Das Wetter klärte sich am Morgen auf zu einem grauen, milchigen Tag. Es blitzte nicht mehr; aber es rollte immer noch dumpf und fern hinter den Wäldern.
»Merkwürdiges Gewitter«, sagte Bucher. »Sonst sieht man Wetterleuchten und hört keinen Donner, wenn es abzieht. Hier ist es umgekehrt.«
»Vielleicht kommt es zurück«, erwiderte Rosen.
»Warum soll es zurückkommen?«
»Bei uns zu Hause gehen Gewitter manchmal tagelang zwischen den Bergen umher.«
»Hier sind keine Bergkessel. Nur die eine Linie drüben, und die ist nicht hoch.«
»Hast du noch andere Sorgen?« fragte Lebenthal.
»Leo«, sagte Bucher ruhig,»Sieh du lieber zu, daß wir etwas zu kauen kriegen. Selbst wenn es altes Schuhleder ist.«
»Sonst noch Aufträge?« fragte Lebenthal nach einer Pause des Erstaunens.
»Nein.«
»Schön. Dann paß auf, was du quatschst! Und besorge dir dein Futter selber, du Grünschnabel!
Hat man je so etwas gehört an Frechheit?«
Lebenthal versuchte auszuspucken, aber sein Mund war trocken, und sein Gebiß flog bei der Anstrengung heraus. Er fing es im letzten Augenblick in der Luft auf und setzte es wieder ein. »Das hat man davon, daß man für euch jeden Tag sein Fell riskiert«, sagte er ärgerlich. »Vorwürfe und Befehle! Nächstens erscheint noch Karel mit Aufträgen.« 509 kam heran. »Was habt ihr?«
»Frag den da.« Lebenthal zeigte auf Bucher. »Gibt Befehle. Sollte mich nicht: wundern, wenn er Blockältester werden möchte.« 509 sah Bucher an. Er hat sich verändert, dachte er. Es ist mir nicht so aufgefallen, aber er hat sich verändert. »Was ist wirklich los?« fragte er.
»Gar nichts. Wir haben nur über das Gewitter geredet.«
»Was geht euch das Gewitter an?« »Nichts. Es ist nur sonderbar, daß es immer noch donnert.
Dabei sind keine Blitze da und auch keine Wolken. Nur die graue Suppe da oben. Aber! das sind doch keine Gewitterwolken.«
»Probleme! Es donnert, aber es blitzt nicht! Gojim naches!« krächzte Lebenthal von seinem Platz her. »Meschugge!« 509 sah zum Himmel. Er war grau und schien ohne Wolken zu sein. Dann lauschte er.
»Es donnert tatsä – «Er brach ab. Seine Haltung veränderte sich. Er lauschte plötzlich mit seinem ganzen Körper.
»Noch einer!« sagte Lebenthal. »Meschugge ist Trumpf heute.«
»Ruhig!« flüsterte 509 scharf.
»Also du auch -«
»Ruhig! Verdammt! Sei ruhig, Leo!«
Lebenthal schwieg. Er merkte, daß es nicht mehr um das Gewitter ging. Er beobachtete 509, der gespannt auf das ferne Rumpeln horchte. Alle schwiegen letzt und lauschten.
»Hört zu«, sagte 509 dann langsam und so leise, als fürchte er, etwas flöge davon, wenn er lauter spräche. »Das ist kein Gewitter. Das ist -«
Er horchte wieder. »Was?« Bucher stand dicht neben ihm. Beide blickten sich an und horchten.
Das Rumpeln wurde etwas lauter und sank dann zurück. »Das ist kein Donner«, sagte 509. »Das ist -« Er wartete noch einen Augenblick, dann sah er sich um und sagte, immer noch sehr leise:»Das ist Artilleriefeuer.«
»Was?«
»Artilleriefeuer. Das ist kein Donner.«
Alle starrten sich an. »Was habt ihr?« fragte Goldstein in der Tür.
Keiner antwortete etwas. »Nun – seid ihr erfroren?«
Bucher drehte sich um. »509 sagt, daß man Artilleriefeuer hören kann. Die Front kann nicht mehr weit weg sein.«
»Was?« Goldstein kam näher. »Wirklich? Oder phantasiert ihr bloß?«
»Wer würde bei so etwas Quatsch reden?«
»Ich meine: täuscht ihr euch nicht?« fragte Goldstein.
»Nein«, sagte 509.
»Verstehst du was davon?«
»Ja.«
»Mein Gott.« Rosens Gesicht verzerrte sich. Er begann plötzlich zu schluchzen.
509 horchte weiter. »Wenn der Wind umschlägt, müssen wir es deutlicher hören.«
»Was glaubst du, wie weit weg sie noch sein können?« fragte Bucher.
»Ich weiß nicht genau. Fünfzig Kilometer. Sechzig. Nicht viel weiter.«
»Fünfzig Kilometer. Das ist nicht weit.«
»Nein, das ist nicht weit.«
»Sie müssen Tanks haben. Sie können das rasch machen. Wenn sie durchbrechen – wieviel Tage glaubst du, brauchen sie – vielleicht nur einen -«, Bucher stockte.
»Einen Tag?« wiederholte Lebenthal. »Was sagst du da? Einen Tag?« Wenn sie durchbrechen.
Wir haben gestern noch nichts gehört. Heute ist es da.
Morgen kann es näher sein. Übermorgen – oder am Tag nach übermorgen -« »Rede nicht! Rede nicht so etwas! Mach keine Menschen verrückt!« schrie Lebenthal plötzlich.
»Es ist möglich, Leo«, sagte 509.
»Nein!« Lebenthal schlug die Hände vor die Augen.
»Was meinst du, 509?« Bucher hatte ein totblasses, erregtes Gesicht. »Übermorgen? Oder wieviel Tage?«
»Tage!« schrie Lebenthal und ließ die Hände sinken. »Wie können es jetzt nur noch Tage sein?«
murmelte er. »Jahre, Ewigkeiten, und jetzt redet ihr auf einmal von Tagen, Tagen! Lügt nicht!« Er kam näher. »Lügt nicht!« flüsterte er. »Ich bitte euch, lügt nicht!«
»Wer würde bei so etwas lügen?« 509 wendete sich um. Goldstein stand direkt hinter ihm. Er lächelte. »Ich höre es auch«, sagte er. Seine Augen wurden größer und größer und sehr schwarz.
Er lächelte und hob die Arme und die Beine in einer Gebärde, als. wolle er tanzen, lächelte nicht mehr und fiel vornüber.
»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte Lebenthal. »Macht seine Jacke auf. Ich werde Wasser holen.
Es muß noch etwas in der Abflußrinne sein.«
Bucher, Sulzbacher, Rosen und 509 drehten Goldstein um. »Sollen wir Berger holen?« fragte Bucher. »Kann er aufstehen?«
»Warte.« 509 beugte sich dicht über Goldstein. Er knöpfte die Jacke und den Hosengurt auf. Als er sich aufrichtete, war Berger da. Lebenthal hatte ihm Bescheid gesagt. »Du solltest doch in deinem Bett bleiben«, sagte 509.
Berger kniete neben Goldstein nieder und horchte ihn ab. Es dauerte nicht lange. »Er ist tot«, erklärte er. »Herzschlag, wahrscheinlich. Es war immer zu erwarten. Sie haben sein Herz völlig kaputt gemacht.«
»Er hat es noch gehört«, sagte Bucher. »Das ist die Hauptsache. Er hat es noch gehört.«
»Was?« 509 legte den Arm um die schmalen Schultern Bergers. »Ephraim«, sagte er sanft. »Ich glaube, es ist soweit.«
»Was?«
Berger sah auf. 509 merkte plötzlich, daß es ihm schwer würde, zu sprechen »Sie -«, sagte er und stockte und zeigte dann mit der Hand zum Horizont. »Sie kommen, Ephraim. Wir können sie schon hören.« Er blickte auf die Drahtpalisaden und die MG-Türme, die im milchigen Weiß schwammen. »Sie sind da, Ephraim -«
Mittags sprang der Wind um, und das Grollen wurde etwas deutlicher. Es war wie ein ferner elektrischer Kontakt, der übersprang in Tausende von einzelnen Herzen. Die Baracken wurden unruhig. Nur einige Arbeitskommandos wurden ausgeschickt. Überall waren Gesichter an die Fenster gepreßt. Wieder und wieder erschienen dünne Gestalten vor den Türen und standen mit gereckten Köpfen da. »Ist es näher gekommen?« »Ja. Es scheint, daß es deutlicher geworden ist.« In der Schuhabteilung arbeiteten alle schweigend. Die Kapos paßten auf, daß nicht gesprochen wurde, die SS-Aufsicht war da. Die Messer trennten das! Leder, schnitten brüchige Stücke fort, und in vielen Händen fühlten sie sich! anders an als sonst. Nicht als Werkzeuge; als Waffen. Hier und da traf ein Blick die Kapos, die SS und die Revolver und das leichte Maschinengewehr, das am Tage vorher noch nicht dagewesen war. Aber trotz aller Wachsamkeit der Aufseher wußte jeder einzelne in der Abteilung den ganzen Tag Bescheid. Die meisten hatten seit Jahren gelernt zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, und fast jedesmal, nachdem die vollen Körbe mit den Lederstücken zusammen» geschüttet und fortgetragen worden waren, lief durch die Gruppe derjenigen die sitzengeblieben waren, bald die Meldung der Träger, die andere von draußen gesehen hatten: Man hört es noch. Es hat nicht aufgehört. Die Außen-Arbeitskommandos waren doppelt bewacht. Sie marschierten um die Stadt herum und dann von Westen herein in den alten Teil zum Markt. Die Wachen waren sehr nervös. Sie schrieen und kommandierten ohne Ursache; die Gefangenen marschierten in voller Ordnung. Sie hatten bisher nur in den neuen Stadtteilen aufgeräumt; jetzt kamen sie zum erstenmal in die innere alte Stadt und sahen die Verwüstung dort. Sie sahen die niedergebrannten Reste des Viertels, in dem die Holzhäuser aus dem Mittelalter gestanden hatten. Fast nichts war davon geblieben. Sie sahen es und marschierten hindurch, und die Bewohner, die noch da waren, blieben stehen oder wendeten sich ab, wenn sie vorbeikamen. Die Häftlinge fühlten sich nicht mehr als Gefangene, während sie durch die Straßen marschierten. Auf eine sonderbare Weise hatten sie einen Sieg erfochten, ohne dabeizusein, und die Jahre der Gefangenschaft erschienen plötzlich nicht mehr als Jahre verteidigungsloser Niederlage, sondern als Jahre des Kampfes. Und der Kampf war gewonnen. Sie hatten überlebt. Sie kamen zum Marktplatz. Das Rathaus war völlig zusammengestürzt. Man gab ihnen Hacken und Schaufeln, um den Schutt zu entfernen. Sie arbeiteten. Es roch nach Brand; aber darunter spürten sie wieder den anderen Geruch, süßlich, faul, gegen den Magen pressend, den Geruch, den sie besser kannten als alle anderen: den Geruch der Verwesung. Die Stadt roch in den warmen Apriltagen nach den Leichen, die noch unter den Trümmern begraben waren. Nach zwei Stunden fanden sie unter dem Schutt den ersten Toten. Sie sahen zuerst seine Stiefel. Es war ein SS-Hauptscharführer. »Es hat sich gedreht«, flüsterte Münzer. »Es hat sich endlich gedreht! Jetzt graben wir ihre Toten aus. Ihre Toten!« Er arbeitete mit neuer Kraft weiter. »Vorsichtig!« brüllte eine Wache, die herankam. »Das ist ein Mensch da, siehst du das nicht?« Sie scharrten mehr Schutt hinweg. Die Schultern kamen heraus und dann der Kopf. Sie hoben den Toten hoch und trugen ihn beiseite. »Weiter!« Der SS-Mann war nervös. Er starrte auf den Toten. »Vorsichtig!« Sie gruben rasch nacheinander noch drei andere aus und legten sie zu dem ersten. Sie trugen sie an ihren Stiefeln und an den uniformierten Armen fort. Es war für sie ein unerhörtes Gefühl; bislang hatten sie so, zerschlagen und schmutzig, immer nur ihre Kameraden weggetragen, aus Bunkern, aus Folterkammern, sterbend oder tot, und dann, in den letzten Tagen, eine Anzahl Zivilisten. Jetzt, zum erstenmal, waren es ihre Feinde, die sie so trugen. Sie arbeiteten weiter, und niemand brauchte sie anzutreiben.
Der Schweiß überströmte sie, so arbeiteten sie, um mehr Tote zu finden. Sie schleppten mit Kräften, die sie nie erwartet hätten, Balken und Eisenstangen beiseite und gruben voll Haß und Genugtuung nach Toten, als grüben sie nach Gold.
Nach einer weiteren Stunde fanden sie Dietz. Er hatte das Genick gebrochen. Der Kopf war völlig auf die Brust heruntergepreßt, als hätte er sich selbst die Kehle durchbeißen wollen. Sie rührten ihn anfangs nicht an. Sie schaufelten ihn ganz frei.
Beide Arme waren gebrochen. Sie lagen so da, als hätten sie ein Gelenk zuviel.
»Es gibt einen Gott«, flüsterte der Mann neben Münzer, ohne jemand anzusehen. »Es gibt doch einen Gott! Es gibt einen Gott.«
»Schnauze!« schrie ein SS-Mann. »Was sagst du da?«
Er trat dem Mann in die Knie. »Was hast du gesagt? Ich habe gesehen, daß du geredet hast.«
Der Mann richtete sich auf. Er war über Dietz gefallen. »Ich habe gesagt, wir müßten eine Bahre machen für den Herrn Obergruppenführer«, erwiderte er mit unbewegtem Gesicht. »Wir können ihn nicht einfach so tragen wie die anderen.«
»Du hast hier nichts zu sagen! Hier befehlen wir noch! Verstanden? Verstanden?« »Jawohl.«
Noch, hörte Lewinsky. Befehlen noch! Sie wissen es also, dachte er. Er hob seinen Spaten.
Der SS-Mann blickte auf Dietz. Unwillkürlich stand er stramm. Das rettete den Gefangenen, der wieder an Gott glaubte. Der SS-Mann drehte sich um und holte den Kolonnenführer. Auch der Kolonnenführer nahm so etwas wie Haltung an.
»Die Bahren sind noch nicht da«, erklärte der SS-Mann. Die Antwort des Mannes, der wieder an Gott glaubte, hatte Eindruck auf ihn gemacht. Einen so hohen SS-Offizier konnte man tatsächlich nicht an Armen und Beinen wegschleppen.
Der Kolonnenführer sah sich um. Er bemerkte ein Stück weiter eine Tür unter dem Schutt. »Grabt die da aus. Wir müssen uns einstweilen damit helfen.« Er salutierte zu Dietz hinüber »Legt den Herrn Obergruppenführer vorsichtig auf die Tür drüben.«
Münzer, Lewinsky und zwei andere holten die Tür. Es war eine geschnitzte Arbeit aus dem 16.
Jahrhundert, die eine Darstellung der Auffindung des Moses zeigte. Sie hatte einen Sprung und war angekohlt. Sie faßten Dietz hei den Schultern und den Beinen und hoben ihn hinüber. Die Arme baumelten, und der Kopf fiel sehr weit nach hinten.
»Vorsicht! Lausehunde!« schrie der Kolonnenführer.
Der Tote lag auf der breiten Tür. Unter seinem rechten Arm lächelte das Mosesknäblein aus seinem Binsenkorb hervor. Münzer sah es. Die Tür haben sie vergessen vom Rathaus zu entfernen, dachte er. Moses. Jüdisch. Alles war schon einmal da. Pharao. Bedrückung. Rotes Meer. Rettung.
»Anfassen! Acht Mann!«
Zwölf Mann sprangen so eilig heran wie noch nie. Der Kolonnenführer blickte sich um. Gegenüber stand die zerstörte Marienkirche. Er überlegte einen Augenblick, aber verwarf den Gedanken sofort. Man konnte Dietz nicht in eine katholische Kirche bringen. Er hätte gern um Weisungen telefoniert; aber der Telefondienst war unterbrochen. Er mußte tun, was er am meisten haßte und fürchtete: selbständig handeln.
Münzer sagte etwas. Der Kolonnenführer sah es. »Was? Was hast du gesagt?
Vortreten, Lausehund!«
Lausehund schien sein Lieblingsausdruck zu sein. Münzer trat vor und stand stramm.
»Ich habe gesagt, ob es nicht vielleicht gegen den Respekt wäre, daß ein Obergruppenführer von Schutzhäftlingen getragen wird.« Er sah den Kolonnenführer fest und ehrerbietig an. »Was?« schrie der.
»Was, Lausehund! Was geht das dich an? Von wem denn sonst? Wir haben -« Er verstummte.
Der Einwand Münzers schien Sinn zu haben. Eigentlich hätten SS-Leute den Toten tragen sollen; aber inzwischen konnten die Gefangenen ausreißen.
»Was steht ihr da herum?« schrie er. »Vorwärts!« Und plötzlich kam ihm auch die Erleuchtung, wohin Dietz gebracht werden könne. »Zum Hospital.«
Was der Tote noch im Hospital sollte, war niemandem klar. Es schien nur ein passender, neutraler Platz zu sein. »Vorwärts -« Der Kolonnenführer ging voran. Auch das schien ihm notwendig.
Am Ausgang des Marktplatzes erschien plötzlich ein Automobil. Es war ein niedriger Mercedes- Kompressor. Der Wagen kam langsam herangefahren und suchte einen Weg zwischen den Trümmern. Er wirkte in seiner glatten Eleganz in all der Zerstörung fast obszön. Der Kolonnenführer stand stramm. Ein Mercedes-Kompressor war ein offizieller Wagen für große Bonzen. Zwei hohe SS-Offiziere saßen hinten; ein anderer vorn neben dem Chauffeur. Eine Anzahl Koffer war aufgeschnallt, ein paar kleinere lagen im Wagen. Die Offiziere machten ärgerlich abweisende Gesichter. Der Chauffeur mußte langsam durch den Schutt fahren. Sie kamen dicht an den Gefangenen vorbei, die Dietz auf der Tür trugen. Sie sahen nicht hin. »Los!« sagte der vorderste zu dem Chauffeur. »Schneller.«
Die Gefangenen standen still. Lewinsky hielt die Tür an der hintersten rechten Ecke.
Er sah den gebrochenen Kopf von Dietz und den lächelnden, geschnitzten des geretteten Mosesknäbleins, und er sah den Mercedes und die Koffer und die flüchtenden Offiziere, und er atmete tief.
Der Wagen kroch vorüber. »Scheiße!« sagte einer der SS-Leute plötzlich, cm riesiger Schlächter mit einer Boxernase. »Scheiße. Verfluchte Scheiße!« Er meinte nicht die Gefangenen.
Lewinsky lauschte. Das ferne Grollen ertrank eine kurze Zeit im Dröhnen des Mercedes-Motors; dann kam es wieder durch, gedämpft und unentrinnbar.
Unterirdische Trommeln für einen Totenmarsch.
»Los!« kommandierte der Kolonnenführer irritiert. »Los! Los!«
Der Nachmittag schlich dahin. Das Lager war voller Gerüchte. Sie wehten durch die Baracken und änderten sich jede Stunde. Einmal hieß es, die SS sei fort; dann kam jemand und berichtete, sie sei im Gegenteil verstärkt worden.
Einmal hieß es, amerikanische Tanks seien in der Nähe der Stadt; dann kam durch, es seien deutsche Truppen, die die Stadt verteidigen würden.
Um drei Uhr erschien der neue Blockälteste. Es war ein Roter, kein Grüner »Keiner von uns«, sagte Werner enttäuscht.
»Warum nicht?« fragte 509. »Er ist einer von uns. Ein Politischer. Kein Krimineller.
Oder was meinst du mit ›uns‹?« »Das weißt du doch. Wozu fragst du?«
Sie saßen in der Baracke. Werner wollte bis nach dem Abpfeifen warten, um ins Arbeitslager zurückzugehen. 509 hielt sich versteckt, um zu sehen, wie der neue Blockälteste war. Neben ihnen röchelte sich ein Mann mit schmutzigen weißen Haaren an einer Lungenentzündung zu Tode.
»Einer von uns ist jemand, der zur Untergrundbewegung des Lagers gehört«, dozierte Werner.
»Das wolltest du doch wissen, wie?« Er lächelte.
»Nein«, erwiderte 509. »Das wollte ich nicht wissen. Und das meintest du auch nicht.«
»Einstweilen meine ich das.«
»Ja. Solange die Notgemeinschaft hier notwendig ist. Und dann?« »Dann«, sagte Werner, erstaunt über so viel Unwissenheit,»dann muß selbstverständlich eine Partei dasein, die die Macht übernimmt. Eine geschlossene Partei; nicht ein Haufen zusammengewürfelter Menschen.« »Also deine Partei. Die Kommunisten.« »Wer sonst?« »Jede andere«, sagte 509. »Nur nicht wieder eine totalitäre.« Werner lachte kurz auf. »Du Narr! Keine andere, nur eine totalitäre. Siehst du nicht die Zeichen an der Wand? Alle Zwischenparteien sind zerrieben. Der Kommunismus ist stark geblieben. Der Krieg wird zu Ende gehen. Rußland hat einen großen Teil Deutschlands besetzt. Es ist bei weitem die stärkste Macht in Europa. Die Zeit der Koalitionen ist vorbei. Dieses war die letzte. Die Alliierten haben dem Kommunismus geholfen und sich selbst geschwächt, die Narren. Der Weltfriede wird abhängen von -« »Ich weiß«, unterbrach 509. »Ich kenne das Lied. Sag mir lieber, was mit denen geschähe, die gegen euch sind, wenn ihr gewinnen würdet und die Macht hättet? Oder denen, die nicht für euch sind?« Werner schwieg einen Moment. »Da gibt es viele verschiedene Wege«, sagte er dann. »Ich kenne welche. Du auch. Töten, Foltern, Konzentrationslager – meinst du die auch?« »Unter anderem. Je nachdem, was notwendig ist,« »Das ist ein Fortschritt. Wert, dafür hiergewesen zu sein!« »Es ist ein Fortschritt«, erklärte Werner unbeirrt. »Es ist ein Fortschritt im Ziel. Und auch in der Methode. Wir tun nichts aus Grausamkeit. Nur aus Notwendigkeit.« »Das habe ich oft genug gehört. Weber hat es mir auch erklärt, als er mir Streichhölzer unter die Nägel trieb und sie verbrannte. Es war notwendig, um Informationen zu bekommen.« Das Atmen des weißhaarigen Mannes ging in das stockende Todesröcheln über, das jeder im Lager kannte. Das Röcheln setzte manchmal aus; dann hörte nun in der Stille das leise Grollen am Horizont. Es war wie eine Litanei – der letzte Atem des Sterbenden und die Antwort aus der Ferne. Werner sah 509 an Er wußte, daß Weber ihn wochenlang gefoltert hatte, um Namen und Adressen von ihm zu bekommen. Werners Adresse auch. 509 hatte geschwiegen. Werner war dann später von einem schwachen Parteigenossen verraten worden. »Warum kommst du nicht zu uns, Koller?« fragte er. »Wir können dich gebrauchen.« »Das hat Lewinsky mich auch gefragt. Und darüber haben wir beide schon vor zwanzig Jahren diskutiert.« Werner lächelte. Es war ein gutes, entwaffnendes Lächeln. »Das haben wir. Oft genug. Trotzdem frage ich dich wieder. Die Zeit des Individualismus ist vorbei. Man kann nicht mehr allein stehen. Und die Zukunft gehört uns. Nicht der korrupten Mitte.« 509 blickte auf den Asketenkopf. »Wenn dieses hier vorbei ist«, sagte er langsam,»dann soll es mich wundern, wie lange es dauern wird, bis du ebenso mein Feind bist, wie die da auf den Türmen es jetzt sind.« »Nicht lange. Wir hier hatten eine Notgemeinschaft gegen die Nazis. Die fällt weg, wenn der Krieg zu Ende ist.« 509 nickte. »Es soll mich ebenfalls wundem, wie lange es dauern würde, wenn ihr die Macht hättet, bis du mich einsperren ließest.« »Nicht lange. Du bist immer noch gefährlich. Aber du würdest nicht gefoltert werden.« 509 zuckte die Achseln. »Wir würden dich einsperren und arbeiten lassen. Oder dich erschießen.« »Das ist tröstlich. So habe ich mir euer goldenes Zeitalter immer vorgestellt.« »Deine Ironie ist billig. Du weißt, daß Zwang nötig ist. Er ist die Verteidigung für den Beginn. Später wird er nicht mehr erforderlich sein.« »Hoch«, sagte 509. »Jede Tyrannei braucht ihn. Und jedes Jahr mehr; nicht weniger. »Das ist ihr Schicksal. Und immer ihr Ende. Du siehst es hier.« Nein. Die Nazis haben den fundamentalen Irrtum begangen, einen Krieg anzufangen, dem sie nicht gewachsen waren.«
»Es war kein Irrtum. Es war eine Notwendigkeit. Sie konnten nicht anders. Hätten sie abrüsten müssen und Frieden halten, so wären sie bankrott gewesen.
»Es wird euch ebenso gehen.«
»Wir werden unsere Kriege gewinnen. Wir führen sie anders. Von innen.«
»Ja, von innen und nach innen. Ihr könnt die Lager hier dann gleich behalten. Und sie füllen.«
»Das können wir«, sagte Werner völlig ernst. »Warum kommst du nicht zu uns? «wiederholte er dann.
»Genau deshalb nicht. Wenn du draußen an die Macht kämst, würdest du muh liquidieren lassen.
Ich dich nicht. Das ist der Grund.« Der weißhaarige Mann röchelte jetzt in großen Zwischenräumen. Sulzbacher kam herein. »Sie sagen, daß deutsche Flieger morgen früh das Lager bombardieren sollen. Alles zerstören.«
»Eine neue Latrinenparole«, erklärte Werner. »Ich wollte, es wäre schon dunkel. Ich muß nach drüben.«
Bucher blickte zu dem weißen Haus auf dem Hügel jenseits des Lagers hinüber. Es stand in der schrägen Sonne zwischen den Bäumen und schien unversehrt. Die Bäume des Gartens hatten einen hellen Schimmer, als seien sie überflogen vom ersten Rosa und Weiß der Kirschblüten.
»Glaubst du es jetzt endlich?« fragte er. »Du kannst ihre Kanonen hören. Sie kommen jede Stunde näher. Wir kommen heraus.«
Er sah wieder auf das weiße Haus. Es war sein Aberglaube, daß, solange es heil war, alles gut werden würde. Ruth und er würden am Leben bleiben und gerettet werden.
»Ja.« Ruth hockte neben dem Stacheldraht. »Und wohin sollen wir gehen, wenn wir hinauskommen?« fragte sie. »Weg von hier. So weit wie möglich«
»Wohin?«
»Irgendwohin. Vielleicht lebt mein Vater noch.«
Bucher glaubte es nicht; aber er wußte nicht genau, ob sein Vater tot war. 509 wußte es, doch er hatte es ihm nie gesagt.
»Bei mir lebt niemand mehr«, sagte Ruth. »Ich war dabei, als man sie abholte zu den Gaskammern.«
»Vielleicht sind sie nur auf einen Transport geschickt worden. Oder man hat sie anderswo leben lassen. Dich hat man doch auch leben lassen«. »Ja«, erwiderte Ruth.
»Mich hat man leben lassen.«
»Wir hatten in Münster ein kleines Haus. Vielleicht steht es noch. Man hat es uns weggenommen.
Wenn es noch steht, werden wir es vielleicht wiederbekommen. Wir können dann hinfahren und dort unterkommen.«
Ruth Holland antwortete nicht. Bucher blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie weinte.
Er hatte sie fast nie weinen sehen und glaubte, es sei, weil sie sich an ihre toten Angehörigen erinnert hatte. Tod aber war etwas so Alltägliches im Lager, daß es ihm übertrieben schien, nach so langer Zeit noch so viel Schmerz zu zeigen. »Wir dürfen nicht zurückdenken, Ruth«, sagte er mit einem Schatten von Ungeduld. »Wie sollten wir sonst jemals wieder leben können?« »Ich denke nicht zurück.« »Warum weinst du dann?«
Ruth Holland wischte die Tränen mit den geballten Händen aus den Augen. »Willst du wissen, weshalb man mich nicht vergast hat?« fragte sie.
Bucher spürte unklar, daß etwas kam, von dem er besser nichts wußte. »Du, brauchst es mir nicht zu sagen«, erklärte er,»Aber du kannst es auch sagen, wenn du willst. Es macht nichts aus.«
»Es macht etwas aus. Ich war siebzehn Jahre alt. Damals war ich nicht so häßlich wie heute.
Deshalb ließ man mich leben.«
»Ja«, sagte Bucher, ohne sie zu verstehen.
Sie blickte ihn an. Er sah zum ersten Male, daß sie sehr durchsichtige, graue Augen hatte. Früher hatte er es nie so gemerkt. »Begreifst du nicht, was das heißt?« fragte sie.
»Nein.«
»Man ließ mich leben, weil man Frauen brauchte. Junge – für die Soldaten. Für die Ukrainer auch, die mit den Deutschen zusammen kämpften. Begreifst du es nun?«
Bucher saß einen Augenblick wie betäubt. Ruth beobachtete ihn. »Das haben sie mit dir getan?«
fragte er schließlich. Er sah sie nicht an.
»Ja. Das haben sie mit mir getan.« Sie weinte nicht mehr,»Es ist nicht wahr.«
»Es ist wahr.«
»Ich meine es nicht so. Ich meine, daß du es nicht gewollt hast.«
Sie brach in ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Da ist kein Unterschied.«
Bucher sah sie jetzt an. In ihrem Gesicht schien jeder Ausdruck erloschen zu "ein; aber gerade das machte es zu einer solchen Maske des Schmerzes, daß er plötzlich fühlte und nicht nur hörte, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Er fühlte es, als zerreiße es seinen Magen; aber gleichzeitig wollte er es nicht anerkennen, noch nicht – er wollte im Moment nur eins: daß dieses Gesicht vor ihm sich ändere.
»Es ist nicht wahr«, sagte er. »Du hast es nicht gewollt. Du warst nicht dabei. Du hast es nicht getan.«
Ihr Blick kam aus einer Leere zurück. »Es ist wahr. Und man kann es nicht vergessen.«
»Niemand von uns weiß, was er vergessen kann und was nicht. Wir alle müssen vieles vergessen.
Sonst können wir ebensogut hierbleiben und sterben.«
Bucher hatte etwas wiederholt, was 509 am Abend vorher gesagt hatte. Wie lange war das her?
Jahre. Er schluckte einige Male. »Du lebst«, sagte er dann mit Anstrengung.
»Ja, ich lebe. Ich bewege mich, ich spreche Worte, ich esse Brot, das du mir herüberwirfst – und das andere lebt auch. Lebt! Lebt!«
Sie drückte die Hände gegen die Schläfen und wendete den Kopf. Sie sieht mich an, dachte Bucher, sie sieht mich schon wieder an. Sie spricht nicht nur mehr gegen den Himmel und den Hügel mit dem Haus. »Du lebst«, wiederholte er. »Das ist genug für mich.«
Sie ließ die Hände sinken. »Du Kind«, sagte sie trostlos. »Du Kind! Was weißt du schon?«
»Ich bin kein Kind. Wer hier war, ist kein Kind. Nicht einmal Karel, der elf Jahre alt ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Jetzt glaubst du, was du sagst. Aber es wird nicht halten! Das andere wird wiederkommen. Bei dir und bei mir. Die Erinnerung, später, wenn -«
Warum hat sie es mir gesagt? dachte Bucher. Sie hätte es mir nicht sagen »ollen; dann hätte ich es nicht gewußt, und es wäre nicht dagewesen. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er. »Aber ich glaube, daß für uns andere Regeln gelten als die gewöhnlichen. Es gibt Leute hier im Lager, die Menschen getötet haben, weil es notwendig war«- er dachte an Lewinsky -,»und diese Leute halten sich nicht für Mörder, ebensowenig wie ein Soldat an der Front sich für einen Mörder hält.
Sie sind auch keine. So ähnlich ist es mit uns. Was uns geschehen ist, kann man nicht mit normalen Maßstäben messen.« »Du wirst anders darüber denken, wenn wir hier heraus sind -« Sie blickte ihn an. Er verstand plötzlich, warum sie in den letzten Wochen so wenig Freude gezeigt hatte. Sie hatte Angst gehabt – Angst vor der Befreiung. »Ruth«, sagte er und fühlte, wie eine rasche Hitze hinter seiner Stirn aufstieg. »Es ist vorbei. Vergiß es. Man hat dich zu etwas gezwungen, das du verabscheut hast. Was bleibt davon? Nichts. Du hast es nicht getan. Man hat nur getan, was man selbst wollte. Und bei dir ist nichts geblieben als Abscheu.«
»Ich habe mich erbrochen«, sagte sie leise. »Ich habe mich hinterher fast immer erbrochen. Sie haben mich schließlich weggeschickt.« Sie sah ihn immer noch an.
»Das ist es, was du hast – graue Haare, einen Mund, in dem viele Zähne fehlen, und eine Hure.«
Er zuckte zusammen bei dem Wort und erwiderte lange nichts. »Sie haben uns alle erniedrigt«, sagte er endlich. »Nicht nur dich. Uns alle. Alle, die hier sind, alle, die in allen Lagern sind. Dich in deinem Geschlecht; uns alle in unserem Stolz und in mehr als unserem Stolz; in unserem Menschsein. Sie haben darauf herumgetrampelt, sie haben es bespuckt, und sie haben uns so erniedrigt, daß man nicht weiß, wie wir es überstanden haben. Ich habe in den letzten Wochen oft darüber nachgedacht. Ich habe auch mit 509 darüber gesprochen. Sie haben so vieles getan – auch mir -«
»Was?«
»Ich will nicht darüber sprechen. 509 hat gesagt, daß es nicht wahr ist, wenn man es innerlich nicht anerkennt. Ich habe das zuerst nicht verstanden. Jetzt aber weiß ich, was er meint. Ich bin kein Feigling, und du bist keine Hure. Alles, was man uns getan hat, bedeutet nichts, solange wir uns nicht so fühlen.«
»Ich fühle mich so.«
»Wenn wir herauskommen, nicht mehr.«
»Noch mehr.«
»Nein. Wenn es so wäre, dann könnten nur wenige von uns weiterleben. Man hat uns erniedrigt; aber wir sind nicht die Erniedrigten. Es sind die anderen, die es getan haben.«
»Wer sagt das?«
»Berger.«
»Du hast gute Lehrer.«
»Ja – und ich habe vieles gelernt.«
Ruth lehnte den Kopf zur Seite. Ihr Gesicht war jetzt müde. Der Schmerz war noch darin; aber es war kein Krampf mehr. »Da sind so viele Jahre«, sagte sie. »Da wird der Alltag sein -«
Bucher sah, daß blaue Wolkenschatten über den Hügel zogen, auf dem das weiße Haus stand.
Einen Augenblick wunderte er sich, daß es noch da war. Ihm schien, als hätte es von einer lautlosen Bombe getroffen sein müssen. Aber es war noch da. »Wollen wir nicht warten, bis wir draußen sind und es versucht haben, bevor wir verzweifeln?« fragte er.
Sie blickte auf ihre dünnen Hände und dachte an ihre grauen Haare und ihre fehlenden Zähne, und dann dachte sie daran, daß Bucher seit Jahren kaum eine Trau außerhalb des Lagers gesehen hatte.
Sie war jünger als er, aber sie fühlte sich um viele Jahre älter; Wissen lag auf ihr wie Blei. Sie glaubte nichts von dem, was er so sicher erwartete – und trotzdem war auch in ihr noch eine letzte Hoffnung, an die sie sich klammerte. »Du hast recht, Josef«, sagte sie. »Wir wollen so lange warten.«
Sie ging zu ihrer Baracke zurück. Ihr schmutziger Rock schlug um die dünnen Beine.
Er sah ihr nach und spürte plötzlich Wut wie eine kochende Fontäne in sich aufsteigen.
Er wußte, daß er hilflos war und nichts tun konnte, und auch, daß er darüber hinwegkommen und selbst einsehen und verstehen mußte, was er Ruth gesagt hatte.
Langsam stand er auf und ging zur Baracke. Er konnte auf einmal den hellen Himmel nicht mehr ertragen.