Die Latrine war überfüllt mit Skeletten. Eine lange Reihe stand an und schrie den anderen zu, rasch zu machen. Ein Teil der Wartenden lag auf der Erde und wand sich in Krämpfen. Andere hockten angstvoll nahe den Wänden und entleerten sich, wenn sie sich nicht mehr halten konnten. Ein Mann stand aufrecht da, wie ein Storch, ein Knochenbein hochgezogen, einen Arm gegen die Barackenwand gestützt, und starrte mit offenem Mund ins Weite. Er stand eine Zeitlang so; dann fiel er tot um. Das kam manchmal vor: Skelette, die kaum noch kriechen konnten, richteten sich plötzlich mühevoll auf; standen eine Weile mit leeren Augen da und fielen tot um, als sei ihr letzter Wunsch vor dem Ende gewesen, noch einmal aufrecht wie ein Mensch dazustehen. Lebenthal trat vorsichtig über das tote Skelett hinweg und ging dem Eingang zu. Sofort begann ein aufgeregtes Schnattern. Die Wartenden glaubten, er wolle sich vordrängen. Man zerrte ihn zurück und schlug mit mageren Fäusten auf ihn ein.
Keiner wagte dabei, die Reihe zu verlassen; die anderen hatten ihn nicht wieder an seinen Platz gelassen. Trotzdem gelang es den Skeletten, Lebenthal umzureißen und mit Füßen zu treten. Es schadete ihm wenig sie hatten keine Kraft. Er richtete sich auf. Er hatte nicht betrügen wollen. Er war auf der Suche nach Bethke vom Transportkommando. Man hatte ihm gesagt, Bethke sei hierher gegangen. Eine Zeitlang wartete er noch am Ausgang, weit genug von de schimpfenden Reihe entfernt. Bethke war ein Kunde für den Zahn Lohmanns. Er kam nicht. Lebenthal konnte auch nicht verstehen, was er auf dieser lausten Latrine zu tun haben sollte. Zwar wurde auch hier etwas gehandelt; aber ein Bonze wie Bethke hatte für so etwas ganz andere Gelegenheiten. Lebenthal gab das Warten schließlich auf und ging zur Waschbaracke hinüber. Sie bestand aus einem kleineren Trakt, der sich an die Latrine anschloß und lange Zementtröge enthielt, über denen Wasserrohre mit kleinen Öffnungen angebracht waren. Trauben von Häftlingen drängten sich darum; die meisten, um zu trinken oder das Wasser in Blechbüchsen aufzufangen und es mitzunehmen. Es war immer zu wenig Wasser da, um sich wirklich waschen zu können – und wer sich auszog, um es zu versuchen, mußte stets Angst haben, daß seine Sachen inzwischen gestohlen wurden. Der Waschraum war bereits ein Platz für den etwas besseren schwarzen Markt. Auf der Latrine wurden höchstens Brotkrusten, Abfall und ein paar Zigarettenstummel umgesetzt. Der Waschraum dagegen war schon ein Ort für die kleinen Kapitalisten. Hierher kamen bereits Leute vom Arbeitslager. Lebenthal drängte sich langsam hindurch. »Was hast du?« fragte ihn jemand. Leo sah den Mann kurz an. Es war ein abgerissener Häftling, der nur ein Auge hatte. »Nichts.« »Ich habe Karotten.« »Kein Interesse.« Lebenthal wirkte im Waschraum plötzlich entschlossener als je in Baracke 22. »Kaffer.« »Selber einer.« Lebenthal kannte einige der Händler. Er hätte um die Karotten gehandelt, wenn er heute nicht auf Bethke aus gewesen wäre. Es wurden ihm noch Sauerkraut, ein Knochen und einige Kartoffeln zu Wucherpreisen angeboten; er lehnte sie ab und ging weiter. In der äußersten Ecke der Baracke bemerkte er einen jungen Burschen mit weibischen Zügen, der nicht hierher zu gehören schien. Er aß gierig etwas aus einer Konservenbüchse, und Lebenthal sah, daß er nicht nur dünne Suppe aß; er kaute auch. Neben ihm stand ein gut genährter Häftling von etwa vierzig Jahren, der ebenfalls nicht in den Raum paßte. Er gehörte ohne Zweifel zur Aristokratie des Lagers. Sein kahler, fetter Kopf glänzte, und seine Hand glitt langsam über den Rücken des Burschen. Das Haar des Jungen war nicht geschoren; er trug es gut gekämmt, mit einem Scheitel. Er war auch nicht schmutzig. Lebenthal drehte sich um. Er wollte enttäuscht zu dem Karottenverkäufer zurückgehen, als er Bethke plötzlich kommen und sich rücksichtslos zu der Ecke durchdrängen sah, wo der Junge stand. Lebenthal trat ihm in den Weg. Bethke stieß ihn beiseite und stellte sich vor den Jungen. »So, hier hast du dich versteckt, Ludwig, du Hure! Da habe ich dich doch mal erwischt!« Der Junge starrte ihn an und schluckte eilig. Er erwiderte nichts. »Mit einem verdammten Kahlkopf von einem Küchenbullen«, ergänzte Bethke giftig. Der Küchenbulle beachtete Bethke nicht. »Iß, mein Junge«, sagte er träge zu Ludwig. »Wenn du dann noch hungrig bist, kannst du mehr haben.« Bethke wurde rot. Er schlug mit der Faust gegen die Konservendose. Der Inhalt schwappte über, Ludwig ins Gesicht. Ein Kartoffelstück fiel auf den Boden. Zwei Skelette stürzten sich darauf, rissen es weg und schlugen sich darum. Bethke trat sie beiseite. »Kriegst du von mir nicht genug?« fragte er. Ludwig hielt die Dose mit beiden Händen fest an die Brust gedrückt. Er verzog ängstlich sein Gesicht und blickte von Bethke zu dem Kahlkopf. »Scheinbar nicht«, erklärte der Küchenbulle in die Richtung Bethkes. »Mach dir nichts draus«, sagte er dann zu dem Jungen. »Iß weiter, und wenn du nicht genug hast, gibt's mehr. Von mir kriegst du auch keine Prügel.« Bethke sah aus, als wolle er sich auf den Kahlkopf stürzen; aber er traute sich nicht. Er wußte nicht, wieviel Protektion der andere hatte. So etwas war außerordentlich wichtig im Lager. Wenn der Kahlkopf die volle Protektion des Küchenkapos hatte, konnte eine Schlägerei schlecht für Bethke ausgehen. Die Küche hatte glänzende Verbindungen, und es war bekannt, daß sie Schiebungen mit dem Lagerältesten und mit verschiedenen SS-Leuten machte. Bethkes eigener Kapo dagegen mißtraute ihm. Bethke wußte, daß er nicht viel für ihn tun würde; er hatte zu wenig Schmiere von ihm bekommen. Das Lager war voll von solchen Intrigen. Bethke konnte glatt seinen Posten verlieren und wieder ein einfacher Sträfling werden, wenn er nicht vorsichtig war. Dann war es vorbei mit den erträglichen Geschäften außerhalb des Lagers, während der Fahrten zum Bahnhof und zum Depot. »Was soll das alles heißen?« fragte er den Kahlkopf ruhiger. »Was geht es dich an?« Bethke schluckte. »Es geht mich was an.« Er wandte sich an den Jungen. »Habe ich dir nicht den Anzug besorgt?« Ludwig hatte eilig weitergegessen, während Bethke mit dem Kahlkopf sprach. Jetzt ließ er die Dose fallen, drückte sich mit einer raschen, unvermuteten Bewegung zwischen den beiden hindurch und drängte dem Ausgang zu. Ein paar Skelette balgten sich bereits um die Dose, um sie auszukratzen. »Komm wieder«, rief der Küchenbulle dem Jungen nach. »Bei mir gibt es immer genug.« Er lachte. Bethke hatte versucht, den Burschen zu halten, war aber über die Skelette am Boden gestolpert. Er kam wütend hoch und trat auf die huschenden Finger. Eines der Skelette quietschte wie eine Maus. Das andere entkam mit der Büchse. Der Küchenbulle begann den Walzer »Rosen aus dem Süden« zu pfeifen und ging herausfordernd langsam an Bethke vorbei. Er hatte einen Bauch und war gut genährt. Sein dicker Hintern wippte. Fast alle Sträflinge in der Küche waren gut im Futter. Bethke spuckte hinter ihm her. Er spuckte aber so vorsichtig, daß er nur Lebenthal traf. »Da bist du ja«, sagte er grob. »Was willst du? Komm mit. Woher weißt du, daß ich hier bin?« Lebenthal antwortete auf keine der Fragen. Er war im Geschäft; da war keine Zeit zu überflüssigen Erklärungen. Er hatte zwei ernsthafte Reflektanten für den Zahn Lohmanns: Bethke und einen Vormann von einem der Außenkommandos. Beide brauchten Geld. Der Vormann war einer gewissen Mathilde hörig, die in derselben Fabrik arbeitete wie er und die er durch Bestechungen ab und zu allein treffen konnte. Sie wog fast 200 Pfund und erschien ihm überirdisch schön; Gewicht war im Lager dauernden Hungers ein Maßstab für Schönheit. Er hatte Lebenthal einige Pfund Kartoffeln und ein Pfund Fett angeboten. Lebenthal hatte abgelehnt und gratulierte sich jetzt dazu. Er hatte die Szene von vorher blitzschnell kalkuliert und versprach sich nun mehr von dem schwulen Bethke. Abnormale Liebe hielt er für opferbereiter als normale. Nach dem, was er beobachtet hatte, hatte er auch in Gedanken sofort seinen Preis erhöht. »Hast du den Zahn bei dir?« fragte Bethke. »Nein.« Sie standen draußen. »Ich kaufe nichts, was ich nicht sehe.« »Eine Krone ist eine Krone. Backenzahn. Schweres, solides Friedensgold.« »Mist! Erst sehen! Sonst ist nichts zu wollen.«
Lebenthal wußte, daß der viel kräftigere Bethke ihm den Zahn einfach wegnehmen würde, wenn er ihn sähe. Er hätte nichts dagegen machen können. Wenn er sich beschwert hätte, würde man ihn aufgehängt haben. »Schön, dann nicht«, sagte er ruhig. »Andere Leute sind nicht so schwierig.«
»Andere Leute! Quatschkopf! Finde erst mal welche.«
»Ich weiß welche. Gerade jetzt war einer da.«
»So? Den möchte ich sehen!« Bethke blickte verächtlich um sich. Er wußte, daß der Zahn nur für jemand von Nutzen sein konnte, der Beziehungen nach draußen hatte.
»Du hast meinen Reflektanten vor einer Minute selbst gesehen«, sagte Lebenthal. Es war eine Lüge.
Bethke stutzte. »Wer? Der Küchenbulle?«
Lebenthal hob die Schultern. »Es muß doch einen Grund haben, daß ich gerade hier bin. Vielleicht will jemand ein Geschenk für einen anderen kaufen und braucht dazu Geld. Gold ist draußen sehr gesucht. Essen hat er ja genug zum Tauschen.«
»Du Gauner!« sagte Bethke wütend. »Du Erzgauner!«
Lebenthal hob einmal die schweren Lider und klappte sie wieder nieder. »Etwas, was es im Lager nicht gibt«, fuhr er ungerührt fort. »Etwas Seidenes, zum Beispiel.«
Bethke erstickte fast. »Wieviel?« krächzte er.
»Fünfundsiebzig«, erklärte Lebenthal fest. »Ein Vorzugspreis.« Er hatte dreißig verlangen wollen.
Bethke sah ihn an. »Weißt du, daß ein Wort von mir dich an den Galgen bringen kann?«
»Sicher. Wenn du es beweisen kannst. Und was hast du davon? Nichts. Du willst den Zahn haben.
Also reden wir geschäftlich.«
Bethke schwieg einen Augenblick. »Kein Geld«, sagte er dann. »Essen.«
Lebenthal erwiderte nichts. »Ein Hase«, sagte Bethke. »Ein toter Hase. Überfahren. Wie ist das?«
»Was für ein Hase? Hund oder Katze?«
»Ein Hase, sage ich dir. Ich habe ihn selbst überfahren.«
»Hund oder Katze?«
Sie starrten sich eine Zeitlang an. Lebenthal blinkte nicht. »Hund«, sagte Bethke.
»Schäferhund?«
»Schäferhund! Warum kein Elefant? Mittlere Größe. Wie ein Terrier. Fett.«
Lebenthal verriet nichts. Der Hund war Fleisch. Ein riesiger Glücksfall. »Wir können ihn nicht kochen«, sagte er. »Nicht einmal abziehen. Wir haben nichts dazu.«
»Ich kann ihn abgezogen liefern.«
Bethke wurde eifriger. Er wußte, daß der Küchenbulle ihn im Essenbesorgen bei Ludwig leicht schlagen konnte. Er mußte deshalb etwas von außerhalb des Lagers bekommen, um konkurrieren zu können. Eine kunstseidene Unterhose, dachte er. Das würde wirken und ihm selber auch noch Vergnügen machen. »Gut, ich koche ihn dir sogar«, sagte er.
»Trotzdem schwierig. Wir müssen ein Messer dazu haben.«
»Ein Messer? Wozu ein Messer?«
»Wir haben keine Messer bei uns. Wir müssen ihn zerschneiden. Der Küchenbulle hat mir -«
»Gut, gut«, unterbrach Bethke ihn ungeduldig. »Also ein Messer dazu.« Die Unterhose sollte blau sein. Oder lila. Lila war besser. Da war ein Geschäft nahe dem Depot, das hatte so was. Der Kapo würde ihn hingehen lassen. Den Zahn würde er dem Dentisten nebenan verkaufen.
»Meinetwegen auch noch ein Messer. Damit ist es aber genug.«
Lebenthal sah, daß er im Moment nicht viel mehr herauskriegen würde. »Ein Brot natürlich noch«, sagte er. »Das gehört ja dazu. Wann?«
»Morgen abend. Wenn es dunkel ist. Hinter der Latrine. Bring den Zahn mit.«
»Ist es ein junger Terrier?«
»Wie soll ich das wissen? Bist du verrückt? So mittel. Warum?«
»Er muß sonst länger kochen.«
Bethke sah aus, als wollte er Lebenthal ins Gesicht springen. »Sonst noch was?« fragte er leise.
»Preiselbeersoße? Kaviar?«
»Das Brot?«
»Wer hat was von Brot geredet?«
»Der Küchenbulle -«
»Halt die Schnauze. Ich werde sehen -« Bethke hatte es plötzlich eilig. Er wollte Ludwig auf die Unterhose scharfmachen. Seinetwegen konnte der Küchenbulle ihn füttern; aber wenn er die Unterhose in Reserve hatte, so würde das den Ausschlag geben. Ludwig war eitel. Ein Messer konnte er stehlen. Brot war auch nicht so wichtig.
Und der Terrier war nur ein Dachshund. »Morgen abend also«, sagte er. »Warte hinter der Latrine.«
Lebenthal ging zurück. Er glaubte noch nicht ganz an sein Glück. Ein Hase, würde er in der Baracke sagen. Nicht, weil es ein Hund war, das schreckte keinen – es hatte Leute gegeben, die versucht hatten, Fleisch von Leichen zu essen -, sondern weil es zu den Freuden des Geschäfts gehörte, zu übertreiben. Außerdem hatte er Lohmann gern gehabt; deshalb sollte etwas Außerordentliches gegen seinen Zahn getauscht werden.
Das Messer konnte man im Lager leicht verkaufen; das gab neues Geld zum Handeln.
Das Geschäft war erledigt. Der Abend war neblig geworden, und weiße Schwaden zogen durch das Lager. Lebenthal schlich durch das Dunkel zurück. Er trug den Hund und das Brot unter seiner Jacke versteckt.
Ein Stück vor der Baracke bemerkte er einen Schatten, der mitten über die Straße schwankte. Er sah sofort, daß es keiner von den gewöhnlichen Sträflingen war; die bewegten sich nicht so. Einen Augenblick später erkannte er den Blockältesten von 22.
Handke ging, als sei er auf einem Schiri. Lebenthal wußte sofort, was es bedeutete.
Handke hatte seinen Tag; er mußte irgendwoher Alkohol bekommen haben. Es war nicht mehr möglich, unbemerkt an ihm vorüber in die Baracke zu kommen, um den Hund zu verstecken und die anderen zu warnen. Lebenthal glitt deshalb leise hinter die Rückwand der Baracke und versteckte sich im Schatten.
Westhof war der erste, dem Handke begegnete. »Heda, du!« schrie er.
Westhof blieb stehen.
»Weshalb bist du nicht in der Baracke?«
»Ich bin auf dem Wege zur Latrine.«
»Selber Latrine. Komm hierher!«
Westhof trat näher. Er sah im Nebel Handkes Gesicht nur undeutlich.
»Wie heißt du?«
»Westhof.«
Handke schwankte. »Du heißt nicht Westhof. Du heißt stinkender Saujude. Wie heißt du?«
»Ich bin kein Jude.«
»Was?« Handke schlug ihm ins Gesicht. »Von welchem Block bist du?«
»Zweiundzwanzig.«
»Auch das noch! Von meinem eigenen! Lump! Welche Stube?«
»Stube D!«
»Hinlegen!«
Westhof warf sich nicht hin. Er blieb stehen. Handke trat einen Schritt näher. Westhof sah jetzt sein Gesicht und wollte weglaufen. Handke trat ihm gegen das Schienbein. Er war als Blockältester gut genährt und viel stärker als jedermann im Kleinen Lager.
Westhof fiel, und Handke trat ihm gegen die Brust. »Hinlegen, Judenschwein!«
Westhof legte sich flach auf den Boden.
»Stube D 'raustreten!« schrie Handke.
Die Skelette kamen heraus. Sie wußten bereits, was geschehen würde. Einer von ihnen würde verprügelt werden. Handkes Sauftage endeten immer so. »Sind das alle?« lallte Handke.
»Stubendienst!«
»Jawohl!« meldete Berger.
Handke starrte durch das neblige Dunkel auf die Reihen. Bucher und 509 standen zwischen den anderen. Sie konnten mühselig wieder gehen und stehen. Ahasver fehlte.
Er war mit dem Schäferhund in der Baracke geblieben. Wenn Handke gefragt hätte, hätte Berger ihn als tot gemeldet. Aber Handke war betrunken und hätte auch nüchtern nicht genau Bescheid gewußt. Er ging ungern in die Baracken, aus Angst vor Dysenterie und Typhus.
»Wer sonst will hier noch Gehorsam verweigern?« Handkes Stimme wurde dicker.
»Laus – Lausejuden!«
Niemand antwortete. »Schteht schtramm! Wie Kultur – Kulturmenschen!«
Sie standen stramm. Handke glotzte sie eine Weile an, dann drehte er sich um und begann Westhof, der noch auf dem Boden lag, mit Füßen zu treten. Westhof hielt seinen Kopf mit den Armen geschützt. Handke trat ihn eine Zeitlang. Es war still, und man hörte nichts anderes als das dumpfe Aufschlagen der Stiefel Handkes gegen die Rippen Westhofs. 509 spürte, wie Bucher sich neben ihm regte. Er packte sein Handgelenk und hielt ihn fest. Buchers Hand zuckte. 509 ließ nicht los. Handke trat stumpfsinnig weiter. Endlich wurde er müde und sprang einige Male auf Westhofs Rücken. Westhof rührte sich nicht. Handke kam zurück. Sein Gesicht war naß von Schweiß.
»Juden!« sagte er. »Wie Läuse drauftreten muß man auf euch. Was seid ihr?«
Er zeigte mit unsicherem Finger auf die Skelette. »Juden«, erwiderte 509.
Handke nickte und sah einige Sekunden lang tiefsinnig auf den Boden. Dann drehte er sich um und ging zu dem Drahtzaun hinüber, der die Frauenbaracken abtrennte. Er stand dort, und man hörte ihn schnaufen. Er war früher Buchdrucker gewesen und wegen Sittlichkeitsverbrechens ins Lager gekommen; seit einem Jahr war er Blockältester. Nach einigen Minuten kam er zurück und stapfte, ohne sich um jemand zu kümmern, die Lagerstraße zurück.
Berger und Karel drehten Westhof um. Er war bewußtlos. »Hat er ihm die Rippen gebrochen?«
fragte Bucher.
»Er hat ihm gegen den Kopf getreten«, erwiderte Karel. »Ich habe es gesehen.«
»Sollen wir ihn hineintragen?«
»Nein«, sagte Berger. »Laßt ihn hier. Er liegt einstweilen besser hier. Drinnen ist zu wenig Platz. Ist noch Wasser da?«
Sie hatten eine Konservendose mit Wasser. Berger öffnete die Jacke Westhofs.
»Sollten wir ihn nicht doch lieber 'reinbringen?« fragte Bucher. »Das Aas kann noch einmal wiederkommen.«
»Er kommt nicht wieder. Ich kenne ihn. Er hat sich jetzt ausgetobt.«
Lebenthal glitt um die Ecke der Baracke. »Ist er tot?«
»Nein. Noch nicht.«
»Er hat ihn getreten«, sagte Berger. »Sonst schlägt er nur. Er muß mehr Schnaps als gewöhnlich gekriegt haben.«
Lebenthal preßte den Arm gegen seine Jacke. »Ich habe Essen.«
»Leise! Sonst hört es die ganze Baracke. Was hast du?«
»Fleisch«, flüsterte Lebenthal. »Für den Zahn.«
»Fleisch?«
»Ja. Viel. Und Brot.«
Er sagte nichts mehr von dem Hasen. Das paßte nicht mehr. Er sah auf die dunkle Gestalt am Boden, neben der Berger kniete. »Vielleicht kann er noch etwas davon essen«, sagte er. »Es ist gekocht.«
Der Nebel war dichter geworden. Bucher stand an dem doppelten Drahtzaun, der die Frauenbaracke abtrennte. »Ruth!« flüsterte er. »Ruth!«
Ein Schatten kam heran. Er starrte hinüber, konnte die Gestalt aber nicht erkennen.
»Ruth«, flüsterte er wieder. »Bist du da?«
»Kannst du mich sehen?« »Ja.«
»Ich habe etwas zu essen. Siehst du meine Hand?« »Ja, ja.«
»Es ist Fleisch. Ich werfe es hinüber. Jetzt.«
Er nahm das kleine Stück Fleisch und warf es über die beiden Stacheldrahtzäune. Es war die Hälfte der Portion, die er bekommen hatte. Er hörte es auf der anderen Seite niederfallen. Der Schatten bückte sich und suchte auf dem Boden. »Links! Links von dir!« flüsterte Bucher. »Es muß ungefähr einen Meter links von dir liegen. Hast du es gefunden?« »Nein.«
»Links. Einen Meter weiter. Gekochtes Fleisch! Such es, Ruth.« Der Schatten hielt inne. »Hast du es?« »Ja.«
»Gut. Iß es gleich. Ist es gut?« »Ja. Hast du noch mehr?«
Bucher stutzte. »Nein. Ich habe meinen Teil schon gehabt.« »Du hast noch etwas! Wirf es hinüber!«
Bucher trat so dicht an den Draht, daß die Stacheln ihm in die Haut drangen. Die Innenzäune des Lagers waren nicht elektrisch geladen. »Du bist nicht Ruth! Bist du Ruth?«
»Ja, Ruth. Mehr! Wirf!«
Er wußte plötzlich, daß es nicht Ruth war. Ruth hätte das alles nicht gesagt. Der Nebel, die Aufregung, der Schatten und das Flüstern hatten ihn getäuscht. »Du bist nicht Ruth! Sag, wie ich heiße!« »Psst! Leise! Wirf!« »Wie heiße ich? Wie heiße ich?«
Der Schatten antwortete nicht. »Das Fleisch ist für Ruth! Für Ruth!« flüsterte Bucher.
»Gib es ihr! Verstehst du? Gib es ihr!« »Ja, ja. Hast du noch mehr?« »Nein! Gib es ihr! Es gehört ihr! Nicht dir! Ihr!« »Ja, natürlich -« »Gib es ihr. Oder ich – ich -«
Er hielt inne. Was konnte er schon tun? Er wußte, daß der Schatten das Stück Fleisch längst heruntergeschlungen hatte. Verzweifelt ließ er sich zu Boden fallen, als habe eine unsichtbare Faust ihn niedergeschlagen. »Oh, du – verdammtes Biest – verrecken sollst du – verrecken daran -«
Es war zu viel. Nach so vielen Monaten ein Stück Fleisch und es so idiotisch zu verlieren! Er schluchzte ohne Tränen.
Der Schatten gegenüber wisperte:»Gib mehr – ich zeige dir auch – hier -«
Es schien, als hebe sie den Rock. Die Bewegungen waren verzerrt durch das weißliche Wogen, als tanze dort eine groteske, unmenschliche Figur in Bocksprüngen.
»Du Aas!« flüsterte Bucher. »Du Aas, verrecke dran! Ich Idiot – ich Idiot -«
Er hätte genau fragen sollen, ehe er das Fleisch warf – oder er hätte warten sollen, bis es klarer geworden wäre; aber dann hätte er das Fleisch vielleicht schon selbst gegessen gehabt. Er hatte es Ruth rasch geben wollen. Der Nebel war ihm als Glücksfall erschienen. Und nun – er stöhnte und hämmerte mit den Fäusten auf den Boden. »Ich Idiot! Was habe ich getan!« Ein Stück Fleisch war ein Stück Leben. Er hätte sich erbrechen können vor Elend.
Die Kühle der Nacht weckte ihn. Er stolperte zurück. Vor der Baracke stürzte er über jemand.
Dann sah er 509.
»Wer ist das hier? Westhof?« fragte er.
»Ja.«
»Ist er tot?«
»Ja.«
Bucher beugte sich dicht über das Gesicht am Boden. Es war feucht vom Nebel und hatte dunkle Flecken von den Tritten Handkes. Er sah das Gesicht und dachte an das verlorene Stück Fleisch, und beides schien ihm plötzlich zusammenzugehören.
»Verflucht«, sagte er. »Warum haben wir ihm nicht geholfen?« 509 sah auf. »Was redest du da für Unsinn? Konnten wir das denn?«
»Ja. Vielleicht. Warum nicht? Wir haben anderes gekonnt.« 509 schwieg. Bucher ließ sich neben ihn fallen. »Wir sind bei Weber durchgekommen«, sagte er.
509 blickte in den Nebel. Da war es schon wieder, dachte er. Das falsche Heldentum.
Das alte Elend. Dieser Junge hatte zum erstenmal seit Jahren ein verzweifeltes bißchen Aufruhr gespürt, das gut ausgegangen war – und ein paar Tage später bereits begann die Phantasie mit der romantischen Verfälschung, die das Risiko vergaß.
»Du meinst, wenn wir gegen den Lagerführer selbst durchgekommen sind, hätte das auch bei einem betrunkenen Blockältesten klappen müssen, wie?«
»Ja. Warum nicht?«
»Und was hätten wir tun sollen?«
»Ich weiß nicht. Irgend etwas. Aber nicht Westhof einfach tottreten lassen.«
»Wir hätten zu sechs oder acht über Handke herfallen können. Meinst du das?«
»Nein. Das hätte nichts genützt. Er ist stärker als wir.«
»Was hätten wir dann tun sollen? Mit ihm reden? Ihm sagen, er solle vernünftig sein?«
Bucher antwortete nicht. Er wußte, daß auch das nichts genützt hätte. 509 beobachtete ihn eine Weile. »Hör zu«, sagte er dann. »Bei Weber hatten wir nichts zu verlieren. Wir haben uns geweigert und damit unbegreifliches Glück gehabt. Hätten wir aber heute abend irgend etwas gegen Handke unternommen, dann hätte er noch ein, zwei mehr erschlagen und die Baracke wegen Meuterei gemeldet. Berger und ein paar andere wären gehenkt worden. Westhof auf jeden Fall.
Du wahrscheinlich auch.
Essenentzug für ein paar Tage wäre das nächste gewesen. Das hätte ein Dutzend Tote mehr gemacht. Stimmt das?«
Bucher zögerte. »Vielleicht«, sagte er dann.
»Weißt du etwas anderes?«
Bucher dachte nach. »Nein.«
»Ich auch nicht. Westhof hatte den Lagerkoller. Ebenso wie Handke. Hätte er gesagt, was Handke wollte, wäre er mit ein paar Schlägen weggekommen. Er war ein guter Mann. Wir hätten ihn brauchen können. Er war ein Narr.« 509 wandte sich Bucher zu.
Seine Stimme war voll Bitterkeit. »Glaubst du, du bist der einzige, der hier sitzt und über ihn nachdenkt?«
»Nein.«
»Vielleicht hätte er den Mund gehalten und lebte noch, wenn wir beide nicht bei Weber durchgekommen wären. Vielleicht hat gerade das ihn heute unvorsichtig gemacht. Hast du auch einmal darüber nachgedacht?«
»Nein.« Bucher starrte 509 an. »Glaubst du das?«
»Es kann sein. Ich habe größere Narrheiten erlebt. Und bei besseren Männern. Und je besser die Männer, um so größer war oft die Narrheit, wenn sie glaubten, Mut zeigen zu müssen.
Verdammter Lesebuchquatsch! Kennst du Wagner von Baracke 21?«
»Ja.«
»Er ist eine Ruine. Aber er war ein Mann und hatte Mut. Zuviel. Er schlug zurück.
Zwei Jahre lang war er das Entzücken der SS. Weber liebte ihn beinahe. Dann war er fertig. Für immer. Und für was? Wir hätten ihn gut gebrauchen können. Aber er konnte seinen Mut nicht beherrschen. So gab es viele. Wenige sind noch davon da. Und noch weniger, die nicht kaputt sind. Deshalb habe ich dich heute abend festgehalten, als Handke auf Westhof 'rumtrat. Und deshalb habe ich geantwortet, als er fragte, was wir sind. Verstehst du das endlich?« »Du glaubst, daß Westhof -« »Es ist egal. Er ist tot -« Bucher schwieg. Er sah 509 jetzt deutlicher. Der Nebel hatte sich etwas gehoben, und an einer Stelle tropfte Mondlicht hindurch. 509 hatte sich aufgerichtet. Sein Gesicht war schwarz und blau und grün von Blutergüssen. Bucher erinnerte sich plötzlich an alte Geschichten über ihn und Weber, die er gehört hatte. Er mußte selbst einmal einer der Leute gewesen sein, von denen er sprach. »Hör zu«, sagte 509. »Und höre gut zu. Es ist eine billige Romanphrase, daß Geist nicht zu brechen sei. Ich habe gute Leute gekannt, die nichts mehr waren als heulende Tiere. Fast jeden Widerstand kann man brechen; man braucht nur genügend Zeit und Gelegenheit dazu. Das haben die da drüben -«, er machte eine Gebärde zu den SS-Kasernen hinüber,»die haben es ganz gut gewußt. Und sie sind immer dahinter her gewesen. Bei Widerstand kommt es nur darauf an, was man damit erreicht; nicht wie es aussieht. Sinnloser Mut ist sicherer Selbstmord. Unser bißchen Widerstand aber ist das einzige, was wir noch haben. Wir müssen es verstecken, damit sie es nicht finden – es nur in äußerster Not gebrauchen -, so wie wir es bei Weber getan haben. Sonst -« Das Mondlicht hatte den Körper Westhofs erreicht. Es huschte über sein Gesicht und seinen Nacken. »Ein paar von uns müssen übrigbleiben«, flüsterte 509. »Für später. Dieses alles darf nicht umsonst gewesen sein. Ein paar, die nicht kaputt sind.« Er lehnte sich erschöpft zurück. Denken erschöpfte ebenso wie Laufen. Meistens konnte man es nicht vor Hunger und Schwäche; aber manchmal kam dazwischen eine seltsame Leichtigkeit, alles war überdeutlich, und man konnte kurze Zeit weit sehen – bis der Nebel der Müdigkeit alles wieder überkroch. »Ein paar, die nicht kaputt sind und die nicht vergessen wollen«, sagte 509. Er sah Bucher an. Er ist über zwanzig Jahre jünger als ich, dachte er. Er kann noch viel tun. Er ist noch nicht kaputt. Und ich? Die Zeit, dachte er, plötzlich verzweifelt. Sie fraß und fraß. Man würde es erst merken, wenn dieses hier vorbei war. Man würde erst wirklich merken, ob man kaputt war, wenn man wieder neu anfangen wollte draußen. Diese zehn Jahre im Lager zählten für jeden doppelt und dreifach. Wer hatte noch Kraft genug? Und es würde viel Kraft gebraucht werden. »Man wird vor uns nicht auf die Knie fallen, wenn wir hier herauskommen«, sagte er. »Man wird alles ableugnen und vergessen wollen. Uns auch. Und viele von uns werden es auch vergessen wollen.« »Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte Bucher finster. »Dieses nicht und alles nicht.« »Gut.« Die Welle der Erschöpfung kam stärker. 509 schloß die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. Da war noch etwas, das er aussprechen mußte, bevor er es wieder verlor. Bucher sollte es wissen. Vielleicht war er der einzige, der durchkommen würde. Es war wichtig, daß er es wußte. »Handke ist kein Nazi«, sagte er mit Mühe. »Er ist ein Gefangener wie wir. Draußen hätte er wahrscheinlich nie einen Menschen getötet. Hier tut er es, weil er die Macht dazu hat. Er weiß, daß es uns nichts nützt, wenn wir uns beschweren. Er wird gedeckt. Er hat keine Verantwortung. Das ist es. Macht und keine Verantwortung – zu viel Macht, in falschen Händen, zu viel Macht überhaupt – in irgendeiner Hand -, verstehst du -« »Ja«, sagte Bucher. 509 nickte. »Das und das andere – die Trägheit des Herzens – die Angst – die Drückebergerei des Gewissens – das ist unser Elend – darüber habe ich heute – den ganzen Abend nachgedacht -« Die Müdigkeit war jetzt wie eine schwarze Wolke, die lähmend näher 509 zog ein Stück Brot aus der Tasche. »Hier – ich brauche das nicht – habe mein Fleisch gehabt – gib es Ruth -« Bucher sah ihn an und rührte sich nicht. »Habe alles gehört vorhin drüben« sagte 509 mit schwerer Stimme, schon voll von Niedersinken. »Gib es ihr, es ist -« sein Kopf fiel nach vorn, aber er hob ihn noch einmal, und der von Blutergüssen bunte Schädel leuchtete plötzlich -»auch wichtig – was zu geben -« Bucher nahm das Brot und ging zu dem Zaun hinüber, der das Frauenlager trennte. Der Nebel schwebte jetzt mannshoch. Darunter war alles klar. Es wirkte gespenstisch, als stolperten Muselmänner ohne Köpfe zur Latrine. Nach einiger Zeit kam Ruth. Auch sie hatte keinen Kopf. »Bück dich«, flüsterte Bucher. Sie hockten beide auf dem Boden. Bucher warf das Brot hinüber. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß er Fleisch für sie gehabt hatte. Er tat es nicht. »Ruth«, sagte er. »Ich glaube, wir kommen hier heraus -« Sie konnte nicht antworten. Sie hatte den Mund voll Brot. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie blickte ihn an. »Ich glaube es jetzt sicher«, sagte Bucher. Er wußte nicht, warum er es plötzlich glaubte. Es hatte etwas mit 509 zu tun und mit dem, was er gesagt hatte. Er ging zurück. 509 schlief fest. Sein Kopf lag dicht neben dem Kopf Westhofs. Beide Gesichter waren voll von Blutergüssen, und Bucher konnte fast nicht unterscheiden, wer von ihnen noch atmete. Er weckte 509 nicht. Er wußte, daß er seit zwei Tagen hier draußen auf Lewinsky wartete. Die Nacht war nicht allzu kalt; aber Bucher streifte trotzdem Westhof und zwei anderen Toten die Jacken ab und deckte 509 damit zu.