Der Nebel hing morgens dicht über dem Lager. Die Maschinengewehrtürme und die Palisaden waren nicht zu erkennen. Es schien dadurch eine Zeitlang, als existiere das Konzentrationslager nicht mehr, als habe der Nebel die Umzäunung in eine weiche, trügerische Freiheit aufgelöst und als brauche man nur vorwärts zu gehen, um zu finden, sie seien nicht mehr da. Dann kamen die Sirenen und bald darauf die ersten Explosionen. Sie kamen aus einem weichen Nirgendwo und hatten keine Richtung und keinen Ursprung. Sie hätten ebenso in der Luft oder hinter dem Horizont wie in der Stadt sein können. Sie wurden umhergeworfen wie Donner von vielen gedämpften Gewittern, und es schien in dem Weißgrau der wattigen Unendlichkeit, als sei keine Gefahr in ihnen. Die Bewohner von Baracke 22 hockten müde auf den Betten und in den Gängen. Sie hatten wenig geschlafen und waren elend vor Hunger; am Abend vorher hatte es nur eine dünne Suppe gegeben. Sie achteten kaum auf das Bombardement. Sie kannten auch das nun schon; es war ebenfalls zu einem Teil ihrer Existenz geworden. Keiner war vorbereitet darauf, daß plötzlich das Heulen sich rasend verstärkte und in einer ungeheuren Detonation endete. Die Baracke schwankte wie bei einem Erdbeben. In das hallende Zurück« ebben des Kraches klang das Klirren der zerbrochenen Fensterscheiben. »Sie bombardieren uns! Sie bombardieren uns!« schrie jemand. »Laßt mich 'raus! 'raus hier!« Eine Panik entstand. Leute fielen aus den Betten. Andere versuchten herunter» zuklettern und hingen mit denen, die unten waren, in einem Gewirr von Gliedern zusammen. Kraftlose Arme schlugen um sich, die Gebisse in den Totenschädeln waren gebleckt, und die Augen starrten angstvoll aus den tiefen Höhlen. Das Gespenstische dabei war, daß scheinbar alles lautlos vor sich ging; das Toben der Abwehrgeschütze und der Bomben war jetzt so stark, daß es den Lärm drinnen völlig übertönte. Offene Münder schienen ohne Stimmen zu schreien, als habe die Angst sie stumm gemacht. Eine zweite Explosion schüttelte den Boden. Die Panik verstärkte sich zu Aufruhr und Flucht. Die Leute, die noch gehen konnten, drängten übereinander durch die Gänge; andere lagen völlig teilnahmslos auf den Betten und starrten auf ihre lautlos gestikulierenden Kameraden, als seien sie Zuschauer in einer Pantomime, die sie selbst nichts mehr anging. »Tür zu!« rief Berger. Es war zu spät. Die Tür flog auf, und der erste Haufen Skelette stolperte in den Nebel. Andere folgten. Die Veteranen hockten in ihrer Ecke und hatten Mühe, nicht mit hinausgerissen zu werden. »Hierbleiben!« rief Berger. »Die Wachen werden schießen!« Die Flucht ging weiter. »Hinlegen!« rief Lewinsky. Er hatte die Nacht trotz Handkes Drohungen in Baracke 22 verbracht. Es war ihm immer noch sicherer gewesen; am Tage vorher waren im Arbeitslager vier Leute mit den Anfangsbuchstaben H und K von dem Spezialkommando Steinbrenner, Breuer und Niemann erwischt und zum Krematorium geführt worden. Es war ein Glück, daß die Suche bürokratisch vor sich ging. Lewinsky hatte nicht gewartet, bis der Buchstabe L herankam. »Flach auf den Boden!« rief er. »Sie werden schießen!« »'raus! Wer will hier in der Mausefalle bleiben?« Draußen knatterten bereits Schüsse in das Heulen und Donnern. »Da! Es geht los! Hinlegen! Flach! Die Maschinengewehre sind gefährlicher als die Bomben!« Lewinsky hatte unrecht. Nach der dritten Explosion hörten die' Maschinengewehre auf. Die Wachen hatten die Türme eiligst verlassen. Lewinsky kroch zur Tür hinaus. »Keine Gefahr mehr!« schrie er Berger ins Ohr. »Die SS ist verschwunden.«
»Sollen wir drinbleiben?«
»Nein! Es ist kein Schutz. Wir können eingeklemmt werden und brennen.«
»'raus!« rief Meyerhof. »Wenn der Stacheldraht zerbombt wird, können wir fliehen!«
»Halt die Schnauze, Idiot! Sie werden dich fassen in deinem Anzug und dich erschießen.«
»Kommt 'raus.«
Sie drängten sich aus der Tür. »Zusammenbleiben!« schrie Lewinsky. Er griff Meyerhof an die Jacke vor der Brust. »Wenn du Blödsinn machst, breche ich dir mit meinen eigenen Händen den Hals, hörst du? Verfluchter Idiot, meinst du, wir können das jetzt riskieren?« Er schüttelte ihn.
»Verstehst du? Oder soll ich dir den Hals sofort brechen?«
»Laß ihn«,sagte Berger. »Er wird nichts tun. Er ist zu schwach, und ich passe auf.«
Sie lagen in der Nähe der Baracke, nahe genug, um die dunklen Wände noch im kochenden Nebel sehen zu können. Es sah aus, als qualmten sie von einem unsichtbaren Feuer. So lagen sie, die Riesenhände vieler Donner im Genick, angepreßt an den Boden und warteten auf die nächste Explosion.
Es kam keine. Nur die Flak tobte weiter. Auch von der Stadt her hörte man bald keine Bomben mehr. Dafür kam deutlicher wieder das Knattern von Gewehrschüssen durch den Lärm.
»Die Schießerei ist hier im Lager«, sagte Sulzbacher.
»Es ist die SS.« Lebenthal hob den Kopf. »Vielleicht haben sie die Kasernen getroffen, und Weber und Neubauer sind tot.«
»Das wäre zuviel Glück«, sagte Rosen. »So was passiert nicht. Bei dem Nebel haben sie doch nicht zielen können. Vielleicht haben sie nur ein paar Baracken erwischt.«
»Wo ist Lewinsky?« fragte Lebenthal.
Berger sah sich um. »Ich weiß nicht. Vor ein paar Minuten war er noch hier. Weißt du es nicht, Meyerhof?«
»Nein. Ich will es auch gar nicht wissen.«
»Vielleicht ist er auskundschaften gegangen.«
Sie horchten weiter. Die Spannung wuchs. Vereinzelte Gewehrschüsse waren wieder hörbar.
»Vielleicht sind drüben Leute geflüchtet«, sagte Bucher. »Und sie jagen sie.«
»Hoffentlich nicht.«
Jeder wußte, daß man das gesamte Lager zum Appell rufen und stehenlassen würde, bis die Flüchtlinge tot oder lebendig eingebracht worden waren. Das würde viele Dutzende von Toten und die genaue Kontrolle aller Baracken bedeuten. Es war der Grund, weshalb Lewinsky Meyerhof angeschrieen hatte. »Warum sollten sie jetzt noch flüchten?« sagte Ahasver.
»Warum nicht?« fragte Meyerhof zurück. »Jeder Tag -«
»Sei ruhig«, unterbrach Berger ihn. »Du bist von den Toten auferstanden, das hat dich verrückt gemacht. Du glaubst, du bist Samson. Keine fünfhundert Meter weit würdest du kommen.«
»Vielleicht ist Lewinsky selbst ausgerissen. Er hat genug Grund. Mehr als jeder andere.«
»Quatsch! Er flieht nicht.«
Die Flak schwieg. In der Stille hörte man Kommandos und Laufen. »Sollen wir nicht lieber in der Baracke verschwinden?« fragte Lebenthal.
»Richtig.« Berger stand auf. »Alles von C in die Stube zurück. Goldstein, sieh zu, daß eure Leute sich weit genug hinten verstecken. Handke kommt sicher jeden Augenblick.«
»Sie haben die SS bestimmt nicht erwischt«, sagte Lebenthal. »Die Bande kommt immer durch.
Wahrscheinlich sind ein paar hundert von uns in Stücke zerrissen.«
»Vielleicht kommen die Amerikaner schon«, sagte jemand im Nebel.
»Vielleicht war das schon Artillerie!«
Einen Moment schwiegen alle. »Halt die Schnauze«, sagte Lebenthal dann ärgerlich.
»Beruf es nicht.«
»Los 'rein, wer noch kriechen kann. Es gibt sicher einen Appell.« Sie krochen in die Baracke zurück. Es gab wieder fast eine Panik. Viele hatten plötzlich Angst, daß andere, die schneller waren, ihnen ihre alten Plätze wegnehmen würden, besonders die, die ein Stück Bettbrett besaßen.
Sie schrieen mit heiseren, kraftlosen Stimmen und fielen und drängten vorwärts. Die Baracke war immer noch überfüllt, und Platz war für weniger als ein Drittel da. Ein Teil blieb trotz aller Rufe draußen liegen; er war durch die Erregung zu erschöpft, um noch zu kriechen. Die Panik hatte sie mit den anderen hinausgetrieben; jetzt aber konnten sie nicht mehr weiter. Die Veteranen zerrten einige bis zur Baracke; im Nebel sahen sie, daß zwei tot waren. Sie bluteten.
Schüsse hatten sie getötet.
»Vorsicht!« Sie hörten kräftigere Schritte als die der Muselmänner durch das weiße Wogen.
Die Schritte kamen näher und hielten vor der Baracke. Lewinsky blickte hinein.
»Berger«, flüsterte er. »Wo ist 509?«
»In zwanzig. Was ist los?«
»Komm mal 'raus.«
Berger ging zur Tür.
»509 braucht keine Angst mehr zu haben«, sagte Lewinsky rasch und abgerissen.
»Handke ist tot.«
»Tot? Durch eine Bombe?«
»Nein. Tot.«
»Wie ist das passiert? Hat die SS ihn im Nebel erwischt?«
»Wir haben ihn erwischt. Das ist genug, oder nicht? Die Hauptsache ist, daß er erledigt ist. Er war gefährlich. Der Nebel war günstig.« Lewinsky schwieg einen Moment. »Du wirst ihn ja sehen im Krematorium.«
»Wenn der Schuß zu nahe war, wird man Pulverspuren und Brandwunden sehen.«
»Es war kein Schuß. Zwei andere Bonzen sind auch noch erledigt worden im Nebel und Durcheinander. Zwei der Schlimmsten. Der von unserer Baracke ist dabei. Er hat zwei Leute verraten.«
Das Entwarnungssignal kam. Der Nebel wogte und zerriß. Es war, als hätten die Explosionen ihn zerfetzt. Ein Stück Blau fing an in ihm zu leuchten, dann wurde er silbern, und die Sonne dahinter füllte ihn mit weißem Glanz. Wie dunkle Schafotte begannen die MG-Türme daraus aufzusteigen.
Jemand kam. »Vorsicht«, flüsterte Berger. »Komm herein, Lewinsky! Versteck dich.«
Sie schlossen die Tür hinter sich. »Es ist nur einer«, sagte Lewinsky. »Keine Gefahr.
Sie kommen schon seit einer Woche nicht mehr einzeln. Haben zu viel Angst.«
Die Tür wurde behutsam geöffnet. »Ist Lewinsky da?« fragte jemand.
»Was willst du?«
»Komm rasch. Ich habe es hier.«
Lewinsky verschwand im Nebel.
Berger sah sich um. »Wo ist Lebenthal?«
»Zu zwanzig gegangen. Er will es 509 sagen.«
Lewinsky kam zurück. »Hast du gehört, was drüben passiert ist?« fragte Berger.
»Ja. Komm heraus.«
»Was ist?«
Lewinsky lächelte langsam. Sein Gesicht war naß vom Nebel und entfaltete »ich zu Zähnen, Augen und breiter, bebender Nase. »Ein Stück der SS-Kaserne ist eingestürzt«, sagte er. »Tote und Verwundete. Weiß noch nicht, wieviel. Baracke I hat Verluste. Das Waffendepot und die Kammer sind beschädigt worden.« Er blickte vorsichtig in den Nebel. »Wir müssen etwas verstecken.
Vielleicht nur bis heute abend. Wir haben etwas erwischt. Unsere Leute hatten wenig Zeit. Nur so lange, bis die SS wiederkam.«
»Gib her«, sagte Berger.
Sie stellten sich dicht zusammen. Lewinsky gab Berger ein schweres Paket. »Aus dem Waffendepot«, flüsterte er. »Versteck es in deiner Ecke. Ich habe noch ein zweites.
Wir werden es in das Loch unter dem Bett von 509 stecken. Wer schläft da jetzt?«
»Ahasver, Karel und Lebenthal.«
»Gut.« Lewinsky schnaufte. »Sie haben rasch gearbeitet. Sofort nachdem die Bombe die Wand des Depots eindrückte. Die SS war nicht da. Als sie kam, waren unsere Leute längst weg. Wir haben noch mehr erwischt. Das wird in der Typhusabteilung versteckt. Verteiltes Risiko, verstehst du? Werners Grundsatz.«
»Wird die SS nicht merken, daß was fehlt?«
»Vielleicht. Deshalb lassen wir nichts im Arbeitslager. Wir haben nicht zuviel genommen, und alles ist mächtig durcheinander. Vielleicht merken sie nichts. Wir haben versucht, das Depot anzuzünden.«
»Ihr habt verdammt gut gearbeitet«, sagte Berger.
Lewinsky nickte. »Ein glücklicher Tag. Komm, laß es unauffällig verstecken. Hier vermutet keiner was. Es wird heller. Wir konnten nicht noch mehr fassen, weil die SS rasch wiederkam. Sie glaubte, die Zäune sind kaputt. Schoß auf alles, was ihr in den Weg kam. Erwartete Flucht. Jetzt sind sie ruhiger. Haben festgestellt, daß der Stacheldraht in Ordnung ist. Was für ein Glück, daß die Arbeitskommandos heute morgen zurückgehalten worden sind; Fluchtgefahr wegen Nebel.
Konnten so unsere besten Leute 'rangehen lassen. Wahrscheinlich gibt's jetzt bald Appell. Komm, zeig mir, wo wir die Sachen lassen können.«
Eine Stunde später war die Sonne da. Der Himmel wurde weich und blau, und die letzten Nebel verschwanden. Feucht und jung und mit einem Schimmer von Grün lagen die Felder mit den Baumreihen da wie nach einem Bade.
Nachmittags hörte Block 22, daß siebenundzwanzig Häftlinge während und nach dem Bombardement erschossen worden seien; zwölf waren in Baracke I getötet, achtundzwanzig durch Splitter verletzt. Zehn SS-Leute waren tot; darunter Birkhäuser von der Gestapo. Handke war tot; ebenso zwei Mann von der Baracke Lewinskys.
509 kam herüber. »Was ist mit der Quittung, die du Handke über die Schweizer Franken gegeben hast?« fragte Berger. »Wenn man sie nun unter seinen Sachen findet? Was, wenn die Gestapo sie in die Hände kriegt? Wir haben nicht daran gedacht!«
»Doch«, sagte 509. Er zog den Briefbogen aus der Tasche. »Lewinsky wußte es. Und er hat daran gedacht. Er hat Handkes Sachen an sich gebracht. Ein zuverlässiger Kapo hat sie für ihn gestohlen, sofort nachdem Handke erledigt wurde.«
»Gut. Zerreiß sie! Lewinsky war verdammt tüchtig heute.« Berger atmete auf. »Ich hoffe, jetzt haben wir endlich etwas Ruhe.«
»Vielleicht. Es kommt darauf an, wer der neue Blockälteste wird.«
Ein Zug Schwalben erschien plötzlich über dem Lager. Sie kreisten lange, hoch, in großen Spiralen und kamen dann tiefer und schössen kreischend über die polnischen Baracken. Ihre blauen, glänzenden Flügel berührten fast das Dach.
»Das ist das erstemal, daß ich Vögel im Lager sehe«, sagte Ahasver.
»Sie suchen Plätze zum Nisten«, erklärte Bucher.
»Hier?« Lebenthal meckerte.
»Sie haben die Kirchtürme nicht mehr.«
Der Rauch über der Stadt hatte sich etwas geklärt. »Tatsächlich«, sagte Sulzbacher.
»Der letzte Turm ist eingestürzt.«
»Hier!« Lebenthal blickte kopfschüttelnd auf die Schwalben, die jetzt mit schrillen Rufen die Baracke umkreisten. »Und dazu kommen sie von Afrika zurück! Hierher!«
»Sie haben nirgendwo Platz in der Stadt, solange es brennt.«
Sie blickten hinunter. »Wie das aussieht!« flüsterte Rosen.
»Es muß noch eine Menge anderer Städte so brennen«, sagte Ahasver.
»Größere und wichtigere. Wie müssen die erst aussehen?«
»Armes Deutschland«, sagte jemand, der in der Nähe hockte.
»Was?«
»Armes Deutschland.«
»Menschenskinder!« sagte Lebenthal. »Habt ihr das gehört?«
Es wurde warm. Abends erfuhr die Baracke, daß auch das Krematorium beschädigt worden war.
Eine der Umfassungsmauern war eingestürzt, und der Galgen stand schief; aber der Schornstein rauchte mit Volldampf weiter.
Der Himmel bezog sich. Es wurde immer schwüler. Das Kleine Lager bekam kein Abendessen.
Die Baracken waren still. Wer konnte, lag draußen. Es schien, als müsse die schwere Luft Nahrung geben. Die Wolken, die dichter und fahler wurden, sahen aus wie Säcke, aus denen Essen fallen könne. Lebenthal kam müde von einem Patrouillengang zurück. Er meldete, daß nur vier Baracken im Arbeitslager Abendessen bekommen hätten. Die anderen nicht; angeblich sei die Proviantabteilung beschädigt. Es seien keine Kontrollen in den Baracken vorgenommen worden.
Offenbar habe die SS den Verlust der Waffen noch nicht bemerkt.
Es wurde immer wärmer. Die Stadt lag in einem sonderbaren, schwefligen Licht. Die Sonne war längst untergegangen, aber die Wolken hingen noch voll von dem gelben, fahlen Licht, das nicht weichen wollte. »Es gibt ein Gewitter«, sagte Berger. Er lag blaß neben 509. »Hoffentlich.«
Berger sah ihn an. Das Wasser lief ihm in die Augen. Sehr langsam drehte er den Kopf, und plötzlich floß ein Schwall Blut aus seinem Munde. Es war mühelos und so natürlich, daß 509 es in der ersten Sekunde einfach nicht faßte. Dann richtete er sich auf. »Was ist los? Berger! Berger!«
Berger krümmte sich und lag still. »Nichts«, sagte er. »Ist das ein Blutsturz?« »Nein.«
»Was denn?« »Magen.« »Magen?«
Berger nickte. Er spuckte das Blut aus, das noch in seinem Munde war. »Nichts Schlimmes«, flüsterte er.
»Schlimm genug. Was müssen wir machen? Sag, was wir tun müssen?« »Nichts.
Liegen. Ruhig liegenlassen.«
»Sollen wir dich hineinbringen? Du kannst ein Bett für dich haben. Wir werfen ein paar andere hinaus.« »Laß mich nur liegen.« 509 war plötzlich völlig verzweifelt. Er hatte so viele Menschen sterben sehen und war so oft beinahe selbst gestorben, daß er geglaubt hatte, ein einzelner Tod könne nicht mehr viel für ihn bedeuten. Jetzt aber traf es ihn wie das erstemal. Ihm schien, als verliere er den letzten und einzigen Freund seines Lebens. Er war sofort hoffnungslos.
Berger lächelte ihm mit schweißnassem Gesicht zu – aber 509 sah ihn bereits regungslos am Rande des Zementweges liegen.
»Irgend jemand muß noch was zu essen haben! Oder Medizin besorgen! Lebenthal!«
»Nichts zu essen«, flüsterte Berger. Er hob eine Hand und öffnete die Augen.
»Glaub mir. Ich werde sagen, was ich brauche. Und wann. Jetzt nichts. Glaub mir. Es ist nur der Magen.« Er schloß die Augen wieder.
Nach dem Abpfeifen kam Lewinsky aus der Baracke. Er hockte sich zu 509. »Warum bist du eigentlich nicht in der Partei?« fragte er.
509 blickte auf Berger. Berger atmete regelmäßig. »Wozu willst du das gerade jetzt wissen?« fragte er zurück.
»Es ist schade. Ich wollte, du wärest einer von uns.« 509 wußte, was Lewinsky meinte. Die Kommunisten bildeten in der unterirdischen Lagerleitung eine besonders zähe, verschlossene und energische Gruppe. Sie arbeitete zwar mit den anderen zusammen, traute ihnen aber nie ganz und verfolgte ihre besonderen Ziele. Sie schützte und förderte zuerst ihre eigenen Leute.
»Wir könnten dich gebrauchen«, sagte Lewinsky. »Was warst du früher?
Beruf meine ich?«
»Redakteur«, erwiderte 509 und wunderte sich selbst, wie sonderbar das klang.
»Redakteure könnten wir besonders gut gebrauchen.« 509 erwiderte nichts. Er wußte, daß eine Diskussion mit einem Kommunisten ebenso zwecklos war wie mit einem Nazi. »Hast du eine Ahnung, was für einen Blockältesten wir kriegen?« fragte er nach einer Weile.
»Ja. Wahrscheinlich einen von unseren eigenen Leuten. Sicher aber einen Politischen.
Bei uns ist auch ein neuer eingesetzt worden. Er gehört zu uns.«
»Dann gehst du wieder zurück?«
»In ein oder zwei Tagen. Das hat mit dem Blockältesten nichts zu tun.«
»Hast du sonst etwas gehört?«
Lewinsky blickte 509 prüfend an. Dann rückte er näher heran. »Wir erwarten die Übernahme des Lagers in etwa zwei Wochen.«
»Was?«
»Ja. In zwei Wochen.«
»Du meinst die Befreiung?«
»Die Befreiung und die Übernahme durch uns. Wir müssen es übernehmen, wenn die SS abzieht.«
»Wer wir?«
Lewinsky zögerte wieder einen Augenblick. »Die künftige Lagerleitung«, sagte er dann. »Es muß eine dasein, und sie wird bereits organisiert; sonst gibt es nichts als Verwirrung. Wir müssen bereit sein, sofort einzugreifen. Die Verpflegung des Lagers muß ohne Unterbrechung weitergeführt werden, das ist das wichtigste. Verpflegung, Versorgung, Verwaltung – Tausende von Menschen können nicht gleich auseinanderlaufen -«
»Hier sicher nicht. Hier können nicht alle laufen.«
»Das kommt dazu. Ärzte, Medizin, Transportmöglichkeiten, Nahrungsnachschub, Requisitionen dafür in den Dörfern -«
»Und wie wollt ihr das alles machen?«
»Man wird uns helfen, das ist gewiß. Aber wir müssen es organisieren. Die Engländer oder Amerikaner, die uns befreien, sind kämpfende Truppen. Sie sind nicht ausgerüstet dafür, sofort KZ-Lager zu verwalten. Das müssen wir selbst machen. Mit ihrer Hilfe natürlich.« 509 sah den Kopf Lewinskys gegen den wolkigen Himmel. Er war wuchtig und rund, ohne Weichheit.
»Sonderbar«, sagte er. »Wie selbstverständlich wir mit der Hilfe unserer Feinde rechnen, wie?«
»Ich habe geschlafen«, sagte Berger. »Ich bin wieder in Ordnung. Es war nur der Magen, weiter nichts.«
»Du bist krank, und es ist nicht der Magen«, erwiderte 509. »Ich habe nie gehört, daß man vom Magen Blut spuckt.«
Berger hatte die Augen weit geöffnet. »Ich habe etwas Sonderbares geträumt. Es war sehr deutlich und wirklich. Ich operierte. Das helle Licht -«
Er blickte in die Nacht. »Lewinsky glaubt, daß wir in zwei Wochen frei sind, Ephraim«, sagte 509 behutsam. »Sie empfangen jetzt dauernd Nachrichten.«
Berger rührte sich nicht. Es schien, als habe er nichts gehört. »Ich operierte«, sagte er.
»Ich setzte zum Schnitt an. Eine Magenresektion. Ich setzte an, und plötzlich wußte ich nicht weiter. Ich hatte alles vergessen. Der Schweiß brach mir aus. Der Patient lag da, offen, bewußtlos – und ich wußte nicht weiter. Ich hatte die Operation vergessen. Es war entsetzlich.«
»Denk nicht darüber nach. Es war ein Alptraum, weiter nichts. Was habe ich nicht alles schon geträumt! Und was werden wir nicht noch alles träumen, wenn wir hier heraus sind!« 509 roch plötzlich ganz deutlich Spiegeleier mit Speck. Er bemühte sich, nicht daran zu denken. »Es wird nicht alles Jubel sein«, sagte er. »Das ist sicher.« »Zehn Jahre.« Berger starrte in den Himmel. »Zehn Jahre nichts. Weg! Fort! Nicht gearbeitet. Ich habe bis jetzt nie daran gedacht. Es ist möglich, daß ich viel vergessen habe. Ich weiß auch jetzt nicht genau, wie die Operation geht. Ich kann mich nicht richtig erinnern. In der ersten Zeit im Lager habe ich nachts Operationen rekapituliert. Um drin zu bleiben. Dann nicht mehr. Es kann «ein, daß ich es vergessen habe -« »Es kommt einem aus dem Sinn; aber man vergißt es nicht wirklich. Es ist wie mit Sprachen oder Radfahren.« »Man kann es verlernen. Die Hände. Die Präzision. Man kann unsicher werden. Oder nicht mehr mitkommen. In zehn Jahren ist viel passiert. Vieles entdeckt. Ich weiß nichts davon. Ich bin nur älter geworden, älter und müder.« »Merkwürdig«, sagte 509. »Ich habe vorhin auch zufällig an meinen früheren Beruf gedacht. Lewinsky hat mich danach gefragt. Er glaubt, daß wir in zwei Wochen hier 'rauskommen. Kannst du dir das vorstellen?« Berger schüttelte abwesend den Kopf. »Wo ist die Zeit geblieben?« sagte er. »Es war endlos. Jetzt sagst du zwei Wochen. Und auf einmal fragt man: Wo sind die zehn Jahre geblieben?« Die brennende Stadt glühte im Talkessel. Es war immer noch schwül, obschon es Nacht war. Dunst begann aufzusteigen. Blitze zuckten. Am Horizont glimmten noch zwei andere Feuer – ferne, bombardierte Städte. »Wollen wir es nicht einstweilen damit genug sein lassen, daß wir überhaupt denken können, was wir jetzt denken. Ephraim?« »Ja. Du hast recht.« »Wir denken doch schon wieder wie Menschen. Und an das, was nach dem Lager sein wird. Wann konnten wir das? Alles andere wird schon von selbst wiederkommen.« Berger nickte. »Und wenn ich mein Leben lang Strümpfe stopfen muß, wenn ich hier 'rauskomme! Trotzdem -« Der Himmel zerriß unter einem Blitz, und langsam folgte von weit der Donner. »Willst du 'reingehen?« fragte 509. »Kannst du vorsichtig aufstehen oder kriechen?« Das Gewitter brach um elf Uhr los. Die Blitze erhellten den Himmel, und für Sekunden wurde eine fahle Mondlandschaft mit den Trichtern und den Ruinen der zerstörten Stadt hochgeworfen. Berger schlief fest. 509 saß in der Türöffnung von Block 22. Die Baracke war wieder frei für ihn, seit Handke von Lewinsky getötet worden war. Er hielt die Revolver und die Munition unter seiner Jacke verborgen. Er fürchtete, daß sie bei starkem Regen in dem Loch unter dem Bett naß und unbrauchbar werden könnten. Aber es regnete wenig in dieser Nacht. Das Gewitter zog und zog, es teilte sich, und lange Zeit waren es mehrere, die sich Blitze von Horizont zu Horizont zuwarfen wie Schwerter. Zwei Wochen, dachte 509 und sah die Landschaft jenseits des Stacheldrahtes aufflammen und erlöschen. Sie schien ihm einer anderen Welt zu gleichen, die unmerklich näher und näher gekommen war in der letzten Zeit, langsam herangewachsen aus einem Niemandsland der Hoffnungslosigkeit, und nun schon dicht vor den Stacheldrähten lagernd, wartend mit dem Geruch von Regen und Feldern, von Zerstörung und Brand, aber auch von Wachsen und Wäldern und Grün. Er fühlte, wie die Blitze durch ihn hindurchgingen und sie erhellten und wie gleichzeitig eine verlorene Vergangenheit aufdämmerte, fahl, entfernt, fast unverständlich und unerreichbar. Er fröstelte in der warmen Nacht. Er war nicht so sicher, wie er sich Berger gegenüber gezeigt hatte. Er konnte sich erinnern, und es schien ihm viel, und es bewegte ihn, aber ob es genug war nach den Jahren hier, wußte er nicht. Zuviel Tod war zwischen früher und jetzt. Er wußte nur, daß Leben bedeutete, aus dem Lager zu' entkommen, aber gleich danach wurde alles ungewiß und riesig und schwankend, und er konnte nicht weit darüber hinaussehen. Lewinsky konnte es, aber er dachte als Parteimitglied. Die Partei würde ihn auffangen, und er würde in ihr sein, das genügte ihm. Was konnte es dann sein? dachte 509, was war es, das rief, außer dem primitiven Lebenswunsch? Rache? Mit Rache allein war wenig getan. Rache gehörte zu dem anderen, dem finsteren Teil, der erledigt werden mußte, doch was kam danach? Er spürte ein paar warme Regentropfen auf seinem Gesicht, wie Tränen von nirgendwoher. Wer hatte noch Tränen? Sie waren ausgebrannt, vertrocknet seit vielen Jahren. Das stumme Reißen manchmal, das Wenigerwerden von etwas, das schon fast als Nichts vorher erschienen war – das war das einzige, was noch zeigte, daß immer noch etwas verloren werden konnte. Ein Thermometer, das schon längst den tiefsten Punkt des Gefühls anzeigte – und daß es kälter wurde, sah man nur noch daran, daß manchmal ein erfrorenes Glied, ein Finger, ein Fuß abfiel, beinahe ohne Schmerzen. Die Blitze folgten sich schneller, und unter lang rollendem Donner lag der Hügel gegenüber sehr klar im zuckenden, schattenlosen Licht – das ferne, weiße Haus mit dem Garten. Bucher, dachte 509. Bucher hatte noch etwas. Er war jung, und mit ihm war Ruth. Jemand, der mit ihm hinausgehen würde. Aber würde es halten? Doch wer fragte danach? Wer wollte schon Garantien? Und wer konnte sie geben? 509 lehnte sich zurück. Was denke ich für Unsinn? dachte er. Berger muß mich angesteckt haben. Wir sind nur müde. Er atmete langsam und glaubte durch den Gestank des Platzes und der Baracke wieder den Frühling und das Wachsen zu riechen. Das kam wieder, jedes Jahr, mit Schwalben und Blüten, gleichgültig gegen Krieg und Tod und Trauer und Hoffnung. Es kam. Es war da. Das war genug. Er zog die Tür zu und kroch zu seiner Ecke. Es blitzte die ganze Nacht weiter, das geisterhafte Licht fiel durch die zerbrochenen Fenster, und die Baracke schien ein Schiff zu sein, das lautlos auf einem unterirdischen Strom dahinglitt, angefüllt mit Toten, die durch eine dunkle Magie noch atmeten – und darunter einige, die sich nicht verlorengaben.