Der neue Transport kam nachmittags. Ungefähr fünfzehnhundert Mann schleppten sich den Berg hinauf. Sie hatten weniger Invaliden bei sich, als zu erwarten war. Wer auf dem langen Weg liegengeblieben war, war immer gleich erschossen worden. Es dauerte lange, bis die Leute übernommen wurden. Die Begleit-SS, die sie ablieferte, versuchte ein paar Dutzend Tote mit hinein zu schwindeln, die sie vergessen hatte abzuschreiben. Doch die Lagerbürokratie war auf ihrer Hut; sie ließ sich jeden einzelnen Körper vorzeigen, tot oder lebendig, und nahm nur die an, die lebend das Eingangstor durchschritten. Dabei kam es zu einem Zwischenfall, der der SS viel Vergnügen bereitete. Während der Transport vor dem Tor stand, hatte noch eine Anzahl Leute schlappgemacht. Ihre Kameraden ersuchten sie mitzuschleppen, aber die SS kommandierte Laufschritt, und sie mußten einen Teil der Invaliden ihrem Schicksal überlassen. Etwa zwei Dutzend blieben liegen, verstreut über die letzten zweihundert Meter der Straße. Sie krächzten und keuchten und zirpten wie verwundete Vögel oder lagen einfach mit angstvoll aufgerissenen Augen da, zu schwach zum Schreien. Sie wußten, was sie erwartete, wenn sie zurückblieben; sie hatten Hunderte ihrer Kameraden an Genickschüssen während des Marsches sterben hören. Die SS bemerkte den Witz rasch. »Seht mal, wie die betteln, ins KZ zu kommen«, rief Steinbrenner. »Los! Los!« schrieen die SS-Leute, die den Transport abgeliefert hatten. Die Häftlinge versuchten zu kriechen. »Schildkrötenrennen!« jubelte Steinbrenner. »Ich setze auf den Kahlkopf in der Mitte.« Der Kahlkopf kroch mit weit ausgebreiteten Händen und Knien wie ein erschöpfter Frosch auf dem glänzenden Asphalt vorwärts. Er passierte einen anderen Häftling, der fortwährend in den Armen einknickte und sich mühsam wieder aufrichtete, aber kaum vorwärts kam. Alle Kriechenden hielten die Köpfe auf eine sonderbare Weise ausgestreckt – dem rettenden Tor zustrebend und gleichzeitig gespannt nach rückwärts horchend, ob Schüsse knallen würden. »Los, vorwärts, Kahlkopf!« Die SS bildete Spalier. Plötzlich krachten von hinten zwei Schüsse. Ein SS-Scharführer der Begleitmannschaft hatte sie abgegeben. Grinsend steckte er seinen Revolver wieder ein. Er hatte nur in die Luft geschossen. Die Häftlinge aber wurden durch die Schüsse von Todesangst gepackt. Sie glaubten, daß die zwei letzten von ihnen erschossen worden seien. In ihrer Aufregung kamen sie jetzt noch schlechter vorwärts als vorher. Einer blieb liegen; er streckte die Arme aus und faltete die Hände. Seine Lippen bebten, und auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. Ein zweiter legte sich still und ergeben nieder, das Gesicht in den Händen. Er bewegte sich nicht mehr. »Noch sechzig Sekunden!« schrie Steinbrenner. »Eine Minute! In einer Minute wird das Tor zum Paradies geschlossen. Wer dann nicht drin ist, muß draußen bleiben.« Er blickte auf seine Armbanduhr und bewegte das Tor, als wollte er es schließen. Ein Stöhnen der menschlichen Insekten antwortete. Der SS-Scharführer der Begleitmannschaft gab einen neuen Schuß ab. Das Krabbeln wurde verzweifelter. Nur der Mann mit dem Gesicht in den Händen rührte sich nicht. Er hatte abgeschlossen. »Hurra!« rief Steinbrenner. »Mein Kahlkopf hat es geschafft!« Er gab dem Mann einen ermunternden Tritt in den Hintern. Gleichzeitig waren einige andere durch das Tor gelangt, aber mehr als die Hälfte war noch draußen. »Noch dreißig Sekunden!« rief Steinbrenner im Ton eines Rundfunk-Zeitansagers.
Das Rascheln und Kratzen und Jammern verstärkte sich. Zwei Leute lagen hilflos auf der Straße, mit den Armen und Beinen rudernd, als wollten sie schwimmen. Sie hatten nicht mehr die Kraft, hochzukommen. Einer weinte in einem hohen Falsett.
»Piepst wie 'ne Maus«, erklärte Steinbrenner, der weiter auf seine Armbanduhr sah.
»Noch fünfzehn Sekunden!«
Ein neuer Schuß folgte. Dieses Mal war er nicht in die Luft gegangen. Der Mann, der das Gesicht in die Hände gelegt hatte, zuckte und schien sich dann zu strecken und tiefer in die Straße zu sinken. Das Blut bildete eine schwarze Lache um seinen Kopf – wie einen dunklen Heiligenschein.
Der betende Häftling neben ihm versuchte hochzuspringen. Er kam aber nur auf ein Knie und rutschte seitlich fort, so daß er auf den Rücken zu liegen kam. Er hatte die Augen krampfhaft geschlossen und bewegte die Arme und Beine, als wolle er immer noch fortlaufen und wisse nicht, daß er Luft trete wie ein strampelnder Säugling in der Wiege. Eine Lachsalve begleitete seine Anstrengungen.
»Wie willst du den nehmen, Robert?« fragte einer der SS-Leute den Scharführer, der den ersten erschossen hatte. »Von hinten durch die Brust oder durch die Nase?«
Robert ging langsam um den Strampelnden herum. Einen Augenblick blieb er nachdenklich hinter ihm stehen; dann schoß er ihn schräg von der Seite durch den Kopf. Der Strampler bäumte sich auf, schlug ein paarmal mit den Schuhen schwer auf die Straße und fiel zurück. Langsam zog er ein Bein etwas an, streckte es aus, zog es wieder an, streckte es -»Den hast du nicht genau erwischt, Robert.«
»Doch«, erwiderte Robert gleichgültig, ohne den Kritiker anzusehen. »Das sind nur noch Nervenreflexe.«
»Schluß!« erklärte Steinbrenner. »Eure Zeit ist abgelaufen! Toresschluß!«
Die Wache begann die Tore tatsächlich langsam zu schließen. Ein Angstschrei stieg auf. »Nur nicht so drängeln, meine Herrschaften!« rief Steinbrenner mit leuchtenden Augen. »Einer nach dem anderen, bitte! Da soll noch jemand sagen, daß wir hier nicht beliebt sind!«
Drei Leute kamen nicht mehr weiter. Sie lagen in Abständen von einigen Metern auf der Straße.
Robert erledigte zwei in Ruhe durch Genickschüsse; der dritte aber folgte ihm mit dem Kopf. Er saß halb, und wenn Robert hinter ihn trat, drehte er sich nach ihm um und sah ihn an, als könne er den Schuß so aufhalten. Robert versuchte es zweimal; jedesmal brachte der andere es fertig, sich mit letzter Anstrengung so weit umzudrehen, daß er Robert ansah. Robert zuckte schließlich die Achseln. »Wie du willst«, sagte er und schoß ihm ins Gesicht.
Er steckte die Waffe weg. »Das macht gerade vierzig.«
»Vierzig, die du erledigt hast?« fragte Steinbrenner, der herangekommen war.
Robert nickte. »Auf diesem Transport.«
»Donnerwetter, du bist aber eine Nummer!« Steinbrenner starrte ihn voll Bewunderung und Neid an wie jemanden, der einen Rekord im Sport aufgestellt hat. Robert war nur ein paar Jahre älter als er. »Das nennt man Klasse!« Ein älterer Oberscharführer kam heran. »Ihr mit eurer Knallerei!« schimpfte er. »Jetzt wird es wieder neues Theater geben wegen der Papiere für die Erledigten. Die stellen sich hier ja damit an, als ob wir lauter Prinzen gebracht hätten, so genau.«
Drei Stunden, nachdem der Transport zur Personalaufnahme angetreten war, waren sechsunddreißig Leute umgefallen. Vier waren tot. Der Transport hatte seit morgens kein Wasser gehabt. Von Block sechs hatten zwei Häftlinge versucht, einen gefüllten Wassereimer heranzuschmuggeln, als die SS anderswo beschäftigt war. Man hatte sie gefaßt, und sie hingen jetzt mit verdrehten Gelenken an den Kreuzen neben dem Krematorium.
Die Personalaufnahme ging weiter. Zwei Stunden später waren sieben tot und über fünfzig lagen herum. Von sechs Uhr an ging es dann schneller; zwölf waren tot, und über achtzig lagen auf dem
Platz herum. Um sieben Uhr waren es hundertzwanzig, und es war nicht mehr festzustellen, wie viele tot waren. Die Bewußtlosen bewegten sich ebensowenig wie die Toten.
Um acht Uhr war die Personalaufnahme derer, die noch stehen konnten, beendet. Es war dunkel geworden, und der Himmel war voll silberner Schäferwolken. Die Arbeitskommandos rückten ein.
Sie hatten Überstunden gemacht, damit der Transport vorher erledigt werden konnte. Das Aufräumkommando hatte wieder Waffen gefunden. Es war das fünfte Mal, immer an derselben Stelle. Dieses Mal war ein Zettel dabei gewesen: Wir denken an euch. Sie wußten längst, daß es Arbeiter des Munitionswerkes waren, die nachts die Waffen für sie verbargen.
»Sieh dir das Durcheinander an«, flüsterte Werner. »Wir kommen durch.«
Lewinsky drückte ein flaches Päckchen gegen seine Rippen. »Schade, daß wir nicht mehr haben.
Länger als zwei Tage haben wir keine Chance mehr. Dann ist es vorbei mit dem Aufräumen.«
»Einrücken lassen!« kommandierte Weber. »Appell ist später.«
»Verdammt, warum haben wir keine Kanone bei uns?« murmelte Goldstein. »So ein Schweineglück!«
Sie marschierten zu den Baracken. »Die Neuen zur Desinfektion!« erklärte Weber.
»Wir wollen hier keinen Typhus und keine Krätze eingeschleppt kriegen. Wo ist der Kammerkapo?«
Der Kapo meldete sich. »Die Sachen dieser Leute müssen desinfiziert und entlaust werden«, sagte Weber. »Haben wir genug Ausrüstungen zum Wechseln?«
»Zu Befehl, Herr Sturmführer. Vor vier Wochen sind noch zweitausend gekommen.«
»Richtig.« Weber erinnerte sich. Die Kleider waren von Auschwitz hergeschickt worden. Man hatte in den Vernichtungslagern immer genug Sachen, um sie an andere Lager abzugeben. »Los, 'rein in den Bottich mit den Kerlen!«
Das Kommando erscholl. »Ausziehen! Zum Baden. Monturen und Wäsche nach hinten, Privatsachen vor euch legen!«
Ein Schwanken lief durch die dunklen Reihen. Das Kommando konnte Baden heißen; ebensogut aber auch Vergasen. In die Gaskammern der Vernichtungslager wurde man nackt, unter dem Vorwande, zu baden, geführt. Die Brausen strömten dann aber kein Wasser aus, sondern das tödliche Gas.
»Was sollen wir machen?« flüsterte der Häftling Sulzbacher seinem Nachbarn Rosen zu.
»Umfallen?«
Sie entkleideten sich. Sie wußten, daß sie, wie so oft, in Sekunden eine Entscheidung über Leben und Tod treffen mußten. Sie kannten das Lager nicht; war es ein Vernichtungslager mit Gaskammern, dann war es besser, einen Zusammenbruch zu markieren. Man hatte dadurch eine kleine Chance, länger zu leben, weil Bewußtlose gewöhnlich nicht sofort mitgeschleppt wurden.
Diese Chance konnte mit Glück zum Überleben werden; selbst in den Vernichtungslagern wurden nicht alle getötet. War es jedoch kein Gaskammerlager, dann war Zusammenbrechen gefährlich; es konnte sein, daß man als nutzlos sofort abgespritzt wurde.
Rosen blickte zu den Bewußtlosen hinüber. Er bemerkte, daß kein Versuch gemacht wurde, sie munter zu machen. Daraus schloß er, daß es vielleicht doch nicht zum Vergasen ginge; sonst hätte man so viele wie möglich mitgenommen. »Nein«, flüsterte er. »Noch nicht -«
Die Reihen, die vorher dunkel gewesen waren, schimmerten jetzt in schmutzigem Weiß. Die Häftlinge standen nackt da; jeder einzelne war ein Mensch; aber das hatten sie schon fast vergessen.
Der Transport war durch einen großen Bottich mit scharfer Desinfektionslösung gejagt worden.
Auf der Bekleidungskammer wurden jedem ein paar Bekleidungsstücke zugeworfen. Jetzt standen die Reihen wieder auf dem Appellplatz.
Sie zogen sich eilig an. Sie waren, soweit man es so nennen konnte, glücklich; sie waren nicht in einem Vernichtungslager gelandet. Die Sachen, die sie bekommen hatten, paßten nicht. Sulzbacher hatte als Unterzeug eine wollene Frauenhose mit roten Litzen zugeworfen bekommen; Rosen das Chorhemd eines Priesters. Es waren alles Sachen von Toten. Das Chorhemd hatte ein Einschußloch, um das sich ein gelblich zerfaserter Blutfleck zog. Es war nur oberflächlich gewaschen worden. Ein Teil der Leute hatte scharfkantige Holzschuhe erhalten, die aus einem aufgelösten holländischen Konzentrationslager stammten. Es waren Marterwerkzeuge für ungewohnte, blutig gelaufene Füße.
Die Einteilung auf die Blocks sollte beginnen. In diesem Augenblick setzten! die Sirenen der Stadt ein. Alles blickte auf den Lagerführer.
»Weitermachen«, schrie Weber durch den Lärm.
Die SS und die Kapos rannten nervös durcheinander. Die Reihen der Gefangenen standen still da; nur die Gesichter waren etwas angehoben und schimmerten fahl im Mond.
»Köppe 'runter!« schrie Weber.
Die SS und die Kapos rannten die Reihen entlang und schrieen es nach. Sie' starrten zwischendurch selbst nach oben. Ihre Stimmen gingen in dem Lärm verloren. Sie gebrauchten ihre Knüppel.
Weber ging, die Hände in den Taschen, am Rande des Platzes hin und her. Er gab keine weiteren Anordnungen. Neubauer kam herangestürzt. »Was ist los, Weber? Weshalb sind die Leute noch nicht in den Baracken?«
»Die Einteilung ist noch nicht gemacht«, erwiderte Weber phlegmatisch.
»Einerlei! Hier können sie nicht bleiben. Sie können auf dem offenen Platz Mir Truppen gehalten werden.«
Das Heulen der Sirenen änderte sich. »Zu spät«, sagte Weber. »In Bewegung sind sie noch besser sichtbar.«
Er blieb stehen und sah Neubauer an. Neubauer bemerkte es; er wußte, daß Weber erwartete, er würde zum Unterstand laufen. Ärgerlich blieb auch er stehen.
»Verdammter Blödsinn, uns die Kerle zu schicken«, schimpfte er.
»Unsere eigenen sollen wir durchkämmen, und dann packen sie einem noch einen ganzen Transport auf den Hals! Widersinnig! Warum wird die Bande nicht in ein Vernichtungslager dirigiert?«
»Die Vernichtungslager liegen wahrscheinlich zu weit im Osten.«
Neubauer blickte auf. »Wie meinen Sie das?«
»Zu weit im Osten. Die Straßen und Eisenbahnen müssen da für andere Zwecke frei gehalten werden.«
Neubauer spürte plötzlich wieder den kalten Griff der Angst um den Magen.
»Klar«, sagte er, um sich selbst zu beruhigen. »Zum Aufmarsch an die Front. Wir werden es ihnen schon geben.«
Weber erwiderte nichts. Neubauer sah ihn mißmutig an.
»Lassen Sie die Leute sich hinlegen«, sagte er. »Sie sehen dann weniger wie eine Formation aus.«
»Zu Befehl.« Weber schlenderte ein paar Schritte vor. »Hinlegen!« kommandierte er.
»Hinlegen!« wiederholte die SS.
Die Reihen fielen zusammen. Weber kam zurück. Neubauer hatte zu seinem Hause gehen wollen; aber irgend etwas in Webers Haltung gefiel ihm nicht. Er blieb stehen.
Auch so eine undankbare Kreatur, dachte er. Kaum hat man ihm das Kriegsverdienstkreuz besorgt, da wird er schon wieder frech. Kunststück! Was hat er auch schon zu verlieren? Die paar Stücke Blech auf seiner dämlichen Heldenbrust, weiter nichts, der Landsknecht!
Es kam kein Angriff. Nach einiger Zeit ertönten die Entwarnungssignale. Neubauer drehte sich um.
»So wenig Licht wie möglich! Machen Sie etwas schneller mit dem Einteilen auf die Blocks. Im Dunkeln ist doch wenig zu sehen. Den Rest können die Blockältesten mit der Schreibstube morgen erledigen.«
»Zu Befehl.«
Neubauer blieb stehen. Er beobachtete den Abmarsch des Transports. Die Leute richteten sich mühsam auf. Manche waren erschöpft eingeschlafen und mußten von ihren Kameraden wachgerüttelt werden. Andere lagen da, zu erledigt, um noch gehen zu können.
»Die Toten zum Krematoriumshof. Die Bewußtlosen mitnehmen.«
»Zu Befehl.«
Der Zug formierte sich und begann sich zu bewegen, den Weg hinunter zu den Baracken.
»Bruno! Bruno!«
Neubauer fuhr herum. Seine Frau kam vom Eingangstor her über den Platz. Sie war fast hysterisch.
»Bruno! Wo bist du? Ist was passiert? Hast du -«
Sie sah ihn und stoppte. Ihre Tochter folgte ihr. »Was macht ihr hier?« fragte Neubauer sehr wütend, aber leise, weil Weber gerade in der Nähe war. »Wie seid ihr hier hereingekommen?«
»Der Posten. Er kennt uns doch! Du kamst nicht wieder, und da dachte ich, dir sei etwas passiert.
Alle diese Menschen -«
Selma sah sich um, als erwache sie. »Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt in meiner Dienstwohnung bleiben?« fragte Neubauer, immer noch leise. »Habe ich euch nicht verboten, hier hereinzukommen?«
»Vater«, sagte Freya. »Mutter war außer sich vor Angst. Diese große Sirene, so dicht bei -«
Der Transport bog in die Hauptstraße ein. Er kam dicht an den dreien vorbei. »Was ist denn das?«
flüsterte Selma.
»Das? Gar nichts! Ein Transport, der heute angekommen ist.«
»Aber -«
»Kein Aber! Was habt ihr hier zu suchen? 'raus!« Neubauer drängte seine Frau und seine Tochter beiseite. »Los! Vorwärts!«
»Wie die aussehen!« Selma starrte auf die Gesichter, die durch einen Mond« streifen zogen.
»Aussehen? Das sind Gefangene! Vaterlandsverräter! Wie sollen sie schon aussehen? Wie Kommerzienräte?«
»Und die sie da tragen, die -«
»Jetzt habe ich genug!« schnauzte Neubauer. »Das fehlt mir noch! Zimperliches Gerede! Die Leute sind heute hier angekommen. Wir haben nichts damit zu tun, wie sie aussehen. Im Gegenteil! Sie sollen hier aufgefüttert werden. Stimmt das nicht, Weber?«
»Jawohl, Obersturmbannführer.« Weber streifte Freya mit einem leicht amüsierten Blick und ging weiter.
»Da habt ihr es. Und nun 'raus! Verboten, hier zu sein. Dies ist kein Zoo!«
Er schob die Frauen weiter. Er hatte Angst, Selma könnte etwas Gefährliches sagen.
Man mußte nach allen Seiten hin aufpassen. Keiner war zuverlässig, auch Weber nicht. Verdammt, daß Selma und Freya gerade heraufkommen mußten, als der Transport da war! Er hatte vergessen ihnen zu sagen, sie sollten in der Stadt bleiben.
Selma wäre aber sicher trotzdem nicht geblieben, als der Alarm kam. Der Teufel mochte wissen, warum sie so nervös war. Stattliche Frau, anderweitig. Aber wenn eine Sirene loslegte – wie ein blutarmer Backfisch.
»Die Wache werde ich mir mal vornehmen! Euch einfach 'reinzulassen! So was! Nächstens läßt sie jedermann 'rein!«
Freya drehte sich um. »Es werden nicht viele 'rein wollen.«
Neubauer stockte der Atem einen Moment. Was war das? Freya? Sein eigenes Fleisch und Blut?
Sein Augapfel? Revolution! Er sah in Freyas ruhiges Gesicht.
Sie konnte es nicht so gemeint haben. Nein, sie hatte es harmlos gemeint. Er lachte unvermittelt.
»Na, das weiß ich noch nicht. Diese hier, dieser Transport, die haben gebettelt, hierbleiben zu dürfen. Gebettelt! Geweint! Was meinst du, wie die in zwei, drei Wochen aussehen werden? Nicht wiederzuerkennen! Wir sind hier das beste Lager in ganz Deutschland. Bekannt dafür. Ein Sanatorium.«
Vor dem Kleinen Lager waren noch zweihundert Mann des Transports übrig. Es waren die Schwächsten. Sie stützten sich gegenseitig. Sulzbacher und Rosen waren dabei.
Die Blocks standen angetreten draußen. Sie wußten, daß Weber selbst die Einteilung kontrollierte.
Berger hatte deshalb 509 und Bucher zum Essenholen geschickt; er hatte vermeiden wollen, daß der Lagerführer sie sah; aber sie waren von der Küche zurückgeschickt worden. Essen sollte erst verteilt werden, nachdem der Transport eingerückt war.
Nirgendwo brannte Licht. Nur Weber und der SS-Scharführer Schulte hatten Taschenlampen, die sie ab und zu aufblitzen ließen. Die Blockältesten meldeten.
»Steckt den Rest hier hinein«, sagte Weber zu dem zweiten Lagerältesten.
Der Lagerälteste teilte die Leute ein; Schulte kontrollierte. Weber schlenderte weiter.
»Weshalb sind das hier so viel weniger als drüben?« fragte er, als er zur Sektion D von Baracke 22 kam.
Der Blockälteste Handke stand stramm. »Der Raum ist kleiner als die anderen Sektionen, Herr Sturmführer.«
Weber ließ seine Taschenlampe aufleuchten. Das Licht wanderte über die starren Gesichter. 509 und Bucher standen im hinteren Glied. Der Lichtkreis glitt über 509 hinweg, blendete ihn, glitt weiter und kam zurück. »Dich kenne ich doch! Woher?«
»Ich bin schon lange im Lager, Herr Sturmführer.«
Der Lichtkreis glitt auf die Nummer herunter. »Zeit, daß du krepierst!«
»Es ist einer von denen, die kürzlich zur Schreibstube mußten, Herr Sturmführer«, meldete Handke.
»Ach so, richtig.« Der Lichtkreis wanderte wieder zur Nummer herunter und dann weiter.
»Merken Sie sich doch mal die Nummer, Schulte.«
»Jawohl«, erklärte der Scharführer Schulte mit frischer, jugendlicher Stimme. »Wie viele sollen hier hinein?«
»Zwanzig. Nein, dreißig; sollen zusammenrücken.«
Schulte und der Lagerälteste zählten ab und notierten. Aus dem Dunkel beobachteten die Augen der Veteranen Schuhes Bleistift. Sie sahen nicht, daß er die Nummer von 509 aufschrieb. Weber hatte sie ihm nicht gesagt, und die Taschenlampe war wieder ausgeknipst worden. »Fertig?« fragte Weber.
»Jawohl.«
»Den Rest der Schreiberei kann die Schreibstube morgen erledigen. Marsch, da 'rüber! Und krepiert! Sonst helfen wir nach.«
Weber ging breit und zuversichtlich die Lagerstraße zurück. Die Scharführer folgten ihm. Handke lungerte noch eine Weile umher. »Essenholer 'raus!« knurrte er dann.
»Bleibt hier«, flüsterte Berger 509 und Bucher zu. »Ein paar andere können gehen. Es ist besser, daß ihr Weber nicht noch einmal vor die Füße rennt.«
»Hat Schulte meine Nummer aufgeschrieben?«
»Ich habe es nicht gesehen.«
»Nein«, sagte Lebenthal. »Ich habe vorne gestanden und aufgepaßt. Er hat es in der Eile vergessen.«
Die dreißig Neuen standen eine Weile fast bewegungslos im wehenden Dunkel. »Ist Platz in den Baracken?« fragte Sulzbacher schließlich.
»Wasser«, sagte ein Mann heiser neben ihm. »Wasser! Gebt uns um Christi willen Wasser!«
Jemand brachte einen Blecheimer heran, der halb voll Wasser war. Die Neuen stürzten sich darüber und warfen ihn um; sie hatten nichts, womit sie trinken konnten, als ihre hohlen Hände. Sie warfen sich auf den Boden und versuch» ten, das Wasser damit aufzuschöpfen. Sie stöhnten. Ihre Lippen waren schwarz und schmutzig. Sie leckten den Boden ab.
Berger hatte gesehen, daß Sulzbacher und Rosen nicht bei der Attacke mitgemacht hatten. »Wir haben eine Wasserleitung neben der Latrine«, sagte er. »Sie rinnt nur; aber es wird mit der Zeit genug sein zum Trinken. Nehmt Eimer und holt es.«
Einer der Neuen fletschte die Zähne. »Damit ihr uns inzwischen das Essen wegfreßt, was?«
»Ich werde gehen«, sagte Rosen und nahm den Eimer.
»Ich auch.« Sulzbacher faßte die andere Seite des Henkels.
»Bleib du hier«, sagte Berger »Bucher kann mitgehen und es ihm zeigen.«
Die beiden gingen. »Ich bin hier Stubenältester«, sagte Berger zu den Neuen. »Wir haben Ordnung hier. Ich rate euch, mitzumachen. Ihr habt sonst ein kurzes Leben.«
Niemand antwortete. Berger wußte nicht, ob ihm überhaupt jemand zugehört hatte.
»Ist Platz in den Baracken?« fragte Sulzbacher nach einer Weile noch einmal.
»Nein. Wir müssen abwechselnd schlafen. Ein Teil muß draußen bleiben.«
»Gibt es noch etwas zu essen? Wir sind den ganzen Tag marschiert und haben nichts bekommen.«
»Die Essenholer sind zur Küche gegangen.« Berger sagte nicht, daß er glaubte, für die Neuen würde kein Essen ausgegeben werden.
»Ich heiße Sulzbacher. Ist dies ein Vernichtungslager?«
»Nein.«
»Sicher nicht?«
»Nein.«
»Oh, Gott sei Dank! Habt ihr keine Gaskammern?«
»Nein.«
»Gott sei Dank«, wiederholte Sulzbacher.
»Du redest, als wärst du im Hotel«, sagte Ahasver. »Warte nur erst ab. Woher kommt ihr?«
»Wir sind seit fünf Tagen unterwegs. Zu Fuß. Wir waren dreitausend. Unser Lager ist aufgelöst worden. Wer nicht weiterkonnte, wurde erschossen.«
»Woher kommt ihr?«
»Von Lohme.«
Ein Teil der Neuen lag noch auf dem Boden. »Wasser!« krächzte einer. »Wo bleibt der mit dem Wasser? Säuft sich selber voll – das Schwein!«
»Würdest du das nicht auch machen?« fragte Lebenthal.
Der Mann starrte ihn mit leeren Augen an. »Wasser!« sagte er ruhiger. "Wasser, bitte!«
»Ihr kommt von Lohme?« fragte Ahasver.
»Ja.«
»Kanntet ihr dort einen Martin Schimmel?«
»Nein.«
»Oder Moritz Gewürz? Einen mit einer eingeschlagenen Nase und ohne Haar.«
Sulzbacher dachte müde nach. »Nein.«
»Oder vielleicht Gedalje Gold? Er hatte nur ein Ohr«, fragte Ahasver hoffnungsvoll.
»Das fällt doch auf. Er war im Block 12.«
»Zwölf?«
»Ja. Vor vier Jahren.«
»O Gott!« Sulzbacher wandte sich ab. Die Frage war zu idiotisch. Vor vier Jahren!
Warum nicht vor hundert?
»Laß ihn in Ruhe, Alter«, sagte 509. »Er ist müde.«
»Wir waren Freunde«, murmelte Ahasver. »Man fragt nach Freunden.«
Bucher und Rosen kamen mit dem Wassereimer. Rosen blutete. Sein Chorhemd war an der Schulter zerrissen; seine Jacke stand offen. »Die Neuen schlagen sich um das Wasser«, sagte Bucher. »Mahner hat uns gerettet. Er hat drüben Ordnung gemacht. Sie stehen jetzt an, um Wasser zu empfangen. Wir müssen es hier auch tun, sonst schmeißen sie den Eimer wieder um.«
Die Neuen hatten sich erhoben. »Anstellen«, rief Berger. »Jeder kriegt was. Wir haben für alle.
Wer sich nicht anstellt, kriegt nichts!«
Sie gehorchten bis auf zwei, die vorstürzten. Sie schlugen sie mit Knüppeln nieder.
Dann holten Ahasver und 509 ihre Becher, und einer nach dem anderen trank. »Laß uns sehen, ob wir noch was kriegen können«, sagte Bucher zu Rosen und Sulzbacher, als der Eimer leer war.
»Jetzt wird es nicht mehr gefährlich sein.«
»Wir waren dreitausend«, sagte Sulzbacher mechanisch und ohne Sinn.
Die Essenholer kamen zurück. Sie hatten für die Neuen nichts erhalten. Es entstand sofort Krach.
Vor Sektion A und B prügelten sich die Leute. Die Stubenältesten dort konnten wenig ausrichten.
Sie hatten fast nur Muselmänner, und die Neuen waren geschickter und noch nicht so ergeben.
»Wir müssen etwas abgeben«, sagte Berger leise zu 509.
»Höchstens Suppe. Kein Brot. Wir brauchen es mehr als sie. Wir sind schwächer.«
»Deshalb müssen wir ihnen etwas abgeben. Sie nehmen es sich sonst selbst. Du siehst es drüben.«
»Ja, aber nur Suppe. Das Brot brauchen wir selbst. Laß uns mit dem sprechen, der Sulzbacher heißt.«
Sie holten ihn. »Hör zu«, sagte Berger. »Wir haben nichts für euch bekommen heute abend. Aber wir werden unsere Suppe mit euch teilen.« »Danke«, erwiderte Sulzbacher.
»Was?«
»Danke.«
Sie sahen ihn verwundert an. Es war im Lager nicht üblich, zu danken. »Kannst du uns dabei helfen?« fragte Berger. »Sonst schmeißen eure Leute wieder alles um, und diesmal gibt es nichts Neues. Ist noch jemand da, der zuverlässig ist?«
»Rosen. Und die zwei neben ihm.«
Die Veteranen und die vier Neuen gingen den Essenholern entgegen und scharten sich um sie.
Berger hatte vorher dafür gesorgt, daß alle anderen in Reihe anstanden. Erst dann brachten sie das Essen heran.
Sie stellten sich zusammen und begannen zu verteilen. Die Neuen hatten keine Näpfe.
Sie mußten ihre Portionen stehend essen und dann die Näpfe zurückgeben. Rosen paßte auf, daß niemand zweimal kam. Einige der alten Insassen schimpften. »Ihr bekommt die Suppe morgen zurück«, sagte Berger. »Sie ist nur geliehen.« Dann wandte er sich an Sulzbacher. »Wir brauchen das Brot selbst. Unsere Leute sind schwächer als ihr. Vielleicht wird morgen früh etwas für euch ausgegeben.«
»Ja. Danke für die Suppe. Wir geben sie morgen zurück. Wie sollen wir schlafen?«
»Wir werden einige von unseren Betten frei machen. Ihr müßt sitzend schlafen. Für alle ist auch dann kein Platz.« »Und ihr?«
»Wir bleiben hier draußen. Später wecken wir euch und wechseln ab.« Sulzbacher schüttelte den Kopf. »Ihr werdet sie nicht mehr herauskriegen, wenn sie einmal schlafen.«
Ein Teil der Neuen schlief bereits mit offenen Mündern vor der Baracke. »Laßt sie liegen«, sagte Berger und sah sich um. »Wo sind die anderen?«
»Sie haben sich drinnen schon selbst Plätze gesucht«, sagte 509. »Im Dunkeln kriegen wir sie nicht wieder heraus. Wir müssen es diese Nacht lassen wie es ist.«
Berger blickte zum Himmel. »Vielleicht wird es nicht zu kalt. Wir können der Wand dicht zusammen sitzen. Wir haben drei Decken.«
»Morgen muß das anders werden«, erklärte 509. »Gewalt gibt es in dies Sektion nicht.«
Sie hockten sich zusammen. Fast alle Veteranen waren draußen; selbst Ahasver, Karel und der Schäferhund. Rosen und Sulzbacher und ungefähr zehn mehr von den Neuen saßen bei ihnen. »Es tut mir leid«, sagte Sulzbacher.
»Unsinn. Ihr seid nicht verantwortlich füreinander.«
»Ich kann aufpassen«, sagte Karel zu Berger. »Es werden mindestens sechs von den Unseren diese Nacht sterben. Sie liegen rechts unten neben der Tür. Wenn sie tot sind, können wir sie hinaustragen und dann abwechselnd in ihren Betten schlafen.«
»Wie willst du im Dunkeln herausfinden, ob sie tot sind?«
»Das ist einfach. Ich beuge mich dicht über ihre Gesichter. Man merkt, wenn sie nicht mehr atmen.«
»Bis wir sie draußen haben, liegt schon einer von drinnen an ihrer Stelle«, sagte 509.
»Das meine ich«, erwiderte Karel eifrig. »Ich komme und melde es. Und dann legt sich gleich einer hinein, wenn wir einen Toten herausnehmen.«
»Gut, Karel«, sagte Berger. »Paß auf.«
Es wurde kühler. Aus den Baracken kamen Stöhnen und Schreckensschreie im Schlaf.
»Mein Gott«, sagte Sulzbacher zu 509. »Was für ein Glück! Wir dachten, wir kämen in ein Vernichtungslager. Wenn sie uns nur nicht weiterschicken!« 509 antwortete nicht. Glück, dachte er. Aber es stimmte.
»Wie war es bei euch?« fragte Ahasver nach einiger Zeit.
»Sie haben alles erschossen, was nicht laufen konnte. Wir waren dreitausend -«
»Das wissen wir. Du hast es schon ein paarmal gesagt.«
»Ja -« erwiderte Sulzbacher hilflos.
»Was habt ihr unterwegs gesehen?« fragte 509. »Wie sieht es aus in Deutschland?«
Sulzbacher dachte eine Weile nach. »Vorgestern abend hatten wir genug Wasser«, sagte er dann.
»Manchmal gaben Leute uns etwas. Manchmal nicht. Wir waren zu viele.«
»Einer hat uns nachts vier Flaschen Bier gebracht«, sagte Rosen.
»Das meine ich nicht«, sagte 509 ungeduldig. »Wie waren die Städte? Kaputt?«
»Wir sind nicht durch Städte gekommen. Immer außen herum.«
»Habt ihr denn überhaupt nichts gesehen?«
Sulzbacher blickte 509 an. »Man sieht wenig, wenn man kaum laufen kann und wenn hinter einem geschossen wird. Züge haben wir nicht gesehen.«
»Weshalb ist euer Lager aufgelöst worden?«
»Die Front kam näher.«
»Was? Was weißt du davon? So sprich doch! Wo liegt Lohme? Wie weit vom Rhein?
Weit?«
Sulzbacher versuchte die Augen offen zu halten. »Ja – ziemlich weit – fünfzig – siebzig – Kilometer – morgen -« sagte er noch, dann fiel sein Kopf nach vorn. »Morgen – jetzt muß ich schlafen -«
»Es sind ungefähr siebzig Kilometer«, sagte Ahasver. »Ich war da.« »Siebzig? Und von hier?« 509 begann zu rechnen. »Zweihundert – zweihundertfünfzig -«
Ahasver hob die Schultern. »509«, sagte er ruhig. »Du denkst immer an Kilometer. Hast du auch schon daran gedacht, daß sie mit uns dasselbe machen können wie mit diesen da? Das Lager auflösen – uns wegschicken – und wohin? Was wird dann aus uns? Wir hier können nicht mehr marschieren.«
»Wer nicht marschieren kann, wird erschossen -« Rosen war mit einem Ruck aufgewacht und schlief bereits wieder.
Alle schwiegen. Sie hatten noch nicht so weit gedacht. Wie eine schwere Drohung hing es plötzlich über ihnen. 509 starrte auf das silberne Wolkengeschiebe am Himmel. Dann starrte er auf die Straßen im Tal, die im halben Licht schimmerten. Wir hätten die Suppe nicht hergeben sollen, dachte er einen Augenblick. Wir müssen marschieren können. Aber wozu würde es schon genützt haben? Höchstens für ein paar Minuten Marsch. Die Neuen waren tagelang vorwärtsgetrieben worden.
»Vielleicht erschießen sie bei uns die nicht, die zurückbleiben«, sagte er.
»Nein«, erwiderte Ahasver mit trübem Spott. »Sie werden sie mit Fleisch füttern und neu einkleiden und ihnen Auf Wiedersehen winken.«
509 sah ihn an. Ahasver war völlig ruhig. Ihn konnte wenig mehr schrecken. »Da kommt Lebenthal«, sagte Berger.
Lebenthal setzte sich neben sie. »Hast du drüben noch was gehört, Leo?« fragte 509.
Leo nickte. »Sie wollen soviel wie möglich von dem Transport loswerden. Lewinsky hat es von dem rothaarigen Schreiber auf der Schreibstube. Wie sie sie loswerden wollen, wußte er noch nicht genau. Aber es soll bald sein; sie können die Toten dann absetzen als gestorben durch die Folgen des Transports.« Einer der Neuen fuhr aus dem Schlaf empor und schrie. Dann sank er wieder zurück und schnarchte mit weit offenem Munde. »Wollen sie nur Leute vom Transport erledigen?«
»Lewinsky wußte bloß das. Aber er läßt uns sagen, wir sollten aufpassen.« »Ja, wir müssen aufpassen.« 509 schwieg einen Augenblick. »Das heißt, daß wir die Schnauzen halten sollten. Das ist es, was er damit meint. Oder nicht?« »Klar. Was sonst?«
»Wenn wir die Neuen warnen, werden sie vorsichtig werden«, erklärte Meyer. »Und wenn die SS eine bestimmte Anzahl erledigen will und sie nichts findet, wird sie den Rest von uns nehmen.«
»Stimmt.« 509 blickte auf Sulzbacher, dessen Kopf schwer an Bergers Schulter lag.
»Also, was wollen wir machen? Schnauzen halten?«
Es war eine schwere Entscheidung. Wenn ausgesiebt wurde und sich nicht genug Neue fanden, war es leicht möglich, daß die Zahl mit Leuten vom Kleinen Lager ausgefüllt wurde; um so mehr, als die Neuen nicht so herunter waren wie die anderen.
Sie schwiegen lange. »Sie gehen uns nichts an«, sagte Meyer dann. »Wir müssen erst für uns sorgen.«
Berger rieb seine entzündeten Augen. 509 zerrte an seiner Jacke. Ahasver drehte sich zu Meyer hinüber. Das fahle Licht blinkte in seinen Augen. »Wenn die uns nichts angehen«, sagte er,»dann gehen auch wir niemanden was an.«
Berger hob den Kopf. »Du hast recht.«
Ahasver saß ruhig an der Wand und antwortete nicht. Sein alter, ausgemergelter Schädel mit den tief liegenden Augen schien etwas zu sehen, was keiner sonst sah.
»Wir werden es den beiden hier sagen«, erklärte Berger. »Sie können dann die anderen warnen.
Mehr können wir nicht tun. Wir wissen ja nicht, was noch wird.«
Karel kam von der Baracke herüber. »Einer ist tot.« 509 stand auf. »Laßt uns ihn 'rausbringen.«
Er wandte sich zu Ahasver. »Komm mit, Alter. Du bleibst dann gleich drin zum Schlafen.«