»Verdammte Saubande! Noch einmal abzählen!« Die Arbeitskommandos des großen Lagers standen in Zehnerreihen, nach Blocks geordnet, stramm ausgerichtet auf dem Appellplatz. Es war bereits dunkel, und in dem undeutlichen Licht wirkten die Häftlinge mit ihren gestreiften Anzügen wie eine ungeheure Herde todmüder Zebras. Der Appell dauerte schon über eine Stunde, aber er klappte noch immer nicht. Das Bombardement war daran schuld. Die Kommandos, die im Kupferwerk arbeiteten, hatten Verluste gehabt. Eine Bombe war in ihre Abteilung gefallen, und eine Anzahl Leute war getötet und verletzt worden. Außerdem hatten die aufsichtführenden SS-Mannschaften nach dem ersten Schreck angefangen, zwischen die Häftlinge zu schießen, die Deckung suchten; sie hatten gefürchtet, sie wollten flüchten. Dadurch war noch ein halbes Dutzend mehr umgekommen. Nach dem Bombardement hatten die Gefangenen unter dem Schutt und Geröll ihre Toten herausgeholt – oder das, was von ihnen übriggeblieben war. Es war wichtig für den Appell. So gering das Leben eines Gefangenen auch geschätzt wurde und so gleichgültig die SS sich dagegen verhielt: tot oder lebendig, die Zahl beim Appell mußte stimmen. Die Bürokratie hielt vor Leichen nicht inne. Die Kommandos hatten sorgfältig alles mitgenommen, was sie finden konnten; manche Leute hatten einen Arm, andere Beine und abgerissene Köpfe getragen. Die paar Bahren, die man hatte zusammenschlagen können, waren für Verwundete benutzt worden, denen Glieder fehlten oder deren Bäuche zerfetzt waren. Den Rest der Verletzten hatten die Kameraden gestützt und mitgeschleppt, so gut es ging. Verbände hatte man wenig machen können; es war kaum etwas dafür da gewesen. Mit Drähten und Bindfäden hatte man notdürftig die Verblutenden abgebunden. Die Bauchverletzten auf den Bahren hatten ihre Eingeweide mit den eigenen Händen festhalten müssen. Der Zug war mühselig den Berg hinaufgeklettert. Unterwegs waren noch zwei Leute gestorben. Sie wurden tot weiter mitgeschleppt. Das hatte zu einem Zwischenfall geführt, bei dem sich der Scharführer Steinbrenner ziemlich blamiert hatte. Am Eingangstor des Lagers hatte wie immer die Musikkapelle gestanden und den Fridericus Rex gespielt. Es war Parademarsch kommandiert worden, und mit Augen rechts und emporgeworfenen Beinen waren die Kommandos an dem SS-Lagerführer Weber und seinem Stab vorbeimarschiert. Auch die Schwerverletzten auf den Bahren hatten ihre Köpfe nach rechts gedreht und versucht, eine etwas strammere Haltung im Sterben anzunehmen. Nur die Toten hatten nicht mehr gegrüßt. Steinbrenner hatte nun gesehen, wie ein Mann, der von zwei anderen geschleppt wurde, den Kopf hängen ließ. Er hatte nicht beachtet, daß auch die Füße des Mannes schleppten, sondern war sofort in die Reihen gesprungen und hatte ihm den Revolver zwischen die Augen geschlagen. Steinbrenner war jung und eifrig und hatte ihn in der Eile nur für bewußtlos gehalten. Der Kopf des Toten war durch den Hieb zurückgeschleudert worden, und die Kinnlade war heruntergefallen; es hatte ausgesehen, als schnappe der blutige Mund mit einer letzten grotesken Bewegung des Schädels nach dem Revolver. Die übrigen SS-Leute hatten sehr gelacht, und Steinbrenner war wütend gewesen; er hatte gefühlt, daß ein Teil des Renommees, das er sich mit der Salzsäurekur bei Joel Buchsbaum erworben hatte, verlorengegangen war. Er mußte es bei der nächsten Gelegenheit wieder erwerben. Der Marsch vom Kupferwerk herauf hatte lange gedauert, und es war später als sonst gewesen, als der Appell begonnen hatte. Die Toten und Verwundeten waren, wie immer, sorgfältig militärisch ausgerichtet, in Reihe und Glied neben die Formationen der Blocks gelegt worden, zu denen sie gehörten. Auch die Schwerverletzten waren nicht zum Hospital gebracht und nicht vorher verbunden worden; der Zählappell war wichtiger. »Los! Noch einmal! Wenn's diesmal nicht klappt, wird nachgeholfen!« Weber, der SS-Lagerführer, saß rittlings auf einem Holzstuhl, den man auf den Appellplatz hinausgestellt hatte. Er war fünfunddreißig Jahre alt, mittegroß und sehr kräftig. Sein Gesicht war breit und braun, und eine tiefe Narbe lief vom rechten Mundwinkel über das Kinn herunter – sie war ein Andenken an eine Saalschlacht mit Reichsbannerleuten im Jahre 1929. Weber hielt die Arme auf die Lehne seines Stuhles gestützt und starrte gelangweilt auf die Sträflinge, zwischen denen SS-Leute, Blockälteste und Kapos aufgeregt hin und her rannten, prügelten und schrieen. Die Blockältesten schwitzten und ließen aufs neue abzählen. Monoton klangen die Stimmen auf:»Eins – zwei- drei -« Die Verwirrung war durch die ganz Zerfetzten im Kupferwerk entstanden. Die Häftlinge hatten Köpfe, Arme und Körper so gut zusammengesucht wie sie konnten; aber man hatte nicht alles gefunden. Wie man es auch machte: es schien, daß zwei Mann fehlten. In der Dämmerung war es zwischen den Kommandos bereits zu einem Streit um die einzelnen Glieder gekommen; besonders natürlich um die Köpfe. Jeder Block wollte möglichst vollständig sein, um den schweren Strafen zu entgehen, die auf ungenügende Meldung standen. Man hatte sich um die blutigen Stücke gerissen und gepufft, bis das Kommando »Stillgestanden« ertönt war. Die Blockältesten hatten in der Eile nichts organisieren können; so hatten zwei Körper gefehlt. Wahrscheinlich hatte die Bombe sie in kleine Stücke gerissen, die über Mauern geflogen waren oder in Fetzen auf den Dächern herumlagen. Der Rapportführer kam zu Weber. »Jetzt sind es nur noch anderthalb, die fehlen. Die Russen haben drei Beine für einen gehabt, und die Polen hatten einen überzähligen Arm.« Weber gähnte. »Lassen Sie durch Namensaufruf feststellen, wer fehlt.« Durch die Reihen der Gefangenen ging ein kaum merkliches Schwanken. Namensaufruf bedeutete, daß man noch ein bis zwei Stunden stehen mußte, wenn nicht länger – bei den Russen und Polen, die kein Deutsch verstanden, kamen dauernd Irrtümer mit ihren Namen vor. Der Aufruf begann. Stimmen flatterten auf; dann hörte man Schimpfen und Schläge. Die SS war gereizt und prügelte, weil sie ihre Freizeit verlor. Die Kapos und Blockältesten prügelten aus Angst. Hier und da kippten Leute um, und unter den Verwundeten breiteten sich langsam schwarze Blutlachen aus. Ihre grauweißen Gesichter wurden spitzer und schimmerten tödlich in der tiefen Dämmerung. Sie blickten ergeben zu ihren Kameraden hinauf, die mit den Händen an der Hosennaht dastanden und den Verblutenden nicht helfen durften. Für manche war dieser Wald von dreckigen Zebrabeinen das letzte, was sie von der Welt sahen. Der Mond kroch hinter dem Krematorium hoch. Die Luft war diesig, und er hatte einen breiten Hof. Eine Zeitlang stand er genau hinter dem Schornstein, und sein Licht schimmerte darüber hinweg, so daß es aussah, als würden Geister in den Öfen verbrannt und kaltes Feuer schlüge heraus. Dann wurde er langsam mehr und mehr sichtbar, und der stumpfe Schornstein wirkte jetzt wie ein Minenwerfer, der eine rote Kugel senkrecht in den Himmel feuerte. In der ersten Zehnerreihe von Block dreizehn stand der Gefangene Goldstein. Er war der letzte am linken Flügel, und neben ihm lagen die Verwundeten und Toten des Blocks. Einer der Verletzten war Goldsteins Freund Scheller. Er lag als nächster neben ihm. Goldstein sah aus den Augenwinkeln, daß sich der schwarze Fleck unter dem zerfetzten Bein Schellers plötzlich viel rascher als vorher vergrößerte. Der dürftige Verband hatte sich gelöst, und Scheller verblutete. Goldstein stieß seinen Nebenmann Münzer an; dann ließ er sich seitlich umkippen, als sei er ohnmächtig geworden. Er richtete es so ein, daß er halb über Scheller fiel. Was er machte, war gefährlich. Der wütende SS-Blockführer umkreiste die Reihen wie ein bissiger Schäferhund. Ein guter Tritt seiner schweren Stiefel gegen die Schläfe konnte Goldstein erledigen. Die Gefangenen in der Nähe standen unbeweglich; aber alle beobachteten, was vorging. Der Blockführer befand sich gerade mit dem Blockältesten am anderen Ende der Gruppe. Der Blockälteste meldete dort etwas. Er hatte Goldsteins Manöver ebenfalls bemerkt und versuchte, den Scharführer für einige Augenblicke festzuhalten. Goldstein tastete unter sich nach dem Strick, mit dem Schellers Bein abgeschnürt war. Er sah dicht vor seinen Augen das Blut und roch das rohe Fleisch. »Laß doch«, flüsterte Scheller. Goldstein fand den abgerutschten Knoten und löste ihn. Das Blut sprudelte stärker. »Sie spritzen mich ja doch ab«, flüsterte Scheller. »Mit dem Bein -« Das Bein hing nur noch an ein paar Sehnen und Hautfetzen. Es hatte sich durch den Fall Goldsteins verschoben und lag jetzt schief und sonderbar da, mit verdrehtem Fuß, als habe es ein drittes Gelenk. Goldsteins Hände waren naß von Blut. Er zog den Knoten an, aber der Strick rutschte wieder ab. Scheller zuckte. »Laß doch -« Goldstein mußte den Knoten wieder aufmachen. Er fühlte den zersplitterten Knochen an den Fingern. Sein Magen kam hoch. Er schluckte, suchte in dem glitschigen Fleisch, fand das Band wieder, schob es höher und erstarrte. Münzer hatte ihn gegen den Fuß gestoßen. Es war eine Warnung; der SS-Blockführer schnaufte heran. »Wieder so ein Schwein! Was ist mit dem nun wieder los?« »Umgefallen, Herr Scharführer.« Der Blockälteste war neben ihm. »Steh auf, faules Aas!« schrie er Goldstein an und trat ihm gegen die Rippen. Der Tritt sah viel härter aus, als er war. Der Blockälteste bremste ihn im letzten Moment. Er trat noch einmal. Er vermied so, daß der Scharführer es tat. Goldstein rührte sich nicht. Gegen sein Gesicht schlug das Blut Schellers. »Los, los! Laßt ihn liegen!« Der Blockführer ging weiter. »Verdammt, wann werden wir hier fertig?« Der Blockälteste folgte ihm. Goldstein wartete eine Sekunde; dann packte er das Band um Schellers Bein, riß es zusammen, knotete es und drehte den Holzknebel, der sich vorher gelöst hatte, wieder fest hinein. Das Blut hörte auf zu sprudeln. Es sickerte nur noch. Vorsichtig nahm Goldstein die Hände weg. Der Verband blieb fest.
Der Aufruf war beendet. Man hatte sich geeinigt, daß dreiviertel eines Russen und die obere Hälfte des Sträflings Sibolski aus Baracke 5 fehlten. Es stimmte nicht ganz. Von Sibolski waren die Arme da. Sie befanden sich allerdings im Besitz von Baracke 17, die sie als die Reste Josef Binswangers ausgab, von dem nichts wiedergefunden worden war. Dafür hatten zwei Mann von Baracke 5 die untere Hälfte des Russen gestohlen, die dort als Sibolski ausgegeben wurde, da Beine schwer zu unterscheiden waren. Zum Glück waren außerdem noch ein paar überzählige Gliederstücke da, die auf die eineinviertel Fehlenden angerechnet werden konnten. Damit war klar, daß keiner der Häftlinge im Wirrwarr des Bombardements geflüchtet war. Trotzdem wäre es möglich gewesen, daß alle bis zum Morgen auf dem Appellplatz hätten stehen müssen, um dann im Kupferwerk weiter nach den Resten zu suchen – das Lager hatte ein paar Wochen vorher einmal zwei Tage gestanden, bis jemand gefunden worden war, der im Schweinestall Selbstmord verübt hatte. Weber saß ruhig auf seinem Stuhl, das Kinn immer noch auf die Hände gestützt. Er hatte sich während der ganzen Zeit kaum gerührt. Nach der Meldung erhob er sich langsam und streckte sich. »Die Leute haben lange genug gestanden. Sie brauchen Bewegung. Erdkunde üben!« Befehle hallten über den Platz:»Hände hinter dem Kopf verschränken! Knie beugt! Froschhüpfen! Vorwärts – hüpft!« Die langen Reihen gehorchten. Sie hüpften langsam mit gebeugten Knien vorwärts. Der Mond war inzwischen weiter aufgestiegen und heller geworden. Er beleuchtete jetzt schon einen Teil des Appellplatzes. Der andere lag im Schatten, den die Gebäude warfen. Die Umrisse des Krematoriums, des Tores und sogar des Galgens zeichneten sich scharf auf dem Boden ab. »Zurückhüpfen!« Die Reihen hüpften aus dem Licht wieder in das Dunkel zurück. Leute fielen um. SS-Mannschaften, Kapos und Blockälteste prügelten sie wieder hoch. Das Schreien war kaum zu hören über dem Scharren der zahllosen Füße. »Vorwärts! Zurück! Vorwärts! Zurück! Stillgestanden!« Jetzt begann die eigentliche Erdkunde. Sie bestand darin, daß die Gefangenen sich hinwerfen mußten, auf dem Boden kriechen, aufspringen, sich wieder hinwerfen und weiterkriechen. Sie lernten auf diese Weise die Erde des Tanzplatzes schmerzlich genau kennen. Nach kurzer Zeit war der Platz ein Durcheinander von wimmelnden riesigen gestreiften Maden, die wenig Menschliches an sich zu haben schienen. So gut sie konnten, schützten sie die Verwundeten; aber in der Hast und Angst war es nicht immer möglich. Nach einer Viertelstunde befahl Weber Halt. Die Viertelstunde hatte allerdings Verwüstungen unter den erschöpften Häftlingen angerichtet. Überall lagen welche herum, die nicht weiter konnten. »In Blocks ausgerichtet antreten!« Die Leute schleppten sich zurück. Sie holten die Zusammengebrochenen und hielten die zwischen sich fest, die noch stehen konnten. Die anderen legten sie neben die Verwundeten. Das Lager stand still. Weber trat vor. »Was ihr da soeben gemacht habt, ist in eurem eigenen Interesse geschehen. Ihr habt gelernt, wie man bei Luftangriffen Deckung nimmt.« Ein paar SS-Leute kicherten. Weber warf einen Blick zu ihnen hinüber und fuhr fort:»Ihr habt heute am eigenen Leibe erfahren, mit welch einem unmenschlichen Feinde wir es zu tun haben. Deutschland, das immer nur Frieden wollte, ist in brutaler Weise angefallen worden. Der Feind, der an der Front überall geschlagen worden ist, greift in seiner Verzweiflung zu einem letzten Mittel: er bombardiert gegen jedes Völkerrecht in feigster Weise offene, friedliche deutsche Städte. Er zerstört Kirchen und Hospitäler. Er mordet wehrlose Frauen und Kinder. Es war nicht anders von Untermenschen und Bestien zu erwarten. Wir werden die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Lagerkommando verfügt ab morgen vermehrte Arbeitsleistung. Die Kommandos rücken eine Stunde früher aus, um aufzuräumen. Sonntags gibt es bis auf weiteres keine Freizeit mehr. Juden erhalten zwei Tage kein Brot. Bedankt euch bei den feindlichen Mordbrennern dafür.« Weber schwieg. Das Lager rührte sich nicht. Man hörte den Berg hinauf das hohe Summen eines starken Wagens, der rasch näher kam. Es war der Mercedes Neubauers. »Singen!« kommandierte Weber. »Deutschland, Deutschland über alles!« Die Blocks begannen nicht sofort. Sie waren überrascht. In den letzten Monaten war nicht mehr oft befohlen worden zu singen – und wenn, dann waren es immer Volkslieder gewesen. Sie wurden meistens angeordnet, wenn die Prügelstrafen vollzogen wurden. Während die Gemarterten schrieen, hatten die übrigen Sträflinge dazu lyrische Strophen zu singen. Die alte, frühere Nationalhymne aus der Vornazizeit aber war seit Jahren nicht mehr befohlen worden.
»Los, ihre Schweine!«
In Block 13 begann Münzer zu singen. Die anderen fielen ein. Wer den Text nicht mehr kannte, markierte. Die Hauptsache war, daß alle Münder sich bewegten.
»Wozu?« flüsterte Münzer nach einer Weile, ohne den Kopf zu bewegen, zu seinem Nebenmann Werner hinüber, während er scheinbar weitersang.
»Was?«
Die Melodie wurde zu einem dünnen Krächzen. Sie war nicht tief genug angefangen worden, und die Stimmen konnten jetzt die hohen, jubilierenden Noten der Schlußzeilen nicht erreichen und brachen ab. Die Häftlinge hatten auch nicht mehr viel Atem.
»Was ist das für ein saumäßiges Gebell?« brüllte der zweite Lagerführer. »Noch einmal von vorn!
Wenn's diesmal nicht klappt, bleibt ihr die ganze Nacht hier!«
Die Häftlinge begannen tiefer. Das Lied ging jetzt besser.
»Was?« wiederholte Werner.
»Wozu gerade Deutschland, Deutschland über alles -?«
Werner kniff die Augen zusammen. »Trauen vielleicht – ihren eigenen Naziliedern nicht mehr ganz so – nach heute -«, sang er.
Die Gefangenen starrten geradeaus. Werner spürte eine sonderbare Spannung in sich aufsteigen. Er hatte auf einmal das Gefühl, daß nicht nur er allein sie spüre – als spüre auch Münzer sie, als spüre Goldstein am Boden sie, als spürten viele andere sie und als spüre sie sogar die SS. Das Lied klang plötzlich nicht mehr so, wie die Häftlinge sonst sangen. Es war lauter und fast herausfordernd ironisch geworden, und der Text hatte nichts mehr damit zu tun. Hoffentlich merkt Weber es nicht, dachte er, während er auf den Lagerführer blickte – sonst gibt es noch mehr Tote, als bereits da liegen.
Goldsteins Gesicht am Boden war dicht vor dem Gesicht Schellers. Schellers Lippen bewegten sich. Goldstein konnte nicht verstehen, was er sagte; aber er sah die halboffenen Augen und ahnte, was es war. »Quatsch!« sagte er. »Wir haben den Lazarettkapo. Er wird es schieben. Du kommst durch.«
Scheller erwiderte etwas. »Halt die Schnauze!« rief Goldstein durch den Lärm zurück:»Du kommst durch, fertig!« Er sah die graue, poröse Haut vor sich. »Sie spritzen dich nicht ab!« heulte er als Text in die letzten Takte. »Wir haben den Lazarettkapo! Er wird den Arzt bestechen!«
»Achtung!«
Der Gesang brach ab. Der Lagerkommandant war auf den Platz gekommen. Weber meldete. »Ich habe den Brüdern eine kurze Predigt gehalten und ihnen eine Stunde Mehrarbeit aufgeknallt.«
Neubauer war uninteressiert. Er schnüffelte in die Luft und blickte zum Nachthimmel auf. »Glauben Sie, daß die Bande heute nacht wiederkommt?«
Weber grinste. »Nach den letzten Radiomeldungen haben wir neunzig Prozent abgeschossen.«
Neubauer fand das nicht witzig. Hat auch nichts zu verlieren, dachte er. Kleiner Dietz, Landsknecht, weiter nichts. »Lassen Sie die Leute abtreten, wenn Sie fertig sind«, erklärte er plötzlich mürrisch.
»Wegtreten lassen!«
Die Blocks marschierten ab zu den Baracken. Sie nahmen ihre Verwundeten und Toten mit. Die Toten mußten gemeldet und in die Listen eingetragen werden, bevor sie im Krematorium abgeliefert wurden. Schellers Gesicht war spitz wie das eines Zwerges, als Werner, Münzer und Goldstein ihn aufnahmen. Er sah aus, als ob er die Nacht nicht überleben würde. Goldstein hatte während der Erdkunde einen Schlag gegen die Nase bekommen. Sie fing an zu bluten, als er marschierte. Das Blut schillerte im fahlen Licht dunkel auf seinem Kinn.
Sie bogen in die Straße ein, die zu ihrer Baracke führte. Der Wind, der von der Stadt heraufwehte, war stärker geworden und traf sie voll, als sie um die Ecke kamen. Er brachte den Rauch der brennenden Stadt mit sich herauf.
Die Gesichter der Gefangenen veränderten sich. »Riecht ihr es auch?« fragte Werner.
»Ja.« Münzer hob den Kopf.
Goldstein spürte den süßen Geschmack des Blutes auf seinen Lippen. Er spuckte aus und versuchte den Rauch mit offenem Munde zu schmecken.
»Es riecht, als brenne es auch hier schon -«
»Ja -«
Sie konnten den Rauch jetzt sogar sehen. Er wehte vom Tal die Straßen hinauf wie ein leichter, weißer Nebel und hing bald überall zwischen den Baracken. Es schien Werner einen Augenblick sonderbar und fast unbegreiflich, daß der Stacheldraht ihn nicht zurückhielt – als sei das Lager plötzlich nicht mehr so abgeschlossen und unzugänglich, wie es vorher gewesen war.
Sie gingen die Straße hinab. Sie gingen durch den Rauch. Ihre Schritte wurden fester, und ihre Schultern reckten sich. Sie trugen Scheller mit großer Vorsicht.
Goldstein beugte sich zu ihm nieder. »Riech es! So riech es doch auch!« sagte er leise, verzweifelt und flehend in das spitze Gesicht hinein.
Aber Scheller war längst bewußtlos.
Die Baracke war dunkel und stank. Licht gab es abends schon lange nicht mehr.
»509«, flüsterte Berger. »Lohmann will mit dir sprechen.«
»Ist es soweit?«
»Noch nicht.« 509 tastete sich durch die schmalen Gänge zu dem Brettergestell, neben dem sich das matte Viereck des Fensters abhob. »Lohmann?«
Etwas raschelte. »Ist Berger auch da?« fragte Lohmann.
»Nein.«
»Hol ihn.«
»Wozu?«
»Hol ihn!« 509 tastete sich zurück. Flüche folgten ihm. Er trat auf Körper, die in den Gängen lagen. Jemand biß ihm in die Wade. Er schlug auf den unbekannten Kopf, bis die Zähne sich lösten.
Nach einigen Minuten kam er mit Berger wieder. »Da sind wir. Was willst du nun?«
»Hier!« Lohmann streckte seinen Arm aus.
»Was?« fragte 509.
»Halte deine Hand unter meine. Flach. Vorsichtig.« 509 fühlte die dünne Faust Lohmanns. Sie war trocken wie Eidechsenhaut. Langsam öffnete sie sich. Etwas fiel in die Hand von 509, klein und schwer. »Hast du es?«
»Ja. Was ist es? Ist es -«
»Ja«, flüsterte Lohmann. »Mein Zahn.«
»Was?« Berger schob sich näher. »Wer hat das getan?«
Lohmann begann zu kichern. Es war ein fast lautloses, gespenstisches Kichern.
»Ich.«
»Du? Wie?«
Sie fühlten die Befriedigung des Sterbenden. Er schien kindisch stolz und tief beruhigt. »Nagel.
Zwei Stunden. Kleiner Eisennagel. Habe ihn gefunden und den Zahn damit losgebohrt.«
»Wo ist der Nagel?«
Lohmann griff neben sich und gab ihn Berger. Berger hielt ihn gegen das Fenster und befühlte ihn dann. »Dreck und Rost. Hat es geblutet?«
Lohmann kicherte wieder. »Berger«, sagte er,»ich kann eine Blutvergiftung riskieren.«
»Warte.« Berger suchte in seiner Tasche. »Hat jemand ein Streichholz?«
Streichhölzer waren kostbar. »Ich habe keins«, erwiderte 509.
»Hier«, sagte jemand aus dem mittleren Bett.
Berger rieb die Zündfläche an. Das Streichholz flammte auf. Berger und 509 hatten die Augen geschlossen gehalten, um nicht geblendet zu werden. Sie gewannen so einige Sekunden zum Sehen.
»Mach den Mund auf«, sagte Berger.
Lohmann starrte ihn an. »Sei nicht lächerlich. Verkauft das Gold.«
»Mach den Mund auf.«
Über Lohmanns Gesicht huschte etwas, das als Lächeln gemeint sein konnte. »Laß mich in Ruhe.
Gut, euch beide noch einmal bei Licht gesehen zu haben.«
»Ich werde dir Jod darüber pinseln. Ich hole die Flasche.«
Berger gab 509 das Streichholz und tastete sich zu seinem Bett hinüber. »Licht aus!« krächzte jemand.
»Quatsch nicht!« antwortete der Mann, der das Streichholz gegeben hatte.
»Licht aus!« krächzte die andere Stimme wieder. »Sollen die Posten uns zusammenschießen?«
509 stand so, daß sein gebückter Körper sich zwischen der Wand und dem Streichholz befand.
Der Mann im mittleren Bett hielt seine Decke gegen das Fenster, und 509 deckte die kleine Flamme seitlich mit seiner Jacke ab. Lohmanns Augen waren sehr klar. Sie waren zu klar. 509 blickte auf das Stück Streichholz, das noch nicht verbrannt war, und dann auf Lohmann, und er dachte, daß er Lohmann sieben Jahre kannte, und er wußte, daß dieses das letztemal sein würde, daß er ihn lebend sah. Er hatte zu viele solche Gesichter gesehen, um das nicht zu wissen.
Er fühlte die Hitze der Flamme an seinen Fingern, aber er hielt sie, bis er nicht mehr konnte. Er hörte Berger zurückkommen. Dann war die Dunkelheit plötzlich da, als sei er blind geworden.
»Hast du noch ein Streichholz?« fragte er den Mann im mittleren Bett.
»Hier.« Der Mann gab ihm eins. »Das letzte.«
Das letzte, dachte 509. Fünfzehn Sekunden Licht. Fünfzehn Sekunden für die fünfundvierzig Jahre, die noch Lohmann hießen. Die letzten.
Der kleine flackernde Kreis. »Licht aus, verdammt! Haut ihm das Licht aus der Hand!«
»Idiot! Kein Aas kann was sehen!« 509 hielt das Streichholz niedriger. Berger stand neben ihm, die Flasche mit Jod in der Hand.
»Mach den Mund – «
Er brach ab. Er sah Lohmann jetzt ebenfalls deutlich. Es war unsinnig gewesen, das Jod zu holen.
Er hatte es auch nur gemacht, um irgend etwas zu tun. Langsam steckte er die Flasche in die Tasche. Lohmann schaute ihn ruhig an, ohne mit den Augenlidern zu blinken. 509 blickte weg. Er öffnete die Hand und sah den kleinen Klumpen Gold darin schimmern. Dann sah er wieder auf Lohmann. Die Flamme sengte seine Finger. Ein Schatten von der Seite schlug nach seinem Arm.
Das Licht erlosch.
»Gute Nacht, Lohmann«, sagte 509.
»Ich komme nachher noch einmal«, sagte Berger.
»Laßt nur«, flüsterte Lohmann. »Dies jetzt – ist einfach -«
»Vielleicht finden wir noch ein paar Streichhölzer.«
Lohmann erwiderte nichts mehr.
509 fühlte die Goldkrone hart und schwer in seiner Hand. »Komm heraus«, flüsterte er Berger zu.
»Wir besprechen das besser draußen. Da sind wir allein.«
Sie tasteten sich zur Tür und gingen auf die Seite der Baracke, die vor dem Winde geschützt war.
Die Stadt war abgeblendet und zum großen Teil gelöscht.
Nur der Turm der Katharinenkirche brannte noch wie eine riesige Fackel. Er war sehr alt und voll trockenen Gebälks; die Schläuche der Feuerwehr konnten nichts gegen ihn ausrichten, und man mußte ihn ausbrennen lassen.
Sie hockten sich nieder. »Was sollen wir machen?« fragte 509.
Berger rieb seine entzündeten Augen. »Wenn die Krone auf der Schreibstube registriert ist, sind wir verloren. Sie werden nachforschen und ein paar von uns hängen. Mich als ersten.«
»Er sagt, sie sei nicht registriert. Als er kam, gab es das hier noch nicht. Er ist seit sieben Jahren im Lager. Goldzähne wurden damals ausgeschlagen, aber nicht registriert. Das kam später.«
»Weißt du das genau?« 509 hob die Schultern.
Sie schwiegen eine Weile. »Wir können natürlich immer noch die Wahrheit sagen und die Krone abliefern. Oder sie in seinen Mund stecken, wenn er tot ist«, erklärte 509 schließlich. Seine Hand schloß sich eng um den kleinen Klumpen. »Willst du das?«
Berger schüttelte den Kopf. Das Gold war Leben für einige Tage. Beide wußten, daß sie es jetzt, da sie es hatten, nicht mehr abliefern würden.
»Könnte er den Zahn nicht schon vor Jahren ausgebrochen und selbst verkauft haben?« fragte 509.
Berger sah ihn an. »Glaubst du, daß die SS sich darauf einläßt?«
»Nein. Besonders nicht, wenn sie die frische Wunde im Munde entdeckt.«
»Das ist das wenigste. Wenn er noch etwas durchhält, heilt die Wunde. Es ist außerdem ein hinterer Backenzahn; das macht die Kontrolle schwieriger, wenn die Leiche erst starr ist. Wenn er heute abend stirbt, ist er morgen vormittag soweit. Wenn er morgen früh stirbt, müssen wir ihn hier behalten, bis er starr ist. Das geht. Handke können wir beim Morgenappell täuschen.« 509 sah Berger an. »Wir müssen es riskieren. Wir brauchen das Geld. Jetzt besonders.«
»Ja. Wir können ohnehin nichts anderes mehr machen. Wer soll den Zahn verschieben?«
»Lebenthal. Er ist der einzige, der es machen kann.«
Hinter ihnen öffnete sich die Tür der Baracke. Ein paar Leute zerrten eine Gestalt an Armen und Beinen heraus und schleiften sie zu einem Haufen neben der Straße. Dort lagen die Toten, die seit dem Abendappell gestorben waren.
»Ist das schon Lohmann?«
»Nein. Das sind keine von den Unsern. Das sind Muselmänner.«
Die Leute, die den Toten losgelassen hatten, taumelten zur Baracke zurück.
»Hat irgend jemand gemerkt, daß wir den Zahn haben?« fragte Berger.
»Ich glaube nicht. Es sind fast alles Muselmänner, die da liegen. Höchstens der Mann, der uns die Streichhölzer gegeben hat.«
»Hat er was gesagt?«
»Nein. Bis jetzt nicht. Aber er kann immer noch einen Anteil verlangen.«
»Das ist das wenigste. Die Frage ist, ob er es für ein besseres Geschäft hält, uns zu verraten.« 509 dachte nach. Er wußte, daß es Leute gab, die für ein Stück Brot zu allem fähig waren. »Er sah nicht so aus«, sagte er schließlich. »Warum hätte er uns sonst die Streichhölzer gegeben?«
»Das hat nichts damit zu tun. Wir müssen vorsichtig sein. Sonst sind wir beide erledigt. Und Lebenthal ebenso.« 509 wußte auch das gut genug. Er hatte manchen Mann für weniger hängen sehen.
»Wir müssen ihn beobachten«, erklärte er. »Wenigstens so lange, bis Lohmann verbrannt ist und Lebenthal den Zahn verschoben hat. Danach nützt es ihm nichts mehr.«
Berger nickte. »Ich gehe noch einmal 'rein. Vielleicht finde ich schon etwas heraus.«
»Gut. Ich bleibe hier und warte auf Leo. Er muß noch im Arbeitslager sein.«
Berger stand auf und ging zur Baracke hinüber. Er und 509 hätten ohne Zögern ihr Leben riskiert, wenn Lohmann durch irgend etwas zu retten gewesen wäre. Aber er war nicht zu retten. Deshalb redeten sie über ihn wie über einen Stein. Die Jahre im Lager hatten sie dazu gebracht, sachlich zu denken.
509 hockte im Schatten der Latrine. Es war ein guter Platz; niemand achtete hier auf ihn. Das Kleine Lager hatte für alle Baracken zusammen nur eine gemeinsame Massenlatrine, die an der Grenze der beiden Lager errichtet war und zu der ein endloser Zug von Skeletten ständig stöhnend von den Baracken hinüber und zurück schuffelte. Fast alle hatten Durchfall oder Schlimmeres, und viele lagen zusammengebrochen umher und warteten, bis sie wieder Kraft genug hatten, um weiter zu stolpern. Zu beiden Seiten der Latrine lief der Stacheldrahtzaun entlang, der das Kleine Lager vom Arbeitslager trennte. 509 hockte so, daß er die Pforte, die in den Stacheldraht geschnitten war, beobachten konnte. Sie war da für die SS-Blockführer, die Blockältesten, die Essenholer, die Leichenträger und die Leichenwagen. Von Baracke 22 durfte nur Berger sie benutzen, wenn er zum Krematorium ging. Für alle anderen war sie streng verboten. Der Pole Silber hatte sie die Krepierpforte genannt, weil die Gefangenen, die ins Kleine Lager überwiesen wurden, nur als Leichen durch sie zurückkamen. Jeder Posten durfte schießen, wenn ein Skelett versuchen sollte, ins Arbeitslager zu gelangen. Fast niemand versuchte es. Auch vom Arbeitslager kam außer denen, die Dienst hatten, nie jemand herüber. Das Kleine Lager war nicht nur unter einer losen Quarantäne; es war auch sonst von den übrigen Gefangenen aufgegeben worden und wurde lediglich als eine Art von Friedhof betrachtet, auf dem die Toten noch kurze Zeit umherwankten. 509 konnte durch den Stacheldraht einen Teil der Straßen des Arbeitslagers sehen. Sie wimmelte von Gefangenen, die den Rest ihrer Freizeit ausnutzten. Er sah, wie sie miteinander sprachen, wie sie in Gruppen zusammenstanden und die Straßen entlanggingen – und obschon es nur ein anderer Teil des Konzentrationslagers war, erschien es ihm, als sei er durch einen unüberbrückbaren Abgrund von ihnen getrennt und als sei das drüben fast so etwas wie eine verlorene Heimat, in der immerhin noch Leben und Gemeinschaft existierten. Er hörte hinter sich das weiche Schlurfen der Häftlinge, die zur Latrine wankten, und er brauchte sich nicht umzublicken, um ihre toten Augen zu sehen. Sie sprachen kaum noch – sie stöhnten höchstens oder zankten mit müden Stimmen; sie dachten nicht mehr. Der Lagerwitz nannte sie Muselmänner, weil sie völlig in ihr Schicksal ergeben waren. Sie bewegten sich wie Automaten und hatten keinen eigenen Willen mehr; alles war in ihnen ausgelöscht, außer ein paar körperlichen Funktionen. Sie waren lebendige Tote und starben wie Fliegen im Frost. Das Kleine Lager war voll von ihnen. Sie waren gebrochen und verloren, und nichts konnte sie retten, nicht einmal die Freiheit 509 spürte die Kühle der Nacht tief in den Knochen. Das Murmeln und Stöhnen hinter ihm war wie eine graue Flut, in der man ertrinken konnte. Es war die Lockung zur Selbstaufgabe – die Lockung, gegen die die Veteranen verzweifelt kämpften. 509 bewegte sich unwillkürlich und drehte den Kopf, um zu fühlen, daß er noch lebte und einen eigenen Willen hatte. Dann hörte er das Abpfeifen im Arbeitslager. Die Baracken dort hatten eigene Latrinen und wurden nachts abgeschlossen. Die Gruppen auf den Straßen lösten sich auf. Die Leute verschwanden. In kaum einer Minute war drüben alles leer, und nur noch der trostlose Zug der Schatten im Kleinen Lager war da – vergessen von den Kameraden jenseits des Stacheldrahtes; abgeschrieben, isoliert, ein Rest zitternden Lebens im Territorium sicheren Todes. Lebenthal kam nicht durch das Tor. 509 sah ihn plötzlich schräg vor sich über den Platz gehen. Er mußte irgendwo hinter der Latrine hereingekommen sein. Niemand wußte, wie er sich durchschmuggelte; es würde 509 nicht gewundert haben, wenn er dazu die Armbinde eines Vormannes oder sogar die eines Kapos benutzt hätte. »Leo!« Lebenthal blieb stehen. »Was ist los? Vorsicht! Drüben ist noch SS. Komm hier weg.« Sie gingen zu den Baracken hinüber. »Hast du was erwischt?« fragte 509. »Was?«
»Essen. Was sonst?«
Lebenthal hob die Schultern. »Essen! Was sonst«, wiederholte er irritiert. »Wie stellst du dir das vor? Bin ich der Küchenkapo?«
»Nein.«
»Na also! Was willst du dann von mir?«
»Nichts. Ich habe nur gefragt, ob du was zu essen erwischt hast.«
Lebenthal blieb stehen. »Essen«, sagte er bitter. »Weißt du, daß die Juden zwei Tage Brotentzug im ganzen Lager haben? Befehl von Weber.«
509 starrte ihn an. »Ist das wahr?«
»Nein. Ich habe es erfunden. Ich erfinde immer so was. Es ist witzig.«
»Mein Gott! Das wird Tote geben!«
»Ja. Haufen. Und du willst noch wissen, ob ich Essen erwischt habe -«
»Sei ruhig, Leo. Setz dich hierher. Das ist eine verfluchte Geschichte. Gerade jetzt!
Jetzt, wo wir allen Fraß brauchen, den wir kriegen können!«
»So? Ich bin vielleicht wohl noch schuld, was?« Lebenthal begann zu zittern. Er zitterte immer, wenn er sich aufregte, und er regte sich leicht auf; er war sehr empfindlich. Das bedeutete bei ihm nicht mehr, als hätte ein anderer mit den Fingern auf eine Tischplatte getrommelt. Es kam durch den ständigen Hunger. Er vergrößerte und verkleinerte alle Emotionen. Hysterie und Apathie waren Geschwister im Lager. »Ich habe getan, was ich konnte«, zeterte Lebenthal leise mit hoher, sich überschlagender Stimme. »Ich habe herangeschafft und riskiert und besorgt, und da kommst du und erklärst, wir brauchen -«
Seine Stimme versank plötzlich in ein mooriges, unverständliches Gurgeln. Es war, als sei einer der Lautsprecher des Lagerradios außer Kontakt geraten. Lebenthal fuhr mit den Händen auf dem Boden umher. Sein Gesicht sah jetzt nicht mehr aus wie ein beleidigter Totenkopf; es war nur noch eine Stirn mit einer Nase und Froschaugen und einem Haufen schlaffer Haut darunter, mit einem Loch darin. Endlich fand er sein falsches Gebiß auf dem Boden wieder, wischte es an seiner Jacke ab und schob es zurück in den Mund. Der Lautsprecher war aufs neue angestellt, und die Stimme war wieder da, hoch und zeternd.
509 ließ ihn jammern, ohne zuzuhören. Lebenthal merkte es und hörte auf. »Wir haben doch schon öfter Brotentzug gehabt«, sagte er schließlich lahm. »Und für länger als zwei Tage. Was ist los mit dir, daß du heute so viel Theater deswegen machst?« 509 sah ihn eine Weile an. Dann deutete er auf die Stadt und die brennende Kirche.
»Was los ist? Das da, Leo -«
»Was?«
»Das da unten. Wie war das doch damals im Alten Testament?«
»Was hast du mit dem Alten Testament zu schaffen?«
»Gab es da nicht so etwas unter Moses? Eine Feuersäule, die das Volk aus der Knechtschaft führte?«
Lebenthal blinkte mit den Augen. »Eine Rauchwolke bei Tag und eine Feuersäule bei Nacht«, sagte er, ohne zu jammern. »Meinst du das?«
»Ja. Und war nicht Gott darin?«
»Jehova.«
»Gut, Jehova. Und das da unten – weißt du, was das ist?« 509 wartete einen Augenblick. »Es ist etwas Ähnliches«, sagte er dann. »Es ist Hoffnung, Leo, Hoffnung für uns! Verdammt, will das denn keiner von euch sehen?«
Lebenthal antwortete nicht. Er saß in sich geduckt und blickte auf die Stadt hinunter.
509 ließ sich zurücksinken. Er hatte es endlich jetzt zum erstenmal ausgesprochen.
Man kann es kaum sagen, dachte er, es erschlägt einen fast, es ist ein so ungeheures Wort. Ich habe es vermieden durch all die Jahre, es hätte mich zerfressen, wenn ich es gedacht hätte; – aber jetzt ist es wiedergekommen, heute, man wagt noch nicht, es ganz auszudenken, aber es ist da, und entweder zerbricht es mich nun oder es wird wahr.
»Leo«, sagte er. »Das da unten bedeutet, daß auch dieses hier kaputtgehen wird.«
Lebenthal rührte sich nicht. »Wenn sie den Krieg verlieren,«, flüsterte er. »Nur dann! Aber wer weiß das?« Er sah sich unwillkürlich ängstlich um.
Das Lager war in den ersten Jahren ziemlich gut über den Verlauf des Krieges informiert gewesen.
Später jedoch, als die Siege ausblieben, hatte Neubauer verboten, Zeitungen hereinzubringen und Nachrichten über den Rückzug im Lagerradio bekanntzugeben. Die wildesten Gerüchte hatten seitdem die Baracken durchjagt; und schließlich hatte keiner mehr gewußt, was er wirklich glauben sollte.
Der Krieg ging schlecht, das wußte man; aber die Revolution, auf die viele seit Jahren gewartet hatten, war nie gekommen.
»Leo«, sagte 509. »Sie verlieren ihn. Es ist das Ende. Wenn das da unten im ersten Jahre des Krieges passiert wäre, würde es nichts bedeuten. Daß es jetzt nach fünf Jahren geschieht, heißt, daß die anderen gewinnen.«
Lebenthal sah sich wiederum um. »Wozu redest du darüber?« 509 kannte den Aberglauben der Baracken. Was man aussprach, verlor an Sicherheit und Kraft – und eine getäuschte Hoffnung war immer ein schwerer Verlust an Energie. Das war auch der Grund für die Vorsicht der anderen.
»Ich rede darüber, weil wir jetzt darüber reden müssen«, sagte er. »Es ist Zeit dafür. Jetzt wird es uns helfen, durchzustehen. Diesmal ist es keine Latrinenparole. Es kann nicht mehr lange dauern.
Wir müssen -« Er stockte.
»Was?« fragte Lebenthal.
509 wußte es selbst nicht genau. Durchkommen, dachte er. Durchkommen und noch mehr. »Es ist ein Rennen«, sagte er schließlich. »Ein Wettrennen, Leo – mit -« Mit dem Tode, dachte er; aber er sprach es nicht aus. Er zeigte in die Richtung der SS-Kasernen.
»Mit denen da! Wir dürfen jetzt nicht noch verlieren. Das Ende ist in Sicht, Leo!« Er packte Lebenthal am Arm. »Wir müssen jetzt alles tun -«
»Was können wir schon tun?« 509 fühlte, daß sein Kopf schwamm, als hätte er getrunken. Er war nicht mehr gewöhnt, viel zu denken und zu sprechen. Und er hatte lange nicht so viel gedacht wie heute. »Hier ist etwas«, sagte er und holte den Goldzahn aus der Tasche. »Von Lohmann.
Wahrscheinlich nicht eingetragen. Können wir ihn verkaufen?«
Lebenthal wog den Klumpen in der Hand. Er zeigte keine Überraschung.
»Gefährlich. Kann nur gemacht werden mit jemand, der aus dem Lager heraus kann oder Verbindung nach draußen hat.«
»Wie, ist egal. Was können wir dafür kriegen? Es muß rasch gehen!«
»Das geht nicht so rasch. So etwas muß befingert werden. Das verlangt Kopf, sonst sind wir am Galgen oder sind es los ohne einen Pfennig.«
»Kannst du es nicht heute abend noch machen?«
Lebenthal ließ die Hand mit dem Zahn sinken. »509«, sagte er. »Gestern warst du noch vernünftig.«
»Gestern ist lange her.«
Ein Krach kam von der Stadt und gleich darauf ein klarer, hallender Glocken« ton.
Das Feuer hatte das Gebälk des Kirchturms durchfressen, und die Glocke war gerutscht.
Lebenthal hatte sich erschreckt geduckt. »Was war das?« fragte er.
509 verzog die Lippen. »Ein Zeichen, Leo, daß gestern lange her ist.«
»Es war eine Glocke. Wieso hat die Kirche da unten noch eine Glocke? Sie haben doch alle Glocken zu Kanonen eingeschmolzen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie die eine vergessen. Also wie ist es mit dem Zahn heute abend? Wir brauchen Fraß für die Tage ohne Brot.«
Lebenthal schüttelte den Kopf. »Heute geht es nicht. Gerade deshalb nicht. Heute ist Donnerstag.
Kameradschaftsabend in der SS-Kaserne.«
»Ach so. Heute kommen die Huren?«
Lebenthal blickte auf. »So, das weißt du? Woher?«
»Das ist ja egal. Ich weiß es, Berger weiß es, Bucher weiß es, und Ahasver weiß es.«
»Wer sonst noch?«
»Keiner.«
»So, ihr wißt das! Ich habe nicht gemerkt, daß ihr mich beobachtet habt. Muß besser aufpassen.
Gut, das ist also heute abend.«
»Leo«, sagte 509. »Versuch heute abend, den Zahn loszuwerden. Das ist wichtiger.
Dies hier kann ich für dich machen. Gib mir das Geld; ich weiß Bescheid. Es ist einfach.«
»Du, weißt, wie es gemacht wird?«
»Ja, von der Grube aus -«
Lebenthal dachte nach. »Da ist ein Kapo bei der Lastwagenkolonne«, sagte er dann.
»Er fährt morgen in die Stadt. Ich könnte probieren, ob er anbeißt. Gut, meinetwegen. Und vielleicht bin ich auch noch rechtzeitig zurück, um dieses hier selbst zu machen.«
Er hielt 509 den Zahn hin.
»Was soll ich damit?« fragte 509 erstaunt. »Du mußt ihn doch mitnehmen -«
Lebenthal schüttelte verachtungsvoll den Kopf. »Da sieht man, was du vom Handel verstehst!
Meinst du, ich kriege etwas dafür, wenn einer von den Brüdern ihn erst in den Pfoten hat? Das wird anders gemacht. Wenn alles gut geht, komme ich zurück und hole ihn. Versteck ihn solange.
Und nun paß auf -« 509 lag in einer Bodenvertiefung, ein Stück vom Stacheldraht entfernt, aber näher, als es erlaubt war. Die Palisaden machten hier einen Knick, und die Stelle war von den Maschinengewehrtürmen schwer einzusehen – besonders nachts und bei Nebel.
Die Veteranen hatten das schon seit langem entdeckt; aber erst Lebenthal hatte es vor einigen Wochen fertig gebracht, Kapital daraus zu schlagen.
Das gesamte Gebiet einige hundert Meter außerhalb des Lagers war verbotene Zone, die nur mit besonderer Erlaubnis der SS betreten werden durfte. Ein breiter Streifen davon war von allem Gebüsch gereinigt, und die Maschinengewehre waren darauf eingeschossen.
Lebenthal, der einen sechsten Sinn hatte für alles, was mit Essen zusammenhing, hatte beobachtet, daß seit ein paar Monaten zwei Mädchen Donnerstag abends ein Stück des breiten Weges benützten, der am Kleinen Lager vorbei» führte. Sie gehörten zur »Fledermaus«, einer Kneipe mit Stimmungsbetrieb, die vor der Stadt lag, und kamen als Gäste zum gemütlichen Teil der Kultur abende der SS. Die SS hatte ihnen chevaleresk erlaubt, durch die verbotene Zone zu gehen; sie sparten so einen Umweg von fast zwei Stunden. Zur Vorsicht wurde während der kurzen Zeit, die sie brauchten, an der Seite des Kleinen Lagers der Strom abgestellt. Die Lagerverwaltung wußte davon nichts; die SS-Leute machten das in dem allgemeinen Durcheinander der letzten Monate auf eigene Faust.
Sie riskierten nichts; niemand vom Kleinen Lager war fähig, zu fliehen.
Eine der Huren hatte einmal in einem Anfall von Gutmütigkeit ein Stück Brot durch den Draht geworfen, als Lebenthal gerade in der Nähe gewesen war. Ein paar im Dunkeln geflüsterte Worte und das Angebot, zu bezahlen, hatten genügt – die Mädchen brachten seitdem manchmal etwas mit, besonders bei regnerischem oder nebligem Wetter. Sie warfen es durch den Draht, indem sie taten, als richteten sie sich die Strümpfe oder schüttelten Sand aus ihren Schuhen. Das Lager war völlig abgeblendet, und die Wachen schliefen an dieser Seite oft; aber selbst, wenn jemand mißtrauisch geworden wäre: auf die Mädchen hätte niemand geschossen, und bis er kam, um nachzusehen, wären alle Spuren längst verschwunden gewesen.
509 hörte, wie der Turm in der Stadt ganz zusammenstürzte. Eine Feuergarbe schoß empor und zerflatterte. Dann kamen die fernen Signale der Feuerwehr herüber.
Er wußte nicht, wie lange er gewartet hatte; Zeit war im Lager ein belangloser Begriff. Aber plötzlich hörte er durch das unruhige Dunkel Stimmen und dann Schritte. Er kroch unter dem Mantel Lebenthals hervor näher an den Draht heran und horchte. Es waren leichte Schritte, die von links kamen. Er blickte zurück; das Lager war sehr dunkel, und er konnte nicht einmal mehr die Muselmänner sehen, die zur Latrine stolperten. Dafür hörte er, wie einer der Posten den Mädchen etwas nachrief:»Werde um zwölf abgelöst. Treffe euch doch noch, was?«
»Klar, Arthur.«
Die Schritte kamen näher. Es dauerte noch eine Weile, bis 509 die Umrisse der Mädchen vage gegen den Himmel erkennen konnte. Er sah nach den Maschinengewehrtürmen hinüber. Es war so diesig und dunkel, daß er die Posten nicht sehen konnte – und sie ihn deshalb auch nicht. Vorsichtig begann er zu zischen.
Die Mädchen blieben stehen. »Wo bist du?« flüsterte eine.
509 hob den Arm und winkte.
»Ach da. Hast du das Geld?«
»Ja. Was habt ihr?«
»Gib erst den Zaster her. Drei Mark.«
Das Geld war mit einem langen Stock in einem Beutel, an dem sich ein Bindfaden befand, unter dem Stacheldraht hinweg auf den Weg geschoben worden. Eines der Mädchen bückte sich, nahm es heraus und zählte es rasch. Dann sagte es:»Hier, paß auf!«
Die beiden holten Kartoffeln aus den Taschen ihrer Mäntel und warfen sie durch den Draht. 509 versuchte, sie in Lebenthals Mantel aufzufangen. »Jetzt kommt das Brot«, sagte das dickere Mädchen.
509 sah, wie die Scheiben durch den Draht segelten. Er fischte sie rasch zusammen.
»So, das ist alles.« Die Mädchen wollten weitergehen.
509 zischte. »Was?« fragte die Dickere.
»Könnt ihr mehr bringen?«
»Nächste Woche.«
»Nein. Wenn ihr von der Kaserne zurückkommt. Die geben euch doch dort, was ihr wollt.« »Bist du derselbe, wie immer?« fragte das dickere Mädchen und beugte sich vor.
»Die sehen doch alle gleich aus, Fritzi«, sagte die andere.
»Ich kann hier warten«, flüsterte 509. »Ich habe noch Geld.«
»Wieviel?«
»Drei.«
»Wir müssen los, Fritzi«, sagte das andere Mädchen. Sie markierten während der Zeit Schritte auf der Stelle, damit die Posten nicht hören sollten, daß beide nicht weitergingen.
»Ich kann die ganze Nacht warten. Fünf Mark.«
»Du bist ein Neuer, was?« fragte Fritzi. »Wo ist der andere? Tot?«
»Krank. Hat mich hergeschickt. Fünf Mark. Vielleicht auch mehr.«
»Los, Fritzi. Wir können nicht so lange hier stehenbleiben.«
»Schön. Wir werden sehen. Warte meinetwegen hier.«
Die Mädchen gingen weiter. 509 hörte ihre Röcke rascheln. Er kroch zurück, zog den Mantel hinter sich her und legte sich erschöpft nieder. Er hatte das Gefühl zu schwitzen; aber er war ganz trocken.
Als er sich umdrehte, sah er Lebenthal. »Geklappt?« fragte Leo.
»Ja. Die Kartoffeln hier und das Brot.«
Lebenthal beugte sich nieder. »Diese Biester«, sagte er dann. »Was für Blutsauger! Das sind ja fast Preise wie hier im Lager! Eine Mark fünfzig wäre genug gewesen. Für drei Mark hätte Wurst dabei sein müssen. Das kommt davon, wenn man so was nicht selber macht!« 509 hörte nicht zu.
»Laß uns teilen, Leo«, sagte er.
Sie krochen hinter die Baracke und legten die Kartoffeln und das Brot auseinander.
»Die Kartoffeln brauche ich«, sagte Lebenthal. »Zum Handel, morgen.«
»Nein. Wir brauchen jetzt alles selbst.«
Lebenthal blickte auf. »So? Und woher soll ich Geld für das nächstemal kriegen?«
»Du hast doch noch was.«
»Was du nicht alles weißt!«
Sie hockten sich plötzlich wie Tiere auf allen vieren gegenüber und sahen sich in die eingesunkenen Gesichter.
»Sie kommen heute abend zurück und bringen mehr«, sagte 509. »Sachen von drüben, mit denen du leichter handeln kannst. Ich habe ihnen gesagt, wir hätten noch fünf Mark.«
»Hör mal -« begann Lebenthal. Dann hob er die Schultern. »Wenn du das Geld hast, ist es deine Sache.« 509 starrte ihn an. Schließlich blickte Lebenthal weg und ließ sich auf die Ellenbogen sinken. »Du machst mich kaputt«, jammerte er leise. »Was willst du eigentlich? Wozu mischst du dich auf einmal in alles ein?« 509 widerstand der Gier, eine Kartoffel in den Mund zu stopfen und noch eine, rasch, alle, ehe ihm jemand zuvorkam. »Wie stellst du dir das vor?« flüsterte Lebenthal weiter. »Alles auffressen, das Geld ausgeben wie Idioten – wie sollen wir dann Neues kriegen?«
Die Kartoffeln. 509 roch sie. Das Brot. Seine Hände wollten dem Denken plötzlich nicht mehr folgen. Sein Magen war nichts mehr als Gier. Essen! Essen! Schlingen! Rasch! Rasch!
»Wir haben den Zahn«, sagte er mühsam und drehte den Kopf weg.
»Was ist mit dem Zahn? Wir kriegen doch etwas dafür. Was ist damit?«
»Da war heute wenig zu machen. Das dauert noch. Ist auch nicht sicher. Man hat erst, was man in der Hand hat.«
Ist er nicht hungrig? dachte 509. Was redet er? Zerreißt es ihm nicht den Magen?
»Leo«, sagte er mit dicker Zunge. »Denk an Lohmann. Wenn wir soweit sind, ist es zu spät. Jeder Tag zählt jetzt. Wir brauchen nicht mehr für Monate im voraus zu denken.«
Von der Richtung des Frauenlagers her kam ein dünner, hoher Schrei – wie von einem ängstlichen Vogel. Ein Muselmann stand dort auf einem Bein und streckte die Arme zum Himmel. Ein zweiter versuchte, ihn zu halten. Es sah aus, als ob beide einen grotesken »pas de deux« vor dem Horizont tanzten. Einen Moment später stürzten sie wie dürres Holz zu Boden, und der Schrei verstummte.
509 drehte sich wieder um. »Wenn wir erst sind wie die, nützt uns alles nichts mehr«, sagte er.
»Dann sind wir kaputt für immer. Wir müssen uns wehren, Leo.«
»Wehren – wie?«
»Wehren«, sagte 509 ruhiger. Der Anfall war vorüber. Er konnte wieder sehen. Der Brotgeruch machte ihn nicht mehr blind. Er näherte seinen Kopf Lebenthals Ohr.
»Für nachher -« sagte er fast lautlos. »Um uns zu rächen -«
Lebenthal fuhr zurück. »Damit will ich nichts zu tun haben.«
509 lächelte schwach. »Das sollst du auch nicht. Sorge du nur fürs Fressen.«
Lebenthal schwieg eine Zeitlang. Dann griff er in seine Tasche, zählte Geldstücke dicht vor seinen Augen und gab sie 509. »Hier sind drei Mark. Die letzten. Bist du nun zufrieden?«
509 nahm das Geld, ohne zu antworten.
Lebenthal legte das Brot und die Kartoffeln auseinander. »Zwölf Teile. Verflucht wenig dafür.« Er begann abzuzählen.
»Elf. Lohmann will nichts mehr. Braucht auch nichts mehr.«
»Gut. Elf.«
»Bring es hinein zu Berger, Leo. Sie warten.«
»Ja. Hier ist deins. Willst du hierbleiben, bis die beiden zurückkommen?«
»Ja.«
»Du hast noch Zeit. Sie kommen nicht vor eins oder zwei.«
»Das macht nichts. Ich bleibe hier.«
Lebenthal zuckte die Achseln. »Wenn sie nicht mehr bringen als vorher, brauchst du überhaupt nicht zu warten. Dafür kann ich auch was im Großen Lager kriegen. Wucherpreise, die Biester!«
»Ja, Leo. Ich werde aufpassen, daß ich mehr kriege.«
509 kroch wieder unter den Mantel. Ihn fror. Die Kartoffeln und sein Stück Brot hielt er in der Hand. Er steckte das Brot in die Tasche. Ich werde heute nacht nichts essen, dachte er. Ich werde bis morgen warten. Wenn ich das fertigbringe, dann – er wußte nicht, was dann sein würde. Irgend etwas. Etwas Wichtiges. Er versuchte es auszudenken. Es ging nicht. Er hatte noch die Kartoffeln in der Hand. Eine große und eine sehr kleine. Sie waren zu stark. Er aß sie. Er verschlang die kleine mit einem Bissen; die große kaute und kaute er. Er hatte nicht erwartet, daß der Hunger danach noch schlimmer werden würde. Er hätte es wissen müssen; es geschah immer wieder, aber man glaubte es jedesmal nicht. Er leckte seine Finger, und dann biß er in seine Hand, um sie von dem Brot in seiner Tasche fortzuhalten. Ich will das Brot nicht sofort herunterschlingen, wie früher, dachte er. Ich will es erst morgen essen.
Ich habe heute abend gegen Lebenthal gewonnen. Ich habe ihn halb überzeugt. Er wollte nicht; aber er hat mir drei Mark gegeben. Ich bin noch nicht kaputt. Ich habe noch Willen. Wenn ich es mit dem Brot aushalte bis morgen – es war ihm, als tropfe schwarzer Regen in seinem Kopf – dann -er ballte die Fäuste und starrte auf die brennende Kirche – da war es endlich -, dann bin ich keinTier. Kein Muselmann.
Nicht nur eine Freßmaschine. Ich habe dann, es ist – die Schwäche kam wieder, die Gier – es ist -, ich habe es zu Lebenthal vorhin gesagt, aber da hatte ich kein Brot in der Tasche. – Sagen ist leicht – es ist – Widerstand – es ist so, wie wieder ein Mensch werden – ein Anfang.