Der nächste Luftangriff kam zwei Tage später. Die Sirenen begannen um acht Uhr abends zu heulen. Kurz darauf fielen die ersten Bomben. Sie fielen rasch wie ein Schauer, und die Explosionen übertönten das Flakfeuer nur wenig. Erst zum Schluß kamen die schweren Kaliber. Die Mellener Zeitung brachte keine neue Ausgabe mehr heraus. Sie brannte. Die Maschinen schmolzen. Die Papierrollen knatterten in den schwarzen Himmel, und langsam stürzte das Haus zusammen. Hunderttausend Mark, dachte Neubauer. Da verbrennen hunderttausend Mark, die mir gehören. Hunderttausend Mark. Ich habe nicht gewußt, daß so viel Geld so leicht brennen kann. Diese Schweine! Hätte ich es gewußt, ich hätte mich an einem Bergwerk beteiligt. Aber Bergwerke brennen auch. Werden ebenso gebombt. Sind auch nicht mehr sicher. Das Ruhrgebiet soll verwüstet sein. Was ist noch sicher? Seine Uniform war grau von Papierruß. Seine Augen waren rot vom Rauch. Der Zigarrenladen gegenüber, der ihm auch gehört hatte, war eine Ruine. Gestern noch eine Goldgrube, heute ein Aschenhaufen. Noch einmal dreißigtausend Mark. Vielleicht sogar vierzigtausend. Man konnte viel Geld verlieren an einem Abend. Die Partei? Jeder dachte an sich selbst. Die Versicherung? Die ging pleite, wenn sie alles auszahlen mußte, was heute abend verwüstet worden war. Außerdem hatte er alles zu niedrig versichert. Sparsamkeit am falschen Platze. Ob Bombenschäden anerkannt werden würden, war dazu noch unwahrscheinlich. Nach dem Krieg würde die große Wiedergutmachung kommen, so hieß es immer, nach dem Sieg; der Gegner müsse alles bezahlen. Hatte sich was damit! Darauf konnte man wahrscheinlich lange warten. Und jetzt war es zu spät, etwas Neues anzufangen. Wozu auch? Was würde morgen brennen? Er starrte auf die schwarzen, zerplatzten Mauern des Ladens. »Deutsche Wacht«, fünftausend »Deutsche Wacht«-Zigarren waren mitverbrannt. Schön. Das war egal. Aber wozu hatte er nun damals den Sturmführer Freiberg angezeigt? Pflicht? Quatsch, Pflicht! Da brannte seine Pflicht. Verbrannte. Hundertdreißigtausend Mark zusammen. Noch ein solches Feuer, ein paar Bomben in Josef Blanks Geschäftshaus, ein paar in seinen Garten und in sein eigenes Wohnhaus – morgen konnte das schon sein -, und er war wieder da, wo er angefangen hatte. Oder nicht einmal das! Älter! Schlechter dran! Denn – lautlos kam es plötzlich über ihn, etwas, das immer schon irgendwo gelauert hatte, in den Ecken, verscheucht, weggetrieben, nicht durchgelassen, solange sein eigener Besitz unangetastet war – der Zweifel, die Angst, die bisher durch eine stärkere Gegenangst in Schach gehalten worden waren – plötzlich brachen sie aus ihren Käfigen und starrten ihn an, sie saßen in den Trümmern des Zigarrenladens, sie ritten auf den Ruinen des Zeitungsgebäudes, sie grinsten ihn an, und ihre Klauen drohten in die Zukunft. Neubauers dicker roter Nacken wurde naß, unsicher trat er zurück und sah einen Augenblick nichts mehr und wußte es und wollte es sich trotzdem nicht eingestehen: daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. »Nein«, sagte er laut. »Nein, nein – es muß noch – der Führer – ein Wunder – trotz allem natürlich -« Er sah sich um. Da war niemand. Nicht einmal jemand zum Löschen. Selma Neubauer schwieg endlich. Ihr Gesicht war verschwollen, der seidene französische Morgenrock war voll von Tränenspuren, und die dicken Hände bebten. »Sie kommen diese Nacht nicht wieder«, sagte Neubauer ohne Überzeugung. »Die ganze Stadt brennt ja. Was sollen sie da noch bombardieren?« »Dein Haus, dein Geschäftsgebäude. Deinen Garten. Die stehen doch noch, wie?« Neubauer bezwang seinen Ärger und die jähe Angst, daß es so sein könnte. »Blödsinn! Deshalb kommen sie nicht extra.« »Andere Häuser. Andere Läden. Andere Fabriken. Es stehen noch genug.« »Selma -« Sie unterbrach ihn. »Du kannst sagen, was du willst! Ich komme 'rauf!« Ihr Gesicht rötete sich wieder. »Ich komme 'rauf zu dir ins Lager, und wenn ich bei den Gefangenen schlafen muß! Ich bleibe nicht hier in der Stadt! In dieser Rattenfalle! Ich will nicht umkommen! Dir ist das natürlich egal, wenn du nur sicher bist. Weit weg vom Schuß! Wie immer! Wir können es ja ausfressen! So warst du immer!« Neubauer blickte sie beleidigt an. »Ich war nie so. Und du weißt es! Sieh dir deine Kleider an! Deine Schuhe! Deine Morgenröcke! Alles aus Paris! Wer hat sie dir besorgt? Ich! Deine Spitzen! Das Feinste aus Belgien. Ich habe sie eingehandelt für dich. Deinen Pelzmantel! Die Pelzdecke! Ich habe sie dir aus Warschau kommen lassen. Sieh dir deinen Vorratskeller an. Dein Haus! Ich habe gut für dich gesorgt!« »Du hast eine Sache vergessen. Einen Sarg. Du kannst ihn jetzt noch rasch besorgen. Särge werden nicht billig sein morgen früh. Es gibt sowieso kaum noch welche in Deutschland. Aber du kannst ja einen machen lassen in deinem Lager oben! Du hast ja genügend Leute dafür.« »So? Das ist also der Dank! Der Dank für alles, was ich riskiert habe. Das, ist der Dank!« Selma hörte nicht auf Neubauer. »Ich will nicht verbrennen! Ich will nicht in Stücke gerissen werden!« Sie wandte sich an ihre Tochter. »Freya! Du hörst deinen Vater! Deinen leiblichen Vater! Alles, was wir wollen, ist, nachts in seinem Haus da oben schlafen. Nichts weiter. Unser Leben retten. Er weigert sich. Die Partei. Was wird Dietz sagen? Was sagt Dietz zu den Bomben?
Warum tut die Partei da nichts? Die Partei -«
»Ruhig, Selma!«
»Ruhig, Selma! Hörst du es, Freya? Ruhig! Stillgestanden! Ruhig gestorben! Ruhig, Selma, das ist alles, was er weiß!«
»Fünfzigtausend Menschen sind in derselben Situation«, sagte Neubauer müde. »Alle -«
»Fünfzigtausend Menschen gehen mich nichts an. Fünfzigtausend Menschen fragen auch nicht danach, wenn ich krepiere. Spar dir deine Statistik für Parteireden.«
»Mein Gott -«
»Gott! Wo ist Gott? Ihr habt ihn weggejagt! Komm mir nicht mit Gott -«
Warum haue ich ihr nicht eine herunter? dachte Neubauer. Warum bin ich auf einmal so müde? Ich sollte ihr eine 'runterhauen! Scharf auftreten! Energisch!
Hundertdreißigtausend Mark verloren! Und dieses schreiende Weib! Scharf zupacken!
Ja! Retten! Was? Was retten? Wohin?
Er setzte sich auf einen Sessel. Er wußte nicht, daß es ein exquisiter Gobelinfauteuil des 18.
Jahrhunderts aus dem Hause der Komtesse Lambert war – für ihn war es nur ein Sessel, der reich aussah. Deshalb hatte er ihn vor einigen Jahren mit ein paar anderen Stücken von einem Major, der aus Paris kam, gekauft.
»Bring mir eine Flasche Bier, Freya.«
»Bring ihm eine Flasche Champagner, Freya! Er kann ihn trinken, bevor er In die Luft fliegt. Popp!
Popp! Popp! Laßt die Pfropfen knallen! Die Siege müssen begossen werden!«
»Laß das, Selma -«
Seine Tochter ging zur Küche. Die Frau richtete sich auf. »Also – ja oder nein? Kommen wir heute abend zu dir 'rauf oder nicht?«
Neubauer sah auf seine Stiefel. Sie waren voll Asche. Für hundertdreißig-lausend Mark Asche.
»Es würde Gerede geben, wenn wir das jetzt plötzlich machen würden. Nicht, daß es nicht erlaubt ist – aber wir haben es bisher nicht getan. Man würde sagen, ich wollte Vorteile ausnutzen gegen die anderen, die hier unten bleiben müssen. Und oben ist es im Augenblick gefährlicher als hier.
Das Lager wird als nächstes bombardiert werden. Wir haben doch kriegswichtige Betriebe.«
Einiges davon stimmte; aber der eigentliche Grund für seine Weigerung war, daß Neubauer allein bleiben wollte. Dort oben hatte er sein Privatleben, wie er es nannte.
Zeitungen, Kognak, und ab und zu eine Frau, die dreißig Kilo weniger wog als Selma – jemand, der zuhörte, wenn er redete, und der ihn bewunderte als Denker, Mann und zartfühlenden Kavalier. Ein unschuldiges Vergnügen, das nötig war als Entspannung nach dem Kampf ums Dasein.
»Laß sie sagen, was sie wollen!« erklärte Selma. »Du hast dich um deine Familie zu kümmern!«
»Wir können später weiter darüber sprechen. Ich muß jetzt zum Parteibüro. Muß sehen, was dort bestimmt wird. Vielleicht sind schon Vorbereitungen getroffen, die Leute in den Dörfern unterzubringen. Sicherlich alle die, die ihre Wohnungen verloren haben. Aber vielleicht könnt auch ihr -«
»Kein vielleicht! Wenn ich in der Stadt bleibe, werde ich herumrennen und schreien, schreien -«
Freya brachte das Bier. Es war nicht kalt. Neubauer schmeckte es, beherrschte sich und stand auf.
»Ja oder nein?« fragte Selma.
»Ich komme zurück. Dann werden wir darüber reden. Erst muß ich die Bestimmungen kennen.«
»Ja oder nein?«
Neubauer sah Freya hinter ihrer Mutter nicken und ihm ein Zeichen machen, vorläufig beizustimmen.
»Schön – ja«, sagte er verdrießlich.
Selma Neubauer öffnete den Mund. Die Spannung wich aus ihr wie Gas aus einem Ballon. Sie ließ sich vornüber auf das Sofa fallen, das zu dem Fauteuil aus dem 18. Jahrhundert gehörte. Sie war auf einmal nur noch ein Haufen weiches Fleisch, geschüttelt von Schluchzen:»Ich will nicht sterben -ich will nicht – mit all unseren schönen Sachen – nicht jetzt -« Über ihrem zerwühlten Haar blickten die Schäfer und Schäferinnen des Gobelinbezuges mit dem ironischen Lächeln des 18. Jahrhunderts heiter und gleichgültig ins Nichts.
Neubauer betrachtete sie angewidert. Sie hatte es leicht; sie schrie und heulte – aber wer fragte danach, was in ihm vorging? Er mußte alles 'runterschlucken. Zuversichtlich sein; ein Fels im Meer.
Hundertdreißigtausend Mark. Nicht ein mal gefragt hatte sie danach.
»Paß gut auf sie auf«, sagte er kurz zu Freya und ging.
Im Garten hinter dem Hause standen die beiden russischen Gefangenen. Si« arbeiteten noch, obschon es dunkel war. Neubauer hatte das vor ein paar Tagen angeordnet. Er hatte ein Stück rasch umgegraben haben wollen. Er hatte dort Tulpen setzen wollen.
Tulpen und etwas Petersilie, Majoran, Basilikum andere Küchenkräuter. Er liebte Kräuter am Salat und für Soßen. Das war vor ein paar Tagen gewesen. Es war eine Ewigkeit her. Verbrannte Zigarren konnte er jetzt da pflanzen. Zerschmolzenes Blei aus der Zeitung.
Die Gefangenen beugten sich über ihre Spaten, als sie Neubauer kommen sahen. »Was habt ihr zu glotzen?« fragte er. Die Wut brach plötzlich durch. Der Ältere von ihnen antwortete etwas auf russisch.
»Glotzen, habe ich gesagt! Du glotzt jetzt noch, Bolschewistenschwein! Frech sogar!
Freust dich wohl, daß das Privateigentum von ehrlichen Bürgern zerstört wird, was?«
Der Russe erwiderte nichts. »Vorwärts, an die Arbeit, ihr faulen Hunde!«
Die Russen verstanden ihn nicht. Sie starrten ihn an und versuchten heraus» zufinden, was er meinte. Neubauer holte aus und gab einem von ihnen einen Tritt in den Bauch.
Der Mann fiel um und stand langsam wieder auf. Er richtete sich an seinem Spaten auf und hielt den Spaten dann in der Hand. Neubauer sah seine Augen und die Hände, die die Schaufel umfaßt hatten. Er spürte Angst, wie einen Messerstich in den Magen, und griff nach seinem Revolver.
»Lump! Widerstand leisten, was?«
Er schlug ihm den Revolvergriff zwischen die Augen. Der Russe fiel um und stand nicht mehr auf.
Neubauer atmete heftig. »Erschießen hätte ich dich können«, schnaufte er. »Widerstand leisten!
Wollte den Spaten heben, um zu schlagen! Erschießen! Zu anständig ist man, das ist es. Ein anderer hätte ihn erschossen!« Er sah den Wachsoldaten an, der seitab stramm stand. »Erschossen hätte ihn ein anderer. Sie haben gesehen, wie er den Spaten heben wollte.«
»Jawohl, Herr Obersturmbannführer.«
»Na, schön. Los, gießen Sie ihm eine Kanne Wasser über den Schädel.«
Neubauer blickte auf den zweiten Russen. Der Mann grub, tief über den Spaten gebückt. Sein Gesicht war leer. Vom Nachbargrundstück her bellte ein Hund wie rasend. Wäsche flatterte dort im Winde. Neubauer fühlte, daß sein Mund trocken war.
Er verließ den Garten. Seine Hände zitterten. Was ist los? dachte er. Angst? Ich habe keine Angst.
Ich nicht! Nicht vor einem dämlichen Russen. Wovor dann? Was ist los mit mir? Gar nichts ist los!
Ich bin nur zu anständig, weiter nichts. Weber hätte den Kerl langsam totgeschlagen. Dietz hätte ihn auf der Stelle erschossen. Ich nicht. Ich bin zu sentimental, das ist mein Fehler. Das ist mein Fehler mit allem. Mit Selma auch.
Der Wagen stand draußen. Neubauer straffte sich. »Zum neuen Parteihaus, Alfred.
Sind die Straßen dahin frei?«
»Nur, wenn wir um die Stadt herumfahren.«
»Gut. Fahr um die Stadt herum.«
Der Wagen wendete. Neubauer sah das Gesicht des Chauffeurs. »Irgendwas passiert, Alfred?«
»Meine Mutter ist mit umgekommen.«
Neubauer rückte unbehaglich hin und her. Auch das noch! Hundertdreißigtausend Mark, Selmas Geschrei, und jetzt mußte er auch noch Trost spenden. »Mein Beileid, Alfred«, sagte er knapp und militärisch, um es hinter sich zu bringen. »Schweine! Mörder von Frauen und Kindern.«
»Wir haben sie auch gebombt.« Alfred sah auf die Straße vor sich. »Zuerst. Ich war dabei. In Warschau, Rotterdam und Coventry. Bevor ich den Schuß erhielt und entlassen wurde.«
Neubauer starrte ihn überrascht an. Was war nur los, heute? Erst Selma und jetzt der Chauffeur!
Ging denn alles aus den Fugen?»Das war etwas anderes, Alfred«, sagte er.
»Etwas ganz anderes. Das waren strategische Notwendigkeiten. Dieses hier ist reiner Mord.«
Alfred erwiderte nichts. Er dachte an seine Mutter, an Warschau, an Rotterdam und Coventry und den fetten deutschen Luftmarschall und riß den Wagen um die Ecke.
»Man darf nicht so denken, Alfred. Das ist schon fast Hochverrat! Verständlich im Augenblick Ihres Schmerzes natürlich, aber verboten. Ich will es nicht gehört haben.
Befehl ist Befehl, das genügt für unser Gewissen. Reue ist undeutsch. Falsches Denken auch. Der Führer weiß schon, was er tut. Wir folgen ihm, fertig. Diesen Massenmördern wird er es schon noch heimzahlen! Doppelt und dreifach! Mit unseren geheimen Waffen! Wir kriegen sie zu Boden!
Schon jetzt beschießen wir England Tag und Nacht mit unseren V-1 Geschossen. Wir werden die ganze Insel in Asche legen mit all den neuen Erfindungen, die wir haben. Im letzten Moment! Und Amerika dazu!
Sie müssen bezahlen! Doppelt und dreifach! Doppelt und dreifach«, wiederholte Neubauer und wurde zuversichtlich und begann selbst fast zu glauben, was er redete.
Er holte eine Zigarre aus einem Lederetui und biß die Spitze ab. Er wollte noch weitersprechen. Er hatte plötzlich ein großes Bedürfnis danach – aber er schwieg, als er Alfreds zusammengepreßte Lippen sah. Wer kümmert sich schon um mich, dachte er.
Jeder ist nur mit sich beschäftigt. Ich sollte zu meinem Garten vor der Stadt fahren.
Die Kaninchen, weich und flaumig, mit roten Augen in der Dämmerung. Immer, schon als Junge, hatte er Kaninchen haben wollen. Sein Vater hatte es verboten. Jetzt hatte er sie. Der Geruch nach Heu und Fell und frischen Blättern. Die Geborgenheit der Knabenerinnerung. Vergessene Träume.
Manchmal war man verdammt allein.
Hundertdreißigtausend Mark. Das Höchste, was er als Junge gehabt hatte, waren fünfundsiebzig Pfennig gewesen. Zwei Tage später hatte man sie ihm gestohlen.
Feuer um Feuer sprang auf. Es war die alte Stadt, die wie Zunder brannte. Sie bestand fast nur aus Holzhäusern. Der Fluß spiegelte die Flammen, als brenne auch er.
Die Veteranen, die gehen konnten, hockten in einem schwarzen Klumpen vor der Baracke. Im roten Dunkel konnten sie sehen, daß die Maschinengewehrstände noch leer waren. Der Himmel war bedeckt; die weiche, graue Wolkenschicht war angestrahlt wie Flamingogefieder. Das Feuer funkelte selbst in den Augen der Toten, die aufeinandergeschichtet hinter ihnen lagen.
Ein leises Scharren weckte die Aufmerksamkeit von 509. Lewinskys Gesicht hob sich vom Boden.
509 atmete tief und stand auf. Er hatte auf diesen Augenblick gewartet, seit er wieder kriechen konnte. Er hätte sitzenbleiben können, aber er stand auf; er wollte Lewinsky zeigen, daß er gehen konnte und kein Krüppel war.
»Alles wieder in Ordnung?« fragte Lewinsky.
»Natürlich. So leicht kriegt man uns nicht kaputt.«
Lewinsky nickte. »Können wir irgendwo reden?«
Sie gingen auf die andere Seite des Totenhaufens. Lewinsky blickte rasch um sich.
»Die Wachen sind bei euch noch nicht zurück -«
»Hier ist nicht viel zu bewachen. Bei uns bricht keiner aus.«
»Das meine ich. Und nachts werdet ihr nicht kontrolliert?«
»So gut wie nie.«
»Wie ist es am Tage? Kommt die SS oft in die Baracken?«
»Fast nie. Sie hat Angst vor Läusen, Dysenterie und Typhus.«
»Und euer Blockführer?«
»Der kommt nur zum Appell. Kümmert sich sonst wenig um uns.«
»Wie heißt er?«
»Bolte. Scharführer.«
Lewinsky nickte. »Die Blockältesten schlafen hier nicht in den Baracken, wie? Nur die Stubenältesten. Wie ist eurer?«
»Du hast neulich mit ihm gesprochen. Berger. Wir könnten keinen besseren haben.«
»Ist das der Arzt, der jetzt im Krematorium arbeitet?«
»Ja. Du weißt gut Bescheid.«
»Wir haben uns danach erkundigt. Wer ist euer Blockältester?«
»Handke. Ein Grüner. Hat vor ein paar Tagen einen von uns totgetreten.«
»Scharf?«
»Nein. Gemein. Aber er weiß wenig von uns. Hat auch Angst, sich mit irgend etwas anzustecken.
Kennt nur ein paar von uns. Die Gesichter wechseln zu schnell. Der Blockführer weiß noch weniger. Die Kontrolle liegt bei den Stuben» ältesten. Man kann hier allerlei machen. Das wolltest du doch wissen, wie?«
»Ja, das wollte ich wissen. Du hast mich verstanden.« Lewinsky blickte überrascht auf das rote Dreieck auf dem Kittel von 509. Er hatte nicht so viel erwartet.
»Kommunist?« fragte er.
509 schüttelte den Kopf.
» Sozialdemokrat?«
»Nein.«
»Was denn? Irgendwas mußt du doch sein.« 509 blickte auf. Die Haut um seine Augen war noch verfärbt von den Blutergüssen.
Die Augen wurden dadurch heller; sie glänzten fast durchsichtig im Licht des Feuers, als gehörten sie nicht zu dem dunklen, demolierten Gesicht. »Ein Stück Mensch – wenn dir das genügt.«
»Was?«
»Schon gut. Nichts.«
Lewinsky hatte einen Augenblick gestutzt. »Ach so, ein Idealist«, sagte er dann mit einer Spur gutmütiger Verachtung. »Na, meinetwegen, wie du willst. Wenn wir uns nur auf euch verlassen können.«
»Das könnt ihr. Auf unsere Gruppe. Die, die drüben sitzen. Sie sind am längsten hier.« 509 verzog die Lippen. »Veteranen.«
»Und die anderen?«
»Die sind ebenso sicher. Muselmänner. Sicher wie Tote. Streiten nur noch um etwas Fraß und die Möglichkeit, im Liegen zu sterben. Keine Kraft mehr zum Verrat.«
Lewinsky sah 509 an. »Man könnte also jemand für einige Zeit bei euch verstecken, wie? Es würde nicht auffallen? Wenigstens nicht für ein paar Tage?«
»Nein. Wenn er nicht zu fett ist.«
Lewinsky überhörte die Ironie. Er rückte näher heran. »Irgendwas liegt bei uns in der Luft. In verschiedenen Baracken sind die roten Blockältesten durch grüne ersetzt worden. Es wird geredet über Nacht- und Nebeltransporte. Du weißt, was das ist -«
»Ja. Transporte zu den Vernichtungslagern.«
»Richtig. Es wird auch über Massenliquidationen gemunkelt. Leute, die aus anderen Lagern kommen, haben die Nachricht mitgebracht. Wir müssen vorsorgen. Unsere Verteidigung organisieren. Die SS zieht nicht einfach so ab. Bis jetzt haben wir an euch dabei nicht gedacht -«
»Ihr habt geglaubt, wir krepieren hier wie halbtote Fische, was?«
»Ja. Aber jetzt nicht mehr. Wir können euch brauchen. Wichtige Leute für eine Zeitlang verschwinden zu lassen, wenn es scharf drüben wird.«
»Ist das Lazarett nicht mehr sicher.«
Lewinsky blickte wieder auf. »So, das weißt du auch?«
»ja, das weiß ich noch.«
»Warst du drüben bei uns in der Bewegung?«
»Das ist egal«, sagte 509. »Wie ist es jetzt?«
»Das Lazarett«, erwiderte Lewinsky in einem anderen Ton als vorher,»ist nicht mehr so wie früher. Wir haben noch einige von unseren Leuten drin; aber es wird da seit einiger Zeit scharf aufgepaßt.«
»Wie ist es mit der Fleckfieber- und Typhus-Abteilung?«
»Die haben wir noch. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen andere Gelegenheiten, um Leute zu verstecken. In unserer eigenen Baracke können wir es immer nur für ein paar Tage tun. Wir müssen auch immer mit überraschenden SS-Kontrollen nachts rechnen.«
»Ich verstehe«, sagte 509. »Ihr braucht einen Platz wie hier, wo alles rasch wechselt und wo wenig kontrolliert wird.«
»Genau. Und wo ein paar Leute die Kontrolle haben, auf die wir uns verlassen können.«
»Das habt ihr bei uns.«
Ich preise das Kleine Lager an wie einen Bäckerladen, dachte 509, und sagte:»Was war das mit Berger, wonach ihr euch erkundigt habt?«
»Das war sein Dienst im Krematorium. Wir haben dort niemand. Er könnt uns auf dem laufenden halten.«
»Das kann er. Er zieht im Krematorium Zähne aus und unterschreibt Totenscheine oder so etwas.
Er ist dort seit zwei Monaten. Der frühere Häftlingsarzt ist beim letzten Wechsel mit der Verbrennungsbrigade auf einen Nacht- und Nebeltransport abgeschoben worden. Dann war da für ein paar Tage ein Zahnklempner, der gestorben ist. Danach haben sie Berger geholt.«
Lewinsky nickte. »Dann hat er noch zwei bis drei Monate. Das ist schon genug fürs erste.«
»Ja, das ist genug.« 509 hob sein grünes und blaues Gesicht. Er wußte, daß die Leute, die zum Krematoriumsdienst gehörten, alle vier bis fünf Monate abgelöst und abtransportiert wurden, um in einem Vernichtungslager vergast zu werden. Es war die einfachste Art, Zeugen loszuwerden, die zu viel gesehen hatten. Berger hatte deshalb wahrscheinlich nicht länger als höchstens noch ein Vierteljahr zu leben. Aber ein Vierteljahr war lang. Vieles konnte geschehen. Besonders mit der Hilfe des Arbeitslagers. »Und was können wir von euch erwarten, Lewinsky?« fragte 509.
»Dasselbe wie wir von euch.«
»Das ist nicht so wichtig für uns. Wir brauchen vorläufig niemand zu verstecken. Fraß ist, was wir brauchen. Fraß.«
Lewinsky schwieg eine Weile. »Wir können nicht eure ganze Baracke versorgen«, sagte er dann.
»Das weißt du!«
»Davon redet auch keiner. Wir sind ein Dutzend Leute. Die Muselmänner sind ohnehin nicht zu retten.«
»Wir haben selbst zu wenig. Sonst kämen nicht täglich Neue hierher.«
»Das weiß ich auch. Ich rede nicht von Sattwerden; wir wollen nur nicht verhungern.«
»Wir brauchen das, was wir erübrigen, für die, die wir bei uns jetzt schon verstecken. Für die kriegen wir ja keine Rationen. Aber wir werden für euch tun, was wir können. Ist das genug?« 509 dachte, daß es genug und auch so gut wie nichts sei. Ein Versprechen – aber er konnte nichts verlangen, bevor die Baracke nicht eine Gegenleistung gemacht hatte.
»Es ist genug«, sagte er.
»Gut. Dann laß uns jetzt noch mit Berger sprechen. Er kann euer Verbindungsmann sein. Er darf ja in unser Lager. Das ist am einfachsten. Die anderen von euch kannst du dann übernehmen. Besser, wenn so wenige wie möglich etwas von mir wissen. Immer nur ein einziger Verbindungsmann von Gruppe zu Gruppe. Und ein Ersatzmann. Alte Grundregel, die du kennst, wie?«
Lewinsky sah 509 scharf an. »Die ich kenne«, erwiderte 509.
Lewinsky kroch fort durch das rote Dunkel, hinter die Baracke, der Latrine und dem Ausgang zu.
509 tastete sich zurück. Er war plötzlich sehr müde. Ihm war, als habe er tagelang gesprochen und angestrengt nachgedacht. Er hatte, seit er zurück aus dem Bunker war, alles auf diese Besprechung gesetzt. Sein Kopf schwamm. Die Stadt unten glühte wie eine riesige Esse. Er kroch zu Berger hinüber. »Ephraim«, sagte er.
»Ich glaube, wir sind 'raus.«
Ahasver kam herangetappt. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja, Alter. Sie wollen uns helfen. Und wir ihnen.«
»Wir ihnen?«
»Ja«, sagte 509 und richtete sich auf. Sein Kopf schwamm nicht mehr. »Wir ihnen auch. Nichts ist für nichts.«
Etwas wie ein unsinniger Stolz war in seiner Stimme. Sie bekamen nichts geschenkt; sie gaben etwas zurück. Sie waren noch zu etwas nütze. Sie konnten sogar dem Großen Lager helfen. In ihrer körperlichen Armseligkeit hätte ein scharfer Wind sie umblasen können, so schwach waren sie – aber sie fühlten das in diesem Augenblick nicht. »Wir sind 'raus«, sagte 509. »Wir haben wiederAnschluß. Wir sind nicht mehr abgesperrt. Die Quarantäne ist durchbrochen.« Es war, als hätte er gesagt: wir sind nicht mehr zum Tode verurteilt; wir haben eine kleine Chance. Es war der ganze riesenhafte Unterschied zwischen Verzweiflung und Hoffnung. »Wir müssen jetzt immer daran denken«, sagte er. »Wir müssen es fressen. Wie Brot. Wie Fleisch. Es geht zu Ende. Es ist sicher. Und wir kommen 'raus. Früher hätte uns das kaputt gemacht. Es war zu weit weg. Es gab zu viele Enttäuschungen. Das ist vorbei. Jetzt ist es da. Jetzt muß es uns helfen. Wir müssen es fressen mit unseren Gehirnen. Es ist wie Fleisch.« »Hat er keine Nachrichten mitgebracht?« fragte Lebenthal. »Stück Zeitung oder so was?« »Nein. Alles ist verboten. Aber sie haben ein geheimes Radio gebaut. Aus Abfällen und gestohlenen Teilen. In ein paar Tagen wird es funktionieren. Kann sein, daß sie es hier verstecken. Dann werden wir wissen, was vorgeht.« 509 nahm zwei Stücke Brot aus der Tasche; Lewinsky hatte sie dagelassen. Er gab sie Berger. »Hier, Ephraim. Verteile sie. Er will mehr bringen.« Jeder nahm sein Stück. Sie aßen es langsam. Tief unten glühte die Stadt. Hinter ihnen lagen die Toten. Die kleine Gruppe hockte schweigend beieinander und aß das Brot, und es schmeckte anders als alles Brot vorher. Es war wie eine sonderbare Kommunion, die sie unterschied von den anderen in der Baracke. Von den Muselmännern. Sie hatten den Kampf aufgenommen. Sie hatten Kameraden gefunden. Sie hatten ein Ziel. Sie blickten auf die Felder und die Berge und die Stadt und die Nacht – und keiner sah in diesem Augenblick den Stacheldraht und die Maschinengewehrtürme. Neubauer nahm das Papier, das auf seinem Schreibtisch lag, wieder auf. Einfach für die Brüder, dachte er. Eine dieser Gummiverordnungen, aus denen man alles mögliche machen konnte – las sich harmlos, war aber ganz anders gemeint. Eine Aufstellung der wichtigeren politischen Gefangenen sollte gemacht werden, falls noch welche in den Lagern seien, war hinzugefügt worden. Das war der Dreh. Man verstand den Wink. Die Konferenz mit Dietz heute morgen war dazu gar nicht mehr nötig gewesen. Dietz hatte leicht reden. Erledigen Sie, was gefährlich ist, hatte er erklärt, wir können in diesen schweren Zeiten nicht ausgeprägte Vaterlandsfeinde im Rücken haben und sie sogar noch füttern. Reden war immer leicht; aber irgend jemand mußte es dann tun. Das war eine aridere Sache. Dinge solcher Art sollte man ganz genau schriftlich haben. Dietz hatte nichts Schriftliches hergegeben – und diese verdammte Antrage hier war kein wirklicher Befehl; sie ließ einem die ganze Verantwortlichkeit.
Neubauer schob das Papier zur Seite und holte eine Zigarre hervor. Zigarren wurden auch knapp.
Er hatte noch vier Kisten; dann blieb nur die »Deutsche Wacht«, und auch davon gab es nicht mehr allzuviel. Fast alles war verbrannt. Man hätte besser Vorsorgen sollen, als man noch im Fett lebte – aber wer hätte gedacht, daß es einmal so kommen würde?
Weber kam herein. Neubauer schob ihm nach kurzem Zögern die Kiste hin. Bedienen Sie sich«, sagte er mit falscher Herzlichkeit. »Raritäten.«
»Danke. Ich rauche nur Zigaretten.«
»Richtig. Ich vergesse das immer wieder. Schön, dann rauchen Sie Ihre Sargnägel.«
Weber verbiß ein Grinsen. Der Alte mußte Schwierigkeiten haben; er war gastfreundlich. Er zog ein flaches goldenes Etui aus der Tasche und klopfte sich eine Zigarette zurecht. Die Dose hatte 1933 dem Justizrat Aron Weizenblut gehört. Sie war ein glücklicher Fund gewesen. Das Monogramm hatte gepaßt: Anton Weber. Sie war die einzige Beute, die er in all den Jahren gemacht hatte; er brauchte nicht viel und fragte nichts nach Besitz.
»Da ist eine Verordnung gekommen«, sagte Neubauer. »Hier lesen Sie das doch mal durch.«
Weber nahm das Blatt auf. Er las langsam und lange. Neubauer wurde ungeduldig.
»Der Rest ist unwichtig«, sagte er. »In Frage kommt nur der Passus mit den politischen Gefangenen. Wieviel haben wir davon ungefähr noch?«
Weber legte das Papier auf den Schreibtisch zurück. Es glitt über die polierte Fläche gegen eine kleine Glasvase mit Veilchen. »Ich weiß das nicht so genau im Augenblick«, erwiderte er. »Es muß etwa die Hälfte der Häftlinge sein. Vielleicht etwas mehr oder weniger. Alle mit dem roten Winkel.
Abgesehen von den Ausländern, natürlich. Die andere Hälfte sind Kriminelle und eine Anzahl Homos, Bibelforscher und so was.«
Neubauer blickte auf. Er wußte nicht, ob Weber sich absichtlich dumm stellte; Webers Gesicht verriet nichts. »Das meine ich nicht. Die Leute mit den roten Winkeln sind doch nicht alle Politische.
Nicht im Sinne dieser Verordnung.«
»Selbstverständlich nicht. Der rote Winkel ist nur eine lose Gesamtklassifizierung. Da sind Juden, Katholiken, Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten und wer weiß was dabei.«
Neubauer wußte das auch. Weber brauchte ihn nach zehn Jahren nicht darüber zu belehren. Er hatte das unsichere Gefühl, daß sein Lagerführer sich wieder einmal über ihn lustig machte. »Wie steht es mit den wirklich Politischen?« fragte er, ohne sich etwas merken zu lassen.
»Meistens Kommunisten.«
»Das können wir genau feststellen, wie?«
»Ziemlich genau. Es steht in den Papieren.«
»Haben wir außerdem noch wichtige politische Leute hier?«
»Ich kann nachforschen lassen. Es mag noch eine Anzahl Zeitungsleute, Sozialdemokraten und Demokraten dasein.«
Neubauer blies den Rauch seiner Partagas von sich. Sonderbar, wie rasch doch eine Zigarre immer beruhigte und optimistisch machte!»Gut«, sagte er herzlich:»Stellen wir das doch zunächst einmal fest. Lassen Sie die Listen durchkämmen. Wir können dann ja immer nachher noch regulieren, wieviel Leute wir haben wollen für unsere Meldung. Finden Sie nicht?«
»Gewiß.«
»Es ist nicht so eilig. Wir haben ungefähr vierzehn Tage Zeit. Das ist ja schon eine ganz nette Spanne, um einiges zu erledigen, wie?«
»Gewiß.«
»Man kann außerdem dies und das vordatieren; Sachen, die ohnehin bestimmt passieren werden, meine ich. Man braucht auch Namen von Leuten nicht mehr aufzunehmen, die sehr bald als Abgänge verbucht werden müssen. Überflüssige Arbeit. Gibt höchstens zwecklose Rückfragen.«
»Gewiß.«
»Zu viele dieser Leute werden wir ja nicht haben – ich meine so viele, daß es auffällt -«
»Wir brauchen sie nicht zu haben«, sagte Weber ruhig.
Er wußte, was Neubauer meinte, und Neubauer wußte, daß Weber ihn verstand.
»Unauffällig, natürlich«, sagte er. »Wir wollen es möglichst unauffällig arrangieren.
Ich kann mich da ja auf Sie verlassen -«
Er stand auf und bohrte mit einer geradegebogenen Büroklammer vorsichtig am Kopfende seiner Zigarre. Er hatte sie vorher zu hastig abgebissen, und sie zog jetzt nicht mehr. Man sollte gute Zigarren nie abbeißen; immer nur vorsichtig einbrechen oder allenfalls mit einem scharfen Messerchen abschneiden. »Wie steht es mit der Arbeit? Haben wir genug zu tun?«
»Das Kupferwerk ist durch die Bomben ziemlich außer Betrieb gesetzt. Wir lassen die Leute dort aufräumen. Die übrigen Kommandos arbeiten fast alle wie früher.«
»Aufräumen? Gute Idee.« Die Zigarre zog wieder. »Dietz hat heute mit mir darüber gesprochen.
Straßen säubern, bombardierte Häuser abtragen; die Stadt braucht Hunderte von Leuten. Es ist ein Notfall, und wir haben ja die billigsten Arbeitskräfte. Dietz war dafür. Ich auch. Kein Grund dagegen, wie?«
»Nein.«
Neubauer stand am Fenster und schaute hinaus. »Da ist noch eine Anfrage gekommen wegen des Lebensmittelbestandes. Wir sollen einsparen. Wie kann man das machen?«
»Weniger Lebensmittel ausgeben«, erwiderte Weber lakonisch. »Das geht nur bis zu einem gewissen Grade. Wenn die Leute zusammenklappen, können sie nicht mehr arbeiten.«
»Wir können am Kleinen Lager sparen. Es ist voll von unnützen Fressern. Wer stirbt, ißt nicht mehr.«
Neubauer nickte. »Trotzdem – Sie kennen mein Motto: Immer menschlich, solange es geht. Wenn es natürlich nicht mehr geht – Befehl ist Befehl -«
Sie standen jetzt beide am Fenster und rauchten. Sie sprachen ruhig und sachlich wie zwei ehrenhafte Viehhändler in einem Schlachthof. Draußen arbeiteten Gefangene in den Beeten, die das Haus des Kommandanten umgaben.
»Ich lasse da eine Einfassung von Iris und Narzissen setzen«, sagte Neubauer. »Gelb und blau – eine schöne Farbenzusammenstellung.«
»Ja«, erwiderte Weber ohne Enthusiasmus.
Neubauer lachte. »Interessiert Sie wohl nicht sehr, was?«
»Nicht übermäßig. Ich bin Kegler.«
»Ist auch was Schönes.« Neubauer beobachtete die Arbeiter noch eine Weile.
»Was macht eigentlich die Lagerkapelle? Die Kerle haben ein reichlich faules Loben.«
»Sie spielen beim Ein- und Ausmarsch und zweimal wöchentlich nachmittags.«
»Nachmittags haben die Arbeitskommandos nichts davon. Veranlassen Sie doch, daß abends nach dem Appell noch eine Stunde musiziert wird. Das ist gut für die Leute. Lenkt sie ab. Besonders, wenn wir mit dem Essen sparsamer werden müssen.«
»Ich werde es veranlassen.«
»Wir haben dann ja wohl alles besprochen und verstehen uns.«
Neubauer ging zu seinem Schreibtisch zurück. Er öffnete eine Schublade und holte ein kleines Etui heraus. »Hier ist noch eine Überraschung für Sie, Weber. Meute gekommen. Dachte, es würde Ihnen Freude machen.«
Weber öffnete das Etui. Es enthielt ein Kriegsverdienstkreuz. Neubauer sah zu seinem Erstaunen, daß Weber errötete. Er hätte alles andere erwartet. »Hier ist eine Bestätigung dazu«, erklärte er. »Sie hätten es längst haben sollen. Wir sind ja hier gewissermaßen auch an der Front. Kein Wort weiter darüber.« Er reichte Weber die Hand. »Harte Zeiten. Wir müssen sie durchstehen.« Weber ging. Neubauer schüttelte den Kopf. Der kleine Trick mit dem Orden hatte besser gewirkt, als er geglaubt hätte. Irgendwo hatte doch jeder seine schwache Stelle. Er blieb eine Weile grübelnd vor der großen bunten Landkarte von Europa stehen, die an der Wand gegenüber dem Hitlerbild hing. Die Fähnchen darauf stimmten nicht mehr. Sie befanden sich noch weit innerhalb Rußlands. Neubauer hatte sie da stecken lassen in einer Art von Aberglauben, daß sie vielleicht noch einmal gültig werden könnten. Er seufzte, ging zum Schreibtisch zurück, hob die Glasvase mit den Veilchen auf und roch den süßen Duft. Ein unklarer Gedanke streifte ihn. Das sind wir, unsere Besten, dachte er fast erschüttert. Raum für alles haben wir in unserer Seele. Eiserne Disziplin bei historischen Notwendigkeiten und gleichzeitig tiefstes Gemüt. Der Führer mit seiner Kinderliebe. Göring, der Freund der Tiere. Er roch noch einmal an den Blumen. Hundertdreißigtausend Mark hatte er verloren und war trotzdem schon wieder obenauf. Nicht kaputt zu kriegen! Schon wieder Sinn für das Schöne! Die Idee mit der Lagerkapelle war gut gewesen. Selma und Freya kamen heute abend herauf. Es würde einen glänzenden Eindruck auf sie machen. Er setzte sich an die Schreibmaschine und tippte mit zwei dicken Fingern den Befehl für die Kapelle. Das war für seine Privatakten, Dazu kam die Anordnung, schwache Sträflinge von der Arbeit zu befreien. Sie stimmte in einer anderen Weise, aber er hatte sie einfach so verstanden. Was Weber tat, war seine Sache. Er würde schon etwas tun; das Kriegsverdienstkreuz war gerade rechtzeitig angekommen. Die Privatakten enthielten eine ganze Anzahl Beweise für Neubauers Milde und Fürsorge. Daneben selbstverständlich das übliche belastende Material gegen Vorgesetzte und Parteigenossen. Wer im Feuer stand, konnte niemals für genug Deckung sorgen. Neubauer klappte den blauen Aktendeckel befriedigt zu und griff zum Telefon. Sein Rechtsanwalt hatte ihm einen ausgezeichneten Tip gegeben: gebombte Grundstücke zu kaufen. Sie waren billig. Ungebombte auch. Man konnte seine eigenen Verluste damit herausholen. Grundstücke behielten ihren Wert, auch wenn sie hundertmal gebombt wurden. Man mußte die augenblickliche Panik ausnutzen. Das Aufräumungskommando kam vom Kupferwerk zurück. Es hatte zwölf Stunden schwer gearbeitet. Ein Teil der großen Halle war eingestürzt, und verschiedene Abteilungen waren schwer beschädigt. Nur wenige Hacken und Spaten waren zur Verfügung gewesen, und die meisten Gefangenen hatten mit den bloßen Händen arbeiten müssen. Die Hände waren zerrissen und bluteten. Alle waren todmüde und hungrig. Mittags hatten sie eine dünne Suppe bekommen, in der unbekannte Pflanzen schwammen. Die Direktion des Kupferwerkes hatte sie großmütig spendiert. Ihr einziger Vorteil war gewesen, daß sie warm war. Dafür hatten die Ingenieure und Aufseher des Werks die Gefangenen wie Sklaven gehetzt. Sie waren Zivilisten; aber manche waren nicht viel besser als die SS. Lewinsky marschierte in der Mitte des Zuges. Neben ihm ging Willy Werner. Beide hatten es geschafft, beim Einteilen des Kommandos in dieselbe Gruppe zu kommen. Es waren keine einzelnen Nummern aufgerufen worden; nur eine Gesamtgruppe von vierhundert Mann. Das Aufräumen war ein schweres Kommando. Es hatte wenige Freiwillige dafür gegeben, und so war es leicht gewesen für Lewinsky und Werner, hineinzugelangen. Sie wußten, warum sie es wollten. Sie hatten es schon einige Male vorher getan. Die vierhundert marschierten langsam. Sie hatten sechzehn Mann bei sich, die bei der Arbeit zusammengebrochen waren. Zwölf konnten noch gehen, wenn sie gestützt wurden; die anderen vier wurden getragen; zwei auf einer rohen Bahre, die anderen beiden an Armen und Füßen. Der Weg zum Lager war weit; die Gefangenen wurden um die Stadt herumgeführt.
Die SS vermied es, sie durch die Straßen marschieren zu lassen. Sie wollte nicht, daß man sie sah; und sie wollte jetzt auch nicht, daß die Gefangenen zu viel von der Zerstörung sähen.
Sie näherten sich einem kleinen Birkenwald. Die Stämme schimmerten seidig im letzten Licht. Die SS-Wachen und die Kapos verteilten sich den Zug entlang. Die SS hielt die Waffen schußbereit.
Die Gefangenen trotteten vorwärts. Vögel zwitscherten in den Ästen. Ein Hauch von Grün und Frühling hing in den Zweigen.
Schneeglöckchen und Primeln wuchsen an den Gräben. Wasser gluckste. Niemand beachtete es.
Alle waren zu müde. Dann kamen aufs neue Felder und Äcker, und die Wachen zogen sich wieder zusammen.
Lewinsky ging dicht neben Werner. Er war aufgeregt. »Wo hast du es hingetan?« fragte er, ohne die Lippen zu bewegen.
Werner machte eine kleine Bewegung und drückte den Arm an die Rippen.
»Wer hat es gefunden?«
»Münzer. An derselben Stelle.«
»Dieselbe Marke?«
Werner nickte.
»Haben wir jetzt alle Teile?«
»Ja. Münzer kann sie im Lager montieren.«
»Ich habe eine Handvoll Patronen gefunden. Konnte nicht sehen, ob sie passen. Mußte sie rasch wegstecken. Hoffe, sie passen.«
»Wir werden sie schon gebrauchen können.«
»Hat sonst noch jemand was?«
»Münzer hat noch Revolverteile. «
»Lagen sie an derselben Stelle wie gestern?«
»Ja.«
»Jemand muß sie dahin gelegt haben.«
»Natürlich. Jemand von außen.«
»Einer von den Arbeitern.«
»Ja. Es ist jetzt das drittemal, daß was da war. Kein Zufall.«
»Kann es einer von den Unseren gewesen sein, die im Munitionswerk aufräumen?«
»Nein. Sie sind nicht herübergekommen. Wir würden es auch wissen. Es muß jemand von außen sein.«
Die Untergrundbewegung des Lagers hatte schon seit längerer Zeit versucht, Waffen zu bekommen. Sie erwartete einen Endkampf mit der SS und wollte wenigstens nicht ganz wehrlos sein. Es war fast unmöglich gewesen, Verbindungen zu bekommen; aber seit dem Bombardement hatte das Aufräumkommando plötzlich an bestimmten Stellen Waffenteile und Waffen gefunden.
Sie waren unter Schutt versteckt gewesen und mußten von Arbeitern dorthin placiert worden sein, um in der Unordnung der Zerstörung gefunden zu werden. Diese Funde waren der Grund dafür, daß das Aufräumkommando plötzlich mehr Freiwillige hatte als sonst. Es waren alles verläßliche Leute.
Die Häftlinge passierten eine Wiese, die mit Stacheldraht eingefriedet war. Zwei Kühe mit weißrotem Fell kamen dicht an den Draht und schnoberten. Eine muhte. Ihre friedlichen Augen glänzten. Fast keiner der Gefangenen sah hin; es machte sie nur noch hungriger, als sie schon waren.
»Glaubst du, daß sie uns heute vor dem Wegtreten untersuchen werden?«
»Warum? Sie haben es gestern doch auch nicht getan. Unser Kommando war nicht in der Nähe der Waffenabteilung. Nach dem Aufräumen außerhalb des Munitionswerkes untersuchen sie gewöhnlich nicht.«
»Man weiß nie. Wenn wir die Sachen wegwerfen müssen -«
Werner blickte gegen den Himmel. Er leuchtete in Rosa und Gold und Blau. »Es wird ziemlich dunkel sein, wenn wir ankommen. Wir müssen sehen, was passiert. Hast du deine Patronen gut eingewickelt?«
»Ja. In einem Lappen.«
»Gut. Wenn etwas geschieht, gib sie nach rückwärts zu Goldstein. Der gibt sie weiter zu Münzer.
Der zu Remme. Einer von ihnen wird sie wegwerfen. Wenn wir Pech haben und die SS an allen Seiten ist, laß sie in der Mitte der Gruppe fallen, wenn es nötig ist. Wirf sie nicht zur Seite. Sie können dann keinen Bestimmten fassen. Ich hoffe, daß das Kommando vom Baumroden gleichzeitig mit uns ankommt. Müller und Ludwig wissen dort Bescheid. Beim Einrücken wird ihre Gruppe ein Kommando falsch verstehen, wenn wir untersucht werden, und in unsere Nähe kommen und die Sachen aufnehmen.«
Die Straße machte eine Kurve und näherte sich in einer langen, geraden Linie wieder der Stadt.
Schrebergärten mit Holzlauben säumten sie ein. Leute in Hemdsärmeln arbeiteten darin. Nur wenige blickten auf. Sie kannten die Häftlinge schon. Der Geruch von aufgebrochener Erde kam von den Gärten herüber. Ein Hahn krähte.
Schilder für Automobilisten standen am Rande: Achtung, Kurve. Siebenundzwanzig Kilometer bis Holzfelde.
»Was ist denn das da hinten?« fragte Werner plötzlich. »Ist das schon das Baumkommando?«
Weit vor ihnen auf der Straße sahen sie eine dunkle Masse von Menschen. Sie war so weit, daß man nicht erkennen konnte, wer es war. »Wahrscheinlich«, sagte Lewinsky.
»Sie sind früher als wir. Vielleicht holen wir sie noch ein.«
Er drehte sich um. Hinter ihnen wankte Goldstein. Er hatte die Arme um die Schultern von zwei Mann gelegt und schleppte sich dahin. »Kommt«, sagte Lewinsky zu den beiden, die ihn trugen.
»Wir werden euch ablösen. Nachher, vor dem Lager, könnt ihr ihn wieder nehmen.«
Er nahm Goldstein von der einen Seite, und Werner stützte ihn von der anderen.
»Mein verdammtes Herz«, keuchte Goldstein. »Vierzig Jahre alt und das Herz kaputt.
Zu idiotisch.«
»Warum bist du mitgekommen?« fragte Lewinsky. »Du hättest zur Schuhabteilung abgeschoben werden können.«
»Wollte einmal sehen, wie es außerhalb des Lagers ist. Frische Luft. War ein Fehler.«
Goldstein grinste mühsam über sein graues Gesicht.
»Du wirst dich erholen«, sagte Werner. »Laß dich ruhig über unsere Schultern hängen.
Wir können dich gut tragen.«
Der Himmel verlor den letzten Glanz und wurde fahler. Blaue Schatten stürzten von den Hügeln herab. »Hört zu«, flüsterte Goldstein. »Steckt, was ihr bei euch habt, in meine Sachen. Wenn sie untersuchen, werden sie euch untersuchen und vielleicht die Bahren auch. Aber uns Schlappmacher werden sie nicht kontrollieren. Wir sind einfach zusammengeklappt. Uns werden sie so durchlassen.«
»Wenn sie untersuchen, werden sie alle untersuchen«, sagte Werner.
»Nein, nicht uns, die schlapp gemacht haben. Es sind noch ein paar mehr auf dem Weg dazugekommen. Steckt die Sachen unter mein Hemd.«
Werner wechselte einen Blick mit Lewinsky. »Laß gut sein, Goldstein. Wir kommen schon durch.«
»Nein, gebt sie mir.«
Die beiden antworteten nicht.
»Für mich ist es ziemlich egal, ob ich geschnappt werde. Für euch nicht.«
»Quatsch.«
»Es hat nichts mit Opferwillen und Großtuerei zu tun«, sagte Goldstein mit einem verzerrten Lächeln. »Er ist nur praktischer. Ich mach sowieso nicht mehr lange.«
»Wir werden das alles sehen«, erwiderte Werner. »Wir haben noch fast eine Stunde Weg. Vor dem Lager gehst du wieder zurück in deine frühere Reihe. Wenn etwas passiert, geben wir dir die Sachen. Du gibst sie sofort weiter zurück zu Münzer. Zu Münzer, verstehst du?«
»Ja.«
Eine Frau auf einem Fahrrad kam vorbei. Sie war dick und trug eine Brille und hatte einen Pappkarton vor sich auf der Lenkstange. Sie blickte zur Seite. Sie wollte die Gefangenen nicht sehen.
Lewinsky sah auf und blickte dann schärfer nach vorn. »Hört zu«, sagte er. »Das dahinten ist nicht das Baumkommando.«
Die schwarze Masse vor ihnen war näher gekommen. Sie holten sie nicht ein, sie kam ihnen entgegen. Sie konnten jetzt auch sehen, daß es eine lange Reihe von Menschen war, die nicht in regelmäßiger Kolonne marschierten.
»Neue Zugänge?« fragte jemand hinter Lewinsky. »Oder ist es ein Transport?«
»Nein. Sie haben keine SS bei sich. Und sie marschieren nicht in der Richtung zum Lager. Das sind Zivilisten.«
»Zivilisten?«
»Das siehst du doch. Sie haben Hüte auf. Und Frauen sind dabei. Kinder auch. Viele Kinder.«
Man konnte sie jetzt deutlich sehen. Die beiden Kolonnen näherten sich jetzt rasch.
»Rechts heran!« schrie die SS. »Scharf rechts heran! In den Graben, die äußerste Reihe rechts.
Los!«
Die Aufseher liefen die Gefangenenkolonne entlang. »Rechts! Los, rechts heran! Laßt die linke Hälfte der Straße frei. Wer ausbiegt, wird erschossen!«
»Das sind Ausgebombte«, sagte Werner plötzlich rasch und leise. »Es sind Leute aus der Stadt.
Das sind Flüchtlinge.«
»Flüchtlinge?«
»Flüchtlinge«, wiederholte Werner.
»Ich glaube, du hast recht!« Lewinsky kniff die Augen zu. »Das sind tatsächlich Flüchtlinge. Aber diesmal deutsche Flüchtlinge!«
Das Wort lief flüsternd die Kolonne entlang. Flüchtlinge! Deutsche Flüchtlinge! Des refugiés allemands! Es schien unerhört zu sein, aber es stimmte: Nachdem sie Jahre hindurch in Europa gesiegt und Menschen vor sich hergetrieben hatten, mußten sie jetzt in ihrem eigenen Lande flüchten.
Es waren Frauen und Kinder und ältere Männer. Sie trugen Pakete, Handtaschen und Handkoffer.
Einige hatten kleine Wagen, auf die sie ihr Gepäck geladen hatten. Sie gingen unregelmäßig und verdrossen hintereinander her.
Die beiden Züge waren sich jetzt ganz nahe. Es wurde auf einmal sehr still. Man hörte nur noch das Scharren der Füße auf der Landstraße. Und ohne daß ein Wort gesagt worden wäre, begann die Kolonne der Gefangenen sich zu verändern. Sie hatte sich nicht einmal durch Blicke verständigt; aber es war, als hätte jemand einen lautlosen Befehl über all diese todmüden, abgezehrten, halbverhungerten Männer hingeschrieen, als hätte ein Funke ihr Blut entzündet, ihr Gehirn aufgeweckt und ihre Nerven und Muskeln zusammengerissen. Die stolpernde Kolonne begann zu marschieren. Die Füße hoben sich, die Köpfe richteten sich auf, die Gesichter wurden härter, und in den Augen war Leben.
»Laßt mich los«, sagte Goldstein.
»Unsinn!«
»Laßt mich los! Nur, bis die da vorbei sind!«
Sie ließen ihn los. Er taumelte, biß die Zähne aufeinander und fing sich. Lewinsky und Werner preßten ihre Schultern gegen seine, aber sie brauchten ihn nicht zu halten. Er ging, dicht zwischen sie gepreßt, allein, den Kopf zurückgeworfen, laut atmend, aber er ging allein.
Das Schuffeln der Gefangenen war jetzt überall in eine Art von Gleichtritt übergegangen. Eine Abteilung Belgier und Franzosen war dabei und eine kleine Gruppe von Polen. Auch sie marschierten mit.
Die Kolonnen hatten einander erreicht. Die Deutschen waren auf dem Wege nach umliegenden Dörfern. Sie hatten keine Zugverbindungen, weil der Bahnhof zerstört war, und mußten deshalb zu Fuß gehen. Ein paar Zivilisten mit SA-Binden um den Arm dirigierten den Zug. Die Frauen waren müde. Ein paar Kinder weinten. Die Männer starrten vor sich hin.
»So sind wir aus Warschau geflüchtet«, flüsterte ein Pole leise hinter Lewinsky.
»Und wir aus Lüttich«, erwiderte ein Belgier.
»Wir ebenso aus Paris.«
»Bei uns war es schlimmer. Viel schlimmer. Sie haben uns anders gejagt.«
Sie spürten kaum ein Gefühl von Revanche. Auch keinen Haß. Frauen und Kinder waren überall dieselben, und es waren gewöhnlich viel öfter die Unschuldigen, die von einem Verhängnis getroffen wurden, als die Schuldigen. Unter dieser müden Masse waren sicher viele, die nichts bewußt gewollt und nichts getan hatten, was ihr Schicksal rechtfertigte. Das war es auch nicht, was die Gefangenen spürten. Es war etwas ganz anderes. Es hatte nichts mit den einzelnen zu tun; es hatte auch wenig mit der Stadt zu schaffen; nicht einmal viel mit dem Lande oder der Nation; es war eher das Gefühl einer ungeheuren, unpersönlichen Gerechtigkeit, das in dem Augenblick aufsprang, als die beiden Kolonnen einander passierten. Ein Weltfrevel war verübt worden und fast geglückt; die Gebote der Menschlichkeit waren umgestoßen und fast zertrampelt worden; das Gesetz des Lebens war bespuckt, zerpeitscht und zerschossen worden; Raub war legal, Mord verdienstvoll, Terror Gesetz geworden – und jetzt, plötzlich, in diesem atemlosen Augenblick, fühlten vierhundert Opfer der Willkür hier, daß es genug war -, daß eine Stimme gesprochen hatte und daß das Pendel zurückschwang. Sie spürten, daß es nicht nur Länder und Völker waren, die gerettet werden würden; es waren die Gebote des Lebens selbst. Es war das, wofür es viele Namen gab – und einer, der älteste und einfachste war: Gott. Und das hieß: Mensch.
Die Kolonne der Flüchtlinge hatte die Kolonne der Gefangenen jetzt passiert. Es hatte ausgesehen, als wären für einige Minuten die Flüchtlinge die Gefangenen und die Gefangenen frei. Zwei Leiterwagen, mit Schimmeln bespannt und voll von Gepäck, bildeten das Ende des Zuges. Die SS rannte nervös an der Kolonne der Gefangenen auf und ab, spähend nach irgendeinem Zeichen, einem Wort. Nichts geschah. Die Kolonne marschierte schweigend weiter, und bald fingen die Füße wieder an zu scharren, die Müdigkeit kam zurück, und Gold »lein mußte die Arme wieder um die Schultern von Lewinsky und Werner legen – aber trotzdem, als die schwarzroten Barrieren des Lagereingangs und die eisernen Tore mit dem alten preußischen Motto:»Jedem das Seine« sichtbar wurden, betrachtete jeder dieses Motto, das Jahre hindurch ein fürchterlicher Hohn gewesen war, plötzlich mit neuen Augen.
Die Lagerkapelle wartete am Tor. Sie spielte den »Fridericus-Rex«-Marsch. Hinter ihr standen eine Anzahl SS-Leute und der zweite Lagerführer. Die Gefangenen begannen zu marschieren.
»Beine 'raus! Augen rechts!«
Das Baumfäll-Kommando war noch nicht da. »Stillgestanden! Abzählen!«
Sie zählten ab. Lewinsky und Werner beobachteten den zweiten Lagerführer. Er wiegte sich in den Knien und schrie:»Leibesvisitation! Erste Gruppe vortreten!«
Mit vorsichtigen Bewegungen glitten die in Lappen gewickelten Waffenstücke nach rückwärts in Goldsteins Hände. Lewinsky fühlte, wie ihm plötzlich der Schweiß am Körper herunterlief.
Der SS-Scharführer Günther Steinbrenner, der wie ein Schäferhund auf der Wacht stand, hatte irgendwo eine Bewegung gesehen. Er drängte sich mit Faustschlägen zu Goldstein durch. Werner preßte die Lippen zusammen. Wenn die Sachen jetzt nicht bei Münzer oder Remme waren, konnte alles aus sein.
Bevor Steinbrenner ankam, fiel Goldstein um. Steinbrenner gab ihm einen Tritt in die Rippen.
»Aufstehen! Schweinehund!«
Goldstein machte einen Versuch. Er kam auf die Knie, erhob sich, stöhnte, hatte plötzlich Schaum vor dem Mund und stürzte nieder.
Steinbrenner sah das graue Gesicht und die verdrehten Augen. Er gab Goldstein noch einen Tritt und überlegte, ob er ihm ein brennendes Streichholz unter die Nase halten sollte, um ihn munter zu machen. Aber dann fiel ihm ein, daß er vor kurzem einen Toten geohrfeigt und sich vor seinen Kameraden lächerlich gemacht hatte; ein zweitesmal sollte ihm etwas Ähnliches nicht passieren.
Knurrend trat er zurück.
»Was?« fragte der zweite Lagerführer gelangweilt den Kommandoführer. »Das sind nicht die vom Munitionswerk?«
»Nein. Dies ist nur das Aufräumkommando.«
»Ach so! Wo sind denn die anderen?«
»Kommen gerade den Berg 'rauf«, sagte der SS-Oberscharführer, der das Kommando geführt hatte.
»Na schön. Dann macht Platz. Diese Kaffern hier brauchen nicht visitiert zu werden. Schwirrt ab!«
»Erste Gruppe zurück, marsch, marsch!« kommandierte der Oberscharführer.
»Kommando stillgestanden! Links um, marsch!«
Goldstein erhob sich. Er taumelte, aber es gelang ihm, in der Gruppe zu bleiben.
»Weggeworfen?« fragte Werner fast lautlos, als Goldsteins Kopf neben ihm war.
»Nein.«
Werners Gesicht entspannte sich. »Sicher nicht?«
»Nein.«
Sie marschierten ein. Die SS kümmert? sich nicht mehr um sie. Hinter ihnen stand die Kolonne vom Munitionswerk. Sie wurde genau untersucht.
»Wer hat es?« fragte Werner. »Remme?«
»Ich.«
Sie marschierten zum Appellplatz und stellten sich auf.
»Was wäre passiert, wenn du nicht mehr hochgekommen wärst?« fragte Lewinsky.
»Wie hätten wir es dann von dir wiedergekriegt, ohne daß jemand es gemerkt hätte?«
»Ich wäre hochgekommen.«
»Wieso?«
Goldstein lächelte. »Ich wollte früher mal Schauspieler werden.«
»Du hast das geschwindelt?«
»Nicht alles. Das letzte.«
»Den Schaum vor dem Mund auch?«
»Das sind Schultricks.«
»Du hättest es trotzdem weitergeben sollen. Warum nicht? Warum hast du es behalten?«
»Das habe ich dir schon vorher erklärt.«
»Achtung«, flüsterte Werner. »SS kommt.«
Sie standen stramm.