»Ich will einen Priester«, jammerte Ammers.
Er jammerte es schon den ganzen Nachmittag. Sie hatten versucht, es ihm auszureden, aber es hatte keinen Zweck gehabt. Es war plötzlich über ihn gekommen.
»Was für einen Priester?« fragte Lebenthal.
»Einen katholischen. Wozu fragst du das, du Jude?«
»Sieh da!« Lebenthal schüttelte den Kopf. »Ein Antisemit! Das hat uns hier gerade noch gefehlt.«
»Es gibt genug im Lager«, sagte 509.
»Ihr habt schuld!« zeterte Ammers. »An allem! Ohne euch Juden wären wir nicht hier.«
»Was? Warum denn das nicht?«
»Weil es dann keine Lager gäbe. Ich will einen Priester!«
»Schäm dich, Ammers«, sagte Bucher aufgebracht.
»Ich brauche mich nicht zu schämen. Ich bin krank! Holt einen Priester.« 509 sah auf die blauen Lippen und die eingesunkenen Augen. »Es gibt keinen Priester im Lager, Ammers.«
»Sie müssen einen haben. Es ist mein Recht. Ich sterbe.«
»Ich glaube nicht, daß du stirbst«, erklärte Lebenthal.
»Ich sterbe, weil ihr verdammten Juden alles aufgefressen habt, was mir zukam. Und jetzt wollt ihr mir nicht einmal einen Priester holen. Ich will beichten. Was wißt ihr davon? Wozu muß ich in einer Judenbaracke sein? Ich habe ein Recht auf eine Arierbaracke.«
»Hier nicht mehr. Nur im Arbeitslager. Hier sind alle gleich.«
Ammers keuchte und drehte den Kopf weg. Über seinem filzigen Haar stand an der Holzwand eine Inschrift mit Blaustift:»Eugen Mayer 1941 Typhus.
Rächt -«
»Wie ist es mit ihm?« fragte 509 Berger.
»Er müßte schon längst tot sein. Aber heute ist, glaube ich, wirklich sein letzter Tag.«
»Es sieht so aus. Er verwechselt bereits alles.«
»Er verwechselt nichts«, erklärte Lebenthal. »Er weiß, was er redet.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Bucher.
509 sah ihn an. »Er war einmal anders, Bucher«, sagte er ruhig. »Aber man hat ihn zerschlagen. Er ist nichts mehr von dem, was er einmal war. Das da ist ein anderer Mensch, der aus Resten und Fetzen von früher zusammengewachsen ist. Und die Fetzen waren nicht heil. Ich habe es gesehen.«
»Einen Priester«, jammerte Ammers wieder. »Ich muß beichten! Ich will nicht in die ewige Verdammnis!« 509 setzte sich auf den Bettrand. Neben Ammers lag ein Mann des neuen Transports, der hohes Fieber hatte und flach und rasch atmete. »Du kannst das ohne Priester, Ammers«, sagte 509. »Was hast du schon getan? Hier gibt es keine Sünden. Nicht für uns. Wir büßen alles gleich ab. Bereue, was du zu bereuen hat. Wenn keine Beichte möglich ist, ist das genug. So steht es im Katechismus.«
Ammers hörte einen Moment auf zu keuchen. »Bist du auch katholisch?« fragte er.
»Ja«, sagte 509. Es war nicht wahr.
»Dann weißt du es doch! Ich muß einen Priester haben! Ich muß beichten und kommunizieren! Ich will nicht in Ewigkeit brennen!« Ammers zitterte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sein Gesicht war nicht mehr als zwei Fäuste, und die Augen waren viel zu groß dafür. Er hatte dadurch etwas von einer Fledermaus. »Wenn du Katholik bist, weißt du, wie es ist. Wie das Krematorium; aber man verbrennt nie und stirbt nie. Willst du, daß das mit mir passiert?« 509 sah zur Tür. Sie war offen. Ein klarer Abendhimmel stand darin wie ein Bild.
Dann sah er zurück auf den abgezehrten Kopf, in dem die Bilder der Hölle brannten.
»Für uns hier ist das anders, Ammers!« sagte er schließlich. »Wir haben drüben eine Vorzugsstellung. Ein Stück Hölle haben wir ja schon hier gehabt.«
Ammers bewegte ruhelos den Kopf. »Versündige dich nicht«, flüsterte er. Dann hob er sich mühsam auf, starrte um sich und brach plötzlich aus:»Ihr! Ihr! Ihr seid gesund! Und ich muß abkratzen! Gerade jetzt! Ja, lacht! Lacht! Ich habe alles gehört, was ihr gesagt habt! Ihr wollt 'raus!
Ihr kommt 'raus! Und ich? Ich! Ins Krematorium! Ins Feuer! Die Augen! Und ewig – huh – huh -«
Er heulte wie ein mondsüchtiger Hund. Sein Körper war straff hochgezogen, und er heulte. Sein Mund war ein schwarzes Loch, aus dem es heiser heulte.
Sulzbacher erhob sich. »Ich gehe«, sagte er. »Ich will nach einem Priester fragen -«
»Wo?« fragte Lebenthal.
»Irgendwo. Auf der Schreibstube. Bei der Wache -«
»Sei nicht verrückt. Hier gibt es keine Priester. Die SS duldet das nicht. Sie wird dich in den Bunker stecken.«
»Das macht nichts.«
Lebenthal starrte Sulzbacher an. »Berger, 509«, sagte er dann. »Habt ihr das gehört?«
Sulzbachers Gesicht war sehr blaß. Seine Kinnbacken traten stark heraus. Er sah niemand an. »Es nützt nichts«, sagte Berger zu ihm. »Es ist verboten. Wir wissen auch keinen unter den Gefangenen.
Meinst du, wir hätten ihn sonst nicht schon geholt?«
»Ich gehe«, erwiderte Sulzbacher.
»Selbstmord!« Lebenthal griff sich in die Haare. »Und noch für einen Antisemiten!«
Sulzbachers Kiefer arbeiteten. »Gut, für einen Antisemiten.«
»Meschugge! Wieder einer meschugge!«
»Gut, meschugge, ich gehe.«
»Bucher, Berger, Rosen«, sagte 509 ruhig.
Bucher stand bereits mit einem Knüppel hinter Sulzbacher. Er schlug ihm auf den Kopf. Der Schlag war nicht besonders stark, aber er genügte, um Sulzbacher taumeln zu lassen. Alle zerrten ihn jetzt herunter und rollten sich über ihn. »Gib die Bänder vom Schäferhund, Ahasver«, sagte Berger.
Sie banden die Hände und Füße Sulzbachers und ließen ihn los. »Wenn du schreist, müssen wir dir was in den Mund stecken«, sagte 509.
»Ihr versteht mich nicht -«
»Doch. Du bleibst so, bis dein Koller vorbei ist. Wir haben schon genug Leute so verloren -«
Sie schoben ihn in eine Ecke und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Rosen richtete sich auf. »Er ist noch durcheinander«, murmelte er, als müsse er für ihn um Entschuldigung bitten. »Ihr müßt das verstehen. Sein Bruder damals -«
Ammers war heiser geworden. Er flüsterte nur noch. »Wo bleibt er?
Wo – der Priester -«
Sie hatten allmählich alle genug. »Ist wirklich kein Priester oder Küster oder Meßdiener in den Baracken?« fragte Bucher. »Irgendeiner, damit er Ruhe gibt.«
»Es waren vier in siebzehn. Einer ist entlassen worden; zwei sind tot; der andere ist im Bunker«, sagte Lebenthal. »Breuer verprügelt ihn jeden Morgen mit einer Kette. Er nennt das: die Messe mit ihm lesen.«
»Bitte -« flüsterte Ammers weiter. »Um Christi willen – einen -«
»Ich glaube, in B ist ein Mann, der Lateinisch kann«, sagte Ahasver. »Ich habe mal davon gehört.
Kann man den nicht nehmen?«
»Wie heißt er?«
»Ich weiß es nicht genau. Dellbrück oder Hellbrück oder so ähnlich. Der Stubenälteste weiß das sicher.« 509 stand auf. »Das ist Mahner. Wir können ihn fragen.«
Er ging mit Berger hinüber. »Es kann Hellwig sein«, sagte Mahner. »Das ist einer, der Sprachen spricht. Er ist etwas verrückt. Ab und zu deklamiert er. Er ist in A.«
»Das wird er sein.«
Sie gingen zu Sektion A. Mahner sprach mit dem Stubenältesten dort, einem großen, dünnen Mann mit einem Birnenkopf. Der Birnenkopf zuckte schließlich die Achseln.
Mahner ging in das Labyrinth von Betten, Beinen, Armen und Stöhnen hinein und rief den Namen aus.
Er kam nach einigen Minuten zurück. Ein mißtrauischer Mann folgte ihm. »Dies ist er«, sagte Mahner zu 509. »Laßt uns 'rausgehen. Hier kann man ja kein Wort verstehen.« 509 erklärte Hellwig die Situation. »Sprichst du Lateinisch?« fragte er.
»Ja.« Hellwigs Gesicht zuckte nervös. »Wißt ihr, daß mir jetzt mein Eßnapf gestohlen wird?«
»Wieso?«
»Hier wird gestohlen. Gestern ist mir mein Löffel weggekommen, während ich auf der Latrine saß.
Ich hatte ihn unter meinem Bett versteckt. Jetzt habe ich den Eßnapf drinnen gelassen.«
»Dann hole ihn.«
Hellwig verschwand ohne ein Wort. »Der kommt nicht wieder«, sagte Mahner.
Sie warteten. Es wurde dunkler. Schatten krochen aus Schatten; Dunkelheit aus der Dunkelheit der Baracken. Dann kam Hellwig zurück. Er hielt den Eßnapf an die Brust gepreßt.
»Ich weiß nicht, wieviel Ammers versteht«, sagte 509. »Sicher nicht mehr als ego te absolvo. Das mag er behalten haben. Wenn du ihm das sagst und noch irgend etwas, was dir einfällt-«
Hellwig knickte mit seinen langen dünnen Beinen beim Gehen ein. »Virgil?« fragte er.
»Horaz?«
»Gibt es nicht etwas Kirchliches?«
»Credo in unum deum -«
»Sehr gut.«
»Oder Credo quia absurdum -« 509 blickte auf. Er sah in zwei sonderbar rastlose Augen. »Das tun wir alle«, sagte er.
Hellwig blieb stehen. Er zeigte dabei mit dem knotigen Zeigefinger auf 509, als wollte er ihn aufspießen. »Es ist eine Gotteslästerung, das weißt du. Aber ich will es tun. Er braucht mich nicht.
Es gibt eine Reue und Sündenvergebung ohne Beichte.«
»Vielleicht kann er nicht bereuen, ohne daß einer dabei ist.«
»Ich tue es nur, um ihm zu helfen. Inzwischen stehlen sie meine Portion Suppe.«
»Mahner wird deine Suppe für dich halten. Aber gib mir deinen Eßnapf«, sagte 509.
»Ich bewahre ihn für dich, während du drin bist.«
»Warum?«
»Er glaubt dir vielleicht eher, wenn du keinen Eßnapf bei dir hast.«
»Gut.«
Sie traten in die Tür. Die Baracke war auch vorn jetzt schon fast dunkel. Man hörte Ammers flüstern. »Hier«, sagte 509. »Wir haben einen gefunden, Ammers.«
Ammers wurde still. »Wirklich?« fragte er dann deutlich. »Ist er da?«
»Ja.«
Hellwig bückte sich. »Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen«, flüsterte Ammers mit einer Stimme wie ein erstauntes Kind.
Sie begannen zu murmeln. 509 und die anderen gingen hinaus. Draußen stand der späte Abend sehr still über den Wäldern am Horizont. 509 setzte sich gegen die Barackenwand. Sie hatte noch etwas Wärme von der Sonne behalten. Bucher kam und setzte sich neben ihn. »Sonderbar«, sagte er nach einer Weile.
Manchmal sterben hundert, und man fühlt nichts, und dann stirbt ein einzelner, einer, der einen nicht mal viel angeht – und es ist, als wären es tausend.« 509 nickte. »Unsere Einbildungskraft kann nicht zählen. Und Gefühl wird durch Ziffern nicht stärker. Es kann immer nur bis eins zählen. Eins – aber das ist genug, wenn man es wirklich spürt.«
Hellwig kam aus der Baracke. Er trat gebückt durch die Tür, und einen Augenblick war es, als trüge er die stinkende Dunkelheit wie ein Schäfer ein schwarzes Schaf auf seinen Schultern, um sie fortzunehmen und in dem reinen Abend zu waschen. Dann richtete er sich auf und war wieder ein Gefangener.
»War es ein Sakrileg?« fragte 509.
»Nein. Ich habe keine priesterliche Handlung ausgeführt. Ich habe ihm nur bei der Reue assistiert.«
»Ich wollte, wir hätten etwas für dich. Eine Zigarette oder ein Stück Brot.« 509 gab Hellwig den Eßnapf zurück. »Aber wir haben selbst nichts. Alles, was wir dir anbieten können, ist Ammers'
Suppe, wenn er vor dem Abendessen stirbt. Wir empfangen sie dann noch mit.«
»Ich brauche nichts. Ich will auch nichts. Es wäre eine Schweinerei, dafür etwas zu nehmen.« 509 sah jetzt erst, daß Hellwig Tränen in den Augen hatte. Er blickte ihn maßlos erstaunt an. »Ist er ruhig?« fragte er dann.
»Ja. Er hat heute mittag ein Stück Brot gestohlen, das Ihnen gehörte. Er wollte, daß ich es Ihnen sage.«
»Ich habe das schon gewußt.«
»Er möchte, daß Sie kommen. Er will Sie alle um Verzeihung bitten.«
»Um Himmels willen! Wozu denn das?«
»Er will es. Besonders einen, der Lebenthal heißt.«
»Hörst du, Leo?« sagte 509.
»Er will rasch noch sein Geschäft mit Gott machen, deshalb«, erklärte Lebenthal unversöhnlich.
»Ich glaube nicht.« Hellwig nahm seinen Eßnapf unter den Arm. »Komisch, ich wollte wirklich einmal Priester werden«, sagte er. »Riß dann aus. Verstehe es jetzt nicht mehr. Wollte, ich hätte es nicht getan.« Er ließ seine merkwürdigen Augen über die Sitzenden flattern. »Man leidet weniger, wenn man an etwas glaubt.«
»Ja. Aber es gibt vieles, an das man glauben kann. Nicht nur Gott.«
»Gewiß«, erwiderte Hellwig plötzlich so verbindlich, als stände er in einem Salon und diskutierte.
Er hielt den Kopf leicht schief, als lausche er auf etwas. »Es war eine Art von Notbeichte«, sagte er dann. »Nottaufen hat es immer gegeben. Notbeichten -«
Sein Gesicht zuckte. »Eine Frage für die Theologen – guten Abend, meine Herren -«
Er stakte wie eine Riesenspinne seiner Sektion zu. Die anderen sahen ihm verblüfft nach. Es war besonders der Abschiedsgruß gewesen; sie hatten ähnliches nicht mehr gehört, seit sie im Lager waren. »Geh zu Ammers, Leo«, sagte Berger nach einer Weile.
Lebenthal zögerte. »Geh!« wiederholte Berger. »Sonst schreit er wieder. Wir anderen werden Sulzbacher jetzt losbinden.«
Die Dämmerung war zu einer hellen Dunkelheit geworden. Eine Glocke läutete von der Stadt her.
In den Furchen der Äcker lagen tiefe blaue und violette Schatten.
Sie saßen in einer kleinen Gruppe vor der Baracke. Ammers starb drinnen immer noch. Sulzbacher hatte sich erholt. Er saß beschämt neben Rosen.
Lebenthal richtete sich plötzlich auf. »Was ist das da?«
Er starrte durch den Stacheldraht auf die Äcker. Etwas huschte dort hin und her, hielt an und huschte weiter.
»Ein Hase!« sagte Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei.
»Unsinn! Woher kennst du denn einen Hasen?«
»Bei uns gab es welche zu Hause. Ich habe genug gesehen, als ich jung war. Ich meine damals, als ich frei war«, sagte Karel. Seine Jugend lag für ihn vor dem Lager. Vor der Zeit, als man seine Eltern vergast hatte.
»Es ist tatsächlich ein Hase.« Bucher kniff die Augen zusammen. »Oder ein Kaninchen. Nein, dafür ist es zu groß.«
»Gerechter Gott!« sagte Lebenthal. »Ein lebendiger Hase.«
Sie sahen ihn jetzt alle. Er setzte sich einen Moment aufrecht, und die langen Ohren standen empor.
Dann hoppelte er weiter.
»Wenn der hier hereinkäme!« Lebenthals Gebiß klapperte. Er dachte an den falschen Hasen Bethkes, den Dachshund, für den er den Goldzahn Lohmanns hergegeben hatte.
»Man könnte ihn tauschen. Wir würden ihn nicht selbst essen. Wir würden ihn tauschen gegen zweimal, nein zweieinhalbmal soviel Abfallfleisch.«
»Wir würden ihn nicht tauschen. Wir würden ihn selbst essen«, sagte Meyerhof.
»So? Und wer brät ihn? Willst du ihn vielleicht roh essen? Wenn du ihn jemand zum Braten gibst, kriegst du ihn nicht wieder«, erklärte Lebenthal hitzig. »Komisch, was manche Leute so wissen, die seit Wochen nicht aus der Baracke herausgekommen sind.«
Meyerhof war eines der Wunder von Baracke 22. Er hatte drei Wochen auf den Tod mit Lungenentzündung und Dysenterie herumgelegen. Er war so schwach gewesen, daß er nicht mehr sprechen konnte. Berger hatte ihn aufgegeben. Dann hatte er sich plötzlich in wenigen Tagen erholt.
Er war von den Toten auferstanden. Ahasver hatte ihn deshalb Lazarus Meyerhof genannt. Er war heute zum ersten Male wieder draußen.
Berger hatte es verboten; aber er war trotzdem hinausgekrochen. Er trug den Mantel Lebenthals, den Sweater des toten Buchsbaum und eine Husarenattila, die jemand als Jacke empfangen hatte.
Das durchschossene Chorhemd, das Rosen als Unterwäsche erhalten hatte, war als Schal um seinen Hals gewickelt. Alle Veteranen hatten dazu beigetragen, ihn für seinen ersten Ausflug auszustatten. Sie betrachteten seine Gesundung als einen gemeinsamen Triumph.
»Wenn er hier hereinkäme, würde er den elektrischen Draht berühren. Dann wäre er gleich gebraten«, sagte Meyerhof hoffnungsvoll. »Man könnte ihn mit einem trockenen Holzstock heranziehen.«
Sie beobachteten das Tier gespannt. Es hoppelte durch die Furchen und lauschte ab und zu. »Die SS wird ihn für sich schießen«, erklärte Berger.
»Das ist nicht so einfach mit einer Kugel, wenn es so dunkel ist«, erwiderte 509. »Die SS ist mehr gewöhnt, Menschen von hinten in ein paar Meter Abstand zu treffen.«
»Ein Hase.« Ahasver bewegte die Lippen. »Wie der wohl schmeckt?«
»Er schmeckt wie ein Hase«, erläuterte Lebenthal. »Am besten ist der Rücken, er wird gespickt.
Speckstücke werden hineingezogen, damit er saftiger wird. Man macht dazu eine Sahnesoße. So essen ihn die Gojim.«
»Und Kartoffelbrei«, sagte Meyerhof.
»Unsinn, Kartoffelbrei. Kastanienpüree und Preiselbeeren.«
»Kartoffelbrei ist besser. Kastanien! Das ist für Italiener.«
Lebenthal starrte Meyerhof ärgerlich an. »Hör zu -«.
Ahasver unterbrach ihn. »Was soll uns ein Hase? Mir wäre eine Gans lieber als alle Hasen. Eine gute, gefüllte Gans -«
»Mit Äpfeln -«
»Haltet die Schnauzen!« schrie jemand von hinten. »Seid ihr des Teufels? Man wird ja wahnsinnig!«
Sie hockten vorgebeugt und verfolgten mit den tief liegenden Augen ihrer Totenschädel den Hasen.
Keine hundert Meter von ihnen entfernt sprang da eine Traummahlzeit herum, ein pelziges Bündel, das mehrere Pfund Fleisch enthielt und das einigen von ihnen die Rettung ihres Lebens hätte sein können. Meyerhof fühlte es in allen Knochen und Därmen; für ihn wäre das Tier die Sicherheit gewesen, daß er nicht einen Rückfall bekäme. »Schön, meinetwegen auch mit Kastanien«, krächzte er.
Sein Mund war plötzlich trocken und staubig wie ein Kohlenkeller.
Der Hase richtete sich auf und schnupperte. In diesem Augenblick mußte eine der dösenden SS- Wachen ihn gesehen haben. »Edgar! Mensch! Ein Langohr!« schrie er.
»Drauf!«
Ein paar Schüsse knatterten. Erde spritzte auf. Der Hase sprang in langen Sätzen davon. »Siehst du«, sagte 509. »Sie können besser Häftlinge aus nächster Nähe treffen.«
Lebenthal seufzte und blickte dem Hasen nach.
»Glaubt ihr, daß wir heute abend Brot kriegen?« fragte Meyerhof nach einiger Zeit.
»Ist er tot?«
»Ja. Endlich. Er wollte noch, daß wir den Neuen aus seinem Bett nehmen sollten. Den mit dem Fieber. Er glaubte, der würde ihn anstecken. Dabei hat er den Neuen angesteckt. Er jammerte und schimpfte zuletzt auch wieder. Der Priester hat nicht ganz vorgehalten.« 509 nickte. »Es ist schwer, jetzt noch zu sterben. Früher war es leichter. Jetzt ist es schwer. So kurz vor dem Ende.«
Berger setzte sich zu 509. Es war nach dem Abendessen. Das Kleine Lager hatte nur eine dünne Suppe bekommen; für jeden einen Becher voll. Kein Brot. »Was wollte Handke von dir?« fragte er.
509 öffnete die Hände. »Er hat mir dieses hier gegeben. Einen sauberen Bogen Briefpapier und einen Füllfederhalter. Er will, daß ich ihm mein Geld in der Schweiz überschreibe. Nicht die Hälfte.
Alles. Die ganzen fünftausend Franken.«
»Und?«
»Dafür will er mich einstweilen leben lassen. Er hat mir sogar so etwas wie Protektion angedeutet.«
»So lange, bis er deine Unterschrift hat.«
»Das ist bis morgen abend. Es ist schon etwas. Wir haben manchmal nicht so lange Zeit gehabt.«
»Es ist nicht genug, 509. Wir müssen etwas anderes finden.« 509 hob die Schultern. »Vielleicht hält es vor. Kann sein, daß er denkt, mich brauchen zu müssen, um das Geld zu beheben.«
»Es kann auch sein, daß er das Gegenteil denkt. Dich loszuwerden, damit du die Überschreibung nicht widerrufen kannst.«
»Ich kann sie nicht widerrufen, wenn er sie hat.«
»Das weiß er nicht. Und du könntest es vielleicht. Du hast sie unter Zwang gegeben.« 509 schwieg einen Augenblick. »Ephraim«, sagte er dann ruhig. »Das brauche ich nicht. Ich habe kein Geld in der Schweiz.«
»Was?«
»Ich habe nicht einen Franken in der Schweiz.«
Berger starrte 509 eine Weile an. »Du hast das alles erfunden?«
»Ja.«
Berger wischte sich mit dem Handrücken über die entzündeten Augen. Seine Schultern zuckten.
»Was hast du?« fragte 509. »Weinst du etwa?«
»Nein, ich lache. Es ist idiotisch, aber ich lache.«
»Lach nur. Wir haben verdammt wenig gelacht hier.«
»Ich lache, weil ich an Handkes Gesicht in Zürich gedacht habe. Wie bist du nur auf die Idee gekommen, 509?« »Ich weiß es nicht. Man kommt auf vieles, wenn es ums Leben geht. Die Hauptsache ist, daß er es geschluckt hat. Er kann nicht einmal etwas herausfinden, bevor der Krieg zu Ende ist. Er muß es einfach glauben.« »Das ist richtig.« Bergers Gesicht war wieder ernst. »Deshalb traue ich ihm nicht. Er kann seinen Koller kriegen und etwas Unvermutetes tun. Wir müssen Vorsorgen. Am besten ist es, wenn du stirbst.« »Sterben? Wie? Wir haben kein Lazarett. Wie sollen wir das schieben? Hier ist die letzte Station.« »Über die allerletzte. Über das Krematorium.« 509 sah Berger an. Er sah das sorgenvolle Gesicht mit den tränenden Augen und dem schmalen Schädel, und er spürte eine Welle von Wärme. »Glaubst du, daß das möglich ist?« »Man kann es versuchen.« 509 fragte nicht, wie Berger es versuchen wolle. »Wir können darüber noch reden«, sagte er. »Vorläufig haben wir noch Zeit. Ich werde Handke heute nur zweitausendfünfhundert Franken überschreiben. Er wird den Zettel nehmen und den Rest verlangen. Dadurch gewinne ich ein paar Tage. Dann habe ich noch die zwanzig Mark von Rosen.« »Und wenn die weg sind?« »Bis dahin passiert vielleicht noch etwas anderes. Man kann immer nur an die nächste Gefahr denken. Eine zur Zeit. Und eine nach der anderen. Sonst wird man verrückt.« 509 drehte den Briefbogen und den Füllfederhalter hin und her. Er beobachtete die matten Reflexe auf dem Halter. »Komisch«, sagte er. »Das habe ich lange nicht in der Hand gehabt. Papier und Feder. Früher habe ich einmal davon gelebt. Ob man das je wieder können wird?«