Der Lärm begann gegen Morgen. 509 hörte zuerst das Schreien. Es kam von weit her durch die Stille. Es war nicht das Schreien gefolterter Menschen; es war das Grölen einer betrunkenen Rotte.
Schüsse knatterten. 509 fühlte nach seinem Revolver. Er hatte ihn unter dem Hemd. Er versuchte zu hören, ob nur die SS feuerte oder ob Werners Leute bereits antworteten.
Dann kam das Bellen eines leichten Maschinengewehres.
Er kroch hinter einen Haufen Toter und beobachtete den Eingang zum Kleinen Lager.
Es war noch dunkel, und neben dem Haufen waren noch so viele einzelne Tote verstreut, daß er sich leicht dazulegen konnte, ohne aufzufallen.
Das Brüllen und Schießen dauerte einige Minuten. Dann wurde es plötzlich stärker und kam näher. 509 drückte sich dichter hinter die Toten. Er sah das rote Stottern des Maschinengewehres. Einschüsse klatschten überallhin. Ein halbes Dutzend SS-Leute kam feuernd den großen Mittelweg herunter. Sie Schossen in die Baracken zu beiden Seiten. Ab und zu patschten verirrte Kugeln weich in die Haufen der Toten. 509 lag flach und völlig gedeckt auf dem Boden. Auf allen Seiten erhoben sich Häftlinge wie verängstigte Vögel. Sie flatterten mit den Armen und taumelten ziellos umher. »Hinlegen!« rief 509. »Hinlegen! Tot stellen! Still liegenbleiben!« Einige hörten ihn und ließen sich fallen. Andere stolperten auf die Baracke los und stauten sich an den Türen. Die meisten, die draußen waren, blieben liegen, wo sie lagen. Der Trupp kam an der Latrine vorbei, auf das Kleine Lager los. Das Tor wurde aufgerissen. 509 sah im Dunkeln die Silhouetten und im Aufsprühen der Revolver die verzerrten Gesichter. »Hierher!« schrie jemand. »Hier zu den Holzbaracken! Wollen den Brüdern mal einheizen. Frieren sicher! Hierher!« »Los! 'ran hier! Los, Steinbrenner. Bringt die Kannen her!« 509 erkannte Webers Stimme. »Da sind ja welche vor der Tür!« rief Steinbrenner. Das leichte MG spuckte in den dunklen Haufen an der Tür. Er sank langsam in sich zusammen. »Gut so! Und jetzt los!« 509 hörte Glucksen, als wenn Wasser ausgeschüttet würde. Er sah dunkle Kannen, die geschwenkt wurden und aus denen Flüssigkeit hoch über die Wände schwappte. Dann roch er das Benzin. Die Elitetruppe Webers hatte Abschied gefeiert. Um Mitternacht war der Befehl zum Abrücken durchgekommen, und die meisten Truppen waren bald abmarschiert; aber Weber und seine Rotte hatten noch Schnaps genug und sich rasch besoffen. Sie wollten nicht einfach so abziehen und waren noch einmal durch das Lager gestürmt. Weber hatte angeordnet, Benzinkannen mitzunehmen. Sie wollten ein Fanal hinterlassen, an das man noch lange denken sollte. Die Baracken, die aus Stein waren, hatten sie in Ruhe lassen müssen; dafür aber hatten sie an den alten polnischen Holzbaracken alles, was sie suchten. »Feuerzauber! Los!« schrie Steinbrenner. Ein Streichholz flammte auf; gleich darauf brannte eine Schachtel. Der Mann, der sie hielt, warf sie auf den Boden. Ein anderer warf eine zweite in eine Kanne, die dicht neben der Baracke stand. Sie erlosch. Aber von dem hellen Rot des ersten Streichholzes lief ein dünner blauer Streifen über den Boden zur Baracke, die Wand hinauf, schlug fächerförmig, gasig auseinander und verbreitete sich zu einer zitternden blauen Fläche. Es sah im ersten Augenblick nicht gefährlich aus, sondern wirkte wie eine kalte, elektrische Entladung, dünn und wehend, die rasch verlöschen würde. Dann aber begann es zu knistern, und in dem blauen Wehen zum Dache hin tauchten herzförmige, gelbe, wabernde Feuerkerne auf – Flammen. Die Tür öffnete sich ein Stück. »Knallt die 'runter, die 'rauskommen!« kommandierte Weber. Er hatte ein Maschinengewehr unter dem Arm und feuerte. Eine Gestalt fiel in der Tür nach hinten. Bucher, dachte 509. Ahasver. Sie schliefen dicht an der Tür. Ein SS-Mann sprang vor, riß die zusammengesunkenen Gestalten, die noch vor dem Eingang lagen zur Seite, stieß die Tür wieder zu und sprang zurück. »Jetzt kann's losgehen! Hasenjagd!« Das Feuer schoß bereits in Garben hoch. Durch das Brüllen der SS-Leute hörte man das Schreien der Gefangenen. Die Tür der nächsten Sektion öffnete sich. Menschen purzelten heraus. Die Münder waren schwarze Löcher. Schüsse knatterten. Keiner kam durch. Wie ein Haufen Spinnen zuckten sie vor dem Eingang. 509 hatte im Anfang erstarrt dagelegen. Jetzt richtete er sich vorsichtig auf Er sah vor den Flammen die Silhouetten der SS deutlich. Er sah Weber breitbeinig dastehen. Langsam, dachte er, während alles in ihm zitterte. Langsam, eines nach dem anderen.
Er holte den Revolver unter dem Hemd hervor. Dann hörte er in einer kurzen Stille zwischen dem Brüllen der SS und dem Sausen des Feuers das Schreien der Gefangenen lauter. Es war ein hohes, Unmenschliches Schreien. Ohne zu überlegen, zielte er auf den Rücken Webers und drückte ab.
Er hörte den Schuß unter den anderen Schüssen nicht. Er sah Weber auch nicht fallen.
Und plötzlich fiel ihm ein, daß er keinen Rückstoß der Waffe in der Hand gespürt hatte. Ihm war, als hiebe ihm jemand mit einem Hammer gegen das Herz. Der Revolver hatte nicht funktioniert.
Er merkte nicht, daß er sich die Lippen zerbiß. Ohnmacht stürzte wie Nacht über ihn herein, er biß und biß, um nicht in den schwarzen Nebel zu versinken. Naß geworden, wahrscheinlich, unbrauchbar, Tränen, Salz, Wut, ein letztes Tasten – und dann plötzlich die Erlösung, die rasche, huschende Hand über die glatte Fläche, ein kleiner Hebel, der nachgab, und Strömen, Strömen – der Revolver war nicht entsichert gewesen.
Er hatte Glück. Niemand von der SS wandte sich um. Sie erwarteten nichts von seiner Seite. Sie standen und schrieen und hielten die Türen unter Feuer. 509 hob die Waffe gegen die Augen. Er sah in der flackernden Helle, daß sie jetzt entsichert war. Seine Hände zitterten immer noch. Er lehnte sich über den Haufen Toter und stützte die Arme auf, um mehr Sicherheit zu haben. Er zielte mit beiden Händen. Weber stand etwa zehn Schritte vor ihm. 509 holte einige Male langsam Atem.
Dann hielt er die Luft an, machte seine Arme so starr wie möglich und krümmte langsam den Finger.
Der Schuß ging in den anderen Schüssen unter. Aber 509 spürte den Rückschlag sehr stark. Er feuerte noch einmal. Weber stolperte nach vorn, blickte sich halb um, als sei er ungeheuer erstaunt, und knickte in den Knien ein. 509 schoß weiter. Er zielte auf den nächsten SS-Mann, der ein MG unter dem Arm hatte. Er drückte und drückte den Abzugshebel noch, als er längst keine Patronen mehr hatte. Der andere fiel nicht. 509 stand eine Sekunde, den Revolver schlaff in der Hand. Er hatte erwartet, sofort erschossen zu werden. Aber niemand hatte in all dem Geknalle etwas von ihm gemerkt. Er ließ sich hinter dem Haufen Toter auf den Boden fallen.
In diesem Augenblick sah einer der SS-Leute Weber. »He!« schrie er. »Sturmführer!«
Weber hatte seitlich hinter ihnen gestanden, und sie hatten nicht gleich bemerkt, was passiert war.
»Sturmführer! Was ist los?«
»Er ist verwundet!«
»Wer hat das gemacht? Wer von euch?«
»Sturmführer!«
Sie kamen nicht auf den Gedanken, daß Weber anders als durch einen Fehlschuß getroffen worden sein könnte. »Verflucht! Welcher Idiot -«
Neue Schüsse knatterten. Aber sie kamen vom Arbeitslager her. Man sah das Aufblitzen. »Die Amerikaner!« schrie einer der SS-Leute. »Los! Verschwinden!«
Steinbrenner feuerte in die Richtung der Latrine. »Verschwinden! Rechts herum! Über den Appellplatz!« rief jemand. »Rasch! Bevor sie uns hier abschneiden!«
»Der Sturmführer!«
»Wir können ihn nicht mitschleppen!«
Das Aufblitzen von der Richtung der Latrine her kam näher. »Los! Los!«
Die SS-Leute rannten feuernd um die brennende Baracke herum. 509 erhob sich. Er taumelte auf die Baracke zu. Einmal fiel er. Dann stieß er die Tür auf. »'raus! 'raus! Sie sind fort!«
»Sie schießen noch -«
»Das sind unsere! 'raus! 'raus!«
Er stolperte zur nächsten Tür und begann an Armen und Beinen zu zerren,»'raus! 'raus! Sie sind fort!«
Gestalten brachen durch die Tür, über die Liegenden hinweg. 509 hastete weiter. Die Tür von A brannte bereits. Er konnte nicht heran. Er schrie und schrie, er hörte Schüsse, Lärm, ein Stück brennenden Holzes fiel ihm vom Dach auf die Schulter, er stürzte, stolperte wieder hoch, fühlte einen heftigen Schlag und kam zu sich, als er auf der Erde saß. Er wollte aufstehen, aber er konnte es nicht. Er hörte von weitem Rufe und sah, als sei es sehr fern, Menschen, viele plötzlich, keine SS-Leute mehr, Gefangene, die Leute trugen, über ihn stolperten – er kroch weg. Er konnte nichts mehr tun. Er war plötzlich todmüde. Er wollte aus dem Wege sein. Er hatte den zweiten Mann nicht getroffen. Vielleicht auch Weber nicht richtig. Es war vergebens gewesen. Er hatte versagt. Er kroch weiter. Da war der Haufen der Toten. Er gehörte dazu. Er war nichts wert. Bucher tot. Ahasver tot. Er hätte es Bucher machen lassen sollen. Ihm den Revolver geben sollen. Es wäre besser gewesen. Wozu war er nun nütze gewesen? Er lehnte sich mühsam gegen den Haufen. Irgendwas schmerzte. Er schob die Hand gegen die Brust und hob sie hoch. Sie war blutig. Er sah es, ohne daß es Eindruck auf ihn machte. Er war nicht mehr er. Er fühlte nur noch die Hitze und hörte die Schreie. Dann wurden sie ferner.
Er erwachte. Die Baracke brannte noch. Es roch nach verbranntem Holz und verkohltem Fleisch und Verwesung. Die Hitze hatte die Toten erwärmt. Sie hatten schon tagelang gelegen und begannen zu tropfen und zu stinken. Das entsetzliche Schreien war verstummt. Eine endlose Prozession von Leuten trug versengte und verbrannte Gerettete fort. 509 hörte irgendwo Buchers Stimme. Er war also nicht tot. Es war dann doch nicht alles vergebens gewesen. Er blickte sich um. Nach einiger Zeit bemerkte er, wie neben ihm sich etwas regte. Es dauerte noch eine Weile, bis er es erkannte. Es war Weber. Er lag auf dem Bauch. Es war ihm gelungen, hinter den Totenhaufen zu kriechen, ehe Werner und seine Leute kamen. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Er hatte ein Bein angezogen und die Arme ausgestreckt. Blut lief aus seinem Munde. Er lebte noch. 509 versuchte eine Hand zu heben. Er wollte jemand rufen; aber er war zu schwach dazu. Seine Kehle war ausgetrocknet. Nur ein Raspeln kam heraus. Das Knistern der brennenden Baracke war viel zu laut dagegen. Weber hatte die Bewegung der Hand gesehen. Seine Augen folgten ihr. Dann begegneten sie denen von 509. Beide blickten sich an. 509 wußte nicht, ob Weber ihn erkannte. Er wußte auch nicht, was die Augen ihm gegenüber sagten. Er spürte plötzlich nur, daß seine Augen länger aushalten mußten als die vor ihm. Er mußte länger leben als Weber. Es war auf eine sonderbare Weise auf einmal unendlich wichtig – als hinge die Gültigkeit von allem, woran er in seinem Leben geglaubt, wofür er gekämpft und gelitten hatte, davon ab, daß das Leben hinter seiner Stirn länger glimme als hinter der Stirn vor ihm. Es war wie ein Duell und ein Gottesurteil. Wenn er jetzt durchhielt, würde auch durchhalten, was so wichtig für ihn gewesen war, daß er sein Leben deswegen riskiert hatte. Es war wie eine letzte Anstrengung. Noch einmal war es in seine Hände gegeben – und er mußte es gewinnen. Er atmete weich und vorsichtig, immer nur bis gegen die Grenze des Schmerzes. Er sah das Blut aus Webers Mund rieseln, und er fühlte nach, ob auch er aus dem Munde blutete. Er spürte etwas, aber als er seine Hand betrachtete, war es wenig, und ihm fiel ein, daß es von seinen zerbissenen Lippen kam. Webers Augen folgten seiner Hand. Dann sahen sich beide wieder an. 509 versuchte zu denken; er wollte noch einmal finden, worauf es ankam und was es war. Es sollte ihm mehr Kraft geben. Es hatte mit dem Einfachsten im Menschen zu tun, und ohne es würde die Welt zerstört werden, das wußte sein müdes Gehirn noch. Durch es würde auch das andere vernichtet werden, das absolut Böse; der Antichrist; die Todsünde gegen den Geist. Worte, dachte er. Sie sagten nur wenig. Aber wozu noch Worte? Er mußte ausharren. Es mußte sterben vor ihm. Das war alles. Sonderbar, daß keiner sie sah. Daß man ihn nicht sah, begriff er. Es lagen so viele Tote da. Aber der andere! Er lag ganz im Schatten des Totenhaufens, das mußte es sein. Die Uniform war schwarz, und das Licht spiegelte nicht auf den Stiefeln. Es waren auch nicht mehr so viele Leute in der Nähe. Sie standen weiter entfernt und starrten auf die Baracken. Die Wände waren an einigen Stellen eingeschlagen. Da verbrannten viele Jahre Elend und Tod. Die vielen Namen und Inschriften. Es krachte. Die Flammen schossen hoch. Das Dach der Baracke stürzte in einem Funkenregen zusammen. 509 sah die brennenden Stücke durch die Luft fliegen. Sie schienen sehr langsam zu fliegen. Eines segelte niedrig über den Totenhaufen, stieß gegen einen Fuß, drehte sich und fiel auf Weber. Es fiel ihm in den Nacken. Webers Augen begannen zu zittern. Rauch stieg von seinem Uniformkragen auf. 509 hätte sich vorlehnen und das Scheit beiseite schieben können. Er glaubte wenigstens, daß er es hätte tun können; er wußte nur nicht genau, ob seine Lunge nicht verletzt war und ob ihm dann das Blut nicht aus dem Munde springen würde. Doch das war nicht der Grund, daß er es nicht tat. Er unterließ es auch nicht aus Rache; es ging jetzt um mehr als Rache. Und das wäre eine viel zu geringe gewesen. Webers Hände bewegten sich. Der Kopf zuckte. Das Holz brannte weiter im Nacken. Die Uniform war durchsengt. Sie flackerte in kleinen Flammen. Webers Kopf bewegte sich wieder. Das brennende Scheit rutschte vorwärts. Gleich darauf begann das Haar zu kohlen. Das Scheit fing an zu zischen, das Feuer leckte um die Ohren und über den Kopf. 509 sah nun die Augen genauer. Sie traten stärker aus ihren Höhlen hervor. Das Blut quoll stoßweise aus dem Munde, der sich ohne Laut bewegte. Nichts war zu hören in dem Lärm der weiter niederbrennenden Baracke. Der Kopf war jetzt nackt und schwarz. 509 starrte ihn an. Das Holzstück brannte langsam aus. Das Blut versiegte. Alles versank. Nichts war mehr da als die Augen. Die Welt war zusammengeschrumpft auf sie. Sie mußten erblinden. 509 wußte nicht, ob es Stunden oder Minuten gedauert hatte – aber die Arme Webers schienen sich, ohne Bewegung, plötzlich zu strecken. Dann veränderten sich die Augen und waren keine Augen mehr. Sie waren nur noch quallige Dinge. 509 saß noch eine Zeitlang still. Dann stützte er vorsichtig einen Arm auf, vorwärts – um sich näher zu schieben. Er mußte ganz sicher sein, ehe er nachgab. Nur im Kopf fühlte er noch Festigkeit; sein Körper war bereits ohne Gewicht und hatte zur selben Zeit das ganze Gewicht der Erde und war schon fast ohne Kontrolle. Er konnte ihn nicht vorwärtsschieben. Langsam beugte er sich vor, hob einen Finger und stieß ihn gegen die Augen Webers. Sie reagierten nicht. Weber war tot. 509 wollte sich aufrecht setzen, aber er konnte jetzt auch das nicht mehr. Das Vorbeugen hatte bewirkt, was er vorher erwartet hatte. Etwas so tief von innen, als käme es aus der Erde, quoll hoch und floß über. Das Blut lief leicht und ohne Schmerzen. Es lief über Webers Kopf. Es schien, als liefe es nicht nur aus dem Munde, sondern aus dem ganzen Körper, zurück in die Erde, aus der es wie eine sanfte Fontäne aufgestiegen war. 509 versuchte nicht, es zu halten. Die Arme wurden weich. Im Nebel sah er Ahasver riesengroß vor der Baracke. Er ist also doch nicht – dachte er noch, dann wurde die Erde, auf die er sich stützte, zu Moor, und er sank ein.
Sie fanden ihn erst eine Stunde später. Sie hatten, nachdem die größte Erregung vorüber war, angefangen, nach ihm zu suchen. Bucher war schließlich auf den Gedanken gekommen, noch einmal nahe zur Baracke zu gehen und dort zu forschen, und hatte ihn dann hinter dem Haufen mit Leichen gefunden.
Er sah Lewinsky und Werner herankommen. »509 ist tot«, sagte er. »Erschossen. Weber auch.
Sie liegen beide zusammen drüben.«
»Erschossen? War er denn draußen?«
»Ja. Er war um die Zeit draußen.«
»Hatte er den Revolver bei sich?«
»Ja.«
»Und Weber ist auch tot? Dann hat er Weber erschossen«, sagte Lewinsky.
Sie hoben ihn an und legten ihn gerade hin. Dann drehten sie Weber um.
»Ja«, erklärte Werner. »Es sieht so aus. Er hat zwei Schüsse im Rücken.«
Er blickte umher und sah den Revolver. »Da ist er.« Er hob ihn auf. »Leer. Er hat ihn gebraucht.«
»Wir müssen ihn wegbringen«, sagte Bucher.
»Wohin? Es ist alles voll von Toten. Über siebzig sind verbrannt. Mehr als hundert verletzt. Laßt ihn einstweilen hier, bis Platz wird.« Werner sah Bucher abwesend an.
»Verstehst du etwas von Automobilen?«
»Nein.«
»Wir brauchen -«, Werner unterbrach sich. »Was rede ich da? Ihr seid ja vom Kleinen Lager. Wir brauchen noch Leute für die Lastwagen. Komm, Lewinsky!«
»Ja. Verdammt schade um den da.«
»Ja -«
Sie gingen zurück. Lewinsky sah sich noch einmal um. Dann folgte er Werner. Bucher blieb stehen.
Der Morgen war grau. Die Reste der Baracke brannten noch. Siebzig Leute waren verbrannt. Es wären mehr ohne 509 gewesen, dachte er.
Er stand lange da. Die Wärme von der Baracke her war wie ein unnatürlicher Sommer.
Sie wehte über ihn; er fühlte sie und vergaß sie wieder. 509 war tot. Es war, als seien nicht nur siebzig gestorben – als seien es ein paar hundert.
Die Obleute übernahmen das Lager rasch. Mittags funktionierte die Küche. Gefangene mit Waffen hielten die Eingänge besetzt für den Fall, daß die SS zurückkommen würde. Ein Komitee aus allen Baracken war gebildet worden und arbeitete bereits. Ein Kommando wurde aufgestellt, um so bald wie möglich Essen in der Umgebung zu requirieren.
»Ich werde Sie ablösen«, sagte jemand zu Berger.
Berger blickte auf. Er war so müde, daß er nichts mehr verstand. »Spritze«, sagte er und hielt seinen Arm hin. »Ich falle sonst um. Ich kann nicht mehr richtig sehen.«
»Ich habe geschlafen«, erwiderte der andere. »Ich werde Sie jetzt ablösen.«
»Wir haben fast keine Anästhetika mehr. Wir brauchen sie dringend. Sind die Leute noch nicht von der Stadt zurück? Wir haben zu den Hospitälern geschickt.«
Professor Swoboda aus Brunn, Gefangener der tschechischen Abteilung, sah, was los war. Ein todmüder Automat arbeitete da mechanisch weiter. »Sie müssen jetzt schlafen gehen«, sagte er lauter.
Bergers entzündete Augen blinzelten. »Jaja«, erklärte er und beugte sich wieder über den verbrannten Körper.
Swoboda nahm ihn beim Arm. »Schlafen! Ich löse Sie ab! Schlafen müssen Sie!«
»Schlafen?«
»Ja, schlafen.«
»Gut, gut. Die Baracke -« Berger wachte einen Augenblick auf. »Die Baracke ist verbrannt.«
»Gehen Sie in die Kleiderkammer. Da sind ein paar Betten für uns fertig gemacht.
Gehen Sie dahin schlafen. Ich werde Sie in einigen Stunden wieder wecken.«
»Stunden? Ich werde nicht aufwachen, wenn ich nicht stehenbleibe. Ich muß noch – meine Baracke -, ich muß sie -«
»Kommen Sie!« sagte Swoboda energisch. »Sie haben genug getan.«
Er winkte einem Helfer. »Bringt ihn in die Kleiderkammer. Da sind ein paar Betten für Ärzte.«
Er nahm Berger beim Arm und drehte ihn um. »509«, sagte Berger, halb im Schlaf.
»Jaja, gut«, erwiderte Swoboda, der nichts davon verstand. »509, natürlich. Alles in Ordnung.«
Berger ließ sich den weißen Kittel abnehmen und sich hinausführen. Die Luft draußen traf ihn wie eine schwere Wasserwelle. Er taumelte und blieb stehen. Das Wasser stürzte immer noch über ihn.
»Mein Gott, ich habe ja operiert«, sagte er.
Er starrte den Helfer an. »Natürlich«, erwiderte der. »Was sonst?«
»Ich habe operiert«, wiederholte Berger.
»Aber natürlich. Erst hast du verbunden und Öl und so was geschmiert, und dann hast du auf einmal mit dem Messer losgelegt. Zwei Spritzen und vier Tassen Kakao hast du zwischendurch gekriegt. Sie konnten dich verdammt gut gebrauchen. Bei dem Ansturm!«
»Kakao?«
»Ja. Das haben die Kerle alles für sich gehabt. Kakao, Butter und Gott weiß was noch!«
»Operiert. Wirklich operiert«, flüsterte Berger.
»Und wie! Hätte ich nie geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Bei deinem Gewicht!
Aber jetzt mußt du mal ein paar Stunden auf die Matratze. Du kriegst ein richtiges Bett. Von einem Scharführer! Piekfein! Komm.«
»Und ich dachte -«
»Was?«
»Ich dachte, ich könnte es nicht mehr -«
Berger besah seine Hände. Er drehte sie um und ließ sie fallen. »Ja -«, sagte er.
»Schlafen -«
Der Tag war grau. Die Erregung wuchs. Die Baracken summten wie Bienenkörbe. Es war eine sonderbare Zeit der Ungewißheit, einer unfreien Freiheit, überstürzt von Hoffnung, Gerüchten und gedrängter dunkler Furcht. Immer noch konnten SS-Kommandos zurückkommen oder organisierte Hitlerjugend. Die im Depot gefundenen Waffen waren zwar verteilt – aber ein paar ausgerüstete Kompanien hätten dem Lager einen schweren Kampf bereiten können; und mit einiger Artillerie hätte man es beliebig zusammenschießen können.
Die Toten waren zum Krematorium hinübergebracht worden. Es gab keine andere Möglichkeit: Man mußte sie dort aufeinanderhäufen wie Feuerholz. Das Hospital war überfüllt.
Am frühen Nachmittag wurde plötzlich ein Flugzeug gesichtet. Es kroch aus den niedrigen Wolken hinter der Stadt.
Die Gefangenen gerieten in Aufruhr.
»Zum Appellplatz! Jeder zum Appellplatz, der laufen kann!«
Zwei andere Flugzeuge tauchten durch die Wolken. Sie zirkelten und folgten dem ersten.
Die Motoren dröhnten. Tausende von Gesichtern starrten in den Himmel.
Die Flugzeuge kamen rasch heran. Die Obmänner hatten einen Teil der Leute aus dem Arbeitslager zum Appellplatz gebracht. Sie formierten sie dort in zwei langen Reihen, die ein riesiges Kreuz bildeten. Lewinsky hatte Bettücher aus der Kaserne besorgt, und an den Enden der Kreuzbalken hielten je vier Gefangene ein Tuch und schwenkten es.
Die Flugzeuge waren jetzt über dem Lager und umkreisten es. Sie kamen tiefer und tiefer.
»Da!« schrie jemand. »Die Flügel! Wieder!«
Die Gefangenen schwenkten die Tücher. Sie schwenkten die Arme. Sie schrieen in das Röhren der Motoren. Viele rissen ihre Jacken ab und schwenkten sie. Die Flieger kamen noch einmal sehr tief herunter. Die Flügel grüßten wieder. Dann verschwanden sie.
Die Menge drängte zurück. Sie blickte immer wieder zum Himmel auf. »Speck «, sagte jemand.
»Nach dem Krieg 1914 gab es Speckpakete von Übersee -«
Dann sahen sie plötzlich, unten auf der Straße, niedrig und gefährlich, den ersten amerikanischen Panzer.