher. Er hatte es noch nicht gegessen Er fühlte es, und es schien ihm wie ein sinnloser Trost. »Wie ist es mit den Schuhen, Leo?« fragte er. »Was sind sie wert?«

Berger war auf dem Wege zum Krematorium, als er Weber und Wiese sah. Er humpelte sofort zurück. »Weber kommt! Mit Handke und einem Zivilisten! Ich glaube, es ist der Meerschweinarzt.

Vorsicht!«

Die Baracken gerieten in Aufruhr. Höhere SS-Offiziere kamen fast nie ins Kleine Lager. Jeder wußte, daß es einen besonderen Grund haben mußte. »Der Schäferhund, Ahasver!« rief 509.

»Versteck ihn!«

»Glaubst du, daß sie die Baracken revidieren wollen?«

»Vielleicht nicht. Es ist ein Zivilist dabei.«

»Wo sind sie?« fragte Ahasver. »Ist noch Zeit?«

»Ja. Rasch!«

Der Schäferhund legte sich gehorsam nieder, während Ahasver ihn streichelte und 509 ihm Hände und Füße band, damit er nicht nach draußen laufen konnte. Er tat es zwar nie; aber dieser Besuch war außergewöhnlich, und es war besser, nichts zu riskieren. Ahasver stopfte ihm noch einen Lumpen in den Mund, so daß er atmen, aber nicht bellen konnte. Dann schoben sie ihn in die dunkelste Ecke. »Bleib da!«

Ahasver hob die Hand. »Ruhig! Platz!« Der Schäferhund hatte versucht, sich zu erheben. »Leg dich! Still! Bleib da!« Der Irrsinnige sank zurück.

»'raustreten!« schrie Handke draußen.

Die Skelette drängten sich heraus und stellten sich auf. Wer nicht gehen konnte, wurde gestützt oder getragen und auf die Erde gelegt.

Es war ein erbärmlicher Haufen von halbtoten, sterbenden und verhungernden Menschen. Weber wandte sich an Wiese. »Ist das hier, was Sie brauchen?«

Wieses Nasenflügel schnupperten, als rieche er einen Braten. »Prächtige Spezimen«, murmelte er.

Dann setzte er eine Hornbrille auf und betrachtete die Reihen wohlwollend.

»Wollen Sie sie aussuchen?« fragte Weber.

Wiese hüstelte. »Ja – nun, da war von Melden die Rede – freiwillig -«

»Na, schön«, erwiderte Weber. »Wie Sie wollen. Sechs Mann vortreten für leichte Arbeit.«

Niemand bewegte sich. Weber wurde rot. Die Blockältesten schrieen das Kommando nach und begannen, eilig Leute vorzustoßen. Weber ging gelangweilt die Reihen entlang und entdeckte plötzlich Ahasver im hinteren Glied vor Baracke 22. »Der da! Der mit dem Bart!« schrie er.

»'raustreten! Weißt du nicht, daß es verboten ist, so 'rumzulaufen? Blockältester! Was fällt Ihnen ein? Wozu sind Sie da?

Vortreten, der Kerl da!«

Ahasver trat vor. »Zu alt«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück. »Einen Augenblick. Ich glaube, wir sollten das anders machen.«

»Leute«, sagte er dann sanft. »Ihr gehört ins Hospital. Alle. Im Lagerlazarett ist kein Platz mehr.

Ich kann sechs von euch anderswo unterbringen. Ihr braucht Suppen, Fleisch und kräftige Kost.

Die sechs, die es am nötigsten haben, vortreten.«

Niemand trat vor. An solche Märchen glaubte keiner im Lager. Die Veteranen hatten Wiese außerdem wiedererkannt. Sie wußten, daß er schon einigemale Leute geholt hatte. Keiner war wiedergekommen.


»Ihr habt wohl noch zu viel zu fressen, was?« schnauzte Weber. »Das werden wir ändern. Sechs Mann vortreten, aber flott!«

Aus Sektion B taumelte ein Skelett nach vorn und blieb stehen. »Gut«, sagte Wiese und musterte es. »Sie sind vernünftig, lieber Mann. Wir werden Sie schon auffüttern.«

Ein zweiter folgte. Dann noch einer. Es waren neue Zugänge. »Los! Drei mehr!« rief Weber ärgerlich. Er hielt die Sache mit dem freiwilligen Melden für eine Kateridee Neubauers. Man befahl auf der Schreibstube, und die sechs Leute wurden geliefert, fertig.

Wieses Mundwinkel zuckten. »Ich garantiere euch persönlich für gute Kost, Leute. Fleisch, Kakao, nahrhafte Suppen!«

»Herr Stabsarzt«, sagte Weber. »Die Bande versteht nicht, wenn man so mit ihr redet.«

»Fleisch?« fragte das Skelett Wassja, das wie hypnotisiert neben 509 stand.

»Natürlich, mein lieber Mann.« Wiese wandte sich ihm zu. »Täglich. Täglich Fleisch!«

Wassja kaute. 509 stieß ihn warnend mit dem Ellbogen an.

Es war kaum eine Bewegung gewesen; aber Weber hatte sie trotzdem bemerkt.

»Sauhund!« Er trat 509 gegen den Bauch. Es war kein übermäßig kräftiger Tritt; es war ein Warntritt, kein Straftritt, nach Webers Meinung. Aber 509 fiel um.

»Aufstehn, Schwindler!«

»Nicht so, nicht so«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück. »Ich muß sie heil haben.«

Er beugte sich über 509 und tastete ihn ab. Nach einer Weile öffnete 509 die Augen.

Er sah Wiese nicht an. Er sah Weber an.

Wiese richtete sich auf. »Sie müssen ins Hospital, lieber Mann. Wir werden für Sie sorgen.«

»Ich bin nicht verletzt«, keuchte 509 und stand mit Mühe auf.

Wiese lächelte. »Das weiß ich als Arzt besser.« Er wandte sich an Weber. »Das wären noch zwei.

Nun der letzte. Ein jüngerer.« Er zeigte auf Bucher, der auf der anderen Seite neben 509 gestanden hatte. »Der vielleicht -«

»Marsch, 'raus!«

Bucher trat neben 509 und die anderen. Weber sah jetzt durch die Lücke, die entstanden war, den tschechischen Knaben Karel. »Da ist noch eine halbe Portion. Wollen Sie die als Zugabe haben?«

»Danke. Ich brauche ausgewachsene Leute. Diese genügen. Herzlichen Dank.«

»Gut. Ihr sechs meldet euch in fünfzehn Minuten auf der Schreibstube. Blockältester! Nummern notieren! Gewaschen, ihr dreckigen Schweine!«

Sie standen, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Keiner sprach. Sie wußten, was es bedeutete. Nur Wassja grinste. Er war schwachsinnig vor Hunger und glaubte, was Wiese gesagt hatte. Die drei Neuen starrten stumpf ins Leere; sie wären willenlos jedem Befehl gefolgt, auch dem, in den elektrisch geladenen Draht zu laufen. Ahasver lag am Boden und stöhnte. Handke hatte ihn mit einem Knüppel verprügelt, nachdem Weber und Wiese gegangen waren.

»Josef!« Eine schwache Stimme kam vom Frauenlager herüber.

Bucher rührte sich nicht. Berger stieß ihn an. »Da ist Ruth Holland.«

Das Frauenlager lag links neben dem Kleinen Lager und war von ihm durch einen doppelten, ungeladenen Stacheldraht getrennt. Es bestand nur aus zwei kleinen Baracken, die während des Krieges eingerichtet worden waren, als die neuen Massenverhaftungen begannen. Früher waren keine Frauen im Lager gewesen.

Bucher hatte vor zwei Jahren einige Wochen als Tischler drüben gearbeitet. Dabei hatte er Ruth Holland getroffen. Beide hatten sich heimlich ab und zu für kurze Zeit sehen und sprechen können; dann war Bucher zu einem anderen Kommando versetzt worden. Sie hatten sich erst wiedergesehen, als er ins Kleine Lager eingeliefert worden war. Manchmal, nachts oder bei Nebel, hatten sie dann miteinander flüstern können.


Ruth Holland stand hinter dem Stacheldraht, der die beiden Lager trennte. Der Wind wehte den gestreiften Kittel um ihre dünnen Beine. »Josef!« rief sie wieder.

Bücher hob den Kopf. »Geh vom Draht weg! Sie sehen dich!«

»Ich habe alles gehört. Tu es nicht!«

»Geh vom Draht weg, Ruth. Der Posten kann schießen.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar war kürz und völlig grau. »Du nicht! Bleib hier! Geh nicht! Bleib hier, Josef!«

Bucher sah hilflos zu 509 hinüber. »Wir kommen wieder«, sagte 509 für ihn.

»Er kommt nicht wieder. Ich weiß es. Und du weißt es auch.« Sie preßte die Hände gegen den Draht. »Nie kommt jemand wieder.«

»Geh zurück, Ruth.« Bucher blickte nach den Wachtürmen. »Es ist gefährlich, da zu stehen.«

»Er kommt nicht wieder! Ihr wißt es alle!« 509 erwiderte nichts. Es war nichts zu erwidern. Er war taub in sich selbst. Er hatte kein Gefühl mehr. Nicht für andere und nicht für sich selbst. Alles war vorbei, er wußte es, aber er fühlte es noch nicht. Er fühlte nur, daß er nichts fühlte.

»Er kommt nicht wieder«, wiederholte Ruth Holland. »Er soll nicht gehen.«

Bucher starrte auf den Boden. Er war zu benommen, um weiter zu antworten. »Er soll nicht gehen«, sagte Ruth Holland. Es war wie eine Litanei. Monoton, ohne Erregung.

Es war schon jenseits aller Erregung. »Jemand anders soll gehen. Er ist jung. Jemand anders soll für ihn gehen -«

Niemand antwortete. Jeder wußte, daß Bucher gehen mußte. Die Nummern waren von Handke aufgeschrieben worden. Und wer wäre schon für ihn gegangen?

Sie standen und sahen sich an. Die, die gehen mußten, und die, die zurückblieben. Sie sahen sich an. Wenn ein Blitz eingeschlagen und Bucher und 509 getötet hätte, wäre es erträglicher gewesen.

Es war unerträglich, weil in diesem letzten Blick noch die Lüge war, das schweigende: warum ich?

Gerade ich? auf der einen – und das: Gottlob, nicht ich! Nicht ich! auf der anderen Seite.

Ahasver richtete sich langsam vom Boden auf. Er starrte noch einen Augenblick benommen vor sich hin; dann erinnerte er sich. Er flüsterte etwas.

Berger drehte sich um. »Ich bin schuld«, krächzte der Alte plötzlich. »Ich – mein Bart – dadurch ist er hergekommen! Sonst wäre er drüben geblieben. Oi -«

Er begann mit beiden Händen an seinem Bart zu zerren. Tränen stürzten ihm übers Gesicht. Er war zu schwach, um sich die Haare auszureißen. Er saß auf dem Boden und zerrte seinen Kopf hin und her.

»Geh in die Baracke«, sagte Berger scharf.

Ahasver starrte ihn an. Dann ließ er sich vornüber aufs Gesicht fallen und heulte.

»Wir müssen gehen«, sagte 509.

»Wo ist der Zahn?« fragte Lebenthal.

509 griff in die Tasche und hielt ihn Lebenthal hin. »Hier -«

Lebenthal nahm ihn. Er zitterte. »Dein Gott!« stammelte er und machte eine vage Bewegung zur Stadt und der ausgebrannten Kirche hinunter. »Deine Zeichen! Deine Feuersäule!« 509 tastete wieder nach seiner Tasche. Er hatte das Stück Brot gefühlt, während er den Zahn herausnahm.

Was hatte es nun genützt, daß er es nicht gegessen hatte. Er hielt es Lebenthal hin.

»Iß es selbst«, sagte Lebenthal wütend und hilflos. »Es ist deins.«

»Für mich hat es keinen Zweck mehr.«

Ein Muselmann hatte das Brotstück gesehen. Er stolperte rasch heran, den Mund weit offen, umklammerte den Arm von 509 und schnappte danach. 509 stieß ihn weg und schob das Brotstück in die Hand von Karel, der die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden hatte. Der Muselmann griff nach Karel. Der Junge trat ihm ruhig und genau gegen das Schienbein. Der Muselmann schwankte, und die anderen stießen ihn weg.


Karel sah 509 an. »Werdet ihr vergast?« fragte er sachlich.

»Hier gibt es keine Gaskammern, Karel. Du solltest das wissen«, sagte Berger ärgerlich.

»Das haben sie uns in Birkenau auch gesagt. Wenn sie euch Handtücher geben und euch sagen, ihr sollt baden, dann ist es Gas.«

Berger schob ihn beiseite. »Geh und iß dein Brot, sonst nimmt es dir ein anderer weg.«

»Ich passe schon auf.« Karel stopfte das Brot in den Mund. Er hatte gefragt, wie man nach einem Reiseziel fragt, und hatte nichts Böses gemeint. Er war in Konzentrationslagern aufgewachsen und kannte nichts anderes.

»Kommt -« sagte 509.

Ruth Holland begann zu weinen. Ihre Hände hingen wie Vogelkrallen am Stacheldraht. Sie fletschte die Zähne und stöhnte. Sie hatte keine Tränen.

»Kommt -« sagte 509 noch einmal. Er ließ die Augen über die Zurückbleibenden gleiten. Die meisten waren schon gleichgültig in die Baracken zurückgekrochen. Nur die Veteranen und ein paar andere standen da. Es schien 509 plötzlich, als habe er noch etwas ungeheuer Wichtiges zu sagen, etwas, von dem alles abhinge. Er mühte sich mit aller Kraft, aber er konnte es nicht in Gedanken und Worte bringen. »Vergeßt dies nicht«, sagte er schließlich nur.

Keiner erwiderte etwas. Er sah, daß sie es vergessen würden. Sie hatten ähnliches schon zu oft gesehen. Bucher hätte es vielleicht nicht vergessen, er war jung genug; aber der mußte mit.

Sie stolperten den Weg entlang. Sie hatten sich nicht gewaschen. Das war ein Witz Webers gewesen; das Lager hatte nie genug Wasser. Sie gingen vorwärts. Sie sahen sich nicht um. Sie kamen durch die Stacheldrahtpforte, die das Kleine Lager abtrennte.

Die Krepierpforte. Wassja schmatzte. Die drei Neuen gingen wie Automaten. Sie kamen an den ersten Baracken des Arbeitslagers vorbei. Die Kommandos waren längst ausgerückt. Die Baracken waren leer und trostlos; aber sie schienen 509 jetzt das Begehrenswerteste der Welt zu sein. Sie waren plötzlich Geborgenheit, Leben und Sicherheit. Er hätte hineinkriechen und sich verstecken mögen, fort von diesem erbarmungslosen Gang in den Tod. Zwei Monate zu früh, dachte er stumpf. Vielleicht nur zwei Wochen zu früh. Alles umsonst. Umsonst.

»Kamerad«, sagte plötzlich jemand neben ihm. Es war vor Baracke 13. Der Mann stand vor der Tür und hatte ein Gesicht, das schwarz mit Bartstoppeln war.

509 blickte auf. »Vergeßt das nicht«, murmelte er. Er kannte den Mann nicht.

»Wir werden es nicht vergessen«, erwiderte der Mann. »Wohin geht ihr?«

Die Leute, die im Arbeitslager zurückgeblieben waren, hatten Weber und Wiese gesehen. Sie wußten, daß das etwas Besonderes bedeuten mußte.

509 blieb stehen. Er sah den Mann an. Auf einmal war er nicht mehr stumpf. Er fühlte wieder das Wichtige, das er noch zu sagen hatte, das, was nicht verlorengehen durfte.

»Vergeßt es nicht«, flüsterte er eindringlich. »Nie! Nie!«

»Nie!« wiederholte der Mann mit fester Stimme. »Wohin müßt ihr?«

»In ein Hospital. Als Versuchskaninchen. Vergeßt es nicht. Wie heißt du?«

»Lewinsky, Stanislaus.«

»Vergiß es nicht, Lewinsky«, sagte 509. Es war ihm, als habe es mehr Kraft mit dem Namen.

»Lewinsky, vergiß es nicht.«

»Ich werde es nicht vergessen.«

Lewinsky rührte mit der Hand an die Schulter von 509. 509 spürte es weiter als nur bis zur Schulter. Er sah Lewinsky noch einmal an. Lewinsky nickte. Sein Gesicht war nicht wie die Gesichter im Kleinen Lager. 509 fühlte, daß er verstanden worden war.

Er ging weiter.

Bucher hatte auf ihn gewartet. Sie erreichten die Gruppe der vier anderen, die weitergetrottet waren. »Fleisch«, murmelte Wassja. »Suppe und Fleisch.«


Die Schreibstube roch nach kaltem Mief und Lederwichse. Der Kapo hatte die Papiere vorbereitet. Er sah die sechs ausdruckslos an. »Ihr sollt das hier unterschreiben.« 509 blickte auf den Tisch. Er verstand nicht, was da zu unterschreiben war. Gefangene wurden gewöhnlich kommandiert, und damit fertig. Dann spürte er, daß ihn jemand ansah. Es war einer der Schreiber, der hinter dem Kapo saß. Er hatte feuerrotes Haar.

Als er sah, daß 509 ihn bemerkte, bewegte er fast unmerklich den Kopf von 'rechts nach links.

Weber kam herein. Alles stand stramm. »Weitermachen!« kommandierte er und nahm die Papiere vom Tisch. »Noch nicht fertig? Los, unterschreibt das!«

»Ich kann nicht schreiben«, sagte Wassja, der am nächsten stand.

»Dann mach drei Kreuze.«

Wassja machte drei Kreuze. »Der Nächste!«

Die drei Neuen traten einer nach dem anderen heran. 509 versuchte sich krampfhaft zu sammeln.

Es schien ihm, als müßte irgendwo noch ein Ausweg sein. Er sah wieder zu dem Schreiber hinüber; aber der blickte nicht mehr auf. »Jetzt du!« knurrte Weber.

»Los! Träumst wohl, was?« 509 nahm den Zettel auf. Seine Augen waren trübe. Die paar Schreibmaschinenzeilen wollten nicht stillstehen. »Lesen auch noch!« Weber gab ihm einen Stoß.

»Unterschreib, Lausehund!« 509 hatte genug gelesen. Er hatte die Worte »hiermit erkläre ich freiwillig -« gelesen.

Er ließ das Blatt auf den Tisch fallen. Da war die verzweifelte, letzte Gelegenheit! Das hatte der Schreiber gemeint.

»Los, du Zitterbock! Soll ich dir die Hand führen?«

»Ich melde mich nicht freiwillig«, sagte 509.

Der Kapo starrte ihn an. Die Schreiber hoben die Köpfe und duckten sie sofort wieder über ihre Papiere. Es wurde einen Moment sehr still.

»Was?« fragte Weber dann ungläubig.

509 holte Atem. »Ich melde mich nicht freiwillig.«

»Du weigerst dich, zu unterschreiben?«

»Ja.«

Weber leckte sich die Lippen. »So, du unterschreibst das nicht?« Er nahm die linke Hand von 509, drehte sie und riß sie ihm über dem Rücken hoch. 509 fiel nach vorn auf den Boden. Weber hielt die verdrehte Hand weiter fest, zog 509 daran hoch, wippte und trat ihm auf den Rücken. 509 schrie und wurde still.

Weber nahm ihn mit der anderen Hand am Kragen und stellte ihn wieder auf. 509 fiel um.

»Schwächling!« knurrte Weber. Dann öffnete er eine Tür. »Kleinen! Michel!

Nehmt den Jammerkerl mal nach drüben und macht ihn munter. Laßt ihn da. Ich komme 'rüber.«

Sie schleppten 509 hinaus. »Jetzt du!« sagte Weber zu Bucher. »Unterschreib!«

Bucher zitterte. Er wollte nicht zittern, aber er hatte keine Gewalt über sich. Er war plötzlich allein.

509 war nicht mehr da. Alles in ihm gab nach. Er mußte rasch tun, was 509 getan hatte, sonst war es zu spät, und er würde wie ein Automat ausführen, was man ihm befahl.

»Ich unterschreibe auch nicht«, stammelte er.

Weber grinste. »Sieh mal an! Noch einer! Das ist ja wie in den alten guten Anfangstagen!«

Bucher fühlte den Schlag kaum. Eine krachende Finsternis brach über ihm zusammen.

Als er aufwachte, stand Weber über ihm. 509, dachte er stumpf, sog ist zwanzig Jahre älter als ich.

Mit dem hat er dasselbe gemacht. Ich muß durchhalten! Er spürte das Reißen, das Feuer, die Messer in den Schultern, er hörte nicht, daß er schrie – dann kam die Finsternis wieder.

Als er zum zweiten Male aufwachte, lag er neben 509 in einem anderen Kaum auf dem Zementboden. Durch ein Rauschen kam die Stimme Webers. »Ich könnte das ja für euch unterschreiben lassen, und es wäre erledigt; aber ich werde das nicht tun. Ich werde euren Trotz erst einmal in aller Gemütlichkeit brechen. Ihr werdet das selbst unterschreiben. Ihr werdet mich auf den Knien bitten, unterschreiben zu dürfen, wenn ihr es dann noch könnt.« 509 sah Webers Kopf dunkel vor dem Fenster. Der Kopf schien sehr groß vor dem Himmel dahinter. Der Kopf war Tod und der Himmel dahinter plötzlich Leben, Leben, ganz gleich wo und wie, verlaust, zerschlagen, blutend, Leben trotz allem, einen jähen Augenblick lang – dann brach die Stumpfheit hölzern hinein, die Nerven erloschen barmherzig wieder, und nichts war mehr da als das matte Dröhnen. Wozu wehre ich mich, dachte etwas trübe in ihm, als er wieder aufwachte – es ist doch egal, hier totgeschlagen zu werden oder zu unterschreiben und durch eine Spritze erledigt zu werden, schneller als hier, schmerzloser -, dann hörte er eine Stimme neben sich, seine eigene Stimme, mit der ein anderer zu sprechen schien -»nein – ich unterschreibe nicht – und wenn Sie mich totschlagen -«.

Weber lachte. »Das möchtest du wohl, du Gerippe! Damit es vorbei ist, wie?

Totschlagen dauert Wochen bei uns. Wir fangen gerade erst an.«

Er nahm den Koppelriemen wieder auf. Der Schlag traf 509 über die Augen. Er verletzte sie nicht; sie waren zu tief eingesunken. Der zweite traf die Lippen. Sie rissen ein wie trockenes Pergament.

Nach ein paar weiteren Hieben über den Schädel mit dem Koppelschloß war er wieder bewußtlos.

Weber schob ihn beiseite und schlug auf Bucher los. Bucher versuchte, sich wegzuducken; aber er war viel zu langsam. Der Schlag traf ihn über die Nase. Er krümmte sich, und Weber trat ihm zwischen die Beine. Bucher schrie. Er spürte noch das Koppelschloß einige Male in seinen Nacken hacken, dann fiel er wieder in den Sturm der Dunkelheit.

Er hörte verworrene Stimmen; aber er rührte sich nicht. Solange er bewußtlos schien, würde er nicht weitergeschlagen werden. Die Stimmen gingen über ihn hinweg, endlos. Er versuchte, nicht hinzuhören, aber sie kamen näher und stachen in seine Ohren und sein Gehirn.

»Bedauere, Herr Doktor, aber wenn die Leute nicht freiwillig wollen – Sie sehen, Weber hat ihnen gründlich zugeredet.«

Neubauer war glänzender Laune. Seine Erwartungen waren weit übertroffen worden.

»Haben Sie das hier verlangt?« fragte er Wiese.

»Selbstverständlich nicht.«

Bucher versuchte vorsichtig zu blinzeln. Aber er konnte seine Augenlider nicht kontrollieren. Sie klappten auf wie die einer mechanischen Puppe. Er sah Wiese und Neubauer. Dann sah er 509.

509 hatte die Augen ebenfalls offen. Weber war nicht mehr da.

»Selbstverständlich nicht«, erklärte Wiese noch einmal. »Als Kulturmensch -«

»Als Kulturmensch«, unterbrach Neubauer ihn,»brauchen Sie diese Leute für Ihre Experimente, nicht wahr?«

»Das ist eine Angelegenheit der Wissenschaft. Unsere Versuche retten zehntausend anderen Menschen das Leben. Sie verstehen das vielleicht nicht -«

»Doch. Aber Sie verstehen dieses hier vielleicht nicht. Es ist eine einfache Sache der Disziplin.

Überaus wichtig, ebenfalls.«

»Jeder auf seine Art«, erklärte Wiese hochmütig.

»Gewiß, gewiß. Bedaure, daß ich Ihnen nicht besser behilflich sein konnte. Aber wir zwingen keinen unserer Schützlinge zu etwas. Und die Leute hier scheinen eine Abneigung dagegen zu haben, das Lager zu verlassen.« Er wandte sich zu 509 und Bucher. »Ihr wollt also lieber im Lager bleiben?« 509 bewegte die Lippen. »Was?« fragte Neubauer scharf.

»Ja«, sagte 509.

»Und du dort?«

»Ich auch«, flüsterte Bucher.


»Sehen Sie, Herr Stabsarzt?« Neubauer lächelte. »Die Leute lieben es hier. Da ist nichts zu machen.«

Wiese lächelte nicht. »Tölpel«, sagte er verächtlich in die Richtung von 509 und Bucher. »Dieses Mal wollten wir wirklich nichts anderes machen als Fütterungsexperimente.«

Neubauer blies den Rauch seiner Zigarre von sich. »Um so besser. Doppelte Strafe für Insubordination. Immerhin, wenn Sie noch versuchen wollen, im Lager andere zu finden – es steht Ihnen frei, Herr Doktor.«

»Danke«, sagte Wiese kalt.

Neubauer schloß die Tür hinter ihm und kam zurück in den Raum. Die würzige, blaue Rauchwolke des Tabaks umwehte ihn. 509 roch sie und fühlte plötzlich eine reißende Gier in seinen Lungen. Sie hatte nichts mit ihm zu tun; es war eine fremde, selbständige Gier, die sich in seine Lungen einkrallte. Unbewußt atmete er tief und spürte den Rauch, und gleichzeitig beobachtete er Neubauer. Er verstand einen Augenblick lang nicht, warum er und Bucher nicht mit Wiese weggeschickt worden waren; aber dann wußte er es. Es gab nur eine Erklärung. Sie hatten einem SS-Offizier nicht gehorcht und würden dafür im Lager bestraft werden. Die Strafe war vorauszusehen – man hatte Leute aufgehängt, nur weil sie einem Kapo nicht gehorcht hatten. Es war falsch gewesen, nicht zu unterschreiben, fühlte er plötzlich. Mit Wiese hätten sie vielleicht noch eine Chance gehabt. Jetzt waren sie verloren.

Eine würgende Reue quoll in ihm auf. Sie preßte seinen Magen, sie stand hinter seinen Augen, und scharf und unerklärlich spürte er gleichzeitig die rasende Gier nach dem Tabaksrauch.

Neubauer betrachtete die Nummer auf der Brust von 509. Es war eine niedrige Nummer. »Wie lange bist du schon hier?« fragte er.

»Zehn Jahre, Herr Obersturmbannführer.«

Zehn Jahre. Neubauer hatte gar nicht gewußt, daß noch Häftlinge vom Anfang her da waren.

Eigentlich ein Zeichen für meine Milde, dachte er. Es gibt sicher nicht viele Lager, die so etwas haben. Er zog an seiner Zigarre. So etwas konnte sogar einmal ganz nützlich sein. Man wußte nie, was kam.

Weber kam herein. Neubauer nahm seine Zigarre aus dem Mund und stieß auf. Er hatte Schlackwurst und Rühreier zum Frühstück gehabt – eine seiner Lieblingsspeisen.

»Obersturmführer Weber«, sagte er. »Dies hier war nicht befohlen.«

Weber blickte ihn an. Er wartete auf den Witz. Der Witz kam nicht. »Wir werden sie heute abend beim Appell hängen«, sagte er schließlich.

Neubauer rülpste noch einmal. »Es war nicht befohlen«, wiederholte er.

»Übrigens, weshalb machen Sie so etwas selbst?«

Weber antwortete nicht gleich. Er begriff nicht, daß Neubauer wegen solcher Kleinigkeiten überhaupt ein Wort verschenkte. »Dafür gibt es doch genug Leute«, sagte Neubauer. Weber war in der letzten Zeit ziemlich selbständig geworden. Es schadete nichts, wenn auch er einmal merkte, wer hier Befehle gab. »Was ist los mit Ihnen, Weber? Nerven durchgegangen?«

»Nein.«

Neubauer wandte sich wieder 509 und Bucher zu. Hängen, hatte Weber gesagt.

Eigentlich richtig. Aber wozu? Der Tag hatte sich besser gestaltet, als zu vermuten war. Und es war außerdem ganz gut, Weber zu zeigen, daß nicht alles so geschehen mußte, wie er dachte. »Es war keine direkte Befehlsverweigerung«, erklärte er. »Ich hatte freiwillige Meldungen angeordnet. Dies hier sieht nicht so aus. Geben Sie den Leuten zwei Tage Bunker, weiter nichts. Weiter nichts, Weber, verstehen Sie? Ich möchte, daß meine Befehle befolgt werden.«

»Jawohl.«

Neubauer ging. Er fühlte sich überlegen und zufrieden. Weber blickte ihm verächtlich nach.

Nerven, dachte er. Wer hat hier Nerven? Und wer wird hier weich? Zwei Tage Bunker! Ärgerlich drehte er sich um. Ein Streifen Sonne fiel über das zerschlagene Gesicht von 509. Weber sah ihn genauer an. »Dich kenne ich doch? Woher?«

»Ich weiß es nicht, Herr Obersturmführer.« 509 wußte es genau. Er hoffte, daß Weber sich nicht erinnern würde.

»Irgendwoher kenne ich dich. Woher hast du die Verletzungen?«

»Ich bin gefallen, Herr Obersturmführer.« 509 atmete auf. Dies war schon wieder die alte Routine.

Ein Witz noch aus Den Anfangszeiten. Niemand durfte jemals zugeben, geschlagen worden zu sein.

Weber sah ihn noch einmal an. »Irgendwoher kenne ich die Fresse«, murmelte er.

Dann öffnete er die Tür. »Schafft die beiden hier in den Bunker. Zwei Tage.« Er wendete sich wieder zu 509 und Bucher. »Glaubt nur nicht, daß ihr entwischt seid, ihr Dreckfinken! Ich hänge euch noch!«

Man schleppte sie hinaus. 509 schloß die Augen vor Schmerzen. Dann spürte er die Luft draußen.

Er öffnete die Augen wieder. Da war der Himmel. Blau und endlos. Er drehte den Kopf zu Bucher hinüber und sah ihn an. Sie waren entkommen. Soweit wenigstens. Es war schwer zu glauben.

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