ZEHNTES KAPITEL

Verwirrt und bestürzt verließ Claude Lebel eine Stunde später den Konferenzraum. Fünfzig Minuten lang hatte er ununterbrochen zugehört, während der Minister ihn über die vor ihm liegende Aufgabe unterrichtete.

Bei seinem Eintreten war er gebeten worden, am unteren Ende des Konferenztisches Platz zu nehmen, und hatte sich zwischen den Chef des CRS und seinen eigenen Chef Bouvier gesetzt. Während er den Rolland-Bericht las, hatten die anderen vierzehn Männer geschwiegen, und er war sich der abschätzenden Blicke, die ihn neugierig musterten, bewußt gewesen.

Als er den Bericht aus der Hand legte, begann die Frage, warum sie ihn hatten rufen lassen, ihn zu beunruhigen. Dann sprach der Minister. Es ging weder um eine Konsultation noch um irgendein Ansuchen. Es war eine Verfügung, der eine wortreiche Einweisung folgte. Er könne ein eigenes Büro einrichten; er erhalte uneingeschränkten Zugang zu allen erforderlichen Informationen; ihm ständen die gesamten Hilfsmittel aller Organisationen zur Verfügung, die von den an diesem Tisch sitzenden Männern geleitet wurden. Eine Limitierung für die entstehenden Kosten sei nicht vorgesehen.

Mehrfach wurde die Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung, wie sie das Staatsoberhaupt befohlen hatte, hervorgehoben. Lebel hörte zu, und ihm sank der Mut. Sie erwarteten — nein, verlangten — das Unmögliche. Er hatte nichts, wovon er hätte ausgehen können. Es gab kein Verbrechen — noch nicht. Es gab keine Spuren, keine Hinweise. Und abgesehen von den drei Männern, mit denen er nicht sprechen konnte, gab es auch keine Zeugen. Es gab nur einen Namen, einen Decknamen, und die ganze Welt, die er nach diesem Mann absuchen konnte. Claude Lebel war immer ein guter Polizeibeamter gewesen, gewissenhaft, besonnen und in seiner Arbeitsweise von methodischer Gründlichkeit. Nur gelegentlich hatte er die blitzartige Inspiration gezeigt, die aus einem guten Polizisten einen hervorragenden Detektiv macht. Dabei war er sich jedoch stets der Tatsache bewußt geblieben, daß neunundneunzig Prozent aller Polizeiarbeit Routine sind und aus unauffällig betriebener Ermittlungstätigkeit, aus Recherchieren, Überprüfen und Gegenprüfen, aus dem geduldigen Verknüpfen einzelner Maschen eines Netzes bestehen, in dem sich der Verbrecher fängt und verstrickt.

In der PJ war er als verbissener Arbeiter bekannt, der für seine Person jegliche Publicity ablehnte und nie Pressekonferenzen von jener Art gegeben hatte, auf der der Ruf mancher seiner Kollegen basierte. Und doch war er, indem er seine Fälle löste und seine Täter überführte, stetig aufgestiegen. Als vor drei Jahren bei der Brigade Criminelle die Stelle des Leiters der Mordkommission frei wurde, stimmten selbst seine ebenfalls zur Beförderung anstehenden Kollegen darin überein, daß er der geeignetste Mann war. Er konnte auf eine gleichbleibend erfolgreiche Tätigkeit bei der Mordkommission verweisen, als deren Leiter er drei Jahre hindurch keine einzige Festnahme veranlaßte, die nicht zu einer Verurteilung führte, wenngleich in einem Fall der Angeklagte aus formaljuristischen Gründen freikam.

Als Leiter der Mordkommission erregte er die Aufmerksamkeit Maurice Bouviers, der Chef der gesamten Brigade und ebenfalls ein Polizeibeamter alter Schule war. Als Dupuy vor wenigen Wochen plötzlich verstarb, war es daher Lebel, den Bouvier als seinen neuen Stellvertreter vorschlug.

Es hatte in der PJ zwar Stimmen gegeben, die behaupteten, daß Bouvier, dessen Zeit weitgehend von administrativer Arbeit beansprucht wurde, einen publicityscheuen Kollegen zu schätzen wußte, der die großen, Schlagzeilen hervorrufenden Fälle handhaben konnte, ohne seinem Vorgesetzten die Show zu stehlen. Aber vielleicht urteilten sie zu hart.

Nach der Besprechung im Ministerium wurden die Kopien des Rolland-Berichts eingesammelt und im Safe des Ministers eingeschlossen. Einzig Lebel erhielt die Erlaubnis, ein Exemplar zu behalten, und ließ sich das von Bouvier aushändigen. Er hatte sich lediglich ausbedungen, die Leiter der obersten Kriminalbehörden derjenigen Länder vertraulich um ihre Kooperation zu ersuchen, deren Karteien vermutlich Unterlagen enthielten, die über die Identität eines professionellen Killers wie des Schakals Aufschluß zu geben vermochten.

Ohne die Möglichkeit zu solcher Zusammenarbeit, erklärte er, sei es zwecklos, mit der Fahndung zu beginnen.Sanguinetti hatte wissen wollen, ob man sich darauf verlassen könne, daß diese Leute den Mund hielten. Lebel hatte erwidert, daß er die Leute, mit denen er Verbindung aufnehmen müsse, persönlich kenne und daß er seine Ermittlungen nicht offiziell, sondern auf Basis des persönlichen Kontakts, wie sie zwischen den meisten Spitzenfunktionären der Polizeikräfte Westeuropas existiert, anzustellen beabsichtige. Nach einigem Hin und Her hatte der Minister seinem Ersuchen stattgegeben.

Und jetzt stand Lebel in der Halle, wo er auf Bouvier wartete, während die Abteilungsleiter auf dem Weg zum Ausgang an ihm vorüberkamen. Einige nickten ihm nur kurz zu und gingen rasch weiter; andere sahen sich zu einem mitfühlenden Lächeln veranlaßt, als sie ihm gute Nacht wünschten. Einer der letzten, der den Konferenzraum verließ, während sich Bouvier noch leise mit Max Fernet besprach, war der aristokratische Oberst aus dem Elysee-Palast. Lebel war der Name Saint Clair de Villauban genannt worden, als man ihn mit den Männern, die an dem Konferenztisch saßen, bekannt machte. Der Oberst blieb vor dem kleinen, dicklichen Kommissar stehen und sah ihn mit unverhohlenem Mißfallen an.

«Ich hoffe, Kommissar, daß Sie mit Ihren Ermittlungen Erfolg haben werden, und das möglichst rasch«, sagte er.»Wir im Palast werden Ihr Vorgehen sehr aufmerksam verfolgen. Falls es Ihnen nicht gelingen sollte, diesen Banditen dingfest zu machen, dürfte das — Folgen haben.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte die Treppe zum Foyer hinunter. Lebel sagte nichts, blinzelte jedoch mehrmals ganz schnell.

Einer der Gründe für die Erfolge, die er, seit er vor zwanzig Jahren in der Normandie als junger Detektiv bei der Polizei der Vierten Republik anfing, in der Ermittlung von Verbrechen erzielt hatte, war seine Fähigkeit, die Leute durch das Vertrauen, das er ihnen einflößte, zum Sprechen zu bringen. Er besaß nicht die imponierende Größe und Leibesfülle Bouviers, die der traditionellen Vorstellung von der verkörperten Autorität des Gesetzes entsprach. Und er verfügte ebensowenig über die Redegewandtheit, die so viele der jetzt in die Polizei aufgenommenen jungen Detektive auszeichnete, die einen Zeugen mit Wortverdrehungen, Drohungen und Schmeicheleien zu Tränenausbrüchen veranlassen konnten. Er selbst empfand das nicht als Mangel.

Er war sich darüber im klaren, daß in jeder Gesellschaft die Mehrzahl der Verbrechen an kleinen Leuten — Ladenbesitzern, Verkäufern, Briefträgern, Bankangestellten — oder in ihrer Gegenwart begangen wird. Diese Menschen konnte er zum Sprechen bringen, und das wußte er.

Es lag zum Teil daran, daß er klein war und in mancher Hinsicht an den bei Karikaturisten so beliebten Typ des unterjochten Ehemannes erinnerte, der er in der Tat auch war.

Seine Kleidung war nachlässig; zumeist trug er ungebügelte Anzüge und einen unansehnlichen Regenmantel. Seine Umgangsformen waren freundlich, fast ein wenig wie um Nachsicht bittend, und unterschieden sich so grundlegend von denen, die der von ihm um Informationen ersuchte Zeuge bei seiner ersten Begegnung mit dem Gesetz kennengelernt hatte, daß der Zeuge zu dem Detektiv Vertrauen faßte und in ihm so etwas wie eine Zuflucht vor der Brutalität seiner Untergebenen sah.

Aber es kam noch etwas hinzu. Er war Leiter der Mordkommission einer der mächtigsten Polizeiorganisationen Europas und zehn Jahre lang Detektiv in der Brigade Criminelle der berühmten Police Judiciaire Frankreichs gewesen. Hinter seiner Sanftmut und der fast einfältig wirkenden Schlichtheit seines Auftretens verbarg sich die Schärfe eines geschulten Verstandes und die hartnäckige Weigerung, sich bei der Ausführung eines Auftrags von irgend jemandem einschüchtern oder auch nur irremachen zu lassen. Er war von einigen der gefährlichsten Gangsterbosse Frankreichs bedroht worden, die das rasche Blinzeln, mit dem Lebel auf derartige Ansinnen zu reagieren pflegte, vorschnell als Anzeichen dafür gedeutet hatten, daß ihre Warnung beherzigt worden sei. Erst später — in der Gefängniszelle — hatten sie die Muße gefunden, sich klarzumachen, daß sie den kleinen Mann mit den sanften braunen Augen und dem Zahnbürstenbärtchen unterschätzt haben mußten.

Zweimal war er Einschüchterungsversuchen von seiten reicher und mächtiger Leute ausgesetzt gewesen. Das erstemal, als ein Industrieller einen seiner jüngeren Mitarbeiter der Unterschlagung angeklagt zu sehen wünschte und der felsenfesten Meinung war, der Polizei genüge schon ein flüchtiger Einblick in die Bücher, um seine Festnahme zu rechtfertigen; und das andere Mal, als ein Bursche aus der Society ihn zu bewegen versuchte, die Ermittlungen im Fall einer durch Drogeneinwirkung verstorbenen jungen Schauspielerin einzustellen.Im erstgenannten Fall hatte die Untersuchung der Geschäftspraktiken des Industriellen zur Aufdeckung anderer und weit beträchtlicher Unstimmigkeiten geführt, die dem jungen Buchhalter nicht zur Last gelegt werden konnten, es den Industriellen jedoch bereuen ließen, nicht in die Schweiz abgereist zu sein, solange ihm das noch möglich gewesen war. Im zweiten Fall hatte sich der Playboy für längere Zeit als unfreiwilliger Gast des Staates betrachten dürfen und es gewiß bedauert, sich jemals die Mühe gemacht zu haben, von seinem Penthouse in der Avenue Victor Hugo aus einen Callgirl-Ring aufzuziehen. Kommissar Lebel hatte sich darauf beschränkt, auf die Bemerkung von Oberst Saint Clair wie ein abgekanzelter Schuljunge mit einem raschen Blinzeln zu reagieren und nichts zu sagen. Aber das sollte ihn bei der Wahrnehmung der ihm übertragenen Aufgabe in keiner Weise beeinflussen.

Maurice Bouvier trat auf ihn zu, als der letzte Mann den Konferenzraum verließ. Max Fernet wünschte ihm Glück, reichte ihm die Hand und ging zur Treppe. Bouvier legte Lebel seine gewaltige Pranke auf die Schulter.

«Eh bien, monpetit Claude. Wie das Leben doch spielt, kein? Na schön, ich selbst war es, der den Vorschlag machte, daß diese Geschichte der PJ übertragen wird. Es blieb gar nichts anderes übrig. Die Diskussion da drin hätte sich nur immer weiter im Kreis gedreht. Kommen Sie, wir können uns in meinem Wagen unterhalten. «Er ging vor Lebel die Treppe hinunter, und die beiden setzten sich in den Fond der im Hof wartenden Citroen-Limousine. Es war schon nach 21 Uhr, und ein schmaler purpurner Streifen über Neuilly war alles, was vom entschwundenen Tageslicht noch für eine Weile am Himmel zurückblieb. Bouviers Wagen schoß die Avenue de Marigny hinunter und überquerte die Place Clemenceau. Lebel blickte aus dem Fenster zu seiner Rechten die Champs Elysees hinauf, deren abendliche Pracht ihn immer wieder überraschte und beeindruckte, obgleich es zehn Jahre zurücklag, daß er aus der Provinz in die Hauptstadt versetzt worden war.

«Sie werden alle Fälle abgeben müssen, die Sie im Augenblick bearbeiten«, sagte Bouvier schließlich.»Ich werde veranlassen, daß Favier und Malcoste Ihre Arbeit übernehmen. Brauchen Sie ein neues Büro für diesen Job?«

«Nein, ich bleibe lieber in meinem jetzigen Raum.«

«In Ordnung, aber ab sofort dient er ausschließlich als Hauptquartier der Operation >Jagt-den-Schakal<, klar? Gibt es irgend jemanden, den Sie als Gehilfen haben wollen?«

«Ja. Caron«, sagte Lebel. Der junge Inspektor, der schon in der Mordkommission unter ihm gearbeitet hatte, war seine rechte Hand geworden, als er seinen neuen Posten als Stellvertretender Chef der Brigade Criminelle antrat.

«O.K., Sie sollen ihn haben. Sonst noch jemanden?«»Nein, danke. Aber Caron muß eingeweiht werden. «Bouvier dachte einen Augenblick nach.»Das sollte keine Schwierigkeiten machen. Schließlich kann man auch von der PJ keine Wunder erwarten. Selbstverständlich muß man Ihnen einen Assistenten zubilligen. Aber sagen Sie ihm noch nichts. Ich rufe Frey an, sobald ich in meinem Büro bin, und bitte ihn um die formelle Unbedenklichkeitserklärung. Aber außer ihm sollte keine weitere Person einbezogen werden. Wenn auch nur irgend etwas durchsickert, steht es morgen, spätestens übermorgen in der Presse.«

«Niemand sonst, nur Caron«, sagte Lebel. »Bon. Und noch etwas. Bevor ich die Sitzung verließ, schlug Sanguinetti vor, daß alle diejenigen, die heute abend anwesend waren, in regelmäßigen Abständen über den weiteren Verlauf der Angelegenheit unterrichtet werden. Frey war sehr dafür, Fernet und ich versuchten, es ihm auszureden, aber wir konnten uns nicht durchsetzen. Von jetzt ab wird jeden Abend im Ministerium eine Sitzung stattfinden, bei der Sie die Herren über den jeweiligen Stand der Dinge auf dem laufenden halten sollen. Beginn Punkt zehn Uhr.«

«Oh Gott«, stöhnte Lebel.

«Theoretisch«, fuhr Bouvier nicht ohne Ironie fort,»sind die Herren allesamt gehalten, Ihnen mit Vorschlägen und Anregungen zur Seite zu stehen. Aber keine Sorge, Claude, Fernet und ich werden dasein, falls die Wölfe anfangen, nach Ihnen zu schnappen.«

«Gilt das bis auf weiteres?«fragte Lebel.»Ich fürchte, ja. Der Haken an der Sache ist, daß es keinen Zeitplan für diese Operation gibt. Sie müssen den Killer unter allen Umständen aufspüren, bevor er an Charlemagne herankommt. Wir wissen nicht, ob der Mann seinerseits einen Zeitplan hat und wie der aussieht. Vielleicht schlägt er morgen früh zu, vielleicht auch erst in einem Monat. Sie müssen sich darauf einstellen, solange unter Hochdruck zu arbeiten, bis er dingfest gemacht oder zumindest identifiziert und lokalisiert worden ist. Ich denke, den Rest kann man getrost den Burschen vom Aktionsdienst überlassen.«

«Dieser Gangsterbande.«

«Zugegeben«, sagte Bouvier leichthin,»aber sie haben auch ihre Meriten. Wir leben in haarsträubenden Zeiten, mein lieber Claude. Neben der enormen Zunahme konventioneller Verbrechen haben wir jetzt außerdem noch das politische Verbrechen. Es gibt nun einmal Dinge, die erledigt werden müssen. Sie tun es. Wie auch immer, versuchen Sie, um Himmels willen, diesen Burschen aufzuspüren.«

Der Wagen bog in den Quai des Orfevres ein und passierte die Toreinfahrt zur PJ. Wenige Minuten später war Claude Lebel wieder in seinem Büro. Er trat ans Fenster, öffnete es und sah zum Quai des Grands Augustins auf dem linken Ufer hinüber. Obschon durch die Breite des Seine-Arms von ihnen getrennt, konnte er die Leute, die auf dem anderen Ufer an den vor den Restaurants aufgestellten, weißgedeckten Tischen zu Abend aßen, nicht nur sehen, sondern auch ihre Stimmen und ihr Lachen hören.

Jedem anderen Mann wäre in seiner Lage vermutlich bewußt geworden, daß ihn die Vollmachten, die man ihm vor einer Stunde übertragen hatte, zum mächtigsten Polizeibeamten Europas hatten werden lassen; daß mit Ausnahme des Präsidenten und seines Innenministers niemand sein Recht auf unbeschränkte Inanspruchnahme aller technischen Hilfsmittel und jeglicher Unterstützung von seiten staatlicher Institutionen anfechten konnte; daß er praktisch autorisiert war, die Armee zu mobilisieren, vorausgesetzt, daß dies unter absoluter Geheimhaltung geschah. Vermutlich hätte er sich ebenfalls klargemacht, daß seine Machtfülle, so groß sie auch sein mochte, vom Erfolg abhing; daß der Erfolg ihm die Krönung seiner Karriere bescheren konnte, sein Ausbleiben, wie Saint Clair de Villauban dunkel angedeutet hatte, ihm jedoch mit Gewißheit das Genick brechen würde.

Weil er aber der Mann war, der er war, verschwendete er an Überlegungen dieser Art keinen einzigen Gedanken. Er zerbrach sich lediglich den Kopf darüber, wie er Amelie am Telephon klarmachen konnte, daß er bis auf weiteres nicht nach Hause kommen würde.

Ein Pochen an der Tür schreckte ihn auf.

Die Inspektoren Malcoste und Favier kamen, um die Dossiers über die vier Fälle abzuholen, an denen Lebel gearbeitet hatte, als man ihn am frühen Abend in das Innenministerium rief.

Er verbrachte eine halbe Stunde damit, Malcoste in die beiden Fälle einzuweisen, die er ihm übertrug, und Favier in die anderen beiden. Als sie gegangen waren, klopfte es neuerlich an der Tür. Es war Lucien Caron.

«Ich bin gerade von Kommissar Bouvier angerufen worden«, erklärte er.»Man sagte mir, ich solle mich bei Ihnen melden.«

«Stimmt. Bis auf weiteres hat man mich aller Routinepflichten entbunden und mir eine Sonderaufgabe zugewiesen. Sie sind mir als Assistent zugeteilt worden.«

Er vermied es, Caron dadurch zu schmeicheln, daß er ihn wissen ließ, niemand anderer als er selbst habe ihn als seine rechte Hand angefordert. Das Telephon klingelte. Lebel hob den Hörer ab, lauschte kurz, sagte:»Gut, in Ordnung«, und hängte ein.

«Das war Bouvier«, erklärte er.»Er hat mir gesagt, daß Sie als Geheimnisträger für unbedenklich erklärt worden sind. Ich kann Ihnen also jetzt erzählen, worum es geht. Am besten lesen Sie sich erst einmal dies hier durch.«

Während Caron auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch saß und den Rolland-Bericht las, räumte Lebel die restlichen Aktenordner und Notizen vom Tisch und legte sie auf die unordentlichen Regale, die hinter ihm an der Wand befestigt waren. Das Büro sah nicht so aus, wie man sich die Befehlszentrale der umfangreichsten geheimen Ermittlungsaktion Frankreichs vorstellen würde. Polizeibüros wirken nie sehr beeindruckend, und das von Lebel machte darin keine Ausnahme.

Es maß nicht mehr als vier mal fünf Meter und hatte zwei nach Süden auf den Fluß und das jenseits davon gelegene Quartier Latin gehende Fenster. Neben Lebels quer vor das Fenster gestellten Schreibtisch, an dem er mit dem Rücken zur Aussicht Platz zu nehmen pflegte, enthielt es einen an die östliche Wand geschobenen Arbeitstisch für seine Sekretärin. Die Tür befand sich gegenüber den Fenstern an der Nordseite des Raums.

Außer den beiden Tischen und den dazugehörigen Stühlen gab es noch einen dritten Stuhl sowie einen neben die Tür gestellten Sessel, ferner sechs halbhohe, graugestrichene Aktenschränke, die nahezu die ganze Westwand einnahmen. Diverse Nachschlagewerke und Gesetzesbücher, die auf den zwischen den beiden Fenstern angebrachten Bücherregalen keinen Platz mehr gefunden hatten, standen auf den Aktenschränken.

Die einzige private Note des Zimmers stellte die auf Lebels Schreibtisch stehende gerahmte Photographie einer entschlossen dreinblickenden Frau mit ihren beiden Kindern dar. Es war Madame Amelie Lebel, flankiert von einem Mädchen mit Stahlbrille und Zöpfen und einem Jungen, dessen sanfter Gesichtsausdruck dem seines Vaters glich.

Caron hatte den Bericht durchgelesen und blickte auf. »Merde«, sagte er.

«Une enorme merde, kann man in diesem Fall wohl sagen«, erwiderte Lebel, der sich Kraftausdrücke nur selten gestattete. Die meisten leitenden Kommissare der PJ hatten Spitznamen wie le Patron oder le Vieux, aber Claude Lebel, der nie mehr als einen kleinen Aperitif trank, weder rauchte noch fluchte und seine jüngeren Detektive zwangsläufig an irgendeinen ihrer Schullehrer erinnerte, wurde in den Korridoren des Stockwerks der Brigadeführung seit einiger Zeit le Professeur genannt. Wäre er nicht ein so guter Detektiv gewesen, hätte man ihn wahrscheinlich zu einer komischen Figur abgestempelt.

«Aber vielleicht hören Sie mir dennoch zu, wenn ich Ihnen jetzt noch ein paar Einzelheiten nachliefere«, sagte Lebel.»Es wird vermutlich die letzte Gelegenheit sein, daß ich dazu die Zeit habe. «Dreißig Minuten lang berichtete er Caron von den Ereignissen des Nachmittags, von Roger Freys Unterredung mit dem Präsidenten und der Besprechung im Innenministerium. Er erwähnte die auf Bouviers Empfehlung unvermittelt an ihn ergangene Aufforderung, alles stehen- und liegenzulassen und sich sofort im Ministerium einzufinden, und schilderte, wie es zu der Weisung des Ministers gekommen war, eine eigene Befehlszentrale für die Jagd auf den Schakal einzurichten. Caron lauschte schweigend.»Verdammt«, sagte er schließlich, als Lebel endete,»die haben Sie aber ganz schön dränge kriegt. «Er dachte einen Augenblick nach, und der Blick, mit dem er seinen Chef ansah, verriet Anteilnahme und Besorgnis. »Mon commissaire, sehen Sie denn nicht, daß die Ihnen diese Sache nur aufgehalst haben, weil kein anderer sie übernehmen wollte? Wissen Sie, was die mit Ihnen machen werden, wenn Sie diesen Mann nicht rechtzeitig fassen?«Lebel nickte.»Ja, Lucien, das weiß ich. Ich kann nichts dagegen machen. Die

Sache ist mir nun einmal übertragen worden. Es bleibt jetzt also gar nichts anderes übrig, als zu tun, was man von uns erwartet.«»Aber wovon, zum Teufel, können wir denn überhaupt ausgehen?«

«Wir können davon ausgehen, daß wir die größten Machtbefugnisse haben, die je zwei Polizisten in Frankreich zugestanden worden sind«, entgegnete Lebel aufgeräumt,»und wir werden sie benutzen. Installieren Sie sich mal gleich an dem Tisch da drüben, nehmen Sie Papier und Bleistift zur Hand und notieren Sie folgendes: Sorgen Sie dafür, daß meine Sekretärin vorübergehend in eine andere Abteilung versetzt wird oder bis auf weiteres bezahlten Urlaub bekommt. Sie werden mein Assistent und Sekretär in einer Person sein müssen. Lassen Sie ein Feldbett, Bettwäsche, Kissen und Decken heraufschaffen. Besorgen Sie Wasch- und Rasierzeug, Kaffee, Zucker, Milch und einen Filterapparat aus der Kantine. Wir werden eine Menge Kaffee benötigen. Verständigen Sie die Telephonzentrale, daß sie zehn Amtsleitungen und einen Mann in der Vermittlung ständig zu unserer Verfügung halten muß. Berufen Sie sich auf Bouvier, wenn die Leute Schwierigkeiten machen sollten. Wenden Sie sich wegen der anderen Anforderungen immer gleich an den betreffenden Abteilungsleiter und beziehen Sie sich auf mich. Zum Glück hat unser Büro ab sofort auch bei den sonstigen Ausrüstungsdienststellen kraft Sondererlaß Vorrang gegenüber allen anderen Diensten. Setzen Sie ein Rundschreiben an alle Abteilungsleiter auf, die bei der heutigen Sitzung im Ministerium anwesend waren, und erklären Sie ihnen, daß Sie zu meinem einzigen Assistenten ernannt und bevollmächtigt worden seien, in meinem Namen mit jeder Bitte an sie heranzutreten, die ich, wenn ich nicht verhindert wäre, selbst geäußert hätte. Haben Sie das?«

Caron blickte von seinen Notizen auf.»Ja, Chef. Das Rundschreiben kann ich heute nacht entwerfen. Was ist das Vordringlichste?«

«Die Telephonvermittlung. Ich brauche einen guten Mann, der das übernimmt — den besten, den sie haben. Rufen Sie den Verwaltungschef in seiner Wohnung an und beziehen Sie sich auch ihm gegenüber auf Bouvier.«

«In Ordnung. Welche Gespräche kommen zuerst dran?«»Sie müssen mich, so schnell Sie können, mit den Chefs der Mordkommissionen von sieben verschiedenen Ländern verbinden. Glücklicherweise kenne ich die meisten persönlich von den Interpol-Sitzungen her. In manchen Fällen kenne ich ihre Stellvertreter. Verlangen Sie also jeweils den zweiten Mann, wenn Sie seinen Chef nicht bekommen. Die Länder sind die Vereinigten Staaten, das heißt die Mordkommission des FBI in Washington, ferner Großbritannien, Belgien, Holland, Italien, Westdeutschland, Südafrika. Wen Sie nicht im Büro erreichen, den rufen Sie zu Hause an. Vereinbaren Sie eine Serie von Gesprächen, die ich vom Interpol-Kommunikationsraum aus zwischen 7 und 10 Uhr morgens in Abständen von zwanzig Minuten führen werde. Lassen Sie sich mit jedem von ihnen, sobald Sie die persönliche Zusage eines Mordkommissionschefs, daß er sich zur vereinbarten Zeit in seiner Kommunikationszentrale aufhalten wird, erhalten haben, mit Interpol verbinden und buchen Sie das Gespräch. Stellen Sie mir bis morgen früh um sechs eine Liste der vorgemerkten Gespräche in der geplanten Reihenfolge zusammen. Ich gehe inzwischen zur Mordkommission hinunter, um nachzusehen, ob jemals irgendein ausländischer Killer hier in Frankreich in Aktion getreten ist, ohne gefaßt worden zu sein. Ehrlich gesagt, ist mir kein solcher Fall erinnerlich, und ich müßte es ja schließlich wissen. Zudem nehme ich kaum an, daß Rodin eine so unvorsichtige Wahl getroffen haben wird. Ist Ihnen klar, was Sie zu tun haben?«

Ein wenig benommen dreinblickend, sah Caron von seinen auf mehreren Zetteln vermerkten Notizen auf.

«Ja, Chef, ich weiß Bescheid. Bon, dann wird es wohl Zeit, daß ich mich jetzt an die Arbeit mache. «Er griff nach dem Telephon.

Claude Lebel verließ sein Büro und ging zur Treppe. Die nahen Glocken von Notre-Dame schlugen Mitternacht, und in wenigen Stunden würde die Morgendämmerung des 12. August anbrechen.

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