XXV

Der Garten lag in silbrigem Licht. Veilchen dufteten. Die Obstbäume an der Südwand standen, als seien sie überflogen von rosa und weißen Schmetterlingen.

Alfred ging voran. Drei Mann folgten. Sie gingen leise. Alfred deutete auf den Stall.

Die drei Amerikaner verteilten sich lautlos.

Alfred stieß die Tür auf. »Neubauer«, sagte er. »Kommen Sie 'raus!«

Ein Grunzen antwortete aus der warmen Dunkelheit. »Was? Wer ist da?«

»Kommen Sie 'raus.«

»Was? Alfred – ist das Alfred?«

»Ja.«

Neubauer grunzte wieder. »Verdammt! Schwer gepennt! Geträumt.« Er räusperte sich.

»Blödsinn geträumt. Sagtest du 'raus zu mir?«

Einer der Soldaten war geräuschlos neben Alfred getreten. Eine Taschenlampe blitzte auf. »Hände hoch! Kommen Sie heraus!«

Im fahlen Kreis des Lichtes sah man ein Feldbett, auf dem Neubauer halb ausgezogen saß. Er glotzte, aus puffigen Augen zwinkernd, in den scharfen Kreis. »Was?« sagte er verquollen. »Was ist das? Wer sind Sie?«

»Hände hoch!« sagte der Amerikaner. »Sie heißen Neubauer?«

Neubauer hob halb die Hände und nickte.

»Kommandant des Konzentrationslagers Meilern?«

Neubauer nickte wieder.

»Kommen Sie 'raus!«

Neubauer sah die dunkle Mündung der automatischen Pistole auf sich gerichtet. Er stand auf und hob die Hände so rasch hoch, daß die Finger gegen die niedrige Decke des Schuppens stießen.

»Ich bin nicht angezogen.«

»'raus!«

Neubauer kam zögernd heran. Er war in Hemd; Hose und Stiefeln. Grau und verschlafen stand er da. Einer der Soldaten tastete ihn rasch ab.

Neubauer sah Alfred an. »Du hast sie hierher geführt?«

»Ja.«

»Judas!«

»Sie sind kein Christus, Neubauer«, erwiderte Alfred langsam. »Und ich bin kein Nazi.«

Der Amerikaner, der im Schuppen gewesen war, kam zurück. Er schüttelte den Kopf.

»Vorwärts«, sagte der, der deutsch sprach. Er war ein Korporal.

»Kann ich meinen Rock anziehen?« fragte Neubauer. »Er hängt im Schuppen. Hinter dem Kaninchenstall.«

Der Korporal zögerte einen Augenblick. Dann ging er und kam mit einer l Ziviljacke wieder.

»Nicht die, bitte«, erklärte Neubauer. »Ich bin Soldat. Meine Uniformjacke, bitte.«

»Sie sind kein Soldat.«

Neubauer blinkte. »Es ist meine Parteiuniform.«


Der Korporal ging zurück und brachte die Uniformjacke. Er tastete sie ab und gab sie Neubauer.

Der zog sie an, knöpfte sie zu, reckte sich und sagte:»Obersturmbannführer Neubauer. Stelle mich zur Verfügung.«

»Gut, gut. Vorwärts.«

Sie gingen durch den Garten. Neubauer merkte, daß er die Jacke falsch zugeknöpft hatte. Er öffnete sie noch einmal und brachte die Knöpfe in Ordnung. Alles war schiefgegangen im letzten Augenblick. Weber, der Verräter, hatte ihm mit seiner Brandstiftung eins auswischen wollen. Er hatte eigenmächtig gehandelt, das ließ sich leicht beweisen. Neubauer war abends nicht mehr im Lager gewesen. Er hatte es über das Telefon erfahren. Immerhin, eine verflucht bittere Geschichte, gerade jetzt. Und dann Alfred, der zweite Verräter. Er war einfach nicht gekommen. Neubauer hatte ohne Auto dagestanden, als er im Auto fliehen wollte. Die Truppen waren schon fort – in die Wälder konnte er nicht laufen -, da hatte er sich im Garten versteckt. Hatte gedacht, da würden sie ihn nie suchen. Er hatte sich noch rasch die Hitler-Schnurrbartbürste abrasiert. Alfred, der Lump!

»Setzen Sie sich hierher«, sagte der Korporal und zeigte auf einen Sitz.

Neubauer kletterte in den Wagen. Das ist wahrscheinlich das, was sie ein Jeep nennen, dachte er.

Die Leute waren nicht unfreundlich. Korrekt, eher. Der eine war vielleicht ein Deutschamerikaner.

Man hatte da von deutschen Brüdern im Auslande gehört. Der Bund, oder so ähnlich.

»Sie sprechen gut Deutsch«, sagte er vorsichtig.

»Natürlich«, erwiderte der Korporal kalt. »Ich bin aus Frankfurt.«

»Oh -«, erwiderte Neubauer. Es schien wirklich ein verdammt schlechter Tag zu sein.

Die Kaninchen waren auch gestohlen worden. Als er in den Stall gekommen war, hatten die Käfigtüren offengestanden. Es war ein böses Zeichen gewesen. Sie brutzelten wahrscheinlich jetzt schon über dem Feuer irgendeines Rohlings.

Das Lagertor stand weit offen. Roh zurechtgemachte Flaggen hingen vor den Baracken. Der große Lautsprecher brachte Bekanntmachungen. Einer der Lastwagen mit Kannen voll Milch war zurückgekehrt.

Der Wagen mit Neubauer hielt vor der Kommandantur. Ein amerikanischer Oberst stand dort mit einigen Offizieren und erteilte Weisungen. Neubauer stieg aus, zupfte seinen Rock zurecht und trat vor. »Obersturmbannführer Neubauer. Stelle mich hiermit zur Verfügung.« Er grüßte militärisch; nicht mit dem Hitlergruß.

Der Oberst sah auf den Korporal. Der Korporal übersetzte. »Is this the son of a bitch?« fragte der Oberst.

»Yes, Sir.«

»Put him to work over there. Shoot him, if he makes a false move.«

Neubauer hatte angestrengt zugehört. »Los«, sagte der Korporal. »Arbeiten. Tote fortbringen.«

Neubauer hatte immer noch auf etwas anderes gehofft. »Ich bin Offizier«, stammelte er. »Im Rang eines Obersten.«

»Um so schlimmer.«

»Ich habe Zeugen! Ich war menschlich! Fragen Sie die Leute!«

»Ich glaube, wir werden ein paar Mann brauchen, damit Ihre Leute Sie nicht in Stücke reißen«, erwiderte der Korporal. »Mir wäre es recht. Los, vorwärts!«

Neubauer warf noch einen Blick auf den Obersten. Der beachtete ihn schon nicht mehr. Er wandte sich um. Zwei Mann gingen neben ihm; der dritte hinter ihm.

Nach ein paar Schritten war er erkannt. Die drei Amerikaner rückten ihre Schultern zurecht. Sie erwarteten den Sturm und schlössen sich eng um Neubauer. Neubauer begann zu schwitzen. Er starrte gerade vor sich hin und ging, als wollte er gleichzeitig schneller und langsamer gehen.

Aber es geschah nichts. Die Gefangenen blieben stehen und sahen Neubauer an. Sie stürzten nicht auf ihn zu; sie machten eine Gasse für ihn. Keiner kam heran. Keiner sagte etwas. Keiner schrie ihn an. Niemand warf einen Stein nach ihm. Kein Knüppel fiel auf ihn. Sie sahen ihn nur an. Sie bildeten eine Gasse und sahen ihn an, den ganzen, langen Weg bis zum Kleinen Lager. Neubauer hatte anfangs aufgeatmet; dann begann er stärker zu schwitzen. Er murmelte etwas. Er sah nicht auf; aber er fühlte die Augen auf sich. Er spürte sie auf sich wie unzählige Gucklöcher in einer riesigen Gefängnistür – als sei er bereits eingesperrt, und alle Augen beobachteten ihn kalt und aufmerksam. Ihm wurde heißer und heißer. Er ging schneller. Die Augen blieben auf ihm. Sie wurden stärker. Er spürte sie auf seiner Haut. Sie waren Blutegel, die Blut saugten. Er schüttelte sich. Aber er konnte sie nicht abschütteln. Sie kamen durch seine Haut. Sie hingen an seinen Adern. »Ich habe -«, murmelte er. »Pflicht – ich habe nichts – ich war – immer – was wollen die bloß -?« Er war naß, als sie an den Platz kamen, wo Baracke 22 gestanden hatte. Sechs SS-Leute, die eingefangen waren, arbeiteten dort mit einigen Kapos. Amerikanische Soldaten standen mit Tommyguns in der Nähe. Neubauer blieb mit einem Ruck stehen. Er sah eine Anzahl schwarzer Skelette vor sich auf dem Boden. »Was – ist denn das -?« »Stellen Sie sich nicht so dumm«, erwiderte der Korporal grimmig. »Das ist die Baracke, die ihr angezündet habt. Da müssen noch mindestens dreißig Tote drin liegen. Vorwärts, Knochen heraussuchen!« »Das – habe ich nicht befohlen -« »Natürlich nicht.« »Ich war nicht hier – davon weiß ich nichts. Das haben andere eigenmächtig getan -« »Natürlich. Immer andere. Und die, die hier in all den Jahren verreckt sind? Das waren Sie auch nicht, was?« »Das war Befehl. Pflicht -« Der Korporal wendete sich an einen Mann, der neben ihm stand. »Das werden in den nächsten Jahren zwei häufige Worte hier sein: Ich habe auf Befehl gehandelt, und: Ich habe nichts davon gewußt.« Neubauer hörte ihn nicht. »Ich habe immer versucht, das Beste zu tun -« »Das«, sagte der Korporal bitter,»wird das dritte sein! Los!« schrie er plötzlich. »Fassen Sie an! Holen Sie die Toten heraus! Glauben Sie, es ist einfach, Sie nicht zu Brei zu schlagen?« Neubauer bückte sich und begann unsicher in den Trümmern zu wühlen. Man brachte sie in Karren, auf rohen Bahren, gestützt von Kameraden, sich gegenseitig stützend man lagerte sie in den Korridoren der SS-Kaserne, nahm ihnen die verlausten Fetzen ab, mit denen sie noch bekleidet waren, und verbrannte die Lumpen – dann brachte man sie in die Baderäume der SS. Viele begriffen nicht, was man mit ihnen tun wollte; sie saßen und lagen stumpf in den Gängen. Erst als der Dampf aus den geöffneten Türen drang, wurden manche lebendig. Sie begannen zu krächzen und angstvoll zurückzukriechen. »Baden! Baden!« schrieen ihre Gefährten. »Ihr sollt gebadet werden.« Es nützte nichts. Die Skelette verklammerten sich ineinander und wimmerten und schoben sich wie Krabben dem Ausgang zu. Es waren die, die Baden und Dampf nur kannten als Worte für Gaskammern. Man zeigte ihnen Seife und Handtücher; es half nichts. Sie hatten auch das schon gesehen. Man hatte es benützt, um Gefangene leichter in die Gaskammern zu bekommen; mit einem Stück Seife und einem Handtuch in den Händen waren sie verröchelt. Erst als man den ersten Schub gereinigter Insassen an ihnen vorübertrug und diese ihnen mit Nicken und Worten bestätigten, daß es heißes Wasser und Baden sei und kein Gas, beruhigten sie sich.

Der Dampf wirbelte von den gekachelten Wänden. Das warme Wasser war wie warme Hände. Die Gefangenen lagen darin, und die dünnen Arme mit den dicken Gelenken hoben sich und patschten darin herum. Der verkrustete Dreck weichte auf. Die Seife glitt über die verhungerte Haut und löste den Schmutz, und die Wärme drang tiefer als bis in die Knochen. Warmes Wasser -sie hatten vergessen, was das hieß. Sie lagen und fühlten es, und es war für viele zum ersten Maleder Begriff von Freiheit und Erlösung.

Bucher saß neben Lebenthal und Berger. Die Wärme durchflutete sie. Es war ein animalisches Glück. Das Glück der Wiedergeburt, es war das Leben, das aus Wärme geboren war und dem erfrorenen Blut und den verschmachteten Zellen zurückgegeben wurde. Es war pflanzenhaft; eine Wassersonne, die totgeglaubte Keime streichelte und weckte. Mit den Schmutzkrusten der Haut lösten sich Schmutzkrusten der Seele. Sie fühlten Geborgenheit. Geborgenheit im einfachsten: in Wärme. Wie Höhlenmenschen vor dem ersten Feuer.

Man gab ihnen Handtücher. Sie rieben sich trocken und betrachteten mit Staunen ihre Haut. Sie war noch immer fahl und fleckig vom Hunger, aber ihnen erschien sie blütenweiß.

Man gab ihnen saubere Sachen aus dem Depot. Sie fühlten sie an und betrachteten sie, bevor sie sie anzogen. Dann führte man sie in einen anderen Raum. Das Baden hatte sie belebt und gleichzeitig sehr müde gemacht. Sie gingen schläfrig und bereit, an weitere Wunder zu glauben.

Der Raum mit den Betten überraschte sie kaum. Sie sahen auf die Reihen und wollten weitergehen.

»Hier«, sagte der Amerikaner, der sie führte.

Sie starrten ihn an. »Für uns?«

»Ja. Zum Schlafen.«

»Für wie viele?«

Lebenthal zeigte auf das nächste Bett, dann auf sich und Bucher und fragte:»Zwei?«

Dann zeigte er auf Berger und hob drei Finger. »Oder drei?«

Der Amerikaner grinste. Er nahm Lebenthal und schob ihn mit sanfter Gewalt auf das erste Bett; dann Bucher auf das zweite; Berger auf das nächste und Sulzbacher daneben. »So«, sagte er.

»Jeder ein Bett!«

»Mit einer Decke!«

»Ich gebe auf«, erklärte Lebenthal. »Kissen gibt es auch.«


Sie hatten einen Sarg bekommen. Es war eine leichte, schwarze Kiste von normaler Größe; aber sie war zu breit für 509. Man hätte leicht noch jemand dazulegen können. Es war das erstemal in langer Zeit, daß er so viel Platz für sich allein hatte. Man hatte ihm da, wo die Baracke 22 gestanden hatte, ein Grab geschaufelt. Sie fanden, das sei der richtige Platz für ihn. Es war Abend, als sie ihn hinbrachten. Die Mondsichel hing am dunstigen Himmel. Leute aus dem Arbeitslager halfen ihnen, den Sarg hinabzulassen. Sie hatten eine kleine Schaufel. Jeder trat heran und warf etwas Erde hinunter. Ahasver trat zu nahe heran und rutschte hinab. Sie holten ihn wieder herauf. Andere Häftlinge halfen ihnen, das Grab zuzuschaufeln. Sie gingen zurück. Rosen trug die Schaufel, um sie wieder abzugeben. Sie kamen an Baracke 20 vorbei. Ein Toter wurde dort herausgebracht. Zwei SS-Leute trugen ihn durch die Tür. Rosen blieb vor ihnen stehen. Sie wollten um ihn herumgehen. Der Vordere war Niemann, der Abspritzer. Die Amerikaner hatten ihn hinter der Stadt gefangen und zurückgebracht. Er war der Scharführer, vor dem 509 Rosen gerettet hatte. Rosen trat etwas zurück, hob die Schaufel und schlug sie Niemann ins Gesicht. Er hob sie noch einmal, aber der wachhabende amerikanische Soldat war herangekommen und nahm ihm die Schaufel sanft aus den bebenden Händen. »Come, come – we'll take care of that later.«

Rosen zitterte. Niemann hatte nicht viel abbekommen; nur eine Hautabschürfung im Gesicht.

Berger nahm Rosen am Arm. »Komm. Du bist zu schwach dafür.«

Rosen brach in Tränen aus. Sulzbacher nahm seinen anderen Arm. »Sie werden ihn verurteilen, Rosen. Für alles.«

»Totschlagen! Totgeschlagen müssen sie werden! Sonst hilft alles nichts! Sonst kommen sie immer wieder!«

Sie zogen ihn fort. Der Amerikaner gab Bucher die Schaufel zurück. Sie gingen weiter.

»Komisch«, sagte Lebenthal nach einer Weile. »Und du warst immer der, der keine Rache wollte – «

»Laß ihn, Leo.«

»Ich lasse ihn ja.«


Jeden Tag verließen Gefangene das Lager. Die ausländischen Sklavenarbeiter, die gesund waren und gehen konnten, wurden in Gruppen abtransportiert. Ein Teil der Polen blieb zurück. Sie wollten nicht in die russische Zone. Fast alle vom Kleinen Lager waren zu schwach; sie mußten noch eine Zeitlang verpflegt werden. Und viele wußten nicht, wohin sie sollten. Ihre Angehörigen waren zerstreut und getötet; ihr Besitztum gestohlen; ihre Heimatgegend verwüstet. Sie waren frei; aber sie konnten nichts damit anfangen. Sie blieben im Lager. Sie hatten kein Geld. Sie halfen die Baracken reinigen. Sie bekamen Betten und Essen; sie warteten; sie formten sich zu Gruppen.

Sie waren die, die wußten, daß nichts sie irgendwo mehr erwartete. Dann gab es andere, die es noch nicht glaubten. Sie gingen auf die Suche. Täglich sah man sie den Berg hinunterwandern, einen Ausweis der Zivilverwaltung und der Militärbehörde des Lagers in den Händen, um Eßkarten darauf zu bekommen und ein paar Ungewisse Daten im Herzen.

Es war vieles anders gekommen. Die Aussicht auf Befreiung war etwas so Ungeheures gewesen, daß die meisten nicht darüber hinausgedacht hatten. Jetzt war sie plötzlich da, und dahinter war auf einmal nicht ein Garten Eden mit Wundern, Wiederfinden, Wiedervereinigung und einem zauberhaften Zurückrücken der Jahre in eine Zeit, die ohne Elend war – sie war da, und hinter ihr dehnte sich der Schutt der Einsamkeit, der traurigen Erinnerungen, der Verlorenheit, und vor ihr war eine Wüste und etwas Hoffnung. Sie zogen den Berg hinunter, und die Namen von ein paar Orten, ein paar Menschen, von einigen anderen Lagern, und ein blasses Vielleicht waren alles, auf das sie hofften. Sie hofften, vielleicht einen oder zwei wiederzufinden – alle, das wagte fast keiner.

»Es ist besser, wegzugehen, sobald man kann«, sagte Sulzbacher. »Es wird sich nichts ändern, und je länger man bleibt, um so schwieriger wird es. Ehe wir uns versehen, sitzen wir in einem neuen Lager – für Leute, die nicht wissen, wohin sie sollen.«

»Glaubst du, daß du es aushaken kannst?«

»Ich habe zehn Pfund zugenommen.«

»Das ist nicht genug.«

»Ich werde mich nicht anstrengen.«

»Wohin willst du?« fragte Lebenthal.

»Nach Düsseldorf. Meine Frau suchen -«

»Wie willst du nach Düsseldorf kommen? Gibt es dahin Züge?«

Sulzbacher hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber es sind noch zwei hier, die wollen in dieselbe Gegend. Nach Solingen und Duisburg. Wir können zusammenbleiben.«

»Sind es alte Bekannte von dir?«

»Nein. Aber es ist doch schon allerhand, wenn man nicht allein ist.«

»Ja, das ist richtig.«

»Das meine ich auch.«


Er schüttelte den anderen die Hände. »Hast du zu essen?« fragte Lebenthal.

»Für zwei Tage. Wir können uns unterwegs bei den amerikanischen Behörden melden. Irgendwie wird es schon klappen.«

Er wanderte mit den beiden, die nach Solingen und Duisburg wollten, den Berg hinab.

Einmal winkte er noch; dann nicht mehr.

»Er hat recht«, sagte Lebenthal. »Ich gehe auch. Heute abend bleibe ich schon in der Stadt. Ich muß mit jemand sprechen, der mein Partner werden will. Wir wollen ein Geschäft aufmachen. Er hat das Kapital. Ich die Erfahrung.«

»Gut, Leo.«

Lebenthal holte ein Paket amerikanischer Zigaretten aus der Tasche und reichte es herum. »Das wird das große Geschäft«, erklärte er. »Amerikanische Zigaretten. So wie nach dem letzten Kriege. Man muß rechtzeitig einsteigen.«

Er betrachtete das bunte Päckchen. »Besser als alles Geld, das sage ich euch.«

Berger lächelte. »Leo«, sagte er. »Du bist in Ordnung.«

Lebenthal blickte ihn mißtrauisch an. »Ich habe nie behauptet, daß ich ein Idealist bin.«

»Sei nicht beleidigt. Ich meine es ohne Hintergedanken. Du hast uns oft genug über Wasser gehalten.«

Lebenthal lächelte geschmeichelt. »Man tut, was man kann. Immer gut, einen praktischen Geschäftsmann zwischen sich zu haben. Wenn ich irgendwas für euch tun kann – wie ist es mit dir, Bucher? Willst du hierbleiben?«

»Nein. Ich warte darauf, daß Ruth etwas kräftiger wird.«

»Gut.« Lebenthal zog eine amerikanische Füllfeder aus der Tasche und schrieb etwas auf. »Hier ist meine Adresse in der Stadt. Im Falle -«

»Woher hast du den Füllfederhalter?« fragte Berger.

»Getauscht. Die Amerikaner sind verrückt nach Andenken aus dem Lager.«

»Was?«

»Sie sammeln. Andenken. Alles. Pistolen, Dolche, Abzeichen, Peitschen, Flaggen – es ist ein gutes Geschäft. Ich habe gründlich vorgesorgt. Mich eingedeckt.«

»Leo«, sagte Berger. »Es ist gut, daß es dich gibt.« Lebenthal nickte ohne Erstaunen.

»Bleibst du vorläufig hier?« »Ja, ich bleibe hier.«

»Dann sehe ich dich noch ab und zu. Ich schlafe in der Stadt, werde aber zum Essen hier heraufkommen.« »Das dachte ich mir,« »Klar. Hast du Zigaretten genug?«

»Nein.« »Hier.« Lebenthal zog zwei ungeöffnete Päckchen aus den Taschen und gab je eines an Berger und Bucher.

»Was hast du noch?« fragte Bucher.

»Konserven.« Lebenthal sah nach seiner Uhr. »Ich muß los -«

Er holte unter seinem Bett einen neuen amerikanischen Regenmantel hervor und zog ihn an. Keiner sagte mehr etwas dazu. Hätte er ein Auto draußen gehabt, hätte es die anderen auch nicht gewundert. »Verliert die Adresse nicht«, sagte er zu Bucher.

»Wäre schade, wenn wir uns nicht wiedersehen würden.«

»Wir werden sie nicht verlieren,«


»Wir gehen zusammen«, sagte Ahasver. »Karel und ich.« Sie standen vor Berger.

»Bleibt noch ein paar Wochen hier«, sagte der. »Ihr seid noch nicht kräftig genug.«

»Wir wollen weg.« »Wißt ihr, wohin?« »Nein.«

»Warum wollt ihr dann fort?«

Ahasver machte eine unbestimmte Gebärde. »Wir waren lange genug hier.«


Er trug einen altmodischen, grauschwarzen Havelock, einen Mantel mit einer Art Kutscherkragen, der bis zum Ellbogen reichte. Lebenthal, der bereits im Geschäft war, hatte ihn für ihn besorgt. Er stammte aus dem Nachlaß eines Gymnasialprofessors, der beim letzten Bombardement getötet worden war.

Karel war in eine Kombination von amerikanischen Uniformstücken gekleidet.

»Karel muß fort«, sagte Ahasver.

Bucher kam hinzu. Er musterte Karels Anzug. »Was ist mit dir los?« »Die Amerikaner haben ihn adoptiert. Das Regiment, das zuerst hier durch» kam. Sie haben einen Jeep geschickt, ihn zu holen.

Ich fahre ein Stück mit.« »Haben sie dich auch adoptiert?«

»Nein. Ich fahre nur das Stück mit.« »Und dann?«

»Dann?« Ahasver blickte zum Tal hinunter. Sein Mantel flatterte im Winde. »Da sind so viele Lager, wo ich Bekannte hatte -«

Berger blickte ihn an. Lebenthal hat ihn richtig angezogen, dachte er. Er sieht, wie ein Pilgrim aus.

Er wird von einem Lager zum anderen pilgern. Von einem Grabe zum anderen. Aber wer hatte als Gefangener schon den Luxus eines Grabes gehabt? Was wollte er dann suchen?

»Weißt du«, sagte Ahasver. »Manchmal trifft man Leute ganz unvermutet irgendwo auf der Straße.«

»Ja, Alter.«

Sie sahen den beiden nach.

»Sonderbar, daß wir alle so auseinandergehen«, sagte Bucher.

»Gehst du auch bald?«

»Ja. Wir sollten uns aber nicht einfach so verlieren.«

»Doch«, sagte Berger. »Doch.«

»Wir sollten uns wiedertreffen. Nach alldem hier. Irgendwann.«

»Nein.«

Bucher blickte auf. »Nein«, wiederholte Berger. »Wir sollen es nicht vergessen. Aber wir sollen auch keinen Kult daraus machen. Sonst bleiben wir immer im Schatten dieser verfluchten Türme.«


Das Kleine Lager war leer. Man hatte es gesäubert und die Bewohner im Arbeitslager und in den SS-Kasernen untergebracht. Man hatte Ströme von Wasser und Seife und desinfizierenden Mitteln gebraucht; aber der Geruch nach Tod und Schmutz und Elend hing immer noch darüber. In die Stacheldrahtzäune waren überall Durchgänge eingeschnitten worden.

»Glaubst du, daß du nicht müde werden wirst?« fragte Bucher Ruth.

»Nein.«

»Dann wollen wir gehen. Was ist heute für ein Tag?«

»Donnerstag.«

»Donnerstag. Gut, daß die Tage wieder Namen haben. Hier hatten sie nur Zahlen.

Sieben in einer Woche. Alle gleich.«

Sie hatten sich ihre Papiere von der Lagerverwaltung geben lassen. »Wohin wollen wir gehen?«

fragte Ruth.

»Dorthin.« Bucher zeigte auf den Hang, auf dem das weiße Haus stand. »Wir wollen zuerst dorthin gehen und es nahe ansehen. Es hat uns Glück gebracht.«

»Und dann?«

»Dann? Wir können hierher zurückkommen. Es gibt Essen hier.«

»Laß uns nicht zurückkommen. Nie mehr.«

Bucher sah Ruth überrascht an. »Gut. Warte. Ich hole unsere Sachen.«


Es war nicht viel; aber sie hatten Brot für einige Tage und zwei Büchsen kondensierter Milch dabei.

»Gehen wir wirklich?« fragte sie.

Er sah die Spannung in ihrem Gesicht. »Ja, Ruth«, sagte er.

Sie verabschiedeten sich von Berger und gingen zu der Tür, die in die Stacheldrahtumzäunung des Kleinen Lagers geschnitten war. Sie waren schon einige Male außerhalb des Lagers gewesen, wenn auch nie weit – aber es war jedesmal wieder die gleiche Erregung, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen. Unsichtbar schienen immer noch der elektrische Strom dazusein und die Maschinengewehre, die genau auf den kahlen Streifen Weg rundum eingestellt waren, ein Schauer durchlief sie beim ersten Schritt über die Drahteinfassung hinaus. Doch dann war endlos die Welt da.


Sie gingen langsam nebeneinander her. Es war ein weicher, verhangener Tag.

Sie hatten durch Jahre kriechen, rennen und schleichen müssen – jetzt gingen sie ruhig und aufrecht, und keine Katastrophe folgte. Niemand schoß hinter ihnen her. Niemand schrie. Niemand schlug auf sie ein.

»Es ist unbegreiflich«, sagte Bucher. »Jedesmal wieder.«

»Ja. Es macht einem fast Angst.«

»Sieh nicht zurück. Wolltest du dich umsehen?«

»Ja. Es sitzt einem noch im Nacken. Als ob jemand im Kopfe hockte und ihn herumdrehen wollte.«

»Laß uns einmal versuchen, es zu vergessen. Solange wir können.«

»Gut.«

Sie gingen weiter und überquerten einen Weg. Eine Wiese lag vor ihnen, grün und überweht vom Gelb der Primeln. Sie hatten sie oft vom Lager aus gesehen. Bucher dachte einen Augenblick an die armseligen, vertrockneten Primeln Neubauers neben Baracke 22. Er schüttelte es ab. »Komm, wir wollen da hindurchgehen.«

»Darf man das?«

»Ich glaube, wir dürfen vieles. Und wir wollen doch keine Angst mehr haben.«

Sie fühlten das Gras unter ihren Füßen und an ihren Schuhen. Auch das kannten sie nicht mehr. Sie kannten nur den harten Grund der Appellplätze. »Laß uns nach links gehen«, sagte Bucher.

Sie gingen nach links. Ein Haselnußbusch streifte sie. Sie gingen um ihn herum und bogen seine Zweige auseinander und fühlten seine Blätter und Knospen. Auch das war neu. »Komm, jetzt gehen wir nach rechts«, sagte Bucher.

Sie gingen nach rechts. Es schien kindisch, aber es gab ihnen eine tiefe Befriedigung.

Sie konnten tun, was sie wollten. Niemand befahl ihnen etwas. Niemand schrie und schoß. Sie waren frei. »Es ist wie ein Traum«, sagte Bucher. »Man hat nur Angst, daß man aufwacht und daß dann wieder die Baracke und der Ekel da ist.«

»Es ist eine andere Luft hier.« Ruth atmete tief. »Es ist lebendige Luft. Keine tote.«

Bucher sah sie aufmerksam an. Ihr Gesicht war etwas gerötet, und ihre Augen glänzten plötzlich.

»Ja, es ist lebendige Luft. Sie riecht. Sie stinkt nicht.«

Sie standen neben den Pappeln. »Wir können uns hierhersetzen«, sagte er. »Niemand wird uns aufjagen. Wir können sogar tanzen, wenn wir wollen.«

Sie setzten sich. Sie betrachteten die Käfer und Schmetterlinge. Im Lager hatte es nur Ratten gegeben und blauschimmernde Fliegen. Sie hörten das Murmeln des Baches neben den Pappeln.

Er war klar und floß schnell. Im Lager hatten sie immer zuwenig Wasser gehabt. Hier floß es und wurde nicht gebraucht. Man mußte sich an vieles neu gewöhnen.

Sie gingen weiter den Abhang hinab. Sie nahmen sich Zeit und ruhten oft aus. Dann kam eine Mulde, und als sie endlich zurückblickten, war das Lager verschwunden.


Sie saßen lange und schwiegen. Das Lager war nicht mehr da und auch nicht die zerstörte Stadt.

Sie sahen nur eine Wiese und darüber den weichen Himmel.

Sie fühlten den lauen Wind auf ihren Gesichtern, und es war, als wehe er durch die schwarzen Spinnweben der Vergangenheit und stieße sie mit weichen Händen fort. So muß es vielleicht anfangen, dachte Bucher. Ganz von vorn. Nicht mit Verbitterung und Erinnerungen und Haß. Mit dem Einfachsten. Mit dem Gefühl, daß man lebt. Nicht, daß man trotzdem noch lebt wie im Lager.

Einfach, daß man lebt. Er spürte, daß es kein Fortlaufen war. Er wußte, was 509 von ihm gewollt hatte: daß er einer von denen sein sollte, die durchkommen sollten, ungebrochen, um zu zeugen und zu kämpfen.

Aber er fühlte plötzlich auch, daß die Verantwortung, die die Toten ihm gegeben hatten, nur dann keine unerträgliche Bürde sein würde, wenn dieses klare, starke Gefühl des Lebens dazukommen würde und er es halten könnte. Es würde ihn tragen und ihm die doppelte Kraft geben: nicht zu vergessen und auch nicht an der Erinnerung zugrunde zu gehen – so wie Berger es gemeint hatte beim Abschied.

»Ruth«, sagte er nach einiger Zeit. »Wenn man so tief anfängt wie wir, dann muß doch eigentlich noch eine ganze Menge Glück vor einem liegen.«


Der Garten blühte; aber als sie an das weiße Haus herankamen, sahen sie, daß hinter ihm eine Bombe eingeschlagen war. Sie hatte den ganzen hinteren Teil zerstört; es war nur die Fassade, die unbeschädigt geblieben war. Sogar die geschnitzte Eingangstür war noch da. Sie öffneten sie; aber sie führte auf einen Schutthaufen.

»Es war nie ein Haus. All die Zeit.«

»Gut, daß wir nicht gewußt haben, daß es zerstört war.«

Sie sahen es an. Sie hatten geglaubt, solange es bestände, würden auch sie bestehen.

Sie hatten an eine Illusion geglaubt. An eine Ruine mit einer Fassade. Es lag Ironie darin und gleichzeitig ein sonderbarer Trost. Es hatte ihnen geholfen, und am Ende kam es nur darauf an.

Sie fanden keine Toten. Das Haus mußte verlassen gewesen sein, als es zerstört wurde.

Seitlich, unter Trümmern, entdeckten sie eine schmale Tür. Sie hing schief in den Angeln, und dahinter war eine Küche.

Der kleine Raum war nur zum Teil niedergebrochen. Der Herd war unbeschädigt, und sogar ein paar Pfannen und Töpfe standen da. Das Rohr des Herdes war leicht wieder zu befestigen und durch ein zerbrochenes Fenster zu führen. »Man kann ihn anzünden«, sagte Bucher. »Draußen ist genug Holz.«

Er suchte im Schutt umher. »Hier unten sind Matratzen. In ein paar Stunden kann man sie herausholen. Wir wollen gleich anfangen.«

»Es ist nicht unser Haus.«

»Es gehört niemand. Für einige Tage können wir schon hierbleiben. Für den Anfang.«


Abends hatten sie zwei Matratzen in der Küche. Sie hatten auch kalkverstäubte Decken gefunden und einen heilen Stuhl. In der Schublade des Tisches waren ein paar Gabeln, Löffel und ein Messer gewesen. Ein Feuer brannte im Herd. Der Rauch zog durch das Ofenrohr zum Fenster hinaus.

Bucher suchte draußen noch weiter in den Trümmern.

Ruth hatte ein Stück Spiegel gefunden und es heimlich in ihre Tasche gesteckt. Jetzt stand sie neben dem Fenster und blickte hinein. Sie hörte Buchers Rufe und antwortete; aber sie ließ ihre Augen nicht von dem, was sie sah. Das graue Haar; die eingesunkenen Augen; den bitteren Mund mit den großen Zahnlücken. Sie blickte lange und erbarmungslos hin. Dann warf sie den Spiegel ins Feuer.


Bucher kam herein. Er hatte noch ein Kissen gefunden. Der Himmel war inzwischen apfelgrün geworden, und der Abend war sehr still. Sie blickten durch das zerbrochene Fenster hinaus und wurden sich plötzlich bewußt, daß sie allein waren. Sie kannten es fast nicht mehr. Immer war das Lager mit seinen Menschenmengen dagewesen, die überfüllte Baracke, ja sogar die überfüllte Latrine. Es war gut gewesen, Kameraden zu haben; aber es hatte oft auch bedrückt, nie allein sein zu können. Es war wie eine Walze gewesen, die das Selbst flachgepreßt hatte zu einem Massenselbst. »Sonderbar, plötzlich allein zu sein, Ruth.« »Ja. Als wären wir die letzten Menschen.« »Nicht die letzten. Die ersten.« Sie legten eine der Matratzen so, daß sie durch die offene Tür hinaus» schauen konnten. Sie öffneten ein paar Büchsen und aßen; dann setzten sie sich nebeneinander in die Tür. Hinter dem Schutthaufen zu beiden Seiten schimmerte das letzte Licht.

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