Neubauer starrte auf den Brief. Dann las er den letzten Absatz noch einmal. »Deshalb gehe ich. Wenn Du Dich fangen lassen willst, so ist das Deine Sache. Ich will frei sein. Freya nehme ich mit. Komm nach – Selma.« Als Adresse war ein Dorf in Bayern angegeben.
Neubauer sah sich um. Er verstand es nicht. Es konnte nicht wahr sein. Sie mußten jeden Augenblick wiederkommen. Ihn jetzt zu verlassen – das war unmöglich! Er setzte sich schwerfällig in einen der französischen Sessel. Das Ding krachte. Er stand auf, gab dem Sessel einen Tritt und ließ sich auf das Sofa fallen. Dieser verdammte Tand! Wozu hatte er das Zeug nur, anstatt überall ehrliche deutsche Möbel zu haben wie andere Leute? Ihretwegen hatte er es besorgt. Sie hatte was darüber gelesen und gedacht, es sei wertvoll und elegant. Was King es ihn an? Ihn, den rauhen, ehrlichen Gefolgsmann des Führers? Er holte zu einem zweiten Tritt nach dem zierlichen Sessel aus, besann sich aber. Wozu? Man konnte den Kram vielleicht einmal verkaufen. Aber wer kaufte schon Kunst, wenn die Kanonen zu hören waren? Er stand wieder auf und ging durch die Wohnung. Im Schlafzimmer machte er die Schranktüren auf. Er hatte noch Hoffnung, bevor er sie öffnete, aber als er in die Fächer sah, fiel sie zusammen. Selma hatte die Pelzsachen und alles Wertvolle mitgenommen. Er riß die Wäsche beiseite; der Kasten mit dem Schmuck fehlte. Langsam schloß er die Türen und stand eine Zeitlang neben dem Toilettentisch. Gedankenlos hob er die Kristallflakons aus böhmischem Glas auf, entstöpselte sie und roch daran, ohne etwas zu riechen. Es waren Geschenke aus den glorreichen Tagen in der Tschechoslowakei sie hatte sie nicht mitgenommen. Zu zerbrechlich, wahrscheinlich. Er machte plötzlich ein paar rasche Schritte zu einem Wandschrank, riß ihn auf und suchte nach einem Schlüssel. Er brauchte nicht zu suchen. Das Geheimfach war offen und leer. Sie hatte alle Wertpapiere mitgenommen. Sogar seine goldene Zigarettendose mit dem Hakenkreuz in Brillanten -das Geschenk der Industrie, als er noch im technischen Dienst war. Er hätte dableiben und dieBrüder weiter melken sollen. Die Idee mit dem Lager hatte sich jetzt am Ende doch als Fehler herausgestellt. Gewiß, in den ersten Jahren hatte man es als gutes Druckmittel benutzen können; aber nun hatte man es dafür am Halse. Immerhin, er war einer der menschlichsten Kommandanten. Das war bekannt. Meilern war kein Dachau, kein Oranienburg, kein Buchenwald – von den Vernichtungslagern gar nicht zu reden. Er horchte auf. Eines der Fenster stand offen, und ein Musselinvorhang wehte wie ein Geist im Wind. Dieses verdammte Rollen vom Horizont her! Es machte einen nervös. Er schloß das Fenster. In der Eile klemmte er die Gardine ein. Er öffnete das Fenster wieder und zerrte die Gardine herein. Sie blieb an einer Ecke hängen und zerriß. Er fluchte und knallte das Fenster zu. Dann ging er in die Küche. Das Mädchen saß am Tisch und sprang auf, als er hereinkam. Er knurrte und sah sie nicht an. Sie wußte natürlich alles, das Luder. Er holte sich selbst eine Flasche Bier aus dem Eisschrank. Er fand auch noch eine halbe Flasche Steinhäger und nahm beide mit ins Wohnzimmer. Dann ging er zurück; er hatte die Gläser vergessen. Das Mädchen stand am Fenster und horchte. Sie wandte sich um, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt. »Soll ich etwas zu essen machen?« »Nein.« Er stapfte wieder hinaus. Der Wacholderschnaps war scharf und würzig; das Bier kalt. Ausreißen, dachte er. Wie Juden. Schlimmer! Juden taten das nicht. Die blieben zusammen. Er hatte das oft gesehen. Angeschmiert! Im Stich gelassen! Das hatte man davon! Er hätte mehr vom Leben haben können, wenn er nicht ein treuer Familienvater gewesen wäre. Treu – nun, so gut wie treu, konnte man sagen. Treu eigentlich, wenn man überlegte, was er alles hätte haben können. Die paar Male! Die Witwe – die galt fast nicht. Da war eine Rothaarige gewesen, vor einigen Jahren, die gekommen war, um ihren Mann aus dem Lager zu retten – was die alles gemacht hatte in ihrer Angst! Dabei war der Mann längst tot gewesen. Sie wußte es natürlich nicht. War ein munterer Abend geworden. Später allerdings, als sie die Zigarrenkiste mit der Asche gekriegt hatte, hatte sie sich idiotisch benommen. Ihre eigene Schuld, daß sie eingesperrt wurde. Ein Obersturmbannführer konnte sich nicht anspucken lassen. Er goß einen zweiten großen Steinhäger ein. Wozu dachte er gerade an das? Ach so, wegen Selma. Was er alles hätte haben können. Ja, er hatte manche Gelegenheit verpaßt. Was andere alles getrieben hatten! Allein der Klumpfuß Binding von der Gestapo! Jeden Tag eine neue. Er schob die Flasche weg. Das Haus schien so leer, als habe Selma alle Möbel ausgeräumt. Freya hatte sie auch mitgeschleppt. Warum hatte er keinen Sohn? Nicht seine Schuld, sicher nicht! Ach, verdammt! Er sah sich um. Was sollte er hier noch? Versuchen, sie zu finden? In dem Kafferndorf? Sie war unterwegs. Konnte lange dauern, bis sie dort ankam. Er starrte auf seine blanken Stiefel. Die blanke Ehre – beschmiert jetzt durch Verrat. Schwerfällig stand er auf und ging durch das leere Haus hinaus. Draußen stand der Mercedes. »Zum Lager, Alfred.« Der Wagen kroch langsam durch die Stadt. »Halt!« sagte Neubauer plötzlich. »Zur Bank, Alfred.« Er kam heraus, so stramm er konnte. Niemand sollte es ihm ansehen! So etwas! Ihn auch noch zu blamieren! Die Hälfte des Geldes hatte sie in der letzten Zeit abgehoben. Als er gefragt hatte, warum man ihn nicht informiert habe, hatte man die Achseln gezuckt und von gemeinsamem Konto geredet. Man habe sogar geglaubt, ihm gefällig gewesen zu sein. Höhere Abhebungen seien offiziell nicht gern gesehen. »Zum Garten, Alfred.« Es dauerte lange, bis sie durchkamen. Aber dann lag der Garten sehr friedlich im Morgenlicht da. Die Obstbäume blühten bereits an vielen Stellen, Narzissen kamen heraus und Veilchen und Krokusse in allen Farben. Wie bunte Ostereier lagen sie im hellen Grün der Blätter. Keine Untreue bei ihnen – sie kamen zur Zeit und waren da, wie es sich gehörte. Die Natur war verläßlich – da gab es kein Weglaufen. Er ging in den Stall. Die Kaninchen mummelten hinter den Drahtgittern. In ihren klaren, roten Augen waren keine Gedanken über Bankkonten. Neubauer steckte einen Finger durch den Draht und kraulte die weichen Felle der weißen Angoras. Einen Schal hatte er machen lassen wollen aus dem Pelz, für Selma. Er, der gutmütige Narr, den alle immer betrogen. Er lehnte sich gegen die Gitter und starrte durch die offene Tür. Seine Entrüstung verwandelte sich im Frieden des behaglich warmen Stalles in schweres Mitleid mit sich selbst. Der strahlende Himmel, ein blühender Zweig, der vor dem Eingang auf und ab schwankte, die sanften Tiergesichter in der Dämmerung – alles trug dazu bei. Plötzlich hörte er wieder das Rollen. Es war unregelmäßiger, aber stärker als vorher. Unwiderstehlich brach es in seinen privaten Gram, ein dumpfes, unterirdisches Pochen. Es pochte und pochte, und mit ihm kam wieder die Angst. Aber es war eine andere Angst als früher. Sie war tiefer. Er war jetzt allein und konnte sich nicht mehr täuschen, indem er andere zu überreden versuchte und damit sich selbst. Jetzt spürte er sie ohne allen Vorbehalt, sie quoll ihm in die Kehle, aus dem Magen, und aus der Kehle wieder in den Magen und in die Eingeweide. Ich habe nichts Unrechtes getan, dachte er ohne Überzeugung. Nur meine Pflicht. Ich habe Zeugen. Viele. Blank ist mein Zeuge; ich habe ihm noch kürzlich eine Zigarre gegeben, anstatt ihn einsperren zu lassen. Ein anderer hatte ihm sein Geschäft genommen ohne jede Bezahlung. Blank hat das selbst zugegeben, er wird es bezeugen können; ich bin anständig gewesen, er wird es beschwören. Er wird es nicht beschwören, dachte ein kaltes Anderes in ihm, und er drehte sich um, als habe jemand hinter ihm es gesagt. Da standen die Rechen, die Schaufeln, die Harken, grün bemalt, verläßliche Holzstiele daran – wäre man doch jetzt ein Bauer, ein Gartenbesitzer, ein Gastwirt, ein Nirgendwer! Dieser verdammte Zweig, der da blühte, er hatte es leicht, er blühte einfach und hatte keine Verantwortung. Aber wohin sollte ein Obersturmbannführer? Von einer Seite kamen die Russen, von der anderen die Engländer und Amerikaner, wohin sollte man da? Selma hatte gut reden.
Wegrennen vor den Amerikanern hieß näher zu den Russen rennen, und was die machen würden, konnte man sich ja denken. Die waren nicht umsonst von Moskau und Stalingrad her durch ihr verwüstetes Land gezogen.
Neubauer wischte sich den Schweiß aus den Augen. Er machte einige Schritte. Die Knie waren wacklig. Man mußte genauer nachdenken. Er tastete sich aus dem Stall heraus. Die Luft draußen war frisch. Er atmete tief; aber mit der Luft schien er auch das unregelmäßige Rollen vom Horizont einzuatmen. Es vibrierte in seinen Lungen und machte ihn wieder schwach. Sehr leicht, ohne Rülpsen, kotzte er gegen einen Baum in den Narzissen. »Das Bier«, sagte er. »Das Bier und der Steinhäger.
Bekommen mir nicht.« Er sah nach dem Eingang des Gartens. Alfred konnte ihn nicht sehen. Er stand noch eine Weile. Dann fühlte er, wie der Schweiß im Winde trocknete.
Langsam ging er zum Wagen zurück.
»Zum Puff, Alfred.«
»Wohin, Herr Obersturmbannführer?«
»Zum Puff!« schrie Neubauer plötzlich wütend. »Verstehst du kein Deutsch mehr?«
»Das Bordell ist geschlossen worden. Es ist jetzt ein Notlazarett.«
»Dann fahr zum Lager.«
Er stieg ein. Ins Lager – wohin sonst sollte er noch?
»Was halten Sie von der Lage, Weber?«
Weber blickte ihn gleichmütig an. »Ausgezeichnet.«
»Ausgezeichnet? Wirklich?« Neubauer kramte nach Zigarren; dann erinnerte er sich, daß Weber keine rauchte. »Ich habe leider keine Zigaretten hier. Hatte; eine Schachtel; sind verschwunden.
Weiß der Himmel, wohin ich sie verkramt habe.«
Er blickte unzufrieden auf das mit Holz verschalte Fenster. Das Glas war beim Bombardement zerbrochen, und neues war nicht zu bekommen. Er wußte nicht, daß seine Zigaretten während des Durcheinanders gestohlen worden waren und auf dem Umwege über den rothaarigen Schreiber und Lewinsky die Veteranen der Baracke 22 für zwei Tage mit Brot versorgt hatten. Zum Glück, waren seine geheimen Aufzeichnungen nicht fortgekommen – alle seine menschenfreundlichen Anweisungen, die dann von Weber und anderen falsch aufgefaßt worden waren. Er beobachtete Weber von der Seite. Der Lagerführer schien völlig ruhig zu sein, obschon er doch allerhand auf dem Kerbholz hatte. Da waren diese letzten Erhängungen – Es wurde Neubauer plötzlich wieder heiß. Er war gedeckt, doppelt sogar Trotzdem -»Was würden Sie machen, Weber?« sagte er herzlich,»wenn für eine gewisse Zeit, aus militärischen Gründen, Sie verstehen – nun also, wenn für eine kurze Periode von – von Abwarten, sagen wir, der Feind das Land besetzen würde, was«, fügte er hastig hinzu,»wie die Geschichte oft bewiesen hat, absolut keine Niederlage sein muß.«
Weber hatte ihm mit dem Schatten eines Lächelns zugehört. »Für jemand wie mich gibt es immer etwas zu tun«, erwiderte er sachlich. »Wir kommen schon wieder hoch – wenn auch unter anderem Namen. Meinetwegen als Kommunisten. Für einige Jahre wird es keine Nationalsozialisten mehr geben. Alle werden Demokraten sein. Das macht nichts. Ich werde wahrscheinlich irgendwo und irgendwann bei einer Polizei sein. Vielleicht mit falschen Papieren. Da geht die Arbeit dann weiter.«
Neubauer schmunzelte. Webers Sicherheit gab ihm seine eigene zurück. «Keine schlechte Idee.
Und ich? Was meinen Sie, was ich sein werde?«
»Das weiß ich nicht. Sie haben Familie, Obersturmbannführer. Da ist es nicht so leicht, zu wechseln und unterzutauchen.«
»Natürlich nicht.« Neubauers gute Laune war wieder verschwunden. »Wissen Sie, Weber, ich möchte mal einen Rundgang durchs Lager machen. Habe ich lange nicht getan.«
Als er in die Desinfektionsabteilung kam, wußte das Kleine Lager bereits, was bevorstand. Die meisten Waffen waren von Werner und Lewinsky wieder ins Arbeitslager geschafft worden; nur 509 hatte seinen Revolver behalten. Er hatte das durchgesetzt und ihn unter seinem Bett versteckt.
Eine Viertelstunde später kam aus dem Hospital über die Latrine die erstaunliche Nachricht, die Inspektion sei keine Strafangelegenheit; die Baracken würden nicht genau inspiziert; Neubauer sei im Gegenteil geradezu wohl» wollend.
Der neue Blockälteste war nervös. Er schrie herum und kommandierte. »Schrei nicht so«, sagte Berger. »Es wird dadurch nicht besser.«
»Was?«
»Genau das!«
»Ich schreie, wann ich will. Antreten! 'raustreten!« Der Blockälteste rannte die Baracke entlang.
Die Leute, die gehen konnten, sammelten sich. »Das sind nicht alle!
Da sind mehr!«
»Sollen die Toten auch antreten?«
»Halt die Schnauze, 'raus! Die Bettlägerigen 'raus!«
»Hör zu. Es ist nichts von einer Inspektion bekannt. Es ist keine befohlen worden. Du brauchst die Baracke nicht im voraus antreten zu lassen.«
Der Blockälteste schwitzte. »Ich mache das, wie ich will. Ich bin Blockältester. Wo ist der, der hier immer mit euch 'rumsitzt? Mit dir und dir.« Er zeigte auf Berger und Bucher.
Der Blockälteste öffnete die Tür zur Baracke, um nachzusehen. Gerade das wollte Berger verhindern. 509 war versteckt; er sollte Weber nicht noch einmal begegnen.
»Er ist nicht hier.« Berger stellte sich in die Tür.
»Was? Geh aus dem Wege!«
»Er ist nicht hier«, sagte Berger, ohne aus dem Wege zu gehen. »Fertig.«
Der Blockälteste starrte ihn an. Bucher und Sulzbacher stellten sich neben Berger.
»Was soll das heißen?« fragte der Blockälteste.
»Er ist nicht hier«, sagte Bucher. »Willst du wissen, wie Handke gestorben ist?«
»Seid ihr verrückt?«
Rosen und Ahasver waren dazugekommen. »Wißt ihr, daß ich euch allen die Knochen brechen kann?« fragte der Blockälteste.
»Horch!« sagte Ahasver und streckte seinen knochigen Zeigefinger in die Richtung des Horizontes aus. »Schon wieder näher.«
»Er ist nicht durch das Bombardement umgekommen«, erklärte Bucher.
»Wir haben Handke nicht das Genick gebrochen. Nicht wir«, sagte Sulzbacher. »Hast du nie von einer Lagerfeme gehört?«
Der Blockälteste trat einen Schritt zurück. Er wußte, was alles schon mit Verrätern und Denunzianten geschehen war. »Ihr hier gehört dazu?« fragte er ungläubig.
»Sei vernünftig«, sagte Berger ruhig. »Und mach dich und uns nicht verrückt. Wer will jetzt noch auf die Liste derer kommen, mit denen abgerechnet wird?«
»Wer hat denn davon geredet?« Der Blockälteste begann zu gestikulieren. »Wenn mir keiner was gesagt hat, kann ich doch nicht wissen, was gespielt wird. Was ist denn los? Auf mich hat sich bis jetzt jeder verlassen können.« »Dann ist es ja gut.« »Bolte kommt«, sagte Bucher.
»Schön, schön.« Der Blockälteste zerrte seine Hosen hoch. »Ich passe schon auf. Ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich bin einer von euch.«
Verdammt, dachte Neubauer, warum sind die Bomben nicht hierher gefallen? Dann wäre alles aufs beste erledigt. Immer passiert das Falsche!
»Das ist das Schonungslager?« sagte er.
»Das Schonungslager«, wiederholte Weber.
»Na ja.« Neubauer hob die Schultern. »Schließlich – wir lassen sie nicht arbeiten.«
»Nein.« Weber war belustigt. Die Vorstellung, diese Gespenster arbeiten zu lassen, war absurd.
»Die Blockade«, sagte Neubauer. »Nicht unsere Schuld – die Feinde -«, er wandte sich Weber zu. »Es stinkt hier wie in einem Affenkasten.«
»Dysenterie«, erwiderte Weber. »Es ist ja eigentlich ein Erholungsplatz für Kranke -«
»Kranke, richtig!« Neubauer nahm sofort den Faden auf. »Kranke, Dysenterie, daher stinkt es natürlich. Würde ja im Hospital ebenso sein.« Er blickte sich unentschlossen um. »Können die Leute nicht mal baden?«
»Die Ansteckungsgefahr ist zu groß. Wir haben diesen Teil des Lagers deshalb ziemlich abgeschlossen gehalten. Die Badeeinrichtungen sind auf der anderen Seite.«
Neubauer war bei dem Wort Ansteckung unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten.
»Haben wir genug Wäsche, damit die Kerle frische kriegen können? Die alte muß dann wohl verbrannt werden, wie?«
»Nicht unbedingt. Sie kann desinfiziert werden. Wäsche ist genug in der Kleiderkammer. Wir haben reichliche Sendungen von Belsen bekommen.«
»Gut«, sagte Neubauer erleichtert. »Also frische Wäsche und eine Anzahl heile Kittel und Hosen oder was wir sonst haben an Sachen. Chlorkalk und Des. Infektionsmittel verteilen. Das sieht dann gleich ganz anders aus. Schreiben Sie das auf.« Der erste Lagerälteste, ein dicker Sträfling, notierte dienstfertig. »Äußerste Sauberkeit anstreben!« diktierte Neubauer. »Äußerste Sauberkeit anstreben«, wiederholte der Lagerälteste.
Weber unterdrückte ein Grinsen. Neubauer wandte sich den Häftlingen zu. »Habt ihr alles, was euch zusteht?«
Die Antwort war durch zwölf Jahre vorgeschrieben. »Jawohl, Herr Obersturmbannführer.«
»Gut. Weitermachen.«
Neubauer blickte noch einmal umher. Die alten Baracken standen schwarz wie Särge da. Er suchte und hatte plötzlich eine Eingebung. »Lassen Sie etwas Grünes hier pflanzen«, erklärte er. »Es ist jetzt die Zeit dafür. Ein paar Büsche an die Nordseiten und einen Blumenstreifen an die Südwände.
Das heitert auf. Wir haben doch so was in der Gärtnerei, wie?« »Zu Befehl, Herr Obersturmbannführer.«
»Also dann! Fangen Sie gleich damit an. Wir können das auch bei den Baracken im Arbeitslager machen.« Neubauer begeisterte sich für seine Idee. Der Gartenbesitzer in ihm brach durch. »Schon eine Rabatte Veilchen – nein, Primeln sind besser, das Gelb leuchtet mehr -«
Zwei Leute glitten langsam zu Boden. Niemand rührte sich, ihnen zu helfen. »Primeln – haben wir genug Primeln in der Gärtnerei?« »Zu Befehl, Herr Obersturmbannführer.« Der dicke Lagerälteste stand stramm. »Es sind reichlich Primeln da. In Blüte.«
»Gut. Machen Sie das. Und lassen Sie die Lagerkapelle ab und zu weiter unten spielen, damit die hier auch was hören.«
Neubauer ging zurück. Die anderen folgten ihm. Er war wieder einigermaßen beruhigt.
Die Gefangenen hatten keine Beschwerden. Er war durch viele Jahre ohne Kritik daran gewöhnt, das, was er selbst glauben wollte, als Tatsache anzusehen. Deshalb erwartete er auch jetzt, daß die Gefangenen ihn so sahen, wie er es wollte: als einen Mann, der unter schwierigen Umständen sein Bestes; für sie tat. Daß sie Menschen waren, wußte er längst nicht mehr.