Der Transport kam überraschend. Die Eisenbahnlinien vom Westen zur Stadt waren einige Tage unterbrochen gewesen. Nach ihrer Reparatur war mit einem der ersten Züge eine Anzahl gedeckter Güterwagen angekommen. Sie hatten zu einem Vernichtungslager weitergeleitet werden sollen.
Nachts waren jedoch die Verbindungen aufs neue zerbombt worden. Der Zug war einen Tag stehengeblieben; dann hatte man die Insassen ins Mellener Lager geschickt.
Es waren nur Juden, Juden aus allen Gegenden Europas. Es waren polnische und ungarische, rumänische und tschechische, russische und griechische Juden, Juden aus Jugoslawien und Holland und Bulgarien und sogar einige aus Luxemburg. Sie sprachen ein Dutzend verschiedener Sprachen, und die meisten verstanden einander kaum. Selbst das gemeinsame Jiddisch schien verschieden zu sein. Sie waren zweitausend gewesen, und jetzt waren sie noch fünfhundert. Ein paar hundert lagen tot in den Güterwagen.
Neubauer war außer sich. »Wo sollen wir denn mit denen hin? Das Lager ist doch schon überfüllt!
Und außerdem sind sie gar nicht offiziell zu uns überwiesen! Wir haben nichts damit zu tun! Das ist ja ein wildes Durcheinander! Es gibt keine Ordnung mehr! Was ist nur los?«
Er rannte in seinem Büro auf und ab. Zu all seinen persönlichen Sorgen kam jetzt auch noch dies!
Sein Beamtenblut empörte sich. Er verstand nicht, daß so viele Umstände mit Leuten gemacht wurden, die zum Tode verurteilt waren. Wütend starrte er aus dem Fenster. »Wie die Zigeuner liegen sie da vor den Toren, mit Sack und Pack! Sind wir auf dem Balkan oder in Deutschland?
Verstehen Sie, was los ist, Weber?«
Weber blieb gleichgültig. »Irgendeine Stelle muß es angeordnet haben«, sagte er.
»Sonst wären sie nicht heraufgekommen.«
»Das ist es ja gerade! Irgendeine Stelle da unten am Bahnhof. Ohne daß ich gefragt worden bin.
Nicht einmal vorher verständigt. Von ordnungsgemäßer Abwicklung ganz zu schweigen. Das gibt es scheinbar überhaupt nicht mehr! Jeden Tag tauchen neue Ämter auf. Die am Bahnhof behaupten, die Leute hätten zuviel geschrieen. Es hätte einen schlechten Eindruck auf die Zivilbevölkerung gemacht. Was haben wir damit zu tun? Unsere Leute schreien nicht!«
Er sah Weber an. Weber lehnte nachlässig an der Tür. »Haben Sie schon mit Dietz darüber gesprochen?« fragte er.
»Nein, noch nicht. Sie haben recht, ich werde das gleich mal tun!« Neubauer ließ sich verbinden und sprach eine Zeitlang. Dann legte er den Hörer nieder. Er war ruhiger geworden. »Dietz sagt, wir brauchen sie nur die Nacht über hierzubehalten.
Geschlossen in einem Block. Nicht auf die Baracken verteilen. Nicht aufnehmen.
Einfach dalassen und bewachen. Morgen werden sie weitergeschickt. Bis dahin ist die Eisenbahnlinie wieder repariert.« Er blickte wieder aus dem Fenster. »Aber wo sollen wir sie nur lassen? Wir haben doch alles überfüllt.«
»Wir können sie auf dem Appellplatz lassen.«
»Den Appellplatz brauchen wir für die Kommandos morgen früh. Das gibt nur Konfusion.
Außerdem werden die Balkanesen ihn völlig verdrecken. Das geht nicht.«
»Wir können sie auf den Appellplatz vom Kleinen Lager stecken. Da sind sie nicht im Wege.«
»Ist da genug Platz?«
»Ja. Wir müssen alle unsere eigenen Leute dann in die Baracken packen. Sie haben bis jetzt zum Teil draußen gelegen.« »Warum? Sind die Baracken so überfüllt?«
»Das kommt darauf an, wie man es ansieht. Man kann Leute packen wie Sardinen.
Auch übereinander.« »Für eine Nacht muß es gehen.« »Es wird gehen. Keiner von den Leuten im Kleinen Lager wird ein Interesse daran haben, in den Transport zu geraten.« Weber lachte. »Sie werden davor zurückscheuen wie vor der Cholera.« Neubauer grinste flüchtig. Es gefiel ihm, daß seine Häftlinge im Lager bleiben wollten. »Wir müssen Wachen aufstellen«, sagte er. »Sonst verschwinden die Neuen in den Baracken, und wir haben da das Durcheinander.« Weber schüttelte den Kopf. »Auch darauf werden die in den Baracken schon selbst aufpassen. Sie haben Angst genug, daß wir sonst morgen einen Teil von ihnen mitschicken, um die Zahl vollzumachen.« »Gut. Bestimmen Sie einige unserer Leute und genügend Kapos und Lagerpolizei als Wachen. Und lassen Sie die Baracken im Kleinen Lager abschließen. Wir können keine Scheinwerfer riskieren, um den Transport zu bewachen.« Es war, als käme eine Horde großer müder Vögel, die nicht mehr fliegen konnten, durch das Zwielicht heran. Sie schwankten und stolperten, und wenn einer fiel, trampelten die anderen über ihn hinweg, fast ohne ihn zu sehen. »Barackentüren zu!« kommandierte der SS-Scharführer, der das Kleine Lager absperrte. »Bleibt drin! Wer herauskommt, wird erschossen!« Die Menge wurde auf den Platz zwischen den Baracken getrieben. Sie flutete hin und her, einige fielen, andere hockten sich zu ihnen, sie bildeten in der Unruhe eine Insel, die größer wurde, und bald lagen alle, und der Abend fiel auf sie wie ein Regen aus Asche. Sie lagen und schliefen; aber ihre Stimmen schwiegen nicht. Sie flatterten immer wieder auf, aus Träumen und Angstschlaf und jähem Erwachen, fremd« artig und schrill, und manchmal vereinigten sie sich zu einem langgezogenen Klagen, das in denselben wenigen Tönen auf- und niederstieg und gegen die Baracken wogte wie ein Meer von Elend gegen die sicheren Archen der Geborgenheit. Man hörte es in den Baracken die ganze Nacht hindurch. Es riß an den Nerven, und schon in den ersten Stunden wurden Leute wild. Sie begannen zu schreien, und als die Menge draußen es hörte, schwoll auch ihr Jammern an, und das machte das Schreien drinnen wieder stärker. Es war wie eine unheimliche, mittelalterliche Wechselklage – bis Kolben an die Baracken donnerten und Schüsse draußen ertönten und das dumpfe Geräusch von Knüppeln, die auf Körper fielen, und das schärfere, wenn sie Schädel trafen. Dann wurde es ruhiger. Die Schreienden in den Baracken waren von ihren Kameraden überwältigt worden; und die Menge draußen war vom Schlaf der Erschöpfung endlich niedergeworfen worden, mehr noch als von den Knüppeln. Von den Knüppeln spürten sie kaum noch etwas. Das Klagen wehte ab und zu wieder auf; es war schwächer, aber es verstummte nie ganz. Die Veteranen horchten lange darauf. Sie horchten und schauderten und hatten Angst, daß es ihnen ähnlich ergehen könne. Sie unterschieden sich äußerlich kaum von den Leuten des Transportes draußen – aber trotzdem fühlten sie sich in den Todesbaracken aus Polen, zwischen Gestank und Tod, eng zusammengepreßt und übereinander liegend, unter den Hieroglyphen, die Sterbende in die Wand gekratzt hatten, und in der Qual, nicht zur Latrine gehen zu können, so geborgen, als wären sie Heimat und Sicherheit gegen den uferlosen, fremden Schmerz draußen – und das schien fast noch grauenhafter zu sein als vieles andere zuvor – Sie erwachten morgens von vielen leisen, fremden Stimmen. Es war noch dunkel. Das Klagen hatte aufgehört. Dafür aber kratzte es jetzt an den Barackenwänden. Es kratzte, als nagten Hunderte von Ratten draußen, um hereinzukommen. Es kratzte heimlich und nicht zu laut, und dann begann es vorsichtig zu klopfen, gegen die Tür, gegen die Wände, und zu murmeln, schmeichlerisch fast, überredend, in einem fremden Singsang, mit den gebrochenen Stimmen letzter Verzweiflung: sie baten um Einlaß.
Sie flehten die Archen an um Hilfe vor der Sintflut. Sie waren leise, schon ergeben, sie schrieen nicht mehr, sie baten nur, streichelten das Holz der Wände, sie lagen davor und kratzten mit Händen und Nägeln und baten mit weichen, dunklen Stimmen in der Dunkelheit. »Was sagen sie?« fragte Bücher. »Sie bitten uns um ihrer Mütter willen, sie hereinzulassen, um ihrer -« Ahasver brach ab. Er weinte. »Wir können es nicht«, sagte Berger. »Ja, ich weiß -« Eine Stunde später kam der Befehl, abzumarschieren. Draußen wurden Kommandos geschrieen. Ein lautes Klagen antwortete. Andere Kommandos folgten, wütend und laut. »Kannst du was sehen, Bucher?« fragte Berger. Sie hockten vor dem kleinen Fenster auf dem obersten Bett. »Ja. Sie weigern sich. Sie wollen nicht.« »Aufstehen!« schrie es draußen. »Antreten! Antreten zum Abzählen!« Die Juden standen nicht auf. Sie blieben flach auf der Erde liegen und blickten mit Augen voll Terror auf die Wachen oder verbargen die Köpfe in den Armen. »Aufstehen!« brüllte Handke. »Los! Hoch, ihr Stinker! Sollen wir euch munter machen? 'raus hier!« Das Muntermachen half nichts. Die fünfhundert Kreaturen, die für die Tatsache, daß sie andere Gebräuche beim Gottesdienst als ihre 'Peiniger hatten, zu etwas reduziert worden waren, das nicht mehr als menschlich bezeichnet werden konnte, reagierten nicht mehr auf Schreie, Flüche und Schläge. Sie blieben liegen, sie versuchten den Boden zu umarmen, sie krallten sich an ihn, – die elende, verdreckte Erde des Konzentrationslagers erschien ihnen begehrenswert, sie war für sie Paradies und Rettung. Sie wußten, wohin man sie bringen wollte. Solange sie auf dem Transport und in Bewegung gewesen waren, waren sie stumpf der Bewegung gefolgt. Jetzt, einmal aufgehalten und zur Ruhe gebracht, weigerten sie sich ebenso stumpf, sich wieder zu bewegen. Die Aufseher wurden unsicher. Sie hatten Befehl, die Leute nicht totzuschlagen, und das war ziemlich schwierig. Der Befehl hatte keinen anderen Grund als den üblichen bürokratischen: der Transport war dem Lager nicht überwiesen worden; er sollte es deshalb möglichst geschlossen wieder verlassen. Mehr SS-Leute erschienen. 509 sah vom Fenster von Baracke 20 aus sogar Weber in seinen blanken, eleganten Stiefeln herankommen. Er blieb am Eingang des Kleinen Lagers stehen und gab einen Befehl. Die SS legte an und feuerte dicht über die Liegenden hinweg. Weber stand breitbeinig neben der Pforte, die Arme in den Hüften. Er erwartete, daß die Juden nach den Salven aufspringen würden. Sie taten es nicht. Sie waren jenseits aller Drohung. Sie wollten liegenbleiben. Sie wollten nicht weiter. Hätte man zwischen sie geschossen, sie hätten sich wahrscheinlich auch dann kaum noch gerührt. Webers Gesicht verfärbte sich. »Bringt sie hoch!« schrie er. »Prügelt sie hoch! Auf die Beine und Füße!« Die Aufseher stürzten sich in die Menge. Sie prügelten mit Knüppeln und Fäusten, sie traten mit den Füßen in Mägen und Geschlechtsteile, sie rissen Leute an den Haaren und Bärten hoch und stellten sie auf; aber die Leute ließen sich wieder fallen, als seien sie ohne Knochen. Bucher starrte hinaus. »Sieh dir das an«, flüsterte Berger. »Das sind nicht nur SS-Leute, die da prügeln. Es sind auch nicht nur grüne. Nicht nur Verbrecher. Es sind andere Farben darunter. Es sind Leute von uns dabei! Häftlinge wie wir, zu Kapos und Polizisten gemacht. Sie prügeln ebenso wie ihre Meister.« Er rieb seine entzündeten Augen, als wolle er sie aus dem Kopf pressen. Dicht neben der Baracke stand ein alter Mann mit einem weißen Bart. Blut lief aus seinem Munde und färbte den Bart langsam rot. »Geht vom Fenster weg«, sagte Ahasver. »Wenn sie euch sehen, holen sie euch auch.«
»Sie können uns nicht sehen.«
Das Fenster war schmutzig und blind, und man konnte von außen nicht sehen, was dahinter in dem dunklen Raum vor sich ging. Von innen konnte man aber genug sehen.
»Ihr solltet nicht zusehen«, sagte Ahasver. »Es ist eine Sünde, das zu tun, wenn man nicht dazu gezwungen wird.«
»Es ist keine Sünde«, sagte Bucher. »Wir wollen es nie vergessen. Deshalb sehen wir hin.«
»Habt ihr nicht genug davon hier im Lager gesehen?«
Bucher antwortete nicht. Er starrte weiter aus dem Fenster.
Allmählich erschöpfte sich die Wut auf dem Platz. Die Aufseher hätten jeden einzelnen wegschleppen müssen. Sie hätten tausend Mann dazu gebraucht. Sie bekamen manchmal zehn, zwanzig Juden zusammen auf die Straße; aber nicht mehr.
Wenn es mehr wurden, brachen sie durch die Wachhabenden hindurch und stürzten wieder zurück zu dem zuckenden, großen, dunklen Haufen.
»Da ist Neubauer selber«, sagte Berger.
Er war herangekommen und sprach mit Weber. »Sie wollen nicht weg«, sagte Weber, weniger gleichmütig als sonst. »Man kann sie totschlagen; sie bewegen sich nicht.«
Neubauer paffte dicke Rauchwolken. Der Gestank auf dem Platz war sehr stark.
»Scheußliche Sache! Warum hat man sie bloß hergeschickt? Man hätte sie doch gleich da erledigen können, wo sie waren, anstatt sie so weit im Lande herumzuschicken zum Vergasen. Ich möchte wissen, was der Grund dafür ist?«
Weber zuckte die Achseln. »Der Grund ist, daß selbst der dreckigste Jude einen Körper hat.
Fünfhundert Leichen. Töten ist einfach; viel schwieriger ist es, die Leichen verschwinden zu lassen.
Und das dort waren zweitausend.«
»Unsinn! Fast alle Lager haben Krematorien, genau wie wir.«
»Das schon. Aber Krematorien arbeiten für unsere Zeit zu langsam. Speziell, wenn Lager rasch geräumt werden müssen.«
Neubauer spuckte ein Tabaksblättchen aus. »Ich verstehe es trotzdem nicht, weshalb die Leute so weit herumgeschickt werden.«
»Es sind wieder die Leichen. Unsere Behörden sehen nicht gern, daß man zu viele Leichen findet.
Und nur Krematorien erledigten sie bisher so, daß man die Anzahl später nicht kontrollieren kann – leider für den großen Bedarf immer noch viel zu langsam. Es gibt kein wirklich modernes Mittel, um über große Mengen rasch zu disponieren. Massengräber kann man noch lange hinterher öffnen, um Greuelmärchen zu erfinden. Man hat das in Polen und Rußland gesehen.«
»Warum hat man dieses Gesindel nicht einfach beim Rückzug -«, Neubauer verbesserte sich sofort:»ich meine bei der strategischen Verkürzung der Linie da gelassen, wo es war? Es ist doch zu nichts mehr nütze. Soll man sie den Amerikanern oder Russen überlassen, damit die damit glücklich werden.«
»Es wäre wieder die Sache mit den Körpern gewesen«, erwiderte Weber geduldig. »Es heißt, daß die amerikanische Armee eine Unmenge Journalisten und Fotografen bei sich hat. Man hätte Aufnahmen machen und behaupten können, die Leute seien unterernährt gewesen.«
Neubauer nahm die Zigarre aus dem Munde und blickte Weber scharf an. Er konnte nicht sehen, ob sein Lagerführer sich wieder einmal über ihn lustig machte. Er hatte das nie herausfinden können, sooft er es auch versucht hatte. Weber zeigte sein übliches Gesicht. »Was soll das heißen?« fragte Neubauer. »Was meinen Sie damit? Natürlich sind sie unterernährt.«
»Es sind die Greuelmärchen, die die ausländische Presse darüber erfindet. Das Propagandaministerium warnt täglich davor.«
Neubauer blickte Weber immer noch an. Eigentlich kenne ich ihn überhaupt nicht, dachte er. Er hat immer getan, was ich wollte, aber ich kenne im Grunde nichts von ihm. Ich würde mich nicht wundern, wenn er mir plötzlich ins Gesicht lachen würde.
Mir und sogar vielleicht dem Führer selbst. Ein Landsknecht, ohne wirkliche Weltanschauung!
Wahrscheinlich ist ihm nichts heilig; auch nicht die Partei. Sie paßt ihm nur gerade so. »Wissen Sie, Weber -«, begann er und brach dann ab. Es hatte keinen Zweck, große Geschichten zu machen.
Einen Augenblick war wieder die jähe Angst da. »Natürlich sind die Leute unter» ernährt«, sagte er. »Aber das ist nicht unsere Schuld. Der Gegner mit seiner Blockade zwingt uns ja dazu. Oder nicht?«
Weber hob den Kopf. Er traute seinen Ohren nicht. Neubauer sah ihn sonderbar gespannt an.
»Selbstverständlich«, sagte Weber gemächlich. »Der Gegner mit seiner Blockade.«
Neubauer nickte. Die Angst war wieder verflogen. Er blickte über den Appellplatz.
»Offen gestanden«, sagte er fast vertraulich. »Es ist trotzdem doch noch ein mächtiger Unterschied in den Lagern. Unsere Leute sehen bedeutend besser aus als die dort – selbst im Kleinen Lager.
Finden Sie nicht?«
»Ja«, erwiderte Weber perplex.
»Man sieht es, wenn man vergleicht. Wir sind sicher eines der humansten Lager im ganzen Reich.«
Neubauer hatte ein Gefühl behaglicher Erleichterung »Natürlich sterben Leute. Viele sogar. Das ist unvermeidlich in solchen Zeiten Aber wir sind menschlich. Wer nicht mehr kann, braucht bei uns nicht zu arbeiten. Wo gibt es das sonst für Verräter und Staatsfeinde?«
»Fast nirgendwo.«
»Das meine ich auch. Unterernährung? Das ist nicht unsere Schuld! Ich sage Ihnen, Weber -«
Neubauer hatte plötzlich einen Gedanken. »Hören Sie, ich weiß, wie wir die Leute hier herauskriegen. Wissen Sie, wie? Mit Essen!«
Weber grinste. Der Alte war manchmal doch nicht nur in den Wolken seiner eigenen Wunschbilder. »Ausgezeichnete Idee«, erklärte er. »Wenn Knüppel nicht helfen – Essen hilft immer. Aber wir haben keine Extrarationen parat.« »Schön, dann müssen die Lagerinsassen mal verzichten. Etwas Kameradschaft zeigen. Kriegen mal weniger zu Mittag.« Neubauer reckte seine Schultern. »Verstehen die hier Deutsch?« »Ein paar vielleicht.« »Ist ein Dolmetscher da?«
Weber fragte einige der Leute, die Wache gehabt hatten. Sie brachten drei Gestalten heran.
»Übersetzt euren Leuten, was der Herr Obersturmbannführer sagt!« schnauzte Weber.
Die drei Leute standen nebeneinander. Neubauer trat einen Schritt vor. »Leute!« sagte er mit Würde. »Ihr seid falsch unterrichtet. Ihr sollt in ein Erholungslager geführt werden.«
»Los!« Weber stieß einen der drei an. Sie redeten etwas in unverständlichen Lauten.
Niemand auf dem Platz rührte sich.
Neubauer wiederholte die Worte. »Ihr geht jetzt zur Küche«, fügte er hinzu. »Kaffee und Essen empfangen!«
Die Dolmetscher riefen es nach. Niemand rührte sich. Keiner glaubte so etwas. Jeder hatte schon oft Menschen auf ähnliche Weise verschwinden sehen. Essen und Baden waren gefährliche Versprechen.
Neubauer wurde ärgerlich. »Küche! Abmarsch zur Küche! Essen! Kaffee! Essen und Kaffee empfangen! Suppe!«
Die Wachen stürzten sich mit ihren Knüppeln auf die Menge. »Suppe! Hört ihr nicht?
Essen! Suppe!« Sie prügelten bei jedem Wort.
»Halt!« schrie Neubauer ärgerlich. »Wer hat euch befohlen, zu prügeln? Verdammt!«
Die Aufseher sprangen zurück,»'raus mit euch!« schrie Neubauer.
Aus den Leuten mit Knüppeln wurden plötzlich wieder Häftlinge. Sie schlichen am Rande des Platzes dahin und drückten sich einer hinter den anderen.
»Die schlagen sie ja zu Krüppeln«, knurrte Neubauer. »Dann haben wir sie auf dem Halse.«
Weber nickte. »Wir haben beim Ausladen am Bahnhof ohnehin schon ein paar Lastwagen Toter hierher geschickt gekriegt zum Verbrennen.«
»Wo sind denn die?«
»Aufgestapelt am Krematorium. Dabei haben wir Kohlenknappheit. Unseren Vorrat brauchen wir für unsere eigenen Leute notwendig genug.«
»Verdammt, wie kriegen wir die hier nur weg?«
»Die Leute sind in einer Panik. Sie verstehen nicht mehr, was ihnen gesagt wird.
Vielleicht aber, wenn sie es – riechen.«
»Riechen?«
»Das Essen riechen. Riechen oder sehen.«
»Sie meinen, wenn wir einen Kessel hierherbringen?«
»Jawohl. Versprechen nützt bei diesen Leuten nichts. Sie müssen es sehen und riechen.«
Neubauer nickte. »Möglich. Wir haben doch kürzlich eine Anzahl fahrbarer Kessel bekommen.
Lassen Sie einen davon holen. Oder zwei. Einen mit Kaffee. Ist schon Essen da?«
»Noch nicht. Aber ein Kessel voll wird wohl aufzutreiben sein. Von gestern abend, denke ich.«
Die Kessel waren angefahren. Sie standen etwa zweihundert Meter entfernt von der Menge auf der Straße. »Fahrt einen ins Kleine Lager«, kommandierte Weber. »Und nehmt den Deckel ab. Dann, wenn sie kommen, fahrt ihn langsam wieder hierher zurück.«
»Wir müssen sie in Bewegung bringen«, sagte er zu Neubauer. »Wenn sie erst einmal den Appellplatz verlassen haben, ist es leicht, sie 'rauszukriegen. Es ist immer so. Da, wo sie geschlafen haben, wollen sie bleiben, weil ihnen da nichts passiert ist. Das ist für sie eine Art Sicherheit. Alles andere fürchten sie. Wenn sie aber erst wieder in Bewegung sind, gehen sie auch weiter. Fahrt vorläufig einmal nur den Kaffee heran«, kommandierte er. »Und fahrt ihn nicht zurück. Gebt ihn aus! Verteilt ihn drüben.«
Der Kaffeekessel wurde bis in die Menge geschoben. Einer der Kapos schöpfte mit der Kelle heraus und goß die Brühe dem nächsten Mann über den Kopf. Es war der Alte mit dem blutigen weißen Bart. Die Flüssigkeit lief ihm über das Gesicht und färbte den Bart jetzt braun. Es war die dritte Veränderung.
Der Alte hob den Kopf und leckte die Tropfen ab. Seine klauenartigen Hände fuhren umher. Der Kapo hielt ihm die Kelle mit dem Rest an den Mund »Sauf! Kaffee!«
Der Alte öffnete den Mund. Seine Halsstränge begannen plötzlich zu arbeiten. Die Hände schlössen sich um die Kelle, und er schluckte, schluckte, er war nur noch Schlucken und Schlürfen, sein Gesicht zuckte, er zitterte und schluckte.
Sein Nachbar sah es. Ein zweiter, dritter. Sie hoben sich, schoben die Münder, die Hände heran, stießen sich, rissen sich um die Kelle, hingen daran, ein Haufen von Armen und Köpfen.
»He! Verdammt!«
Der Kapo konnte die Kelle nicht loskriegen. Er zerrte und trat mit den l Füßen, vorsichtig nach hinten schielend, wo Neubauer stand. Andere hatten sich inzwischen aufgerichtet und über den heißen Kessel gebeugt. Sie versuchten die Gesichter in den Kaffee zu hängen und mit den dünnen Händen zu schöpfen. »Kaffee! Kaffee!«
Der Kapo fühlte, daß seine Kelle frei war. »Ordnung!« schrie er. »Einer nach dem anderen!
Antreten hintereinander!«
Es nützte nichts. Die Menge war nicht zu halten. Sie hörte nichts. Sie roch das, was sich Kaffee nannte, irgend etwas Warmes, das man trinken konnte, und stürmte blind den Kessel. Weber hatte recht gehabt: da, wo das Gehirn nicht mehr registrierte, war der Magen immer noch Herrscher.
Zieht den Wagen jetzt langsam 'rüber«, kommandierte Weber. Es war unmöglich. Die Menge war rundherum. Einer der Aufseher machte ein erstauntes Gesicht und fiel langsam um. Die Menge hatte ihm die Beine in Boden gerissen. Er schlug um sich wie ein Schwimmer und rutschte runter.
»Keil formieren!« kommandierte Weber. Die Wachen und die Lagerpolizei stellten sich auf.
»Los!« schrie Weber.
»Auf den Kaffeewagen. Zieht ihn 'raus!«
Die Wachen brachen in die Menge ein. Sie rissen die Leute beiseite. Es gelang ihnen, einen Kordon um den Wagen zu formen und ihn zu bewegen. Er war schon fast leer.
Sie schoben ihn, Schulter an Schulter um ihn formiert, heraus. Die Menge folgte.
Hände versuchten über die Schultern und unter die Arme zu gelangen.
Plötzlich sah einer aus dem stöhnenden Haufen den zweiten, entfernter stehenden Wagen. Er lief, in grotesken Sätzen schwankend, drauflos. Andere folgten ihm. Aber hier hatte Weber vorgesorgt; er war umringt von kräftigen Leuten und setzte sich sofort in Bewegung.
Die Menge stürzte hinterher. Nur ein paar blieben und strichen die Hände über die Wände des Kaffeekessels, um die Feuchtigkeit abzulecken. Ungefähr dreißig blieben zurück, die nicht mehr aufstehen konnten.
»Schleppt sie hinterher«, kommandierte Weber. »Und schließt dann eine Kette über die Straße, damit sie nicht hierher zurückkommen können.«
Der Platz war voll von menschlichem Schmutz; aber er war eine Nacht Ruheplatz gewesen. Das war viel. Weber hatte Erfahrung. Er wußte, daß die Menge, wie das Wasser zum tiefsten Punkte, versuchen würde, hierher zurückzukommen, wenn die Raserei des Hungers vorüber war.
Die Wachen trieben die Zurückgebliebenen vorwärts. Sie schleppten gleichzeitig die Sterbenden und Toten. Es waren nur sieben Tote. Der Transport hatte aus den zartesten letzten fünfhundert bestanden.
Am Ausgang des Kleinen Lagers zur Straße brachen einige Leute aus. Die Wachen mit den Sterbenden und Toten konnten nicht rasch genug folgen. Drei der kräftigsten Leute flohen zurück.
Sie rannten zu den Baracken und rissen an den Türen. Die von 22 gab nach. Sie krochen hinein.
»Halt!« schrie Weber, als die Wachen folgen wollten. »Alles hierher! Die drei holen wir später.
Aufpassen! Die anderen kommen zurück.«
Der Schwarm kam die Straße herunter. Der Kessel mit Essen war leer geworden, und als man die Gruppen zum Abmarsch formieren wollte, waren sie umgekehrt. Aber sie waren jetzt nicht mehr dieselben wie vorher. Vorher waren sie ein einziger Block gewesen, jenseits von Verzweiflung, und das hatte ihnen eine stumpfe Kraft gegeben.
Jetzt waren sie durch Hunger und Essen und Bewegung zurückgeworfen in die Verzweiflung – die Angst flatterte in ihnen wieder und machte sie wild und schwach, sie waren keine Masse mehr, sondern viele einzelne, jeder mit seinem eigenen Lebensrest, und das machte sie zu einer leichten Beute. Dazu kam, daß sie nicht mehr eng zusammenhockten.
Sie hatten keine Macht mehr. Sie fühlten wieder Hunger und Schmerz. Sie begannen zu gehorchen.
Ein Teil von ihnen war weiter oben abgeschnitten worden; ein anderer auf dem Wege zurück; den Rest empfing Weber mit seinen Leuten. Sie schlugen nicht auf die Köpfe; nur auf die Körper.
Langsam formierten sich Gruppen. Betäubt standen sie in Reihen zu vieren, die Arme ineinander verschränkt, damit sie nicht fielen. Zwischen die Stärkeren wurde immer ein Sterbender eingehakt.
Von weitem konnte es für jemand, der nichts davon wußte, aussehen, als taumele dort Arm in Arm eine Schar lustiger Betrunkener. Dann plötzlich fingen einige an zu singen. Sie starrten vor sich hin und hoben die Köpfe und hielten die anderen fest und sangen. Es waren nicht viele, und der Gesang war dünn und abgerissen. Sie gingen über den großen Appellplatz an den aufgestellten Arbeitsformationen vorbei hinaus durchs Tor.
»Was ist das, was sie singen?« fragte Werner.
»Ein Lied für Tote.«
Die drei Geflüchteten kauerten in Baracke 22. Sie hatten sich so weit durchgedrängt, wie sie konnten. Zwei lagen halb unter einem Bett. Sie hatten die Köpfe weit darunter gesteckt. Die Beine ragten heraus und zitterten. Das Zittern lief über sie, hörte einen Augenblick auf und begann wieder.
Der dritte starrte mit weißem Gesicht auf die Häftlinge. »Verstecken – Mensch – Mensch -« Er wiederholte es immer wieder und stieß sich mit dem Zeigefinger vor die Brust. Es war das einzige Deutsch, das er kannte.
Weber riß die Tür auf. »Wo sind sie?«
Er stand mit zwei Wachen im Rahmen. »Wird's bald? Wo sind sie?«
Niemand antwortete. »Stubenältester!« schrie Weber.
Berger trat vor. »Baracke 22, Sektion -« begann er zu melden.
»Schnauze! Wo sind sie?«
Berger hatte keine Wahl. Er wußte, daß die Flüchtlinge in wenigen Augenblicken gefunden werden mußten. Er wußte auch, daß die Baracke auf keinen Fall durchsucht werden durfte. Zwei politische Flüchtlinge vom Arbeitslager waren darin versteckt.
Er hob den Arm, um in die Ecke zu zeigen, aber einer der Aufseher, der an ihm vorbeiblickte, kam ihm zuvor. »Da sind sie! Unter dem Bett!«
»Holt sie 'raus!«
Ein Schuffeln begann in dem vollen Raum. Die beiden Wachen rissen die Flüchtlinge wie Frösche an beiden Beinen unter dem Bett hervor. Die Gefangenen krallten ihre Hände um die Pfosten. Sie schwangen in der Luft. Weber trat auf ihre Finger. Es knackte, und die Hände gaben nach. Die beiden wurden herausgezerrt. Sie schrieen nicht. Sie stießen nur ein leises, sehr hohes Stöhnen aus, als sie über den dreckigen Boden geschleift wurden. Der dritte, mit dem weißen Gesicht, stand von selbst auf und folgte ihnen. Seine Augen waren große schwarze Löcher. Er blickte die Häftlinge an, an denen er vorbeiging. Sie wandten die Augen ab.
Weber stand breitbeinig vor dem Eingang. »Wer von euch Schweinen hat die Tür aufgemacht?«
Niemand meldete sich,»'raustreten!«
Sie kamen heraus. Handke stand schon draußen. »Blockältester!« schnauzte Weber.
»Es war befohlen, die Türen zu schließen! Wer hat sie geöffnet?«
»Die Türen sind alt. Die Flüchtlinge haben das Schloß losgerissen, Herr Sturmführer.«
»Quatsch! Wie können sie das?« Weber bückte sich über das Schloß. Es hing lose in dem verrotteten Holz. »Sofort ein neues Schloß anbringen! Hätte längst gemacht werden sollen! Warum ist das nicht früher getan worden?«
»Die Türen werden nie verschlossen, Herr Sturmführer. Die Leute haben keine Latrine in der Baracke.«
»Einerlei. Sorgen Sie dafür.« Weber drehte sich um und ging die Straße hinauf, hinter den Flüchtlingen her, die sich nicht mehr wehrten.
Handke betrachtete die Sträflinge. Sie erwarteten einen seiner Ausbrüche. Aber es kam keiner.
»Schafsköpfe«, sagte er. »Seht zu, daß ihr den Dreck hier fortkriegt.«
Dann wandte er sich an Berger. »Das hättet ihr wohl nicht gerne gesehen, wenn die Baracke genau untersucht worden wäre, was?«
Berger erwiderte nichts. Er blickte Handke ausdruckslos an. Handke lachte kurz auf.
»Haltet mich für dumm, wie? Ich weiß mehr, als du glaubst. Und Ich kriege euch noch! Alle! Alle euch hochnäsigen politischen Idioten, verstehst du?«
Er stampfte hinter Weber her. Berger drehte sich um. Goldstein stand hinter ihm.
»Was mag er damit meinen?«
Berger hob die Schultern. »Wir müssen auf jeden Fall sofort Lewinsky benachrichtigen. Und die Versteckten heute anderswo unterbringen. Vielleicht geht es in Block 20. 509 weiß da Bescheid.«