Berger war auf dem Wege zum Krematorium. Neben ihm marschierte eine Gruppe von sechs Mann. Er kannte einen davon. Es war ein Rechtsanwalt, der Mosse hieß. Er war 1932 an einem Mordprozeß gegen zwei Nazis als Vertreter der Nebenkläger beteiligt gewesen. Die Nazis waren freigesprochen worden, und Mosse war nach der Machtergreifung sofort ins Konzentrationslager gekommen. Berger hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er im Kleinen Lager war. Er kannte ihn wieder, weil er eine Brille trug, in der sich nur ein Glas befand. Mosse brauchte kein zweites; er hatte nur ein Auge. Das andere war ihm 1933 als Quittung für den Prozeß mit einer Zigarette ausgebrannt worden. Mosse ging an der Außenseite. »Wohin?« fragte Berger ihn, ohne die Lippen zu bewegen. »Krematorium. Arbeiten.« Die Gruppe marschierte vorbei. Berger sah jetzt, daß er noch einen der Leute kannte: Brede, einen sozialdemokratischen Parteisekretär. Ihm fiel auf, daß alle sechs politische Sträflinge waren. Ein Kapo mit dem grünen Winkel der Kriminellen folgte ihnen. Er pfiff eine Melodie vor sich hin. Berger erinnerte sich, daß es ein Schlager aus einer alten Operette war. Mechanisch kam ihm auch der Text ins Gedächtnis:»Adieu, du kleine Klingelfee, leb wohl, bis ich dich wiederseh'.« Er sah der Gruppe nach. Klingelfee, dachte er irritiert. Es mußte eine Telefonistin damit gemeint gewesen sein. Warum fiel ihm das plötzlich ein? Warum wußte er diese Leierkastenmelodie noch und sogar die blödsinnigen Worte dazu? So viel Wichtigeres war längst vergessen. Er ging langsam und atmete den frischen Morgen. Dieser Gang durchs Arbeitslager war für ihn immer fast wie ein Gang durch einen Park. Fünf Minuten noch bis zur Mauer, die das Krematorium umschloß. Fünf Minuten Wind und früher Tag. Er sah die Gruppe mit Mosse und Brede unter dem Tor verschwinden. Es schien sonderbar, daß neue Leute zum Arbeiten im Krematorium bestimmt worden waren. Das Krematoriumskommando bestand aus einer besonderen Gruppe von Häftlingen, die zusammen wohnten. Sie wurden besser ernährt als die anderen und hatten auch sonst gewisse Vorteile. Dafür wurden sie gewöhnlich nach einigen Monaten abgelöst und zum Vergasen verschickt. Das jetzige Kommando war aber erst zwei Monate da; und Außenseiter wurden nur selten hinzukommandiert. Berger war fast der einzige. Er war anfangs zur Aushilfe für einige Tage hingeschickt worden und hatte dann, als sein Vorgänger starb weitergearbeitet. Er bekam keine bessere Verpflegung und wohnte nicht mit dem eigentlichen Verbrennungskommando zusammen. Deshalb hoffte er, nicht in weiteren zwei oder drei Monaten mit den anderen fortgeschickt zu werden Doch das war nur eine Hoffnung. Er ging durch das Tor und sah jetzt die sechs Mann auf dem Hof in einer Reihe nebeneinanderstehen. Sie standen nicht weit von den Galgen, die in dei Mitte errichtet worden waren. Alle versuchten, die Holzgerüste nicht zu sehen Mosses Gesicht hatte sich verändert. Er starrte mit seinem einen Auge durch das Brillenglas angstvoll auf Berger. Brede hielt den Kopf gesenkt. Der Kapo wendete sich um und erblickte Berger. »Was willst du hier?« »Kommandiert zum Krematorium. Zahnkontrolle.« »Der Zahnklempner. Dann mach, daß du hier fortkommst. Stillgestanden die anderen!« Die sechs Mann standen so still, wie sie konnten. Berger ging dicht an ihnen vorbei. Er hörte Mosse etwas flüstern; aber er verstand es nicht. Er konnte auch nicht stehenbleiben; der Kapo beobachtete ihn. Es ist merkwürdig, dachte er daß ein so kleines Kommando von einem Kapo geführt wird – anstatt von einem Vorarbeiter. Der Keller des Krematoriums hatte an einer Seite einen großen schrägen Schacht, der nach außen führte. Die Leichen, die im Hof aufgestapelt waren, wurden in diesen Schacht geworfen und glitten in den Keller. Dort wurden sie entkleidet, wenn sie nicht schon nackt waren, rubriziert und auf Gold untersucht.
Berger hatte hier unten Dienst. Er mußte Totenscheine ausschreiben und die Goldzähne der Toten ziehen. Der Mann, der das früher gemacht hatte, ein Zahntechniker aus Zwickau, war an Blutvergiftung gestorben. Der Kapo, der unten Aufsicht hatte, hieß Dreyer. Er kam einige Minuten später herein. »Los«, sagte er mißmutig und setzte sich an einen kleinen Tisch, auf dem Listen lagen. Außer Berger waren noch vier Mann vom Krematoriumskommando da. Sie postierten sich neben dem Schacht. Der erste Tote rutschte hindurch wie ein riesiger Käfer. Die vier Mann zerrten ihn über den Zementflur zur Mitte des Raumes. Er war schon starr. Sie zogen ihn rasch aus. Die Jacke mit der Nummer und den Abzeichen wurde abgestreift. Einer der Häftlinge hielt dabei den rechten Arm, der abstand, so lange herunter, bis der Ärmel abgezogen war. Dann ließ er los, und der Arm schnappte zurück wie ein Zweig. Die Hosen waren leichter abzustreifen. Der Kapo notierte die Nummer des Toten. »Ring?« fragte er. »Nein. Kein Ring.« »Zähne?« Er leuchtete mit einer Taschenlampe in den halboffenen Mund, auf dem ein dünner Streifen Blut getrocknet war. »Goldfüllung rechts«, sagte Berger. »Gut. 'raus.« Berger kniete mit der Zange neben dem Kopf nieder, den ein Häftling festhielt. Die anderen zogen bereits die nächste Leiche aus, riefen die Nummer und warfen die Kleider zur Seite auf die der ersten. Mit einem Krachen wie trockenes Feuerholz rutschten jetzt mehr und mehr Tote den Schacht hinunter. Sie fielen übereinander und verhakten sich ineinander. Einer kam mit den Füßen zuerst und blieb aufrecht stehen. Er lehnte gegen den Schacht, die Augen weit offen, den Mund schief verzogen. Die Hände waren krumm zu einer halben Faust geballt, und eine Medaille an einer Kette hing aus dem offenen Hemd hervor. Er stand eine Weile so. Polternd fielen andere Leichen über ihn hinab. Eine Frau mit halblangem Haar war darunter. Sie mußte aus dem Austauschlager sein. Ihr Kopf kam zuerst, und ihr Haar fiel über sein Gesicht. Schließlich, als sei er müde von so viel Tod auf seinen Schultern, rutschte er langsam zur Seite und sank um. Die Frau fiel über ihn. Dreyer sah es, grinste und leckte sich die Oberlippe, auf der ein dicker Pickel wuchs. Berger hatte inzwischen den Zahn herausgebrochen. Er wurde in einen von zwei Kästen gelegt. Der zweite war für Ringe. Dreyer verbuchte die Füllung. »Achtung!« rief plötzlich einer der Häftlinge. Die fünf Mann richteten sich stramm auf. Der SS-Scharführer Schulte war hereingekommen. »Weitermachen.« Schulte setzte sich rittlings auf einen Stuhl, der neben dem Tisch mit den Listen stand. Er betrachtete den Haufen Leichen. »Da sind ja acht Mann draußen beim Einwerfen«, sagte er. »Viel zu viele. Holt vier herunter; die können hier mithelfen. Du da -« er zeigte auf einen der Häftlinge. Berger zog den Trauring vom Finger einer Leiche. Das war gewöhnlich leicht; die Finger waren dünn. Der Ring wurde in den zweiten Kasten gelegt, und Dreyer notierte ihn. Die Leiche hatte keine Zähne. Schulte gähnte. Es war Vorschrift, daß die Leichen seziert und die Todesursache festgestellt und in die Akten eingetragen wurden; aber niemand kümmerte sich darum. Der Lagerarzt kam selten, er sah die Toten nie an, und es wurden immer dieselben Todesursachen eingetragen. Auch Westhof war an Herzschwäche gestorben.
Die nackten Körper, die verbucht waren, wurden neben einen Aufzug gelegt. Oben, im Verbrennungsraum, wurde dieser Aufzug jedesmal heraufgezogen, wenn Bedarf für die Öfen da war. Der Mann, der hinausgegangen war, kam mit vier Leuten wieder. Sie waren aus der Gruppe, die 509 gesehen hatte. Mosse und Brede waren dabei. »Marsch, dorthin!« sagte Schulte. »Ausziehen helfen und Sachen notieren! Lagerkleidung auf einen Haufen, Zivilsachen auf einen anderen, Schuhe extra. Vorwärts.« Schulte war ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, blond, mit grauen Augen und einem klaren, regelmäßigen Gesicht. Er hatte schon vor der Machtergreifung zur Hitlerjugend gehört und war dort erzogen worden. Er hatte gelernt, daß es Herrenmenschen und Untermenschen gab, und er glaubte es fest. Er kannte die Rassentheorien und die Parteidogmen, und sie waren seine Bibel. Er war ein guter Sohn, aber er hätte seinen Vater angezeigt, wenn er gegen die Partei gewesen wäre. Die Partei war unfehlbar für ihn; er kannte nichts anderes. Die Insassen des Lagers waren Feinde der Partei und des Staates und standen deshalb außerhalb der Begriffe von Mitleid oder Menschlichkeit. Sie waren geringer als Tiere. Wenn sie getötet wurden, so war das, als tötete man schädliche Insekten. Schulte hatte ein völlig ruhiges Gewissen. Er schlief gut, und das einzige, was er bedauerte, war, nicht an der Front zu sein. Das Lager hatte ihn wegen eines Herzfehlers reklamiert. Er war ein zuverlässiger Freund, liebte Musik und Poesie und hielt Folter für ein unumgängliches Mittel, um Informationen von Verhafteten zu bekommen, weil alle Feinde der Partei logen. Er hatte in seinem Leben auf Befehl sechs Menschen getötet und nie darüber nachgedacht – zwei davon langsam, um Mithelfer genannt zu bekommen. Er war verliebt in die Tochter eines Landgerichtsrats und schrieb ihr hübsche, etwas romantische Briefe. In seiner Freizeit sang er gern. Er hatte einen netten Tenor. Die letzten nackten Leichen wurden neben dem Aufzug aufgeschichtet. Mosse und Brede trugen sie heran. Mosses Gesicht war entspannt. Er lächelte Berger zu. Seine Furcht draußen war ohne Grund gewesen. Er hatte geglaubt, an den Galgen zu kommen. Jetzt arbeitete er, so wie es ihnen gesagt worden war. Es war in Ordnung. Er war gerettet. Er arbeitete rasch, um seinen guten Willen zu zeigen. Die Tür öffnete sich, und Weber trat ein. »Achtung!« Alle Häftlinge standen stramm. Weber trat mit blanken, eleganten Stiefeln an den Tisch. Er liebte gute Stiefel; sie waren fast seine einzige Leidenschaft. Vorsichtig klopfte er eine Zigarette ab, die er gegen den Leichengestank angezündet hatte. »Fertig?« fragte er Schulte. »Jawohl, Sturmführer. Soeben. Alles verbucht und aufgenommen.« Weber sah in die Kästen mit dem Gold. Er hob die Medaille heraus, die die stehende Leiche getragen hatte. »Was ist das?« »Ein St. Christophorus, Sturmführer«, erklärte Schulte eifrig. »Eine Medaille für Glück.« Weber grinste. Schulte hatte nicht gemerkt, daß er einen Witz gemacht hatte. »Schön«, sagte Weber und legte die Medaille zurück. »Wo sind die vier von oben?« Die vier Leute traten vor. Die Tür öffnete sich wieder, und der SS-Scharführer Günther Steinbrenner kam mit den beiden, die draußen geblieben waren, herein. »Stellt euch zu den vieren«, sagte Weber. »Die anderen 'raus! Nach oben!« Die Häftlinge vorn Krematoriumskommando verschwanden rasch. Berger folgte ihnen. Weber betrachtete die sechs Zurückgebliebenen. »Nicht dahin«, sagte er. »Stellt euch dorthin, unter die Haken.«
An der Querwand des Raumes, dem Schacht gegenüber, waren vier starke Haken angebracht. Sie waren etwa einen halben Meter höher als die Köpfe der Häftlinge, die darunter standen. In der Ecke rechts davon stand ein dreibeiniger Schemel; daneben, in einer Kiste, lagen Stricke, die zu kurzen Schlingen geknüpft waren, an deren Enden sich Haken befanden.
Weber gab mit seinem linken Stiefel dem Schemel einen Stoß, so daß er vor den ersten Häftling rutschte,»'rauf da!« Der Mann zitterte und stellte sich auf den Schemel.
Weber blickte auf die Kiste mit den kurzen Stricken. »So, Günther«, sagte er dann zu Steinbrenner. »Der Zauber kann losgehen. Zeig mal, was du kannst.«
Berger tat so, als ob er hülfe, zwei Bahren mit Leichen zu beladen. Er wurde sonst für diese Arbeit nie gebraucht; er war viel zu schwach dazu. Aber der Vorarbeiter hatte, als die fortgejagten Häftlinge heraufkamen, alle angeschrieen, sich nützlich zu machen; da war das einfachste, so zu tun, als folgte man dem Befehl.
Eine der Leichen auf den Bahren war die Frau mit dem losen Haar; die andere ein Mann, der aussah, als sei er aus schmutzigem Wachs. Berger hob die Schultern der Frau und schob ihr Haar darunter, damit es nicht durch den Glutwind beim Einschieben aufflammen, zurückfliegen und ihm und den anderen die Hände verbrennen würde. Es war sonderbar, daß es nicht abgeschnitten war; früher geschah das regelmäßig, und das Haar wurde gesammelt. Wahrscheinlich lohnte es nicht mehr; es waren nur noch wenige Frauen im Lager.
»Fertig«, sagte er zu den anderen.
Sie öffneten die Ofentüren. Die Glut strömte heraus. Mit einem Ruck schoben sie die flachen Eisenbahren in das Feuer. »Türen zu!« rief jemand.
»Türen zu!«
Zwei Häftlinge warfen die schweren Türen zu, aber eine flog wieder auf, Berger sah noch, wie die Frau sich aufbäumte, als erwachte sie. Das brennende Haar umflammte einen Augenblick ihren Kopf wie ein wilder weißgelber Heiligenschein, dann schlug die Tür, an deren Kante ein schmales Stück Knochen eingeklemmt gewesen war, zum zweiten Male und ganz zu.
»Was war das?« fragte einer der Häftlinge erschreckt. Er hatte bisher immer nur Leichen ausgekleidet. »Lebte die noch?«
»Nein. Das war die Hitze«, erwiderte Berger krächzend. Der heiße Wind hatte seinen Hals ausgetrocknet. Selbst die Augen schienen verbrannt zu sein.
»Sie bewegen sich immer.« »Sie tanzen manchmal Walzer«, sagte ein kräftiger Mann, der zum Kommando gehörte und vorbeikam. »Was macht ihr eigentlich hier oben, ihr Kellergespenster?«
»Wir sind 'raufgeschickt worden.«
Der Mann lachte. »Wozu? Um auch in den Ofen zu kommen?«
»Unten sind neue Leute«, sagte Berger.
Der Mann hörte auf zu lachen. »Was? Neue? Für was?«
»Das weiß ich nicht. Sechs neue.«
Der Mann starrte Berger an. Seine Augen glänzten sehr weiß in dem schwarzen Gesicht. »Das kann nicht sein! Wir sind erst zwei Monate hier. Sie können uns noch nicht ablösen. Das dürfen sie nicht! Ist es bestimmt wahr?«
»Ja. Sie haben es selbst gesagt.«
»Krieg das 'raus! Kannst du es nicht genau 'rauskriegen?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Berger. »Hast du ein Stück Brot? Oder was anderes zu essen?
Ich gebe dir Bescheid.«
Der Mann holte ein Stück Brot aus der Tasche und brach es in zwei Teile. Das kleinere Stück gab er Berger. »Hier. Aber finde es 'raus. Wir müssen das wissen!«
»Ja.« Berger trat zurück. Jemand klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Es war der grüne Kapo, der Mosse, Brede und die vier anderen zum Krematorium geführt hatte.
»Bist du der Zahnklempner?«
»Ja.«
»Da ist noch ein Zahn 'rauszuziehen, unten. Du sollst 'runterkommen.«
Der Kapo war sehr blaß. Er schwitzte und lehnte sich gegen die Wand. Berger blickte auf den Mann, der ihm das Brot gegeben hatte, und kniff ein Auge zu. Der Mann folgte ihm zum Ausgang.
»Es ist schon aufgeklärt«, sagte Berger. »Es war keine Ablösung. Sie sind tot. Ich muß 'runter.«
»Sicher?«
»Ja. Ich müßte sonst nicht 'runter.«
»Gott sei Dank.« Der Mann atmete auf. »Gib mir das Brot zurück«, sagte er dann.
»Nein.« Berger steckte die Hand in die Tasche und hielt das Stück fest.
»Schafskopf! Ich will dir nur das größere Stück dafür geben. Das ist die Sache wert.«
Sie tauschten, und Berger ging in den Keller zurück. Steinbrenner und Weber waren fort. Nur Schulte und Dreyer waren noch da. An den vier Haken an der Wand hingen vier Leute. Einer von ihnen war Mosse. Er war aufgehängt worden mit seiner Brille.
Brede und der letzte der sechs lagen bereits am Boden.
»Mach den dort los«, sagte Schulte gleichmütig. »Er hat vorne eine Goldkrone.«
Berger versuchte, den Mann anzuheben. Er konnte es nicht. Erst als Dreyer ihm half, gelang es.
Der Mann fiel wie eine Puppe, die mit Sägemehl ausgefüllt war, zu Boden.
»Ist er das?« fragte Schulte.
»Jawohl.«
Der Tote hatte einen goldenen Eckzahn. Berger zog ihn aus und legte ihn in den Kasten. Dreyer machte eine Notiz.
»Hat noch einer von den anderen was?« fragte Schulte.
Berger untersuchte die beiden Toten am Boden. Der Kapo leuchtete mit der Taschenlampe.
»Diese haben nichts. Zement und Silberamalgamfüllungen bei einem.«
»Das können wir nicht brauchen. Wie ist es bei denen, die noch hängen?«
Berger versuchte vergeblich, Mosse hochzuheben. »Laß das«, erklärte Schulte ungeduldig. »Man kann es besser sehen, wenn sie hängen.«
Berger drückte die geschwollene Zunge in dem weit offenen Mund beiseite. Das eine gequollene Auge hinter dem Brillenglas war dicht vor ihm. Es erschien durch die starke Linse noch größer und verzerrt. Das Lid über der anderen, leeren Augenhöhle stand halb offen. Flüssigkeit war herausgesickert. Die Backe war feucht davon. Der Kapo stand seitlich neben Berger, Schulte direkt hinter ihm. Berger fühlte Schuhes Atem in seinem Nacken. Er roch nach Pfefferminztabletten. »Nichts«, sagte Schulte. »Der nächste.«
Der nächste war leichter zu kontrollieren; er hatte keine Vorderzähne. Sie waren ausgeschlagen.
Zwei Silberamalgamplomben, wertlos, im rechten Kiefer. Der Atem Schuhes war wieder in Bergers Nacken. Der Atem eines eifrigen Nazis, der unschuldig seine Pflicht tat, hingegeben daran, Goldplomben zu finden, gleichmütig gegen die Anklage eines soeben erst gemordeten Mundes.
Berger glaubte plötzlich, es kaum mehr aushalten zu können, diesen stoßenden Knabenatem zu fühlen. Als suche er Vogeleier in einem Nest, dachte er.
»Schön, nichts«, sagte Schulte enttäuscht. Er nahm eine der Listen und den Kasten mit Gold und zeigte auf die sechs Toten.
»Lassen Sie die hier 'raufschaffen und den Raum tadellos schrubben.«
Aufrecht und jung ging er hinaus. Berger begann Brede auszuziehen. Es war einfach.
Er konnte es allein. Diese Toten waren noch weich. Brede trug ein Netzhemd und eine Zivilhose zu der Lederjacke. Dreyer zündete sich eine Zigarette an. Er wußte, daß Schulte nicht mehr zurückkam.
»Er hat die Brille vergessen«, sagte Berger.
»Was?«
Berger zeigte auf Mosse. Dreyer trat heran. Berger nahm die Brille von dem toten Gesicht.
Steinbrenner hatte es für einen Witz gehalten, Mosse mit der Brille aufzuhängen.
»Die eine Linse ist noch heil«, sagte der Kapo. »Aber wozu ist eine einzelne Linse schon zu brauchen? Höchstens als Brennglas für Kinder.«
»Der Brillen rahmen ist gut.«
Dreyer beugte sich weiter vor. »Nickel«, sagte er verächtlich. »Billiges Nickel.«
»Nein«, sagte Berger. »Weißes Gold.«
»Was?«
»Weißes Gold.«
Der Kapo nahm die Brille. »Weißes Gold? Ist das sicher?«
»Absolut. Der Rahmen ist schmutzig. Wenn man ihn mit Seife wäscht, werden Sie es selbst sehen.«
Dreyer wog Mosses Brille auf der flachen Hand. »Das hat dann seinen Wert.«
»Ja.«
»Wir müssen es aufschreiben.«
»Die Listen sind fort«, sagte Berger und sah den Kapo an. »Scharführer Schulte hat sie mitgenommen.«
»Das macht nichts. Ich kann ihm nachgehen.«
»Ja«, sagte Berger und sah Dreyer weiter an. »Scharführer Schulte hat die Brille nicht beachtet.
Oder er hat sie für wertlos gehalten. Vielleicht ist sie auch wertlos. Ich kann mich täuschen; vielleicht ist es wirklich Nickel.«
Dreyer blickte auf. »Man kann sie weggeworfen haben«, sagte Berger. »Zu dem nutzlosen Zeug dort. Eine zerbrochene Nickelbrille.«
Dreyer legte das Gestell auf den Tisch. »Mach hier erst mal fertig.«
»Ich kann das nicht allein machen. Die Leute sind zu schwer.« »Dann hole dir drei Mann von oben dazu.«
Berger ging und kam mit drei Sträflingen zurück. Sie machten Mosse los. Die aufgestaute Luft entwich rasselnd aus den Lungen, als die Schlinge um den Hals sich löste. Die Haken an der Wand waren gerade hoch genug, daß die Gehängten mit den Füßen den Boden nicht mehr erreichen konnten. Das Sterben dauerte so bedeutend länger. Bei einem normalen Galgen brach gewöhnlich der Nacken durch den Fall. Das tausendjährige Reich hatte das geändert. Die Galgen wurden auf langsames Ersticken eingerichtet. Man wollte nicht nur töten, man wollte langsam und sehr schmerzhaft töten. Eine der ersten Kulturleistungen der neuen Regierung war gewesen, die Guillotine abzuschaffen und statt ihrer das Handbeil wieder einzuführen.
Mosse lag jetzt nackt auf dem Boden. Seine Fingernägel waren abgebrochen. Weißer Kalkstaub klebte darunter. Er hatte sie in der Atemnot in die Wand gekrallt. Man konnte das auch an der Wand sehen. Hunderte von Erhängten hatten an dieser Stelle Löcher hineingekratzt. Ebenso da, wo die Füße hingen. Berger legte Mosses Kleider und Schuhe auf die entsprechenden Haufen. Er blickte auf Dreyers Tisch. Die Brille lag nicht mehr da. Sie lag auch nicht auf dem Häufchen von Papier, schmutzigen Briefen und wertlosen Fetzen, die aus den Taschen der Toten herausgeholt worden waren. Dreyer arbeitete am Tisch herum. Er blickte nicht auf.
»Was ist das?« fragte Ruth Holland.
Bucher lauschte. »Ein Vogel, der singt. Es muß eine Drossel sein.«
»Eine Drossel?«
»Ja. So früh im Jahr singt kein anderer Vogel. Es ist eine Drossel. Ich erinnere mich von früher.«
Sie hockten zu beiden Seiten des doppelten Stacheldrahtes, der die Frauenbaracken vom Kleinen Lager trennte. Es war nicht auffallend; das Kleine Lager war jetzt so voll, daß überall Leute herumlagen und -saßen. Außerdem hatten die Posten die Wachtürme verlassen, weil ihre Zeit um war. Sie hatten nicht auf die Ablösung gewartet. Das kam jetzt im Kleinen Lager ab und zu vor. Es war verboten, aber die Disziplin war längst nicht mehr so wie früher.
Die Sonne stand tief. Ihr Widerschein hing rot unten in den Fenstern der Stadt. Eine ganze Straße, die nicht zerstört war, leuchtete, als brenne es in den Häusern. Der Fluß spiegelte den unruhigen Himmel. »Wo singt sie?« »Drüben. Dort, wo die Bäume stehen.«
Ruth Holland starrte durch den Stacheldraht zu dem hinüber, was drüben war: einer Wiese, Äckern, ein paar Bäumen, einem Bauernhaus mit einem Strohdach und, ferner, auf einem Hügel, einem weißen, niedrigen Hause mit einem Garten.
Bucher sah sie an. Die Sonne machte ihr ausgemergeltes Gesicht sanfter. Er holte eine Brotrinde aus der Tasche. »Hier, Ruth – Berger hat mir das für dich gegeben. Er hat es heute bekommen. Ein Extrastück für uns.«
Er warf die Rinde geschickt durch den Stacheldraht. Ihr Gesicht zuckte. Die Rinde lag neben ihr.
Sie antwortete eine Zeitlang nicht. »Es ist deins«, sagte sie schließlich mit Anstrengung.
»Nein. Ich habe schon ein Stück gehabt.«
Sie schluckte. »Du sagst das nur -«
»Nein, bestimmt nicht -« Er sah, wie ihre Finger sich rasch über der Rinde schlössen.
»Iß es langsam«, sagte er. »Dann gibt es mehr her.«
Sie nickte und kaute schon. »Ich muß es langsam essen. Ich habe schon wieder einen Zahn verloren. Sie fallen einfach aus. Es tut nicht weh. Es sind jetzt sechs.«
»Wenn es nicht weh tut, macht es nichts. Wir hatten hier jemand, dem der ganze Kiefer vereitert war. Er stöhnte, bis er starb.«
»Ich werde bald keine Zähne mehr haben.«
»Man kann künstliche einsetzen. Lebenthal hat auch ein Gebiß.«
»Ich will kein Gebiß haben.«
»Warum nicht? Viele Leute haben eins. Es macht wirklich nichts, Ruth.«
»Sie werden mir kein Gebiß geben.«
»Hier nicht. Aber man kann später eins machen lassen. Es gibt wunderbare Gebisse.
Viel besser als das von Lebenthal. Das ist alt. Er hat es schon zwanzig Jahre. Es gibt jetzt neue, sagt er, die man überhaupt nicht spürt. Sie sitzen fest und sind schöner als wirkliche Zähne.«
Ruth hatte ihr Stück Brot gegessen. Sie wendete ihre trüben Augen Bucher zu. »Josef – glaubst du wirklich, daß wir jemals hier herauskommen?«
»Sicher! Ganz sicher! 509 glaubt es auch. Wir alle glauben es jetzt.«
»Und was dann?«
»Dann -« Bucher hatte noch nicht weit darüber hinausgedacht. »Dann sind wir frei«, sagte er, ohne es sich ganz vorstellen zu können.
»Wir werden uns wieder verstecken müssen. Sie werden uns wieder jagen. So, wie sie uns früher gejagt haben.«
»Sie werden uns nicht mehr jagen.«
Sie sah ihn lange an. »Und das glaubst du?«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie werden uns vielleicht eine Zeitlang in Ruhe lassen. Aber dann werden sie uns wieder jagen. Sie wissen nichts anderes -«
Die Drossel begann aufs neue zu singen. Es klang klar und sehr süß und unerträglich.
»Sie werden uns nicht mehr jagen«, sagte Bucher. »Wir werden zusammen sein. Wir werden aus dem Lager hinausgehen. Man wird den Drahtzaun niederreißen. Wir werden über den Weg dort gehen. Niemand wird auf uns schießen. Keiner wird uns zurückholen. Wir werden über die Felder gehen, in ein Haus, wie das weiße Haus dort drüben, und uns auf Stühle setzen.«
»Stühle-«
»Ja. Richtige Stühle. Es wird ein Tisch dasein und Teller aus Porzellan und ein Feuer.«
»Und Leute, die uns hinausjagen.«
»Sie werden uns nicht hinausjagen. Ein Bett wird dasein mit Decken und sauberen Leinentüchern.
Und Brot und Milch und Fleisch.«
Bucher sah, daß ihr Gesicht sich verzerrte. »Du mußt es glauben, Ruth«, sagte er hilflos.
Sie weinte ohne Tränen. Das Weinen war nur in ihren Augen. Sie verschleierten sich, und es wellte undeutlich darin auf. »Es ist so schwer zu glauben, Josef.«
»Du mußt es glauben«, wiederholte er. »Lewinsky hat neue Nachrichten gebracht. Die Amerikaner und Engländer sind schon weit über den Rhein. Sie kommen. Sie werden uns befreien. Bald.«
Das Abendlicht wechselte plötzlich. Die Sonne hatte den Bergrand erreicht. Die Stadt fiel in blaues Dunkel. Die Fenster erloschen. Der Fluß wurde still. Alles wurde still.
Auch die Drossel schwieg. Nur der Himmel begann jetzt zu glühen. Die Wolken wurden zu perlmutternen Schiffen, breite Strahlen trafen sie wie Winde aus Licht, und sie segelten in das rote Tor des Abends. Voll fiel der letzte Glanz auf das weiße Haus auf der Anhöhe, und während die übrige Erde erlosch, schimmerte nur es noch und schien dadurch näher und weiter als je zuvor.
Sie sahen den Vogel erst, als er dicht heran war. Sie sahen einen kleinen schwarzen Ball mit Flügeln. Sie sahen ihn vor dem mächtigen Himmel, er flog hoch und kam dann plötzlich herunter, sie sahen ihn, und sie wollten beide etwas tun und taten es nicht; einen Augenblick, gerade bevor er sich dem Boden näherte, war die ganze Silhouette da, der kleine Kopf mit dem gelben Schnabel, die ausgebreiteten Flügel und die runde Brust mit den Melodien, und dann kam das leichte Krackeln und der Funke aus dem elektrisch geladenen Verhau, sehr klein und blaß und tödlich vor dem Sonnenuntergang, und es war nichts mehr da als ein verkohlter Rest mit einem herabhängenden kleinen Fuß auf dem untersten Draht und einem Fetzen Flügel, der den Boden gestreift und den Tod herangeweht hatte.
»Das war die Drossel, Josef -«
Bucher sah das Entsetzen in Ruth Hollands Augen. »Nein, Ruth«, sagte er rasch. »Das war ein anderer Vogel. Es war keine Drossel. Und wenn es eine war, dann war es nicht die, die gesungen hat – bestimmt nicht, Ruth -, nicht »Du meinst wohl, ich hätte dich vergessen, was?« fragte Handke.
»Nein.«
»Es war zu spät gestern. Aber wir haben ja Zeit. Zeit genug, dich zu melden. Morgen zum Beispiel, den ganzen Tag.«
Er stand vor 509. »Du Millionär! Du Schweizer Millionär! Sie werden dir dein Geld schon Franken für Franken aus den Nieren prügeln.«
»Das Geld braucht mir keiner herauszuprügeln«, sagte 509. »Es ist einfacher zu haben.
Ich unterschreibe einen Zettel, und es gehört mir nicht mehr.« Er sah Handke fest an.
»Zweitausendfünfhundert Franken. Viel Geld.«
»Fünftausend«, erwiderte Handke. »Für die Gestapo. Glaubst du, die teilt?«
»Nein. Fünftausend für die Gestapo«, bestätigte 509.
»Und den Prügelbock und das Kreuz und den Bunker und Breuer mit seinen Methoden für dich und dann den Galgen.« »Das weiß man noch nicht.«
Handke lachte. »Was sonst? Vielleicht ein Anerkennungsschreiben? Für verbotenes Geld?«
»Das auch nicht.« 509 sah Handke immer noch an. Er war überrascht darüber, daß er nicht mehr Angst hatte, obschon er wußte, daß Handke ihn in der Hand hatte; aber stärker als alles spürte er plötzlich etwas anderes: Haß. Nicht den trüben, blinden, kleinen des Lagers, den alltäglichen Groschenhaß der Not einer verhungernden Kreatur gegen eine andere, irgendeines Vorteils oder Nachteils wegen – nein, er spürte einen kalten, klaren intelligenten Haß, und er spürte ihn so sehr, daß er die Augen niederschlug, weil er glaubte, Handke müsse ihn erkennen.
»So? Was dann vielleicht, du weiser Affe?« 509 roch den Atem Handkes. Auch das war neu; der Gestank des Kleinen Lagers hatte früher fast keinen individuellen Geruch zugelassen. 509 wußte auch, daß er Handke nicht roch, weil sein Geruch stärker war als der Verwesungsgestank ringsum; er roch ihn, weil er Handke haßte. »Bist du stumm geworden vor Angst?« Handke stieß 509 gegen das Schienbein. 509 zuckte nicht zurück. »Ich glaube nicht, daß ich gefoltert werde«, sagte er ruhig und sah Handke wieder an. »Es würde nicht zweckmäßig sein. Ich könnte der SS unter den Händen wegsterben. Ich bin sehr schwach und halte fast nichts mehr aus. Das ist ein Vorteil im Augenblick. Die Gestapo wird lieber mit alldem warten, bis das Geld in ihren Händen ist. Solange braucht sie mich. Ich bin nämlich der einzige, der darüber verfügen kann. In der Schweiz hat die Gestapo keine Macht. Bis sie das Geld hat, bin ich sicher. Und das dauert eine ziemliche Zeit. Bis dahin kann vieles passieren.« Handke dachte nach. 509 sah im Halbdunkel, wie es in seinem flachen Gesicht arbeitete. Er sah das Gesicht genau. Ihm war, als seien hinter seinen Augen Scheinwerfer angebracht, die es bestrahlten. Das Gesicht selbst blieb gleich; aber jede Einzelheit darin schien größer zu werden. »So, das hast du dir alles ausgedacht, was?« stieß der Blockälteste schließlich hervor. »Ich habe mir nichts ausgedacht. Es ist so.« »Und was ist mit Weber? Der wollte dich ja auch sprechen! Der wird nicht warten.« »Doch«, erwiderte 509 ruhig. »Herr Sturmführer Weber wird warten müssen. Die Gestapo wird dafür sorgen. Es ist wichtiger für sie, Schweizer Franken zu bekommen.« Die hervorstehenden, blaßblauen Augen Handkes schienen sich zu drehen. Der Mund kaute. »Du bist mächtig schlau geworden«, sagte er schließlich. »Früher konntest du kaum scheißen! Ihr seid hier alle in der letzten Zeit munter wie die Böcke geworden, ihr Stinker! Wird euch schon versalzen werden, wartet nur! Euch jagen sie alle noch durch den Schornstein!« Er tippte 509 mit einem Finger vor die Brust. »Wo sind die zwanzig Eier?« fauchte er dann. 509 zog den Schein aus der Tasche. Er hatte eine Sekunde den Wunsch gespürt, es nicht zu tun, aber sofort gewußt, daß das Selbstmord gewesen wäre. Handke riß ihm das Geld aus der Hand. »Einen Tag lang kannst du weiter» scheißen dafür«, erklärte er und puffte sich auf. »Einen Tag lasse ich dich dafür länger leben, du Wurm! Einen Tag, bis morgen.« »Einen Tag«, sagte 509. Lewinsky überlegte. »Ich glaube nicht, daß er es tun wird«, sagte er dann. »Was kann er schon dabei für sich herausholen?« 509 hob die Schultern. »Nichts. Er ist nur unberechenbar, wenn er etwas zu trinken erwischt hat. Oder wenn er seinen Koller hat.« »Man muß ihn aus dem Wege schaffen.« Lewinsky dachte wieder nach. »Im Augenblick können wir nicht viel gegen ihn unternehmen. Es ist dicke Luft. Die SS kämmt die Listen durch nach Namen. Wir lassen im Lazarett verschwinden, wen wir können. Bald müssen wir euch auch ein paar Leute rüberschmuggeln. Das ist doch in Ordnung, wie?« »Ja. Wenn ihr das Essen für sie liefert.« »Das ist selbstverständlich. Aber da ist noch etwas. Wir müssen jetzt mit Razzien und Kontrollen bei uns rechnen. Könnt ihr ein paar Sachen verstecken, so daß man sie nicht findet?« »Wie groß?« »So groß -« Lewinsky sah sich um. Sie hockten hinter der Baracke im Dun« kein. Nichts war zu sehen als die stolpernde Reihe der Muselmänner auf dem Weg zur Latrine. »So groß, wie zum Beispiel ein Revolver -« 509 atmete scharf ein. »Ein Revolver?« »Ja.« 509 schwieg einen Augenblick. »Unter meinem Bett ist ein Loch im Boden«, sagte er dann leise und rasch. »Die Latten daneben sind lose. Man kann mehr als einen Revolver da unterbringen. Leicht. Hier wird nicht kontrolliert.« Er merkte nicht, daß er sprach wie jemand, der einen anderen überreden will; nicht wie jemand, der zu einem Risiko überredet werden soll. »Hast du ihn bei dir?« fragte er.
»Ja.« »Gib ihn her.« Lewinsky sah sich noch einmal um. »Du weißt, was das bedeutet?« »Jaja«, erwiderte 509 ungeduldig. »Es war schwer, ihn zu kriegen. Wir haben viel riskieren müssen.« »Ja, Lewinsky. Ich passe schon auf. Gib ihn nur her.« Lewinsky griff in seinen Kittel und schob die Waffe in die Hand von 509. 509 fühlte sie. Sie war schwerer, als er erwartet hatte. »Was ist das darum?« fragte er. »Ein Lappen mit etwas Fett. Ist das Loch unter deinem Bett trocken?« »Ja«, sagte 509. Es stimmte nicht; aber er wollte die Waffe nicht zurückgeben. »Ist Munition dabei?« fragte er. »Ja. Nicht viel; ein paar Patronen. Er ist außerdem geladen.« 509 steckte den Revolver unter sein Hemd und knöpfte den Kittel darüber zu. Er fühlte ihn in der Nähe seines Herzens und spürte einen raschen Schauder über seine Haut laufen. »Ich gehe jetzt«, sagte Lewinsky. »Paß scharf auf ihn auf. Versteck ihn gleich.« Er sprach von der Waffe wie von einem wichtigen Menschen. »Das nächstemal, wenn ich komme, kommt jemand von uns mit. Habt ihr tatsächlich Platz?« Er blickte über den Appellplatz, auf dem im Dunkeln dunklere Gestalten lagen. »Wir haben Platz«, erwiderte 509. »Für eure Leute haben wir immer Platz.« »Gut. Wenn Handke wiederkommt, gib ihm noch etwas Geld. Habt ihr was?« »Ich habe noch was. Für einen Tag.« »Ich will sehen, daß wir etwas zusammenkriegen. Werde es Lebenthal geben. Ist das in Ordnung?« »Ja.« Lewinsky verschwand im Schatten der nächsten Baracke. Von dort stolperte er, wie ein Muselmann vornüber gebeugt, der Latrine zu. 509 blieb noch eine Zeitlang sitzen. Er lehnte den Rücken fest gegen die Barackenwand. Mit der rechten Hand preßte er den Revolver gegen seinen Körper. Er widerstand der Versuchung, ihn herauszunehmen, den Lappen aufzuwickeln und das Metall anzufassen; er hielt ihn nur fest. Er fühlte die Linien des Laufes und des Handgriffes, und er fühlte sie, als ginge von ihnen eine schwere, dunkle Kraft aus. Es war das erstemal in vielen Jahren, daß er etwas an sich gepreßt hielt, mit dem er sich verteidigen konnte. Er war plötzlich nicht mehr völlig hilflos. Er war nicht mehr vollkommen ausgeliefert. Er wußte, daß es eine Illusion war und daß er die Waffe nicht gebrauchen durfte; aber es genügte, daß er sie bei sich hatte. Es genügte, um etwas in ihm zu verändern. Das schmale Werkzeug des Todes war wie ein Dynamo des Lebens. Es strömte Widerstand in ihn über. Er dachte an Handke. Er dachte an den Haß, den er gegen ihn gespürt hatte. Handke hatte das Geld bekommen; aber er war schwächer gewesen als 509. Er dachte an Rosen; er hatte ihn retten können. Dann dachte er an Weber. Er dachte lange an ihn und an die erste Zeit im Lager. Er hatte das seit Jahren nicht getan. Er hatte alle Erinnerungen in sich verbannt; auch die an die Zeit vor dem Lager. Sogar seinen Namen hatte er nicht mehr hören wollen. Er war kein Mensch mehr gewesen, und er hatte es nicht mehr sein wollen; es hätte ihn zerbrochen. Er war eine Nummer geworden und hatte sich nur noch als Nummer genannt und nennen lassen. Schweigend saß er in der Nacht und atmete und hielt die Waffe fest und fühlte, wie vieles sich in den letzten Wochen verändert hatte. Die Erinnerungen kamen plötzlich wieder, und ihm war, als äße und tränke er gleichzeitig etwas, das er nicht sehen konnte und das wie eine starke Medizin war. Er hörte, wie die Wachen abgelöst wurden. Vorsichtig stand er auf. Er taumelte einige Sekunden, als habe er Wein getrunken. Dann ging er langsam um die Baracke herum. Neben der Tür hockte jemand. »509!« flüsterte er. Es war Rosen.
509 schrak auf, als erwache er aus einem endlosen, schweren Traum. Er blickte hinunter. »Ich heiße Koller«, sagte er abwesend. »Friedrich Koller.« »Ja?« erwiderte Rosen verständnislos.