Auf dem Hof des Krematoriums standen wieder acht Leute. Alle trugen das rote Abzeichen der politischen Häftlinge. Berger kannte keinen von ihnen; aber er kannte jetzt ihr Schicksal.
Der Kapo Dreyer war bereits an seinem Platz im Keller. Berger fühlte, daß etwas in ihm zusammensank, das immer noch geheim auf Aufschub gerechnet hatte. Dreyer war drei Tage nicht dagewesen. Das hatte Berger verhindert, auszuführen, was er sich vorgenommen hatte. Heute gab es keine Ausflucht mehr; er mußte es riskieren. »Fang gleich hier an«, sagte Dreyer mürrisch. »Wir werden sonst kaum fertig. Die krepieren ja neuerdings wie die Fliegen bei euch.«
Die ersten Toten kamen heruntergepoltert. Drei Häftlinge zogen sie aus und sortierten ihre Sachen.
Berger kontrollierte die Zähne; dann packten die drei die Toten in den Auf zug.
Eine halbe Stunde später kam Schulte. Er sah frisch und ausgeschlafen aus, aber er gähnte fortwährend. Dreyer schrieb, und Schulte sah ihm ab und zu über die Schulter.
Der Keller war groß und gelüftet, aber der Geruch der Toten wurde bald sehr stark. Er hing auch in den Kleidern; nicht nur an den nackten Körpern. Die Lawine der Leichen hörte nicht auf; sie schien die Zeit unter sich zu verschütten, und Berger wußte fast nicht mehr, ob es schon Abend war oder erst Mittag, als Schulte endlich aufstand und erklärte, zum Essen zu gehen.
Dreyer legte seine Sachen zusammen. »Um wieviel sind wir dem Verbrennungsraum voraus?«
»Um zweiundzwanzig.«
»Gut. Mittagspause. Sagt denen oben, sie sollen aufhören, herunterzuwerfen, bis ich zurückkomme.«
Die drei anderen Häftlinge gingen sofort hinaus. Berger legte noch einen Toten zurecht. »Los!
Schieb ab!« knurrte Dreyer. Der Pickel auf seiner Oberlippe hatte sich in einen schmerzhaften Furunkel verwandelt.
Berger richtete sich auf. »Wir haben vergessen, diesen hier einzuschreiben.«
»Was?«
»Wir haben vergessen, diesen Toten hier als Abgang aufzuführen.«
»Blödsinn! Wir haben alle notiert.«
»Das ist nicht richtig.« Berger hielt seine Stimme so ruhig, wie er konnte »Wir haben einen Mann zuwenig aufgeschrieben.«
»Mensch!« explodierte Dreyer. »Bist du verrückt geworden? Was soll das Gequatsche?«
»Wir müssen einen Mann mehr auf die Liste setzen.«
»So?« Dreyer sah Berger jetzt scharf an. »Und warum müssen wir das?«
»Damit die Liste stimmt.«
»Kümmere dich nicht um meine Listen.«
»Um die anderen kümmere ich mich nicht. Nur um diese eine.«
»Die anderen? Was für andere gibt es denn, du Gerippe?«
»Die Goldlisten.«
Dreyer schwieg einen Augenblick. »So, und was soll das Ganze nun wirklich heißen?« fragte er dann.
Berger holte Atem. »Das soll heißen, daß es mir egal ist, ob die Goldlisten stimmen oder nicht.«
Dreyer machte eine Bewegung, bezwang sich aber. »Sie stimmen«, sagte er drohend.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Man braucht sie ja nur zu vergleichen.«
»Vergleichen? Womit?«
»Mit meinen eigenen Listen. Ich führe sie, seit ich hier arbeite. Zur Vorsicht.«
»Sieh mal an! Führt auch eine Liste, der Schleicher. Und du denkst, daß man dir mehr glauben würde als mir?«
»Ich halte das für möglich. Ich habe keine Vorteile von meiner Liste.«
Dreyer musterte Berger von oben bis unten, als sähe er ihn zum ersten Male. »So, das hast du nicht? Das glaube ich auch nicht. Und um mir das zu sagen, hast du gerade den richtigen Moment abgewartet, hier im Keller, was? Allein mit mir – das war dein Fehler, du Eierkopf!« Er grinste. Der Furunkel schmerzte. Das Grinsen sah aus, als blecke ein ärgerlicher Hund die Zähne. »Willst du mir mal erzählen, was mich jetzt davon abhalten kann, dir deinen Eierkopf ein bißchen einzuschlagen und dich hier zu den anderen zu legen? Oder dir die Luftröhre einzuklemmen? Du bist dann selber der, der dir in deiner Liste noch fehlt. Erklärungen gibt es da nicht. Wir sind ja allein. Bist eben einfach umgefallen. Herzschwäche. Einer mehr spielt hier keine Rolle. Das wird nicht untersucht.
Ich verbuche dich schon.«
Er kam näher. Er war über sechzig Pfund schwerer als Berger. Berger hatte, selbst mit der Zange in der Hand, nicht die geringste Chance. Er trat einen Schritt zurück und stolperte über den Toten, der hinter ihm lag. Dreyer griff nach seinem Arm und drehte ihm das Handgelenk um. Berger ließ die Zange fallen. »So, das ist besser«, erklärte Dreyer.
Er zog ihn mit einem Ruck näher an sich heran. Sein verzerrtes Gesicht war dicht vor Bergers Augen. Es war rot, und der Furunkel glänzte auf der Lippe mit blauen Rändern. Berger sagte nichts; er bog nur den Kopf so weit zurück wie möglich und straffte das, was ihm an Halsmuskeln geblieben war.
Er sah, wie die rechte Hand Dreyers hochkam. Sein Gehirn klärte sich. Er wußte, was er tun mußte. Es war wenig Zeit; aber zum Glück schien die Hand so langsam hochzukommen wie in einer Zeitlupenaufnahme. »Dieser Fall hier ist mitberechnet«, sagte er rasch. »Er ist aufgeschrieben und von Zeugen unterzeichnet.«
Die Hand stoppte nicht. Sie kam langsam, aber sie kam weiter hoch. »Schwindel«, knurrte Dreyer.
»Willst dich 'rausreden. Du redest nicht mehr lange.«
»Es ist kein Schwindel. Wir haben damit gerechnet, daß Sie versuchen würden, mich zu beseitigen.« Berger starrte in die Augen Dreyers. »Es ist das erste, was Dummköpfen immer einfällt. Es ist zu Papier gebracht und wird mit der Liste über zwei Goldringe und die Goldbrille, die fehlen, dem Lagerführer zugeteilt, wenn ich abends nicht zurück bin.«
Die Augen Dreyers blinkten. »So?« sagte er.
»Genauso. Glauben Sie, ich wußte nicht, was ich riskiere?«
»So, das wußtest du?«
»Ja. Es ist alles aufgeschrieben. An die goldene Brille, die fehlt, werden sich Weber, Schulte und Steinbrenner noch genau erinnern. Sie gehörte einem Einäugigen. Das vergißt man nicht so schnell.«
Die Hand kam nicht weiter. Sie stand still und fiel dann hinab. »Es war kein Gold«, sagte Dreyer.
»Du hast es selbst gesagt.«
»Es war Gold.«
»Sie war wertlos. Schund. Zum Wegschmeißen nicht gut genug.«
»Das können Sie alles dann ja selbst erklären. Wir haben Zeugnisse von den Freunden des Mannes, dem sie gehörte. Es war reines Weißgold.«
»Lausehund!«
Dreyer stieß Berger zurück. Berger fiel wieder. Er versuchte sich festzuhalten und fühlte die Zähne und die Augen eines Toten unter seiner Hand. Er fiel über ihn, aber er ließ Dreyer nicht aus den Augen.
Dreyer atmete heftig. »So – und was meinst du, was wird dann passieren mit deinen Freunden?
Meinst du, sie werden belohnt? Als Mitwisser dafür, daß du versucht hast, einen Toten hier dazuzuschwindeln?« »Sie sind keine Mitwisser.« »Und wer glaubt das?«
»Wer glaubt Ihnen, wenn Sie es erklären? Man wird nur glauben, daß Sie es erfunden haben, um mich beiseite zu schaffen wegen der Ringe und der Brille.«
Berger war wieder aufgestanden. Er fühlte, wie er plötzlich zu zittern begann.
Er beugte sich nieder und staubte seine Knie ab. Es war nichts abzustauben; aber er konnte das Zittern in seinen Beinen nicht kontrollieren und wollte nicht, daß Dreyer es sähe.
Dreyer merkte es nicht. Er faßte mit dem Finger nach dem Furunkel. Berger sah, daß das Geschwür geplatzt war. Eiter lief heraus. »Machen Sie das nicht«, sagte er.
»Was? Warum?«
»Rühren Sie den Furunkel nicht an. Leichengift ist tödlich.«
Dreyer starrte Berger an. »Ich habe heute keine Leiche angefaßt.«
»Aber ich. Und Sie haben mich angefaßt. Mein Vorgänger ist an Blutvergiftung gestorben.«
Dreyer schleuderte seine rechte Hand fort und wischte sie an der Hose ab.
»Verdammt! Was passiert nun? Verfluchte Schweinerei! Ich habe schon angefaßt.« Er blickte auf seine Finger, als hätte er Lepra. »Los! Mach was!« schrie er Berger zu.
»Glaubst du, ich will verrecken?«
»Sicher nicht.« Berger hatte sich gefaßt. Die Ablenkung Dreyers hatte ihm Zeit gegeben.
»Besonders jetzt nicht, so kurz vor dem Ende«, fügte er hinzu.
»Was?«
»So kurz vor dem Ende«, wiederholte Berger.
»Was, Ende? Mach was, du Hund! Tu was drauf!«
Dreyer war blaß geworden. Berger holte eine Flasche Jod, die auf einem Brett; stand.
Er wußte, daß Dreyer nicht in Gefahr war; es war ihm auch gleichgültig. Die Hauptsache war, daß er ihn abgelenkt hatte. Er strich eine Dosis Jod über den Furunkel. Dreyer zuckte zurück. Berger stellte die Flasche fort. »So – jetzt ist es desinfiziert.«
Dreyer versuchte den Furunkel zu sehen. Er schielte an seiner Nase entlang.
»Bestimmt?«
»Bestimmt.«
Dreyer schielte noch einen Augenblick. Dann bewegte er die Oberlippe wie! ein Kaninchen. »So, und was wolltest du eigentlich?« fragte er. Berger merkte, daß er gewonnen hatte. »Das, was ich gesagt habe. Die Personalien eines Toten austauschen. Das ist alles.«
»Und Schulte?«
»Er hat nicht aufgepaßt. Nicht auf die Namen. Außerdem war er zweimal draußen.«
Dreyer dachte nach. »Und die Kleider? Wie ist das?«
»Sie werden stimmen. Auch die Nummern.«
»Wieso? Hast du -«
»Ja«, sagte Berger. »Ich habe die bei mir, die wir austauschen wollen.«
Dreyer sah ihn an. »Ganz gut geplant habt ihr das. Oder warst du das allein?«
»Nein.«
Dreyer steckte die Hände in die Taschen und ging einige Male hin und her. Dann blieb er vor Berger stehen. »Und wer bürgt mir dafür, daß deine sogenannte Liste nicht doch auftaucht?«
»Ich.«
Dreyer zuckte die Achseln und spuckte aus.
»Bisher war nur die Liste da«, sagte Berger ruhig. »Die Liste und die Anschuldigung.
Ich hätte sie benützen können, und mir wäre nichts passiert; ich wäre höchstens gelobt worden.
Hiernach«- er wies auf die Papiere auf dem Tisch -»bin ich mitschuldig an dem Verschwinden eines Gefangenen.«
Dreyer überlegte. Er bewegte vorsichtig seine Oberlippe und schielte wieder.
»Für Sie ist das Risiko bedeutend geringer«, fuhr Berger fort. »Es kommt nur eine Verfehlung zu drei, vier anderen hinzu. Das gibt kaum einen Unterschied. Ich aber belaste mich zum ersten Male.
Ich nehme das weit größere Risiko. Das ist genug Garantie, glaube ich.«
Dreyer antwortete nicht.
»Es ist noch etwas anderes zu überlegen«, sagte Berger, während er ihn weiter beobachtete. »Der Krieg ist so gut wie verloren. Die deutschen Truppen sind von Afrika und Stalingrad weit über die Grenzen und über den Rhein zurückgedrängt worden. Dagegen hilft keine Propaganda und kein Gerede von geheimen Waffen mehr. In ein paar Wochen oder Monaten ist es zu Ende. Dann kommt auch hier die Abrechnung. Wofür sollen Sie da für andere mitbüßen? Wenn bekannt wird, daß Sie uns geholfen haben, sind Sie gesichert.«
»Wer ist das: uns?«
»Wir sind viele. Überall. Nicht nur im Kleinen Lager.«
»Und wenn ich das nun anzeige? Daß ihr existiert?«
»Was hat das mit Ringen und Goldbrillen zu tun?«
Dreyer hob den Kopf und lächelte schief. »Ihr habt wirklich alles gut überlegt, was?«
Berger schwieg.
»Will der Mann ausreißen, den ihr vertauschen wollt?«
»Nein. Wir wollen ihn nur vor dem da schützen.« Berger zeigte auf die Haken in der Wand.
»Ein Politischer?«
»Ja.«
Dreyer kniff die Augen zusammen. »Und wenn eine scharfe Kontrolle kommt und man ihn findet?
Was dann?«
»Die Baracken sind überfüllt. Man wird ihn nicht finden.«
»Man kann ihn erkennen. Wenn er ein bekannter Politischer ist.«
»Er ist nicht bekannt. Und bei uns, im Kleinen Lager, sehen wir alle ähnlich aus. Da ist nicht viel zu erkennen.«
»Weiß euer Blockältester Bescheid?«
»Ja«, log Berger. »Sonst wäre es ja nicht möglich.«
»Habt ihr Verbindungen mit der Schreibstube?«
»Wir haben überall Verbindungen.«
»Hat euer Mann seine Nummer eintätowiert?«
»Nein.«
»Und die Sachen?«
»Ich weiß, welche ich umtauschen will. Ich habe sie schon beiseite gelegt.«
Dreyer sah auf die Tür. »Dann fang an! Los! Rasch, bevor einer kommt.«
Er öffnete die Tür um einen Spalt und horchte hinaus. Berger kroch zwischen den Toten herum und durchsuchte sie. Ihm war im letzten Augenblick noch etwas eingefallen. Er wollte einen doppelten Tausch machen. Dreyer konnte auf diese Weise so irregeführt werden, daß er den Namen von 509 nie feststellen konnte.
»Rasch! Verdammt!« fluchte Dreyer. »Wozu suchst du da noch lange?« Berger hatte Glück mit dem dritten Toten; er war vom Kleinen Lager und hatte keine Zeichen am Körper. Er streifte ihm die Jacke ab, holte unter seiner eigenen die verborgene Jacke und Hose von 509 mit den Nummern hervor und zog sie der Leiche an. Dann warf er die Sachen des Toten auf den Haufen Kleider und zog darunter eine Jacke und Hose hervor, die er vorher beiseite gelegt hatte. Er wickelte sie um seine Hüften, zerrte das Hosenband darüber zusammen und zog seine eigene Jacke wieder an. »Fertig.«
Berger keuchte. Schwarze Flecken glitten vor ihm über die Wände. Dreyer wandte sich um. »Alles in Ordnung?« »Ja.«
»Gut. Ich habe nichts gesehen. Ich weiß von nichts. Ich war auf der Latrine. Was hier geschehen ist, hast du gemacht. Ich weiß von nichts, verstanden?« »Ja.«
Der Aufzug, in dem die nackten Leichen lagen, fuhr hoch und kam nach kurzer Zeit leer wieder zurück.
»Ich gehe jetzt, die drei von draußen zum Einladen holen«, sagte Dreyer. »Du bist währenddessen allein hier. Verstanden?« »Verstanden«, erwiderte Berger. »Und die Liste -«
»Ich bringe sie morgen. Oder ich kann sie vernichten.« »Kann ich mich darauf verlassen?«
»Unbedingt.«
Dreyer überlegte einen Augenblick. »Du bist ja jetzt mit drin«, sagte er. »Mehr als ich.
Oder nicht?« »Viel mehr.« »Und wenn was 'rauskommt -«
»Ich rede nicht. Ich habe Gift. Ich werde nicht reden.«
»Ihr habt scheinbar wirklich alles.« Dreyers Gesicht zeigte eine Art von widerwilligem Respekt.
»Ich wußte das nicht.«
Sonst hätte ich besser aufgepaßt, dachte er. Diese verfluchten Dreivierteltoten! Selbst denen konnte man nicht trauen. »Fang schon mit dein Aufzug an -« Er wollte gehen.
»Hier ist noch etwas«, sagte Berger.
»Was?«
Berger holte fünf Mark aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Dreyer steckte sie ein.
»Wenigstens etwas für das Risiko -«
»Nächste Woche kommen noch fünf Mark -«
»Und – wofür?«
»Nichts. Einfach noch fünf Mark für dieses hier.«
»Gut.« Dreyer verzog die Lippen, hörte aber gleich auf damit; der Furunkel schmerzte.
»Man ist ja schließlich kein Unmensch«, sagte er. »Hilft immer gern einem Kameraden.«
Er ging. Berger lehnte sich gegen die Wand. Ihm war schwindelig. Es war besser gegangen, als er erwartet hatte. Er machte sich nichts vor; er wußte, daß Dreyer immer noch darüber nachdachte, wie er ihn erledigen konnte. Es war einstweilen abgebogen worden durch die Drohung mit der Untergrundbewegung und das Versprechen der zweiten fünf Mark. Dreyer würde darauf warten.
Man konnte sich bei Kriminellen darauf verlassen, daß sie ihren Vorteil wahrnahmen; das war eine Lehre, die die Veteranen bei Handke gelernt hatten. Das Geld war von Lewinsky und seiner Gruppe gekommen. Sie würden weiterhelfen. Berger fühlte nach der Jacke, die er umgebunden hatte. Sie saß fest. Man konnte nichts sehen. Er war dünn, und seine eigene Jacke hing auch jetzt noch lose um ihn herum. Sein Mund war trocken. Die Leiche mit der falschen Nummer lag vor ihm.
Er zerrte von dem Haufen eine andere und schob sie neben den falschen Toten. Im gleichen Augenblick kam ein Neuer durch die Öffnung gesaust. Die Ablader hatten wieder angefangen.
Dreyer erschien mit den drei Häftlingen. Er warf einen Blick auf Berger. »Was machst du hier?
Weshalb bist du nicht draußen?« schnauzte er.
Es war für das Alibi. Die drei anderen sollten sich einprägen, daß Berger allein unten gewesen war.
»Ich hatte noch einen Zahn zu ziehen«, sagte Berger.
»Quatsch! Du hast zu tun, was befohlen wird. Da kann ja alles mögliche passieren.«
Dreyer setzte sich umständlich an den Tisch mit den Listen. »Weitermachen!« kommandierte er.
Schulte kam kurz darauf. Er hatte eine Ausgabe von Knigges »Umgang mit Menschen« in der Tasche, holte sie hervor und begann zu lesen.
Die Toten wurden weiter entkleidet. Der dritte in der Reihe war der Mann mit der falschen Jacke.
Berger hatte es so arrangiert, daß zwei der Helfer ihn auszogen. Er hörte sie die Nummer 509 melden. Schulte blickte nicht auf. Er las in dem klassischen Buch über Etikette die Regeln über das Essen von Fisch und Krebsen nach. Er erwartete im Mai eine Einladung der Eltern seiner Verlobten und wollte gerüstet sein. Dreyer schrieb gleichgültig die Personalien auf und verglich sie mit den Meldungen der Blocks. Der vierte Tote war wieder ein Politischer. Berger meldete ihn selbst. Er sagte die Nummer etwas lauter und merkte, daß Dreyer aufblickte. Er brachte die Sachen des Toten zum Tisch. Dreyer sah ihn an. Berger machte ein Zeichen mit den Augen. Dann nahm er die Zange und die Taschenlampe und beugte sich über den Toten. Er hatte erreicht, was er wollte. Dreyer glaubte, der Name des vierten sei der des noch Lebenden, der umgetauscht worden war – nicht der des dritten. Er war so von der Spur geworfen und konnte in keinem Falle etwas verraten.
Die Tür öffnete sich. Steinbrenner trat ein. Ihm folgten Breuer, der Bunkeraufseher, und der Scharführer Niemann. Steinbrenner lächelte Schulte zu. »Wir sollen dich ablösen, wenn die Toten hier verbucht sind. Befehl von Weber.«
Schulte klappte sein Buch zu. »Sind wir soweit?« fragte er Dreyer.
»Da sind noch vier Leichen.«
»Gut, macht fertig.«
Steinbrenner lehnte sich gegen die Wand, an der die Kratzer der Gehängten sichtbar waren.
»Macht nur fertig. Wir haben Zeit. Und schickt dann die fünf Leute, die oben eingeworfen haben, herunter. Wir haben eine Überraschung für sie.«
»Ja«, sagte Breuer. »Heute ist mein Geburtstag.«
»Wer von euch ist 509?« fragte Goldstein.
»Warum?«
»Ich bin hierher überwiesen worden.«
Es war Abend, und Goldstein war mit einem Transport von zwölf anderen zum Kleinen Lager gekommen. »Lewinsky schickt mich«, sagte er zu Berger.
»Bist du in unserer Baracke?«
»Nein. In Baracke 21. Es war in der Eile nicht anders zu machen. Man kann das später ändern. Es war höchste Zeit, daß ich wegkam. Wo ist 509?«
»509 existiert nicht mehr.«
Goldstein blickte auf. »Tot oder versteckt?«
Berger zögerte. »Du kannst ihm trauen«, sagte 509, der neben ihm hockte. »Lewinsky hat von ihm gesprochen, als er das letzte Mal hier war.«
Er wandte sich zu Goldstein. »Ich heiße jetzt Flormann. Was gibt es Neues? Wir haben lange nichts von euch gehört.«
»Lange? Zwei Tage -«
»Das ist lange. Was gibt es Neues? Komm hier herüber. Hier kann keiner zuhören.«
Sie setzten sich abseits von den anderen. »Gestern nacht haben wir in Block 6 über unser Radio Nachrichten hören können. Englische. Wir hatten viele Störungen; aber eine kam klar durch. Die Russen beschießen bereits Berlin.«
»Berlin?«
»Ja -«
»Und die Amerikaner und Engländer?«
»Da waren keine neuen Nachrichten. Wir hatten Störungen und mußten vor» sichtig sein. Das Ruhrgebiet ist eingekreist, und sie sind weit über den Rhein, das ist sicher.« 509 starrte auf den Stacheldraht, hinter dem ein Streifen Abendrot unter schweren Regenwolken glomm. »Wie langsam das alles geht -«
»Langsam? Das nennst du langsam? In einem Jahr sind die deutschen Armeen von Rußland bis nach Berlin und von Afrika bis zur Ruhr zurückgetrieben worden – und du redest von langsam?«
509 schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Es ist langsam für hier. Für uns. Auf einmal!
Verstehst du das nicht? Ich bin viele Jahre hier – aber dieses scheint das langsamste Frühjahr von allen zu sein. Es ist langsam, weil es so schwer ist, zu warten.«
»Ich verstehe.« Goldstein lächelte. Die Zähne standen kreidig in seinem grauen Gesicht. »Ich kenne das. Nachts besonders. Wenn man nicht schlafen kann und keine Luft kriegt.« Seine Augen lächelten nicht mit. Sie blieben ausdruckslos und bleifarben.
»Verdammt langsam ist es, wenn du es so nimmst.«
»Ja, das meine ich. Vor ein paar Wochen wußten wir noch nichts. Jetzt er« scheint alles schon langsam. Sonderbar, wie sich das verändert, wenn man Hoffnung hat. Und wartet. Und Angst hat, daß man noch erwischt wird.« 509 dachte an Handke. Er war noch nicht außer Gefahr. Die Schiebung wäre halbwegs ausreichend gewesen, wenn Handke 509 nicht persönlich gekannt hätte.
509 wäre dann einfach der Tote geworden, so wie der Tote als 509 verbucht war. Jetzt war er offiziell tot und hieß Flormann, doch er befand sich immer noch im Kleinen Lager.
Etwas anderes war nicht zu erreichen gewesen; es war schon viel, daß der Blockälteste von Baracke 20, in der Flormann gestorben war, mitgemacht hatte. 509 mußte vorsichtig sein, damit Handke ihn nicht sah. Er mußte auch vorsichtig sein, damit nicht irgendein anderer ihn verriet.
Außerdem war immer noch Weber da, der ihn bei einer unvermuteten Kontrolle wiedererkennen konnte.
»Bist du allein gekommen?« fragte er Goldstein.
»Nein. Es sind noch zwei andere mitgeschickt worden.«
»Kommen noch mehr?«
»Wahrscheinlich. Aber nicht offiziell als Überweisungen. Wir haben drüben mindestens fünfzig bis sechzig Leute versteckt.«
»Wo könnt ihr so viele verstecken?«
»Sie wechseln jede Nacht die Baracken. Schlafen anderswo.«
»Und wenn die SS sie zum Tor kommandiert? Oder zur Schreibstube?«
»Dann kommen sie nicht.«
»Was?«
»Sie kommen nicht«, wiederholte Goldstein. Er sah, daß 509 sich erstaunt aufgerichtet hatte. »Die SS hat keine genaue Übersicht mehr«, erklärte er. »Seit ein paar Wochen ist das Durcheinander jeden Tag größer geworden. Wir haben dazu getan, was wir konnten. Die Leute, die gesucht werden, sind angeblich immer auf Kommandos geschickt worden oder einfach nicht aufzufinden.«
»Und die SS? Kommt die nicht, sie zu holen?«
Goldsteins Zähne blinkten. »Nicht mehr gerne. Oder höchstens in Trupps und bewaffnet.
Gefährlich ist nur die Gruppe, in der Niemann, Breuer und Steinbrenner sind.« 509 schwieg eine
Weile. Es war zu unglaublich, was er gerade gehört hatte. »Seit wann ist das so?« fragte er schließlich. »Seit ungefähr einer Woche. Jeden Tag ändert sich was.« »Du meinst, die SS hat Angst?« »Ja. Sie hat plötzlich gemerkt, daß wir Tausende sind. Und sie weiß, wie der Krieg steht.« »Ihr gehorcht einfach nicht?« 509 konnte es immer noch nicht fassen. »Wir gehorchen. Aber wir tun es umständlich, und es dauert lange, und wir sabotieren, was wir können. Die SS erwischt trotzdem immer noch genug. Wir können nicht alle retten.« Goldstern stand auf. »Ich muß sehen, daß ich Platz zum Schlafen finde.« »Wenn du nichts findest, frage Berger.« »Gut.« 509 lag neben dem Haufen von Toten zwischen den Baracken. Der Haufen war höher als sonst. Es hatte am Abend vorher kein Brot gegeben. Das zeigte sich immer am nächsten Tag in der Anzahl der Toten. 509 lag dicht daneben, weil ein nasser, kalter Wind wehte. Die Toten schützten ihn davor. Sie schützten ihn, dachte er. Sie schützten ihn selbst vom Krematorium her und darüber hinaus. Irgendwo trieb im nassen, kalten Wind der Rauch von Flormann, dessen Namen er jetzt trug; der Rest waren ein paar ausgebrannte Knochen, aus denen in der Mühle bald Knochenmehl werden würde. Aber der Name, das Flüchtigste und Belangloseste, war geblieben und zu einem Schild geworden für ein anderes Leben, das sich gegen den Untergang wehrte. Er hörte, wie der Haufen der Toten ächzte und sich verschob. Die Gewebe und Säfte in ihnen arbeiteten noch. Ein zweiter, chemischer Tod schlich durch sie, spaltete sie, vergaste sie, bereitete sie vor für den Zerfall; – und wie ein geisterhafter Reflex des entwichenen Lebens bewegten sich die Bäuche noch, schwollen und fielen zusammen, die toten Münder stießen Luft aus, und aus den Augen sickerte trübe Flüssigkeit wie viel zu späte Tränen. 509 bewegte die Schultern. Er trug die Attila-Uniformjacke der Honved-Husaren. Sie war eines der wärmsten Kleidungsstücke der Baracke und wurde reihum von denen getragen, die nachts draußen lagen. Er betrachtete die Aufschläge, die matt im Dunkeln schimmerten. Es lag eine gewisse Ironie darin: gerade jetzt, wo er sich wieder an seine Vergangenheit und an sich selbst erinnerte, wo er keine Nummer mehr sein wollte, mußte er unter dem Namen eines Toten leben und trug dazu nachts eine ungarische Uniform. Er fröstelte und versteckte die Hände in den Ärmeln. Er hätte in die Baracke gehen können, um einige Stunden in dem warmen Gestank dort zu schlafen; aber er tat es nicht. Er war zu unruhig dazu. Er saß lieber und fror und starrte in die Nacht und wartete und wußte nicht, was schon in der Nacht geschehen könnte, daß er so darauf wartete. Es war das, was einen verrückt machte, dachte er. Wie ein Netz hing das Warten lautlos über dem Lager und fing alle Hoffnungen und alle Furcht in sich auf. Ich warte, dachte er, und Handke und Weber sind hinter mir her; Goldstein wartet, und sein Herz setzt alle Augenblicke aus; Berger wartet und fürchtet, daß er noch mit der Krematoriumsmannschaft erledigt wird, bevor wir befreit werden; wir alle warten und wissen nicht, ob man uns nicht noch im letzten Augenblick auf Todestransporte und in Vernichtungslager schicken wird -»509«, sagte Ahasver aus dem Dunkel. »Bist du da?« »Ja, hier. Was ist?« »Der Schäferhund ist tot.« Ahasver tappte heran. »Er war doch nicht krank«, sagte 509. »Nein. Er ist so weggeschlafen.« »Soll ich dir helfen, ihn herauszulegen?« »Das ist nicht nötig. Ich war mit ihm draußen. Er liegt drüben. Ich wollte es nur jemand sagen.« »Ja, Alter.« »Ja, 509.«