Sie fielen aus den Bunkern, als der Scharführer Breuer zwei Tage später die Türen öffnen ließ.
Beide waren die letzten dreißig Stunden von Halbbewußtlosigkeit in Bewußtlosigkeit getaumelt.
Am ersten Tage hatten sie sich noch ab und zu durch Klopfen verständigen können; dann nicht mehr.
Man trug sie hinaus. Sie lagen auf dem Tanzplatz neben der Mauer, die das Krematorium umgab.
Hunderte von Menschen sahen sie; keiner rührte sie an. Keiner brachte sie fort. Keiner tat, als sehe er sie. Es war kein Befehl gegeben worden, was mit ihnen geschehen solle; deshalb existierten sie nicht. Wer sie angerührt hätte, wäre selbst in den Bunker gekommen.
Zwei Stunden später wurden die letzten Toten des Tages zum Krematorium gebracht.
»Was ist mit diesen?« fragte der SS-Mann, der Aufsicht hatte, träge »Kommen die mit 'rein?«
»Es sind zwei aus dem Bunker.«
»Sind sie abgekratzt?«
»Es sieht so aus.«
Der SS-Mann sah, daß die Hand von 509 sich langsam zur Faust schloß und wieder öffnete.
»Noch nicht ganz«, sagte er. Sein Rücken schmerzte ihn. Die letzte Nacht mit Fritzi in der »Fledermaus« war eine verfluchte Tour gewesen. Er schloß die Augen. Er hatte gewonnen gegen Hoffmann. Hoffmann mit Wilma. Eine Flasche Hennessy.
Guter Kognak. Aber er war ausgepumpt. »Fragt im Bunker oder in der Schreibstube nach, wohin sie gehören«, sagte er zu einem der Leichenträger.
Der Mann kam zurück. Mit ihm kam eilig der rothaarige Schreiber. »Diese beiden sind aus dem Bunker entlassen«, meldete er. »Sie gehören ins Kleine Lager. Sollten schon heute mittag entlassen werden. Befehl der Kommandantur.«
»Dann schafft sie hier weg.« Der SS-Mann sah faul auf seine Liste. »Ich habe achtunddreißig Abgänge.« Er zählte die Leichen, die in Reih und Glied vor dem Eingang lagen. »Achtunddreißig.
Richtig. Weg mit denen hier, sonst gibt es wieder neues Durcheinander.«
»Vier Mann! Bringt die beiden ins Kleine Lager!« rief der Leichenkapo.
Vier Leute griffen zu. »Hier herüber«, flüsterte der rothaarige Schreiber. »Rasch! Von den Toten weg. Hier herüber!«
»Die sind doch schon so gut wie hin«, sagte einer der Träger.
»Halt die Schnauze! Los!«
Sie trugen 509 und Bucher von der Mauer weg. Der Schreiber beugte sich l über sie und horchte.
»Sie sind nicht tot. Holt Bahren! Rasch!«
Er sah sich um. Er fürchtete, daß Weber kommen, sich erinnern und die beiden hängen lassen würde. Er blieb stehen, bis die Leute mit den Bahren kamen. Es waren roh gezimmerte Bretter, auf denen gewöhnlich Leichen transportiert wurden.
»Packt sie auf! Schnell!«
Der Platz um das Tor und das Krematorium herum war immer gefährlich.
SS-Leute trieben sich dort herum, und der Scharführer Breuer war in der Nähe. Er ließ ungern jemand lebend aus dem Bunker entkommen. Der Befehl Neubauers war mit der Entlassung ausgeführt und erledigt, und 509 und Bucher waren jetzt wieder Freiwild. Jeder konnte seine Laune an ihnen austoben – von Weber ganz zu schweigen, dessen Ehre es fast erfordert hätte, sie erledigen zu lassen, hätte er gewußt, daß sie noch lebten.
»Was für ein Unsinn!« sagte einer der Träger mißmutig. »Da schleppen wir die hier den ganzen Weg ins Kleine Lager, und morgen früh müssen sie bestimmt wieder zurückgebracht werden. Die halten nicht einmal mehr ein paar Stunden durch.«
»Was geht das dich an, du Idiot?« Der rothaarige Schreiber fauchte plötzlich vor Wut.
»Pack an! Vorwärts! Ist kein vernünftiger Mensch zwischen euch?«
»Hier«, sagte ein älterer Mann, der die Bahre, auf der 509 lag, anhob. »Was ist mit ihnen los?
Irgend etwas Besonderes?«
»Es sind zwei von Baracke 22.« Der Schreiber sah sich um und trat dicht an den Träger heran.
»Es sind die beiden, die sich vor zwei Tagen geweigert haben zu unterschreiben.«
»Was zu unterschreiben?«
»Die Erklärung für den Meerschweinchendoktor. Die anderen vier hat er mitgenommen.«
»Was? Und die hier werden nicht gehenkt?«
»Nein.« Der Schreiber ging noch einige Schritte neben den Bahren her. »Sie sollen zurück zu den Baracken. Das war der Befehl. Macht deshalb rasch, bevor jemand dazwischenkommt.«
»Ach so. Verstehe!«
Der Träger schritt plötzlich so kräftig aus, daß er dem vorderen Mann die Bahre in die Kniekehle stieß. »Was ist los?« fragte der ärgerlich. »Bist du verrückt geworden?«
»Nein. Laß uns die beiden erst mal von hier wegschaffen. Ich sage dir später, warum.«
Der Schreiber blieb zurück. Die vier Träger marschierten jetzt schweigend und eilig, bis sie die Administrationsgebäude hinter sich hatten. Die Sonne ging unter. 509 und Bucher waren einen halben Tag länger im Bunker gewesen als befohlen worden war.
Diese kleine Variation hatte Breuer sich nicht nehmen lassen.
Der vordere Träger drehte sich um. »Also, was ist los? Sind das hier besondere Bonzen?«
»Nein. Aber es sind zwei von den Sechsen, die Weber Freitag aus dem Kleinen Lager geholt hat.«
»Was haben sie denn mit denen gemacht? Die sehen doch aus, als ob sie einfach zerschlagen worden sind.«
»Das sind sie auch. Weil sie sich geweigert haben, mit dem Stabsarzt zu gehen, der dabei war.
Versuchsstation vor der Stadt, sagt der rothaarige Schreiber. Er hat schon öfter welche geholt.«
Der vordere Träger stieß einen Pfiff aus. »Verdammt, und da leben die noch?«
»Das siehst du ja.«
Der erste schüttelte den Kopf,»Und jetzt werden sie aus dem Bunker sogar zurückgeschickt?
Nicht gehenkt? Was ist los? So was habe ich lange nicht erlebt!«
Sie kamen zu den ersten Baracken. Es war Sonntag. Die Arbeitskommandos hatten den Tag über gearbeitet und waren vor kurzem eingerückt. Die Straßen waren voll von Gefangenen. Die Nachricht verbreitete sich im Augenblick.
Man hatte im Lager gewußt, wozu die sechs Mann abgeholt worden waren. Man hatte auch gewußt, daß 509 und Bucher im Bunker waren; das war über die Schreibstube rasch bekannt und wieder vergessen worden. Niemand hatte sie lebend zurückerwartet.
Jetzt aber kamen sie – und sogar jeder, der nicht Bescheid wußte, konnte sehen, daß sie nicht zurückkamen, weil sie unbrauchbar gewesen waren, sonst wären sie nicht so zerschlagen gewesen.
»Komm«, sagte jemand aus der Menge zu dem hinteren Träger. »Ich helfe dir tragen.
Es geht dann besser.«
Er faßte einen der Bahrengriffe. Ein anderer trat hinzu und nahm den zwei« ten, vorderen Griff.
Gleich darauf wurde jede Bahre von vier Gefangenen getragen. Es war nicht nötig, 509 und Bucher waren nicht schwer; aber die Häftlinge wollten etwas für sie tun, und es gab im Augenblick nichts anderes. Sie trugen die Bahren, als seien sie aus Glas, und wie auf Geisterfüßen lief ihnen die Nachricht voran: zwei, die einen Befehl verweigert haben, kommen lebendig zurück. Zwei aus dem Kleinen Lager.
Zwei aus den Baracken der sterbenden Muselmänner. Es war unerhört. Keiner wußte, daß sie es nur einer Laune Neubauers zu verdanken hatten – und das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, daß sie sich geweigert hatten und lebend zurückkamen.
Lewinsky stand vor Baracke 13, lange bevor die Bahren sich näherten. »Ist es wahr?« fragte er schon von weitem.
»Ja. Das sind sie doch, oder nicht?«
Lewinsky kam heran und bückte sich über die Bahren.
»Ich glaube, ja – ja, das ist der, mit dem ich gesprochen habe. Sind die vier anderen tot?«
»Im Bunker waren nur diese zwei. Der Schreiber sagt, die anderen sind gegangen.
Diese nicht. Sie haben sich geweigert.«
Lewinsky richtete sich langsam auf. Er sah Goldstein neben sich. »Geweigert. Hättest du das gedacht?«
»Nein. Nicht von Leuten aus dem Kleinen Lager.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, daß man sie wieder losgelassen hat.«
Goldstein und Lewinsky blickten einander an. Münzer kam zu ihnen hinüber. »Es scheint, daß die tausendjährigen Brüder weich werden«, sagte er.
»Was?« Lewinsky drehte sich um. Münzer hatte genau das ausgesprochen, was er und Goldstein gedacht hatten. »Wie kommst du darauf?«
»Verfügung vom Alten selbst«, sagte Münzer. »Weber wollte sie hängen lassen.«
»Woher weißt du das?«
»Der rote Schreiber hat es erzählt. Er hat es gehört.« Lewinsky stand einen Augenblick sehr still – dann wandte er sich an einen kleinen grauen Mann. »Geh zu Werner«, flüsterte er. »Sag es ihm.
Sag ihm, daß der, der wollte, wir sollten es nicht vergessen, auch dabei ist.«
Der Mann nickte und drückte sich die Baracke entlang. Die Träger mit den Bahren waren inzwischen weitergegangen. Immer mehr Häftlinge kamen aus den Türen.
Einzelne traten scheu und rasch heran und blickten auf die beiden Körper. Ein Arm von 509 fiel herunter und schleifte über den Boden; zwei Mann »prangen hinzu und legten ihn behutsam zurück.
Lewinsky und Goldstein blickten hinter den Bahren her. »Allerhand Courage für zwei lebende Leichname, sich einfach so zu weigern, was?« sagte Goldstein. »Hätte ich nie erwartet von einem aus der Krepierabteilung.«
»Ich auch nicht.« Lewinsky starrte immer noch die Straße hinunter. »Sie müssen am Leben bleiben«, sagte er dann. »Sie dürfen nicht krepieren. Du weißt, warum?«
»Ich kann es mir denken. Du meinst, daß es dann erst richtig wird.«
»Ja. Wenn sie krepieren, ist es morgen vergessen. Wenn nicht -« Wenn nicht, dann werden sie für das Lager ein Beispiel dafür sein, daß sich etwas geändert hat, dachte Lewinsky. Er sprach es nicht aus. »Wir können das brauchen«, sagte er statt dessen. »Gerade jetzt.«
Goldstein nickte.
Die Träger gingen weiter dem Kleinen Lager zu. Am Himmel stand ein wildes Abendrot. Die rechte Reihe der Baracken des Arbeitslagers wurde davon beschienen; die linke lag in blauen Schatten.
Die Gesichter vor den Fenstern und Türen der Schattenseite waren bleich und verwischt wie immer; aber die auf der anderen Seite wurden von dem starken Licht überweht wie von einem jähen Sturz geborgten Lebens.
Die Träger gingen mitten durch das Licht. Es fiel auf die von Blut und Schmutz verschmierten Körper auf den Bahren – und plötzlich war es, als würden dort nicht einfach zwei zerschlagene Gefangene zurückgeschleppt, sondern als wäre es fast wie ein jammervoller Triumphzug. Sie hatten widerstanden. Sie atmeten noch. Sie waren nicht besiegt.
Berger arbeitete an ihnen. Lebenthal hatte Steckrübensuppe besorgt. Sie hatten Wasser getrunken und waren, halb bewußtlos, wieder eingeschlafen. Dann fühlte 509 irgendwann aus langsam sich lösender Erstarrung etwas Warmes auf seiner Hand. Eine flüchtige, scheue Erinnerung. Weit weg.
Wärme. Er öffnete die Augen.
Der Schäferhund leckte seine Hand. »Wasser«, flüsterte 509. Berger hatte ihnen die aufgescheuerten Gelenke mit Jod bestrichen. Er sah auf, holte die Dose mit Suppe und hielt sie 509 an den Mund. »Hier, trink.« 509 trank. »Was ist mit Bucher?« fragte er mühsam.
»Er liegt neben dir.« 509 wollte weiter fragen. »Er lebt«, sagte Berger. »Ruh dich aus.«
Beim Appell mußten sie hinausgetragen werden. Man legte sie mit den Kranken, die nicht mehr gehen konnten, auf den Boden vor der Baracke. Es war bereits dunkel, und die Nacht war klar.
Der Blockführer Bolte nahm den Appell ab. Er betrachtete die Gesichter von 509 und Bucher, wie man zertretene Insekten ansieht. »Die beiden sind tot«, sagte er. »Warum liegen sie hier bei den Kranken?«
»Sie sind nicht tot, Herr Scharführer.«
»Noch nicht«, erklärte der Blockälteste Handke.
»Dann morgen. Die gehen durch den Schornstein. Darauf könnt ihr eure Köpfe wetten.«
Bolte ging rasch. Er hatte Geld in der Tasche und wollte eine Partie Karten riskieren.
»Abtreten!« schrieen die Blockältesten. »Essenholer 'raus!«
Die Veteranen trugen 509 und Bucher vorsichtig zurück. Handke sah es und grinste.
»Die beiden sind wohl aus Porzellan, wie?«
Niemand antwortete ihm. Er stand noch eine Weile herum; dann ging er auch.
»Dieses Schwein!« knurrte Westhof und spuckte aus. »Dieses dreckige Schwein!«
Berger betrachtete ihn aufmerksam. Westhof hatte schon seit einiger Zeit Lagerkoller.
Er war unruhig, brütete herum, redete mit sich selbst und fing Streit an. »Sei ruhig«, sagte Berger scharf. »Mach keinen Radau. Wir wissen alle, was mit Handke los ist.«
Westhof stierte ihn an. »Ein Gefangener wie wir. Und so ein Schwein. Das ist es -«
»Das weiß jeder. Es gibt Dutzende, die noch schlimmer sind. Macht verroht, das solltest du längst gelernt haben. So, und jetzt hilf anpacken.«
Sie hatten für 509 und Bucher je ein Bett frei gemacht. Sechs Leute schliefen dafür auf dem Boden. Einer davon war Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei. Er half die beiden mit hineinbringen. »Der Scharführer versteht nichts« sagte er zu Berger.
»So?«
»Sie werden nicht durch den Schornstein gehen. Bestimmt nicht morgen. Man hätte ruhig wetten können.«
Berger sah ihn an. Das kleine Gesicht war völlig sachlich. Durch den Schornstein gehen war der Lagerausdruck für das Krematorium. »Hör zu, Karel«, sagte Berger.
»Mit SS-Leuten kann man nur wetten, wenn man weiß, daß man verliert. Und auch dann besser nicht.«
»Sie werden morgen nicht durch den Schornstein gehen. Die beiden nicht. Die dort drüben ja.«
Karel zeigte auf drei Muselmänner, die auf dem Fußboden lagen.
Berger sah ihn wieder an. »Du hast recht«, sagte er.
Karel nickte, ohne Stolz. Er war Spezialist in diesen Dingen.
Am nächsten Abend konnten sie sprechen. Ihre Gesichter waren so mager, daß nicht viel daran zu schwellen war. Sie waren blau und schwarz verfärbt, aber die Augen waren frei, und die Lippen waren nur zerrissen.
»Bewegt sie nicht, wenn ihr sprecht«, sagte Berger.
Es war nicht schwierig. Sie hatten das in den Jahren im Lager gelernt. Jeder, der längere Zeit da war, konnte sprechen, ohne einen Muskel zu verziehen.
Nach dem Essenholen klopfte es plötzlich an die Tür. Einen Augenblick preßten sich alle Herzen zusammen, jeder fragte sich, ob sie doch noch kämen, die beiden zu holen.
Es klopfte wieder, vorsichtig, kaum hörbar. »509! Bucher!« wisperte Ahasver. »Tut, als ob ihr tot seid.«
»Mach auf, Leo«, flüsterte 509. »Das ist nicht die SS. Die kommt – anders -«
Das Klopfen hörte auf. Einige Sekunden später tauchte ein Schatten vor dem bleichen Licht des Fensters auf und bewegte eine Hand.
»Mach auf, Leo«, sagte 509. »Das ist einer vom Arbeitslager.«
Lebenthal öffnete die Tür, und ein Schatten schlüpfte hinein. »Lewinsky«, sagte er in das Dunkel.
»Stanislaus. Wer ist wach?«
»Alle. Hier.«
Lewinsky fühlte in die Richtung Bergers, der gesprochen hatte. »Wo? Ich will auf keinen treten.«
»Bleib stehen.«
Berger kam herüber. »Hier. Setz dich hierher.«
»Leben die beiden?«
»Ja. Sie liegen links neben dir.«
Lewinsky schob etwas in Bergers Hand. »Hier ist etwas -«
»Was?«
»Jod, Aspirin und Watte. Hier ist auch eine Rolle Gaze. Und dieses ist Wasserstoffsuperoxyd.«
»Das ist ja eine Apotheke«, sagte Berger erstaunt. »Wo hast du das alles her?«
»Gestohlen. Aus dem Hospital. Einer von uns räumt da auf.«
»Gut. Wir können es brauchen.«
»Hier ist Zucker. In Stücken. Gib sie ihnen in Wasser. Zucker ist gut.«
»Zucker?« sagte Lebenthal. »Wo hast du denn den her?«
»Irgendwoher. Du bist Lebenthal, was?« fragte Lewinsky in die Dunkelheit.
»Ja, warum?«
»Weil du das fragst.«
»Ich habe nicht deshalb gefragt«, sagte Lebenthal beleidigt.
»Ich kann dir nicht sagen, woher er kommt. Einer von Baracke 9 hat ihn gebracht. Für die beiden.
Hier ist auch noch etwas Käse. Von Baracke 11 sind diese sechs Zigaretten.«
Zigaretten! Sechs Zigaretten! Ein unvorstellbarer Schatz. Sie schwiegen alle einen Augenblick.
»Leo«, sagte Ahasver dann. »Der ist besser als du.«
»Unsinn.« Lewinsky sprach abgerissen und rasch, als wäre er außer Atem. »Sie haben es gebracht, bevor die Baracken abgeschlossen wurden. Wußten, daß ich 'rüberkommen würde, wenn das Lager sicher war.«
»Lewinsky«, flüsterte 509. »Bist du das?«
»Ja -«
»Du kannst 'raus?«
»Klar. Wie wäre ich sonst hier? Ich bin Mechaniker. Stück Draht, ganz einfach.
Ich bin gut mit Schlössern. Außerdem kann man immer durchs Fenster. Wie macht ihr es hier?«
»Hier wird nicht abgeschlossen! Die Latrinen sind draußen«, antwortete Berger.
»Ach so, ja. Hatte das vergessen.« Lewinsky machte eine Pause. »Haben die anderen unterschrieben?« fragte er dann in die Richtung von 509. »Die, die mit euch waren?«
»Ja -«
»Und ihr nicht?«
»Wir nicht.«
Lewinsky beugte sich vor. »Wir hätten nicht geglaubt, daß ihr das schaffen würdet.«
»Ich auch nicht«, sagte 509.
»Ich meine nicht nur, daß ihr es ausgehalten habt. Ich meine, daß euch nicht mehr passiert ist.«
»Das meine ich auch.«
»Laß sie in Ruhe«, sagte Berger. »Sie sind schwach. Wozu willst du das alles so genau wissen?«
Lewinsky bewegte sich im Dunkeln. »Das ist wichtiger, als du glaubst.« Er stand auf.
»Ich muß zurück. Komme bald wieder. Bringe noch was. Will auch noch was mit euch besprechen.«
»Gut.«
»Ist hier nachts oft Kontrolle?«
»Wozu? Um Tote zu zählen?«
»Gut. Also keine.«
»Lewinsky -«, flüsterte 509.
»Ja -«
»Kommst du bestimmt wieder?«
»Bestimmt.«
»Hör zu!« 509 suchte erregt nach Worten. »Wir sind noch – wir sind noch nicht fertig – wir sind noch zu was – zu gebrauchen -«
»Deshalb komme ich ja wieder. Nicht aus Nächstenliebe.«
»Gut. Dann ist es gut – du kommst bestimmt -«
»Bestimmt -«
»Vergeßt uns nicht -«
»Das hast du mir schon einmalgesagt. Ich habe es nicht vergessen. Deshalb bin ich hergekommen.
Ich komme wieder.«
Lewinsky tastete sich zum Eingang zurück. Lebenthal drückte die Tür hinter ihm zu.
»Halt«, flüsterte Lewinsky von draußen. »Hab' noch was vergessen. Hier -«
»Kannst du nicht 'rausfinden, woher der Zucker ist?« fragte Lebenthal.
»Weiß nicht. Will sehen.« Lewinsky sprach immer noch abgerissen und außer Atem.
»Hier, nimm dies – lest es -, wir haben es heute gekriegt -«
Er steckte ein zusammengefaltetes Papier in Lebenthals Finger und glitt hinaus, in den Schatten der Baracke.
Lebenthal schloß die Tür. »Zucker«, sagte Ahasver.
»Laßt mich ein Stück anfassen. Nur anfassen, weiter nichts.«
»Ist da noch Wasser?« fragte Berger.
»Hier -« Lebenthal reichte einen Napf hinüber.
Berger nahm zwei Stücke Zucker und löste sie auf. Dann kroch er zu 509 und Bucher hinüber.
»Trinkt das hier. Langsam. Jeder abwechselnd einen Schluck.«
»Wer ißt da?« fragte jemand vom mittleren Bett.
»Keiner. Wer soll schon essen?«
»Ich höre schlucken.«
»Du träumst, Ammers«, sagte Berger.
»Ich träume nicht! Ich will meinen Anteil. Ihr freßt ihn auf, da unten! Ich will meinen Anteil!«
»Warte bis morgen.«
»Bis morgen habt ihr alles aufgefressen. Es geht immer so. Ich kriege jedesmal am wenigsten. Ich!«
Ammers fing an zu schluchzen. Keiner kümmerte sich darum. Er war seit einigen Tagen krank und glaubte immer, die anderen betrogen ihn.
Lebenthal tastete sich zu 509 hinüber. »Das mit dem Zucker vorhin«, flüsterte er verlegen,»ich habe das nicht gefragt, um damit zu handeln. Ich wollte nur noch mehr für euch besorgen.«
»Ja -«
»Ich habe auch den Zahn noch. Ich habe ihn noch nicht verkauft. Ich habe gewartet. Jetzt werde ich das Geschäft machen.«
»Gut, Leo. Was hat Lewinsky dir noch gegeben? An der Tür.«
»Ein Stück Papier. Es ist kein Geld.« Lebenthal fingerte es ab. »Fühlt sich an wie ein Stück Zeitung.«
»Zeitung?«
»Es fühlt sich so an.«
»Was?« fragte Berger. »Du hast ein Stück Zeitung?«
»Sieh nach!« sagte 509.
Lebenthal kroch zur Tür und öffnete sie. »Stimmt. Es ist ein Zeitungsstück.
Abgerissen.«
»Kannst du es lesen?«
»Jetzt?«
»Wann sonst?« fragte Berger.
Lebenthal hob den Fetzen hoch. »Es ist nicht genug Licht.«
»Mach die Tür weiter auf. Kriech 'raus. Draußen ist Mond.«
Lebenthal öffnete die Tür und hockte sich draußen hin. Er hielt das abgerissene Zeitungsstück in das Ungewisse, webende Licht. Er studierte es lange. »Ich glaube, es ist ein Heeresbericht -«, sagte er dann.
»Lies!« flüsterte 509. »So lies doch, Mensch!«
»Hat keiner ein Streichholz?« fragte Berger.
»Remagen -«, sagte Lebenthal. »Am Rhein -«
»Was?«
»Die Amerikaner sind bei Remagen – über den Rhein gegangen!«
»Was, Leo? Hast du richtig gelesen? Über den Rhein? Steht da nicht was anderes? Ein französischer Fluß?«
»Nein – Rhein – bei Remagen – Amerikaner -«
»Mach keinen Unsinn! Lies richtig! Lies um Gottes willen richtig, Leo!« »Es stimmt«, sagte Lebenthal. »Es steht hier so. Ich sehe es jetzt deutlich.« »Über den Rhein? Wie ist das möglich?
Dann sind sie ja in Deutschland! So lies doch weiter! Lies! Lies!«
Sie krächzten durcheinander. 509 spürte nicht, wie seine Lippen aufrissen. »Über den Rhein! Aber wie denn? Mit Flugzeugen? Mit Booten? Wie? Mit Fallschirmen? Lies, Leo!«
»Brücke«, buchstabierte Lebenthal. »Sie haben – eine Brücke gekreuzt – die Brücke ist – unter schwerem deutschem Feuer -« »Eine Brücke?« fragte Berger ungläubig. »Ja, eine Brücke – bei Remagen -«
»Eine Brücke«, wiederholte 509. »Eine Brücke – über den Rhein? Dann muß die Armee – lies weiter, Leo! Da muß noch mehr stehen!« »Das Kleingedruckte kann ich nicht lesen.« »Hat denn keiner ein Streichholz?« fragte Berger verzweifelt. »Hier -«, erwiderte jemand aus dem Dunkel.
»Hier sind noch zwei.« »Komm herein, Leo.«
Sie formten eine Gruppe neben der Tür. »Zucker«, jammerte Ammers. »Ich weiß, ihr habt Zucker.
Ich habe es gehört. Ich will meinen Anteil.«
»Gib dem verdammten Hund ein Stück, Berger«, flüsterte 509 ungeduldig. »Nein.«
Berger suchte nach der Zündfläche. »Haltet die Decken und Jacken vor die Fenster. Kriech in die Ecke unter die Decke, Leo. Los!«
Er zündete das Streichholz an. Lebenthal begann zu lesen, so rasch er konnte. Es waren die üblichen Vertuschungen. Die Brücke sei wertlos, die Amerikaner seien unter schwerstem Feuer und abgeschnitten auf dem erreichten Ufer, Kriegsgericht erwarte die Truppe, die die Brücke nicht zerstört habe – Das Streichholz erlosch. »Die Brücke nicht zerstört -«, sagte 509. »Sie haben sie also – intakt gekreuzt. Wißt ihr, was das heißt?« »Sie müssen überrascht worden sein -«
»Das heißt, daß der Westwall durchbrochen ist«, sagte Berger, so vorsichtig, als glaube er zu träumen. »Der Westwall durchbrochen! Sie sind durch!«
»Es muß die Armee sein. Keine Fallschirmtruppe. Eine Fallschirmtruppe wäre hinter dem Rhein abgesprungen.«
»Mein Gott, und wir haben nichts gewußt! Wir haben gedacht, daß die Deutschen noch einen Teil von Frankreich halten!«
»Lies es noch einmal, Leo!« sagte 509. »Wir müssen sicher sein. Von wann ist es? Ist ein Datum drauf?«
Berger zündete das zweite Streichholz an. »Licht aus!« schrie jemand.
Lebenthal las bereits. »Von wann?« unterbrach 509.
Lebenthal suchte. »11. März 1945.« »11. März 45. Und was ist heute?«
Keiner wußte genau, ob es Ende März oder Anfang April war. Sie hatten im Kleinen Lager verlernt zu zählen. Aber sie wußten, daß der 11. März schon einige Zeit vorbei war. »Laßt es mich sehen, rasch«, sagte 509.
Er war, ohne auf die Schmerzen zu achten, zu der Ecke hinübergekrochen, wo sie die Decke hielten. Lebenthal rückte beiseite. 509 blickte auf das Blatt Papier und las. Der schmale Kreis des erlöschenden Zündholzes beleuchtete gerade noch die Überschrift.
»Zünde eine Zigarette an, Berger, schnell!«
Berger tat es, während er kniete. »Wozu bist du hierhergekrochen?« fragte er und schob ihm die Zigarette in den Mund. Das Streichholz erlosch.
»Gib mir das Blatt«, sagte 509 zu Lebenthal.
Lebenthal gab es ihm. 509 faltete es zusammen und steckte es in sein Hemd. Er spürte es auf der Haut. Dann tat er einen Zug aus der Zigarette. »Hier – gib sie weiter.«
»Wer raucht da?« fragte der Mann, der die Zündhölzer gegeben hatte.
»Ihr kommt auch dran. Jeder einen Zug.«
»Ich will nicht rauchen«, jammerte Ammers. »Ich will Zucker.« 509 kroch auf sein Bett zurück.
Berger und Lebenthal halfen ihm. »Berger«, flüsterte er nach einer Weile. »Glaubst du es nun?«
»Ja -«
»Es war doch richtig mit der Stadt und dem Bombardement -«
»Ja.«
»Du auch, Leo?«
»Ja -«
»Wir kommen 'raus – wir müssen -«
»Wir werden das alles morgen besprechen«, sagte Berger. »Schlaf jetzt.« 509 ließ sich zurücksinken. Ihm war schwindelig. Er glaubte, daß es von dem Zug an der Zigarette käme. Das kleine, rote Lichtpünktchen wanderte, von Händen abgeschirmt, durch die Baracke. »Hier«, sagte Berger. »Trinkt das Zuckerwasser noch.« 1509 trank. »Behaltet die anderen Stücke«, flüsterte er.
»Löst sie nicht auf. Wir können Essen dafür tauschen. Richtiges Essen ist wichtiger.«
»Da sind noch mehr Zigaretten«, krächzte jemand. »Gebt die anderen her!«
»Da sind keine mehr«, erwiderte Berger.
»Doch! Ihr habt noch mehr. Her damit!«
»Das, was gebracht worden ist, ist für die beiden vom Bunker.«
»Quatsch! Es ist für alle. Her damit!«
»Paß auf, Berger«, flüsterte 509. »Nimm einen Knüppel. Wir müssen die Zigaretten gegen Essen tauschen. Paß du auch auf, Leo!«
»Ich passe schon auf.«
Man hörte die Veteranen zusammenrücken. Leute tappten durch das Dunkel, fielen, fluchten, schlugen und schrieen. Andere in den Betten begannen ebenfalls zu krächzen und zu toben.
Berger wartete einen Moment. »Die SS kommt«, rief er dann.
Ein Huschen und Kriechen und Stoßen und Stöhnen – dann wurde es still.
»Wir hätten nicht anfangen sollen zu rauchen«, sagte Lebenthal.
»Stimmt. Habt ihr die anderen Zigaretten versteckt?«
»Schon längst.«
»Wir hätten auch die erste sparen sollen. Aber wenn so was passiert -« 509 war plötzlich völlig erschöpft. »Bucher«, fragte er noch. »Hast du es auch gehört?«
»Ja -« 509 fühlte den weichen Schwindel stärker werden; über den Rhein, dachte er und spürte den Rauch der Zigarette in seinen Lungen. Vor kurzem hatte er das schon einmal gespürt, erinnerte er sich – aber wann? Rauch, gierig sich ein pressend, qualvoll und unwiderstehlich. Neubauer, ja, der Rauch der Zigarre; während er auf dem nassen Boden gelegen hatte. Es schien schon weit weg zu sein, und nur einen Augenblick zuckte Angst hindurch, dann verschwamm es, und da war ein anderer Rauch, der Rauch der Stadt, der durch den Stacheldraht: gedrungen war, Rauch der Stadt, Rauch vom Rhein – und plötzlich war ihm, als läge er auf einer nebligen Wiese, die sich neigte und neigte, und alles wurde sehr sanft und zum ersten Male ohne Furcht dunkel.