VIERZEHNTES KAPITEL

Der Schakal wurde wie immer gegen 7 Uhr 30 wach, trank den ihm ans Bett servierten Tee, wusch, duschte und rasierte sich. Als er angezogen war, holte er die 1000 Pfund aus dem aufgeschlitzten Kofferfutter hervor, steckte die gebündelten Scheine in die Innentasche seines Jacketts und begab sich ins Frühstückszimmer. Um 9 Uhr hatte er das Hotel verlassen und schlenderte, nach Banken Ausschau haltend, die Via Manzoni hinauf und hinunter. Zwei Stunden lang suchte er eine Bank nach der anderen auf und wechselte seine englischen Pfund ein. Zweihundert tauschte er in italienische Lire um, die restlichen achthundert in französische Francs.

Gegen elf hatte er die gesamte Summe eingewechselt und nahm auf einer Cafeterrasse Platz, um einen Espresso zu trinken. Anschließend begab er sich zum zweitenmal auf die Suche. Nach anfänglichem Umherirren hatte er sich zu einem unweit der Garibaldi-Station befindlichen Arbeiterviertel durchgefragt, wo er in einer Nebenstraße nahe der Porta Garibaldi eine Reihe abschließbarer Garagen entdeckte. Das entsprach genau dem, was er gesucht hatte. Der Besitzer, der auch die Garage an der Straßenecke betrieb, vermietete ihm eine der Boxen. Die Miete für zwei Tage betrug 10000 Lire und lag damit weit über dem üblicherweise geforderten Preis; aber schließlich war die Mietdauer sehr kurz.

In einem nahen Eisenwarengeschäft kaufte er einen Overall, eine Metallschere, einige Meter dünnen Stahldraht, einen Lötkolben und eine etwa dreißig Zentimeter lange Stange Lötzinn.

Er packte alles das in eine Leinwandtasche, die er im gleichen Laden erstanden hatte, und stellte sie in der Garage ab. Dann steckte er den Schlüssel ein und fuhr in die Innenstadt, um zu Mittag zu essen.

Am frühen Nachmittag ließ er sich per Taxi zu einer kleinen, offenkundig nicht allzu gut gehenden Autoverleihfirma fahren, der er seinen Besuch von der Stadt aus telephonisch avisiert hatte. Er mietete einen zweisitzigen Alfa-Romeo (Baujahr 1962) und erklärte beiläufig, daß er eine vierzehntägige Italienrundfahrt zu unternehmen und den Wagen anschließend zurückzubringen gedenke.

Sein Paß wie auch sein britischer und sein internationaler Führerschein waren in Ordnung, und die Versicherung konnte innerhalb einer Stunde durch eine nahe Firma, die diese Dinge für den Automobilverleih routinemäßig erledigte, abgeschlossen werden. Die Höhe der Hinterlegungssumme war beträchtlich; sie entsprach dem Gegenwert von über 100 Pfund. Dafür stand ihm der Wagen ohne weitere Formalitäten sogleich zu Verfügung. Der Zündschlüssel steckte schon im Zündschloß, und der Inhaber der Firma wünschte ihm gute Reise und einen erholsamen Urlaub.

Auf seine vorsorgliche Anfrage bei der Automobile Association in London hatte er die Auskunft erhalten, daß es, da sowohl Frankreich als auch Italien der Europäischen

Wirtschaftsgemeinschaft angehörten, keiner umständlichen Formalitäten bedurfte, um mit einem in Italien polizeilich gemeldeten Wagen nach Frankreich zu fahren, vorausgesetzt, die Wagenpapiere, der Leihvertrag und die Versicherungspolice waren in Ordnung.

Am Informationstisch des Automobil Club Italiano am Corso Venezia hatte man ihm eine angesehene Versicherungsgesellschaft empfohlen, die darauf spezialisiert war, Autofahrer auf Auslandsreisen zu versichern. Dort schloß er eine Zusatzversicherung für eine Fahrt nach Frankreich ab und zahlte wiederum in bar. Die Firma, so wurde ihm bedeutet, arbeitete mit einer großen französischen Versicherungsgesellschaft aufs engste zusammen; Verrechnungsschwierigkeiten seien also nicht zu befürchten.

Anschließend fuhr er den Alfa zum Continentale, stellte ihn auf dem für Hotelgäste reservierten Parkplatz ab und suchte sein Zimmer auf, um den Koffer mit den Einzelteilen des zusammenlegbaren Gewehrs zu holen. Kurz nach der Teezeit war er wieder in der kleinen Nebenstraße bei der Porta Garibaldi und fuhr den Wagen in die Garage.

Nachdem er die Lötkolbenschnur in den Kontakt der Deckenbeleuchtung gesteckt und den Lichtstrahl der auf den Boden gelegten Stablampe so gerichtet hatte, daß er die Unterseite des Wagens beschien, machte er sich hinter vorsorglich verschlossenen Türen an die Arbeit. Zwei Stunden lang war er damit beschäftigt, die dünnen Stahlröhren, die das zerlegte Gewehr enthielten, sorgfältig mit den inneren Flanschen des Chassis' zu verlöten. Einer der Gründe, weshalb er sich für einen Alfa entschieden hatte, war die Tatsache, daß der Wagen, wie er schon in London beim Studium italienischer Automobilkataloge hatte feststellen können, ein solides Stahlchassis mit tiefen seitlichen Flanschen besaß.

Die in dünnen Leinenhüllen steckenden Stahlröhren befestigte er mit Stahldraht im Flansch, und den Draht lötete er überall dort fest, wo er das Chassis berührte.

Sein Overall war ölverschmiert, und seine Hände schmerzten vom Festzurren des Stahldrahts. Aber die Arbeit war getan. Die Stahlröhren waren so gut wie nicht zu entdecken und würden zudem bald von Staub und Schlamm überkrustet sein.

Er packte den Overall, den Lötkolben und den restlichen Draht in die Leinentasche und begrub sie in der hinteren Ecke der Garage unter einem Haufen alter Putzlappen. Die Drahtschere wanderte in das Handschuhfach des Armaturenbretts.

Der Abend dämmerte bereits, als der Schakal den Wagen aus der Garage lenkte. Er legte den Koffer in den Gepäckraum, schloß die Garagentür ab, steckte den Schlüssel ein und fuhr zum Hotel zurück.

Vierundzwanzig Stunden nach seiner Ankunft in Mailand war er wieder in seinem Hotelzimmer, erholte sich unter der Dusche von den Anstrengungen des Tages und badete seine schmerzenden Hände in kaltem Wasser, bevor er sich zum Abendessen anzog.

Auf dem Weg zur Bar, wo er seinen gewohnten Campari mit Soda trank, ging er zur Rezeption, bat um Ausstellung seiner Rechnung, um sie nach dem Abendessen begleichen zu können, und gab Weisung, am folgenden Morgen bereits um 5 Uhr 30 mit einer Tasse Tee geweckt zu werden.

Die Hände auf dem Rücken verschränkt, stand Sir Japser Quigley am Fenster seines Büros im Foreign Office und sah auf den Paradeplatz der Horse Guards hinunter. Eine Schwadron House Hold Cavalry trabte in makelloser Ordnung über den Kies auf The Mall zu und schwenkte dann in Richtung Buckingham Palace links ein.

Es war ein ungemein erfreuliches und erhebendes Bild. An zahllosen Vormittagen hatte Sir Jasper im Ministerium an seinem Fenster gestanden und auf dieses englischste aller englischen Spektakel hinabgestarrt. Oft wollte es ihm scheinen, daß die bloße Tatsache, hier an diesem Fenster stehen und die» Blauen «vorbeireiten, die Sonne scheinen und die Touristen ihre Hälse recken zu sehen, über den weiten Platz hinweg das metallische Klirren der Kürasse und Kandaren, das Wiehern eines Pferdes, das die Sporen bekam, und die» Ahas «und» Ooohs «der Menge zu hören, all die in anderen unbedeutenderen Ländern in den Botschaften Ihrer Majestät verbrachten Jahre mehr als reichlich aufwog. Es geschah nur selten, daß ihn dieser Anblick nicht unwillkürlich die Schultern straffen, den Bauch in der gestreiften Hose um ein weniges einziehen und in spontan aufwallendem Stolz das Kinn heben ließ. Zuweilen stand er, sobald das Knirschen der Hufe auf dem Kies hörbar wurde, nur deswegen von seinem Platz hinter dem Schreibtisch auf, um sich an das neugotische Fenster zu stellen und sie vorbeidefilieren zu sehen. Und manchmal, wenn er an alle diejenigen jenseits des Kanals dachte, die diese Szenerie zu verändern und das leise Klirren der Sporen durch das Stampfen von brodequins aus Paris oder von Schaftstiefeln aus Berlin zu ersetzen trachteten, fühlte er ein leichtes Brennen in den Augen und kehrte eiligst zu seinen Papieren zurück.

Nicht jedoch an diesem Morgen. An diesem Morgen waren seine ohnehin weder vollen noch rosigen Lippen so fest zusammengepreßt, daß sie gänzlich verschwanden. Sir Jasper Quigley hatte eine Mordswut, die sich in dem einen oder anderen winzigen Anzeichen äußerte. Selbstverständlich war er allein.

Er leitete das Frankreich-Referat im Foreign Office, das Büro also, dessen Aufgabe darin bestand, die Affären, Ambitionen und Aktionen dieses verflixten Landes jenseits des Kanals zu studieren und dem Staatssekretär des Äußeren und gelegentlich auch dem Außenminister Ihrer Majestät höchstselbst darüber Bericht zu erstatten.

Er besaß — sonst hätte er den Posten nie bekommen — hierzu alle erforderlichen Qualifikationen: eine lange und ehrenvolle Laufbahn im diplomatischen Dienst und den Ruf eines fundierten politischen Urteilsvermögens, das sich zwar oft genug als fehlbar erwiesen, jedoch stets im Einklang mit dem seiner Vorgesetzten befunden hatte. Er legte sich nie eindeutig fest und hatte daher auch nie nachweislich unrecht gehabt oder in unpassender Weise recht behalten. In seiner ganzen Laufbahn hatte er nicht ein einziges Mal eine unbequeme Ansicht vertreten, noch jemals eine Meinung geäußert, die sich nicht jeweils mit derjenigen gedeckt hätte, die auf höchster Ebene des Diplomatischen Corps gerade vorherrschte.

Seine Ehe mit der anderweitig nicht zu verheiratenden Tochter eines Botschaftsrats in Berlin, der später zur rechten Hand desstellvertretenden Staatssekretärs des Äußeren avancierte, hatte; seiner Karriere nicht geschadet. Sie bewirkte im Gegenteil, daß man sein in Berlin formuliertes unglückseliges Memorandum aus dem Jahre 1937, das die Möglichkeit nachteiliger Auswirkungen der deutschen Wiederbewaffnung auf die Zukunft Westeuropas; entschieden verneinte, höheren Orts gnädig übersah.

Wieder in London, hatte er während des Krieges eine Zeitlang im Balkan-Referat gearbeitet und sich nachdrücklich für die Unterstützung des jugoslawischen Partisanen Mihailovic und seiner Cetniks eingesetzt. Als es der damalige Premierminister unbegreiflicherweise vorzog, auf die Ratschläge eines obskuren jungen Captains namens Fitzroy MacLean zu hören, der mit dem Fallschirm über dem Partisanengebiet abgesprungen war und auf einen dubiosen Kommunisten setzte, der sich Tito nannte, war der junge Quigley in das Frankreich-Referat versetzt worden.

Dort tat er sich als profilierter Fürsprecher der britischen Unterstützung General Girauds in Algerien hervor. Das war oder wäre die einzig richtige Politik gewesen, wenn nicht jener andere, weit weniger bedeutende französische General, der von London aus eine autonome Streitmacht aufzustellen versuchte, die sich» France Libre «nannte, Giraud ausmanövriert hätte. Warum sich Winston jemals mit diesem Mann abgegeben hatte, war allen professionellen außenpolitischen Sachverständigen immer unverständlich geblieben. Nicht, daß auch nur einer von diesen Franzosen jemals zu irgend etwas nütze gewesen wäre.

Niemand konnte behaupten, Sir Jasper, der 1951 für seine Verdienste um die britische Diplomatie geadelt worden war, mangele es an den entscheidenden Voraussetzungen, um einen kompetenten Leiter des Frankreich-Referats abzugeben. Er hatte eine angeborene Abneigung gegen Frankreich und alles, was irgendwie mit dem Land zusammenhing. Diese Gefühle waren jedoch noch milde zu nennen, verglichen mit denjenigen, die er der Person

Präsident de Gaulles selbst gegenüber empfand, seit dieser auf seiner Pressekonferenz vom 23. Januar England den Beitritt zur EWG starrsinnig verwehrt hatte — was Sir Jasper eine höchst unangenehme zwanzigminütige Audienz beim Außenminister einbrachte.

Es hatte geklopft. Sir Jasper wandte sich rasch vom Fenster ab, nahm ein auf seinem Schreibtisch liegendes Schriftstück zur Hand und hielt es so, als sei er im Lesen unterbrochen worden.

«Herein.«

Der junge Mann trat ein, schloß die Tür hinter sich und ging auf den Arbeitstisch zu.

Sir Jasper musterte ihn über den Rand seiner Brille hinweg.

«Ah, Lloyd. Lese da gerade den Bericht, den Sie heute nacht erstattet haben. Interessant, interessant. Ein inoffizielles Ersuchen, das ein höherer französischer Polizeibeamter an einen höheren englischen Polizeibeamten richtet. Weitergereicht an einen Superintendenten von Scotland Yards Special Branch, der es seinerseits für richtig hält, einen jungen Beamten des Secret Service — selbstverständlich inoffiziell — zu konsultieren. Hmm?«

«Ja, Sir Jasper.«

Lloyd sah abwartend zu dem spindeldürren Diplomaten hinüber, der am Fenster stand und seinen Bericht studierte, als läse er ihn zum erstenmal. Er kam zu dem Schluß, daß Sir Jasper längst mit dem Inhalt vertraut und seine bemühte Indifferenz wahrscheinlich nichts als Pose war.

«Und dieser junge Beamte wiederum hält es für richtig und angebracht, aus eigenem Ermessen und vermutlich ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten, dem Special-Branch-Beamten dadurch zu assistieren, daß er ein Gerücht weiterverbreitet. Ein Gerücht zudem, das, ohne auch nur andeutungsweise hierfür einen Beweis zu enthalten, schlankweg impliziert, daß ein britischer Staatsbürger, der als unbescholtener Geschäftsmann gilt, in Wahrheit möglicherweise ein kaltblütiger Mörder sei. Hmmm?«

Worauf, zum Teufel, mag der alte Geier bloß hinauswollen? fragte sich Lloyd. Er sollte es bald erfahren.

«Was mich bestürzt, mein lieber Lloyd, das ist die Tatsache, daß dieses Ansuchen, obschon es inoffiziell, versteht sich — bereits gestern morgen ergangen ist, dem Leiter derjenigen Abteilung des Ministeriums, die mit allem, was in Frankreich vorgeht, von Amts wegen aufs intensivste befaßt ist, erst volle vierundzwanzig Stunden später zur Kenntnis gelangt. Ein etwas merkwürdiger Sachverhalt, finden Sie nicht?«

Lloyd begriff, woher der Wind wehte. Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Abteilungen also. Aber er wußte auch, daß Sir Jasper ein einflußreicher Mann und in der Technik der innerhalb der Hierarchie der Ämter ausgetragenen Machtkämpfe, in welche die Beteiligten weit mehr Energien zu investieren pflegten als in die Staatsgeschäfte, seit Jahrzehnten versiert war.»Bei allem Respekt, Sir Jasper — als Superintendent Thomas gestern abend mit seiner — von Ihnen als inoffiziell bezeichneten — \ Bitte an mich herantrat, war es 21 Uhr. Der Bericht wurde um i Mitternacht erstattet.«-»Zugegeben. Aber ich stelle fest, daß dem Ansuchen schon vor Mitternacht stattgegeben worden ist. 1 Wollen Sie mir vielleicht erklären, wie das geschehen konnte?«

«Ich war der Ansicht, daß die Bitte um Hinweise oder auch nur mögliche Fingerzeige nicht über das vertretbare Maß der zwischen den einzelnen Abteilungen üblichen Zusammenarbeit hinausginge«, entgegnete Lloyd.

«So, der Ansicht waren Sie also. «Sir Jasper hatte die Pose nachsichtigen Wohlwollens aufgegeben und ließ sich seinen Unwillen jetzt deutlich anmerken.»Aber offenbar doch wohl über das der zwischen Ihrer Abteilung und dem Frankreich-Referat üblichen Zusammenarbeit, hmmmm?«

«Sie halten meinen Bericht in der Hand, Sir Jasper.«

«Ein bißchen spät, mein Lieber. Ein bißchen spät.«

Lloyd entschloß sich zum Gegenangriff. Es war ihm klar, daß er sich, wenn es wirklich ein Fehler gewesen sein sollte, Thomas zu helfen, ohne vorher mit seinen Vorgesetzten zu sprechen, an seinen eigenen Chef hätte wenden müssen und nicht an Sir Jasper. Und der Leiter des Secret Intelligence Service war wegen seiner beharrlichen Weigerung, die eigenen Untergebenen von irgend jemand anderem als ihm selbst zurechtweisen zu lassen, bei seinen Leuten so beliebt wie bei den Mandarinen des Foreign Office verhaßt.

«Zu spät wofür, Sir Jasper?«

Sir Jasper warf Lloyd einen mißtrauischen Blick zu. Er würde nicht so töricht sein, zuzugeben, daß es zu spät war, um die von Thomas erbetene Zusammenarbeit zu verhindern.»Sie sind sich doch darüber im klaren, daß hier der unbescholtene Name eines britischen Staatsbürgers in leichtfertiger Weise aufs Spiel gesetzt worden — eines Mannes, gegen den keinerlei belastendes Material, geschweige denn auch nur der Schatten eines Beweises vorliegt. Halten Sie es nicht für ein etwas merkwürdiges Verfahren, den Namen und damit — das darf angesichts der Art der Ermittlung wohl gesagt werden — auch den Ruf eines Mannes in dieser Weise ins Zwielicht zu rücken?«

«Ich bin nicht der Meinung, daß es als rufschädigend bezeichnet werden kann, wenn der Name eines Mannes einem Superintendenten vom Sicherheitsdienst als möglicher Anhaltspunkt für eventuelle Ermittlungen genannt wird.«

Der Diplomat versuchte seine Wut zu beherrschen und kniff die Lippen fest zusammen. Unverschämt war dieser Bursche und obendrein auch noch schlau. Höchste Zeit, daß ihm auf die Finger gesehen wurde. Er hatte sich wieder völlig in der Gewalt.

«Ich verstehe, Lloyd, ich verstehe. Halten Sie es für eine Zumutung, wenn man, was Ihre offenkundige Bereitschaft betrifft, mit dem Sicherheitsdienst zu kooperieren — ohne Frage eine durchaus löbliche Bereitschaft —, von Ihnen erwartet, daß Sie sich nicht ohne Rücksprache mit Ihren Vorgesetzten in die Bresche werfen?«

«Soll das heißen, daß Sie wissen wollen, warum man Sie nicht konsultiert hat, Sir Jasper?«

Sir Jasper sah rot.

«Allerdings. Genau das soll es heißen, und nichts anderes.«»Sir Jasper, bei allem gebührenden Respekt vor Ihrer Anciennität als Abteilungsleiter darf ich Sie darauf hinweisen, daß ich zum Stab des Service gehöre. Wenn Sie mein Verhalten in dieser Sache tadeln zu müssen glauben, wäre es meinem Dafürhalten nach angebrachter, Sie richteten Ihre Beschwerde an meinen Vorgesetzten statt direkt an mich.«

Angebrachter? Wollte dieser junge Schnösel ihm, dem Leiter des Frankreich-Referats, im Ernst klarmachen, was angebracht war und was nicht?

«Genau das werde ich tun«, fuhr Sir Jasper ihn an.»Genau das. Und in schärfster Form. «Lloyd machte wortlos kehrt und verließ das Zimmer. Er war sich ziemlich sicher, daß er sich auf ein Donnerwetter vom Alten gefaßt machen mußte. Alles, was er zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte, war, daß Thomas' Ersuchen den Anschein größter Dringlichkeit erweckt und er den Eindruck gewonnen hatte, die Sache dulde keinerlei Aufschub. Wenn der Alte sich auf den Standpunkt stellte, daß der Dienstweg hätte eingehalten werden müssen, dann würde er, Lloyd, den Rüffel einstecken. Aber zumindest käme er vom Alten und nicht von Quigley. Sir Jasper war jedoch noch ganz unentschlossen, ob er sich beschweren sollte oder nicht. Rein formal war er im Recht; die Auskunft über Calthrop hätte, obschon sie sich auf längst verjährte Unterlagen bezog, in der Tat mit höheren Beamten abgesprochen werden müssen, wenngleich nicht unbedingt mit ihm selbst. Als Leiter des Frankreich-Referats gehörte er zwar zu dem Personenkreis, der die Geheimberichte des SIS erhielt, aber doch nicht zu denen, die eine über ihre eigene Abteilung hinausgehende Weisungsbefugnis besaßen. Er konnte sich bei dem streitbaren Genie — den Ausdruck hatte ein anderer geprägt —, das den SIS leitete, über den Burschen beschweren und vermutlich erreichen, daß ihm tüchtig der Kopf gewaschen wurde. Aber ebensogut konnte er seinerseits den Unwillen des SIS-Chefs darüber, daß ein Beamter des Geheimdienstes ohne seine Zustimmung zur Rechenschaft gezogen worden war, zu spüren bekommen, und der Gedanke behagte ihm keineswegs. Zudem hieß es allgemein, der Leiter des SIS stände mit einigen der wichtigsten Männer an der Spitze auf freundschaftlich vertrautem Fuß. Man spielte Bridge miteinander, so wurde behauptet, und gehe gemeinsam auf die Jagd. Und bis zum glorreichen 12. September waren es nur noch vier Wochen. Er hoffte noch immer, zu der einen oder anderen dieser Partys eingeladen zu werden. Nein, es war klüger, die Sache unter den Tisch fallen zu lassen.

Der Schaden ist ohnehin schon angerichtet, dachte er, als er auf den Paradeplatz der Horse Guards hinaussah.

«Der Schaden ist ohnehin schon angerichtet«, bemerkte er, an seinen Lunchgast gewandt, kurz nach 13 Uhr im Klub.»Ich vermute, sie haben die Zusammenarbeit mit den Franzosen bereits aufgenommen. Na, hoffentlich werden sie sich dabei nicht gleich überarbeiten.«

Es war ein guter Witz, und er selbst genoß ihn ungemein. Fatalerweise hatte er seinen Lunchgast, der ebenfalls mit einigen der wichtigsten Leute an der Spitze auf freundschaftlich vertrautem Fuß stand, nicht richtig eingeschätzt.

Sir Jaspers' kleines Bonmot gelangte dem Premierminister fast gleichzeitig mit einem persönlichen Bericht des Commissioner der Londoner Polizeibehörde zur Kenntnis, der ihm, als er gegen 16 Uhr nach einer Fragestunde im Parlament zu seinem Amtssitz Downing Street Nr. 10 zurückkehrte, vorgelegt wurde.

Um 16 Uhr 10 klingelte in Superintendent Thomas' Büro das Telephon.

Thomas hatte den Vormittag und den größten Teil des Nachmittags damit verbracht, nach einem Mann zu fahnden, von dem er nichts weiter als den Namen wußte. Wie immer, wenn es um Erkundigungen nach Personen ging, von denen man wußte, daß sie im Ausland gewesen waren, diente das Paßamt im Petty France als Ausgangspunkt.

Thomas hatte es schon um 9 Uhr aufgesucht und sich Photokopien der Paßanträge von sechs verschiedenen Charles Calthrops aushändigen lassen. Unglücklicherweise hatten sie allesamt weitere Vornamen, die voneinander abwichen. Gegen das Versprechen, die Originale nach Anfertigung von Photokopien umgehend dem Archiv des Paßamts zurückzusenden, gab man ihm auch die den Anträgen beigefügten Photos der sechs Männer mit.

Einer der Pässe war erst nach dem Januar 1961 beantragt worden, aber das mußte nicht unbedingt etwas besagen, wenngleich keinerlei Unterlagen dafür existierten, daß dieser betreffende Charles Calthrop schon zu einem früheren Zeitpunkt einmal einen Paß beantragt hatte. Wenn er aber in der Dominikanischen Republik unter einem anderen Namen aufgetreten war, wie kam es dann, daß in den Gerüchten, die von seiner Beteiligung an der Ermordung Trujillos wissen wollten, der Name Calthrop genannt wurde? Thomas war geneigt, diesen späten Paßantragsteller als Möglichkeit auszuschließen.

Von den übrigen fünf schien einer zu alt zu sein; im August 1963 war er fünfundsechzig. Die vier anderen kamen in Betracht.

Dabei spielte es zunächst keine Rolle, ob sie Lebels auf einen hochgewachsenen blonden Mann lautender Beschreibung entsprachen oder nicht, denn Thomas' Aufgabe bestand hauptsächlich im Eliminieren. Wenn alle sechs als unverdächtig ausschieden, um so besser. Dann würde er Lebel ruhigen Gewissens in diesem Sinn unterrichten können.

Auf jedem Antrag war eine Adresse angegeben. Zwei wiesen eine Londoner Anschrift auf, die beiden anderen kamen aus der Provinz. Es war nicht damit getan, die ebenfalls aufgeführten Telephonnummern anzurufen und jeden der vier Gentlemen zu befragen, ob er im Jahre 1961 die Dominikanische Republik besucht habe. Selbst wenn er dort gewesen war, konnte er es jetzt verneinen.

Auch die Tatsache, daß keiner der Antragsteller in der für die Angabe des Berufs vorgesehenen Spalte» Geschäftsmann «vermerkt hatte, war als solche nicht beweiskräftig. Lloyds Bericht über ein seinerzeit in den Kneipen und Bars von Ciudad Trujillo kursierendes Gerücht bezeichnete Calthrop zwar als Geschäftsmann, aber das mußte nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen.

Im Lauf des Vormittags hatten die Grafschafts- und Kreisstadt-Polizeiposten auf Thomas' telephonisches Ersuchen den Aufenthaltsort der beiden außerhalb Londons wohnhaften Calthrops ermittelt. Der eine arbeitete noch, beabsichtigte jedoch, am Wochenende mit seiner Familie auf Urlaub zu fahren. Er wurde in der Mittagspause nach Hause eskortiert, wo man seinen Paß überprüfte. Er enthielt kein Ein- oder Ausreisevisum der Dominikanischen Republik und war nur zweimal benutzt worden, einmal für eine Flugreise nach Mallorca, das andere Mal für einen Ferienaufenthalt an der Costa Brava. Erkundigungen an seinem Arbeitsplatz hatten zudem ergeben, daß dieser Charles Calthrop noch immer in der Buchhaltungsabteilung der Suppenfabrik, in der er im Januar 1961 arbeitete, tätig und überdies seit zehn Jahren bei der gleichen Firma beschäftigt war.

Der andere außerhalb Londons wohnhafte Calthrop wurde in einem Hotel in Blackpool ausfindig gemacht. Er hatte seinen Paß nicht bei sich, erklärte sich jedoch bereit, die Polizeibehörde seines Heimatortes telephonisch zu ermächtigen, seinen Hausschlüssel beim Nachbarn auszuborgen, das oberste Schubfach seines Schreibtisches zu öffnen und den darin befindlichen Paß in Augenschein zu nehmen. Auch dieser Reiseausweis trug keinen Sichtvermerk dominikanischer Behörden, und die Angaben seines Inhabers — daß er Schreibmaschinenmechaniker und mit Ausnahme seines Sommerurlaubs im ganzen Jahr 1961 seiner Arbeit keinen einzigen Tag ferngeblieben sei — konnten durch eine Rückfrage bei seinem Arbeitgeber bestätigt werden.

Einer der beiden Londoner Calthrops erwies sich als Gemüsehändler, den die beiden unauffälligen Herren in Zivil hinter dem Ladentisch seines Geschäfts in Catford antrafen. Da er über seinem Laden wohnte, konnte er seinen Paß innerhalb weniger Minuten vorweisen. Wie die anderen Pässe wies auch dieser kein Anzeichen dafür auf, daß sein Inhaber jemals die Dominikanische Republik besucht hatte. Auf Befragen versicherte der Gemüsehändler glaubhaft, nicht einmal zu wissen, wo die Insel läge.

Die Ermittlung des vierten und letzten Calthrop erwies sich als schwieriger. Seine vier Jahre zuvor auf dem Paßantrag angegebene Adresse stellte sich als ein Wohnblock in Highgate heraus. Laut Auskunft der Hausverwaltung war er im Dezember 1960 verzogen, ohne eine neue Adresse anzugeben.

Aber Thomas wußte wenigstens seinen zweiten Vornamen. Eine Durchsicht der Telephonbücher war ergebnislos geblieben, unter Hinweis auf seine Befugnis als Special-Branch-Superintendent erhielt er vom General Post Office jedoch die Auskunft, daß ein C. H. Calthrop Inhaber einer Geheimnummer in West London sei. Die angegebenen Initialen stimmten mit den Vornamen des Gesuchten — Charles Harold — überein. Daraufhin ließ Thomas sich mit dem Einwohnermeldeamt des Bezirks, in welchem die Telephonnummer registriert war, verbinden.

Ja, antwortete die Stimme aus dem Bezirksamt, ein Mr. Charles Harold Calthrop werde in der Tat als Wohnungsinhaber unter der genannten Adresse sowie als Wähler in den entsprechenden Listen des Bezirks geführt.

Thomas entsandte einen Polizeiwagen mit zwei Beamten zu der Wohnung. Auf wiederholtes Klingeln wurde nicht geöffnet. Niemand im Haus schien zu wissen, wo sich Mr. Calthrop aufhielt. Als der Wagen unverrichteter Dinge zum Yard zurückkehrte, ersuchte Thomas das zuständige Finanzamt, an Hand der Steuererklärungen eines Charles Harold Calthrop zu eruieren, wo derselbe gegenwärtig angestellt und bei wem er in den letzten drei Jahren beschäftigt gewesen sei.

Gleich darauf klingelte das Telephon. Thomas nahm ab, meldete sich und lauschte ein paar Sekunden. Er hob die Brauen.

«Ich?«fragte er.»Was, persönlich? Ja, selbstverständlich. Ich komme 'rüber. In fünf Minuten. Gut, bis gleich.«

Er verließ das Gebäude und ging zum Parliament Square hinüber. Unterwegs schneuzte er sich heftig, um die blockierten Stirnhöhlen frei zu bekommen. Weit entfernt, abzuklingen,

schien seine Erklärung sich ungeachtet des warmen Sommertags noch verschlimmert zu haben.

Vom Parliament Square aus ging er Whitehall hinauf und wandte sich an der ersten Ecke nach links in die Downing Street. Wie immer wirkte die unauffällige Sackgasse, welche die Amtswohnung der Premierminister Großbritanniens beherbergt, düster und trübsinnig. Vor dem Haus Nr. 10 hatte sich eine Anzahl Schaulustiger eingefunden, die von zwei gleichmütigen Polizisten auf die gegenüberliegende Straßenseite gedrängt wurden.

Thomas kreuzte die Fahrbahn und wandte sich nach rechts. Er durchquerte einen kleinen Innenhof, in dessen Mitte sich ein eingefaßtes Rasenstück befand, und stand vor dem hinteren Eingang von Downing Street Nr. 10. Er drückte den Klingelknopf neben der Tür, die sofort geöffnet wurde. Der hünenhafte Polizeisergeant erkannte ihn gleich und salutierte. 9541»Tag, Sir, Mister Harrowby bat mich, Sie direkt zu ihm zu führen.«

James Harrowby, der Thomas vor wenigen Minuten in dessen Büro angerufen hatte, war der Chef der persönlichen Sicherungsgruppe des Premierministers. Ein gutaussehender Mann von einundvierzig Jahren, der jedoch weit jünger wirkte, hatte er, wie Thomas, den Rang eines Superintendenten inne. Er stand auf, als Thomas eintrat.

«Kommen Sie herein, Bryn. Nett, Sie zu sehen. «Er nickte dem Sergeant zu.»Danke, Chalmers. «Der Sergeant machte kehrt und schloß die Tür hinter sich.»Was ist los?«fragte Thomas. Harrowby sah ihn erstaunt an.

«Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen. Er rief mich vor einer Viertelstunde an, erwähnte Ihren Namen und sagte, daß er Sie sofort sprechen müsse. Haben Sie irgend etwas angestellt?«Thomas dachte an die Ermittlungen, die er angestellt hatte und noch anstellte, und war überrascht, daß die Kenntnis davon in so kurzer Zeit bis nach ganz oben gedrungen sein sollte. Wenn es der Premierminister jedoch vorzog, seinen eigenen Sicherheitsbeauftragten nicht ins Vertrauen zu ziehen, so war das seine Sache.»Nicht, daß ich wüßte«, sagte er.

Harrowby griff zum Telephon, das auf seinem Schreibtisch stand, und ließ sich mit dem Arbeitszimmer des Premierministers verbinden. Es knackte in der Leitung, und eine Stimme sagte:»Ja?«

«Harrowby, Premierminister. Superintendent Thomas ist bei mir. Ja, Sir, unverzüglich. «Er legte den Hörer auf.

«Er will Sie sofort sehen. Sie müssen irgend etwas angestellt haben. Es warten noch zwei Minister, die ihn sprechen wollen. Kommen Sie.«

Harrowby geleitete ihn aus dem Zimmer hinaus und einen Korridor hinunter, der auf eine mit grünem Flanellstoff ausgekleidete Tür zuführte. Ein Sekretär trat heraus, sah die beiden näher kommen und hielt die Tür auf. Harrowby ging voran, sagte» Superintendent Thomas, Premierminister «und verließ das Zimmer, indem er leise die Tür hinter sich schloß.

Thomas stellte fest, daß der elegant möblierte, stille große Raum mit den hohen Wänden, den vielen Büchern und Zeitungen, die sich auf den Tischen stapelten, und dem Duft nach Pfeifentabak und Holztäfelung eher wie das Arbeitszimmer eines Universitätsprofessors als das eines Premierministers wirkte. Die Gestalt am Fenster wandte sich um.»Guten Tag, Superintendent. Bitte, setzen Sie sich doch.«»Guten Tag, Sir. «Thomas entschied sich für einen Stuhl ohne Armlehne, der an den Tisch gerückt war, und nahm auf der Kante Platz. Er hatte nie Gelegenheit gehabt, den Premierminister aus so großer Nähe zu sehen. Sein melancholisch verhangener Blick erinnerte ihn an den eines Bluthundes, der eine lange Hetzjagd hinter sich hat, die für ihn kein Vergnügen gewesen war.

Der Premier begab sich schweigend an seinen Arbeitstisch und setzte sich. Selbstverständlich hatte Thomas von den in und um Whitehall zirkulierenden Gerüchten gehört, daß die Gesundheit des Premiers nicht die allerbeste sei und die nervliche Anspannung, die es ihn gekostet hatte, die Regierung über die durch den Keeler/W ard-Skandal hervorgerufene Krise einigermaßen heil hinwegzubringen, ihren Tribut gefordert habe. Dennoch war er von dem erschöpften und gealterten Aussehen des ihm gegenübersitzenden Mannes betroffen.»Superintendent Thomas, ich höre, daß Sie gegenwärtig auf ein gestern morgen telephonisch aus Paris ergangenes Ansuchen eines Kriminaldirektors der französischen Police Judiciaire mit Ermittlungen befaßt sind…«

«Ja, Sir.«

«… und daß dieses Ersuchen mit der Befürchtung der französischen Sicherheitsbehörden zusammenhängt, ein vermutlich von der OAS gedungener Mann — ein Berufsmörder — könne auf eine Mission nach Frankreich geschickt worden sein?«

«Das wurde uns nicht ausdrücklich mitgeteilt, Sir. Das Ersuchen bezog sich auf Hinweise zur Identifizierung derartiger Berufskiller, soweit sie uns zur Kenntnis gelangt sind. Irgendwelche Gründe dafür, weshalb Hinweise dieser Art erwünscht sind, wurden nicht genannt.«

«Nun gut. Und welche Schlüsse ziehen Sie aus der Tatsache, daß ein solches Ersuchen gestellt worden ist?«

Thomas zuckte kaum merklich mit den Achseln.

«Die gleichen wie Sie, Sir.«»Genau. Man braucht kein Hellseher zu sein, um den einzig möglichen Grund zu erraten, warum die französischen Behörden ein solches-Subjekt identifizieren wollen. Und werwäre Ihrer Ansicht nach als Opfer dieses Mannes ausersehen, falls die Vermutung der französischen Polizei, daß es ihn gibt, zu Recht besteht?«

«Nun, Sir, ich nehme an, die Franzosen befürchten, daß ein Berufsmörder gedungen worden ist, einen Anschlag auf den Präsidenten zu verüben.«

«Genau. Das wäre übrigens nicht der erste derartige Versuch.«»Nein, Sir. Es sind bereits sechs Attentatsversuche unternommen worden.«

Der Premierminister starrte auf die vor ihm liegenden Papiere, als könne er ihnen irgendeinen Hinweis entnehmen, was in den letzten Monaten seiner Amtszeit aus der Welt geworden war.»Ist Ihnen klar, Superintendent, daß es in diesem Land offenbar eine Reihe von Leuten gibt, Leuten in durchaus achtbaren und einflußreichen Positionen, die keineswegs unglücklich wären, wenn Sie Ihre Ermittlungen etwas weniger energisch betrieben?«»Nein, Sir. «Thomas war aufrichtig überrascht.»Würden Sie mich bitte über den bisherigen Verlauf und gegenwärtigen Stand Ihrer Ermittlungen unterrichten?«

Thomas begann von Anfang an und schilderte, wie es zur Weitergabe des Ersuchens an den Sicherheitsdienst kam, nachdem eine gründliche Durchsicht aller einschlägigen Kriminalakten im Zentralarchiv keine relevanten Ergebnisse gezeitigt hatte; er ging kurz auf das Gespräch mit Lloyd ein, der seinerseits einen Mann namens Calthrop erwähnt hatte, von dem es gerüchtweise hieß, er sei an der Ermordung Trujillos beteiligt gewesen, und berichtete dann über die bisher angestellten Nachforschungen.

Als er sein Resümee beendet hatte, erhob sich der Premierminister und trat ans Fenster, das auf den sonnenbeschienenen kleinen Rasen im Innenhof hinausging. Minutenlang starrte er reglos in den Hof hinunter und ließ die Schultern hängen. Thomas fragte sich, woran er wohl denken mochte. Vielleicht dachte er an einen Strand außerhalb von Algier, an dem er sich mit dem hochmütigen Franzosen, der jetzt dreihundertfünfzig Kilometer entfernt in einem anderen Amtsraum saß und die Geschicke seines Landes lenkte, ergangen und lange unterhalten hatte. Damals waren sie beide zwanzig Jahre jünger gewesen und die vielen Dinge, die sich später ereignen sollten, noch nicht zwischen sie getreten.

Vielleicht mußte er daran denken, wie derselbe Franzose vor acht Monaten in wohlabgewogenen, sonor tönenden Sätzen die Hoffnungen des britischen Premierministers zunichte gemacht hatte, seine politische Karriere mit dem Eintritt Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu krönen und sich mit der Genugtuung dessen, der seinen Traum verwirklicht hat, in das Privatleben zurückziehen zu können.

Vielleicht dachte er aber auch an die hinter ihm liegenden quälenden Monate, in denen die Aussagen eines Zuhälters und einer Kokotte fast den Sturz der Regierung Großbritanniens herbeigeführt hatten. Er war ein alter Mann und noch in einer Welt geboren und aufgewachsen, in der es Maßstäbe für Gut und Böse gab. Er hatte an diese Maßstäbe geglaubt und sie befolgt. In einer Welt, deren Bewohner und Ideen sich gewandelt hatten, gehörte er der Vergangenheit an. Begriff er, daß es jetzt neue Maßstäbe gab, die er vage zu erkennen, aber nicht zu schätzen vermochte?

Vermutlich wußte er, als er auf das sonnenbeschienene kleine Rasenstück hinunterblickte, was bevorstand. Die notwendigen Änderungen — und damit sein Abtritt von der politischen Bühne — konnten nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden. Früher oder später würden die neuen Leute die Geschicke der Welt in die Hand nehmen. Auf vielen Gebieten war es schon soweit, daß die Welt sich ihnen auslieferte. Aber sollte sie auch den Zuhältern und Dirnen, Spionen und — Mördern ausgeliefert werden?

Thomas sah, daß der alte Mann die Schultern straffte, bevor er sich zu ihm umwandte.»Superintendent Thomas, Sie müssen wissen, daß General de Gaulle mein Freund ist. Wenn auch nur die leiseste Möglichkeit besteht, daß sein Leben in Gefahr sein könnte und daß ihm diese Gefahr von einem britischen Staatsangehörigen droht, dann muß der Mann unschädlich gemacht werden. Ab sofort werden Sie Ihre Ermittlungen mit verdoppeltem Eifer betreiben. Innerhalb einer Stunde werden Ihre Vorgesetzten von mir persönlich Vollmacht erhalten, Ihnen jede nur mögliche Hilfe zu gewähren. Sie werden weder in finanzieller noch in personeller Hinsicht an irgendwelche Beschränkungen gebunden sein. Sie sind befugt, wen auch immer Sie wollen zur Mitarbeit in ihrem Team zu verpflichten und Einsicht in jedwede Unterlage aller derjenigen Behörden des Landes zu nehmen, deren Archive für Ihre weiteren Ermittlungen von Nutzen sein könnten. Sie werden auf ausdrückliche persönliche Weisung von mir in dieser Angelegenheit uneingeschränkt mit den französischen Behörden zusammenarbeiten. Und erst wenn Sie absolut sicher sind, daß der Mann, den die Franzosen identifizieren und festnehmen wollen, wer immer er auch sein mag, kein Engländer ist und auch nicht etwa von hier aus operiert, können Sie die Ermittlungen einstellen. Vorher jedoch werden Sie mir persönlich Bericht erstatten.

Falls sich herausstellen sollte, daß dieser Calthrop oder irgendein anderer Mann, der einen britischen Paß besitzt, mit einiger Wahrscheinlichkeit als der von den französischen Behörden Gesuchte angesehen werden kann, werden Sie ihn festnehmen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Das hatte er. Wie und über welche Kanäle der Premierminister von seinen Ermittlungen erfahren haben mochte, wußte Thomas nicht. Er vermutete jedoch, daß es in irgendeiner Weise mit seiner rätselhaften Bemerkung über gewisse Personen zusammenhing, die es lieber sähen, wenn seine Ermittlungen weniger energisch betrieben würden. Aber sicher war er sich natürlich nicht.

«Ja, Sir«, sagte er.

Der Premierminister neigte den Kopf, um anzudeuten, daß die Audienz beendet sei. Thomas stand auf und ging zur Tür.

«Dawäre noch etwas, Sir«, sagte er.»Ich bin mir nicht ganz klar darüber, ob Sie es für richtig hielten, wenn ich die Franzosen schon jetzt von den Nachforschungen in Kenntnis setzte, die wir gegenwärtig wegen der vor zwei Jahren in der Dominikanischen Republik über Calthrop verbreiteten Gerüchte anstellen.«

«Glauben Sie, bereits hinlängliche Gründe für die Annahme zu haben, daß die frühere Tätigkeit dieses Mannes zu der Beschreibung desjenigen paßt, den die Franzosen identifizieren wollen?«

«Nein, Sir. Abgesehen von den zwei Jahre zurückliegenden Gerüchten haben wir gegen keinen Calthrop auf der weiten Welt auch nur das geringste vorzubringen. Wir wissen gegenwärtig ja noch nicht einmal, ob der Calthrop, den wir seit heute nachmittag ausfindig zu machen versuchen, derselbe ist, der sich im Januar 1961 in der Dominikanischen Republik aufgehalten hat. Wenn nicht, sind wir wieder bei Null angelangt.«

Der Premierminister dachte einen Augenblick nach.

«Ich fände es wenig sinnvoll«, sagte er dann,»wenn Sie Ihre französischen Kollegen mit Hinweisen behelligten, die auf unbegründeten Gerüchten und bloßem Hörensagen beruhen. Beachten Sie bitte, daß ich das Wort >unbegründet< gebraucht habe, Superintendent. Setzen Sie Ihre Nachforschungen mit aller Energie fort. In dem Augenblick, wo Sie genügend Material zu haben glauben, das diesen oder irgendeinen anderen Charles Calthrop betrifft und geeignet ist, den Verdacht seiner Beteiligung an der Ermordung Trujillos zu bestätigen, werden Sie die Franzosen umgehend informieren und den Mann, wer immer er auch sein mag, dingfest machen.«

«Ja, Sir.«

«Und bitten Sie doch Mister Harrowby, zu mir zu kommen. Ich lasse Ihnen dann gleich die nötigen Vollmachten ausstellen.«

In sein Büro zurückgekehrt, bestellte Thomas sechs der besten Kriminalinspektoren von Scotland Yards Special Branch zu sich. Einer wurde aus dem Urlaub zurückgerufen; zwei konnten durch andere Beamte beim Beobachten eines Hauses abgelöst werden, das einem Mann gehörte, der im Verdacht stand, geheime Informationen über die Royal Ordnance Factory, in der er arbeitete, an einen osteuropäischen Militärattache weitergegeben zu haben. Die beiden Inspektoren, die Thomas am Vortag bei der Durchsicht der sicherheitsdienstlichen Akten assistiert hatten, waren ebenfalls dabei, ferner einer ihrer Amtskollegen, der seinen freien Tag hatte und gerade im Garten beschäftigt war, als der Anruf kam, der ihn in die Zentrale beorderte.

Thomas wies sie ausführlich ein, verpflichtete sie zu absoluter Geheimhaltung und nahm die ganze Zeit über unaufhörlich Anrufe entgegen. Es war kurz nach 18 Uhr, als das Finanzamt die Steuerakte von Charles Harold Calthrop gefunden hatte. Einer der Detektive wurde sofort losgeschickt, um die Akte mit allen Unterlagen abzuholen. Die restlichen Männer setzten sich mit Ausnahme dessen, der zu Calthrops Adresse entsandt worden war, um bei den Nachbarn und Inhabern umliegender Ladengeschäfte Erkundigungen über den Mann einzuziehen, an die Telephone und begannen eine Reihe fernmündlicher Anweisungen durchzugeben, die mit der weiteren Ermittlung zusammenhingen. Im Photolabor wurden Abzüge von der Reproduktion, die nach dem vor vier Jahren für den Paßantrag aufgenommenen Photo hergestellt worden war, angefertigt und jedem der sechs an der Ermittlung beteiligten Inspektoren ausgehändigt. Die Steuererklärungen des Gesuchten wiesen aus, daß er im vergangenen Jahr erwerbslos und zuvor ein Jahr lang im Ausland gewesen war. Im Rechnungsjahr 1960/61 hatte er jedoch größtenteils für eine Firma gearbeitet, deren Name Thomas als der einer der führenden britischen Hersteller und Exporteure von Handfeuerwaffen bekannt war. Innerhalb einer Stunde hatte er erfahren, wie der Generaldirektor der Firma hieß, und festgestellt, daß der Mann sich zur Zeit in seinem Landhaus in Surrey aufhielt. Thomas hatte ihm seinen Besuch telephonisch angekündigt, und bei anbrechender Abenddämmerung raste der Polizei-Jaguar in Richtung Virginia Water über die Themsebrücke. Patrick Monson sah nicht so aus, wie man sich gemeinhin einen Waffenhändler vorstellt. Aber schließlich, dachte Thomas, tun sie das ja alle nicht. Von Monson erfuhr er, daß die Firma Calthrop fast ein volles Jahr beschäftigt und ihn, was weit wichtiger war, im Dezember 1960 nach Ciudad Trujillo geschickt hatte, um einen aus veräußerten britischen Armeebeständen stammenden Posten Waffen an Trujillos Polizeichef loszuschlagen. Thomas sah Monson voller Widerwillen an. Dir ist es herzlich egal, wozu sie benutzt werden, was, Bürschchen? dachte er, unterließ es aber im Interesse der Ermittlung, seinem Abscheu Ausdruck zu geben. Warum hatte Calthrop die Dominikanische Republik so eilig verlassen?

Die Frage schien Monson zu überraschen. Nun, weil Trujillo ermordet worden war, natürlich. Das gesamte Regime war innerhalb weniger Stunden zusammengebrochen. Was hatte ein Mann, der auf die Insel gekommen war, um dem alten Regime eine Ladung Waffen und

Munition zu verkaufen, vom neuen zu gewärtigen? Selbstverständlich mußte er sich schleunigst aus dem Staube machen.

Thomas überlegte. Das war zweifellos einleuchtend. Monson berichtete, Calthrop habe später angegeben, im Arbeitszimmer des Präsidenten gesessen und mit dem Polizeichef über den Waffenkauf verhandelt zu haben, als die Nachricht überbracht wurde, daß der General außerhalb der Stadt in einen Hinterhalt geraten und umgebracht worden sei. Der Polizeichef war blaß geworden und sofort zu seiner Hacienda gefahren, wo sein stets aufgetanktes Privatflugzeug startklar für ihn bereitstand. Innerhalb weniger Stunden stürmten die Massen auf der Jagd nach Anhängern des gestürzten Regimes durch die Straßen. Calthrop gelang es, einen Fischer zu bestechen, der ihm die Flucht von der Insel ermöglichte.

Thomas fragte Monson, warum Calthrop die Firma verlassen habe? Er sei entlassen worden, lautete die Antwort. Warum? Monson überlegte längere Zeit. Schließlich sagte er:»Superintendent, im Handel mit Waffen aus zweiter Hand herrscht ein mörderischer Konkurrenzkampf. Zu erfahren, was ein anderer Händler anbietet und welchen Preis er verlangt, kann für einen Rivalen, der das gleiche Geschäft mit dem gleichen Partner abschließen will, von ausschlaggebender Bedeutung sein. Lassen Sie es mich einmal so ausdrücken: Calthrops Loyalität der Firma gegenüber entsprach nicht ganz unseren Erwartungen.«

Auf der Rückfahrt nach London ließ sich Thomas die Aussagen Monsons noch einmal durch den Kopf gehen. Die seinerzeit von Calthrop für seine Flucht aus der Dominikanischen Republik angegebene Begründung war logisch. Sie bestätigte das vom karibischen Residenturchef des SIS kolportierte Gerücht von seiner Beteiligung am Attentat keineswegs, sondern entkräftete es eher. Andererseits war Calthrop laut Monson ein Mann, der nicht davor zurückschreckte, ein doppeltes Spiel zu treiben. Könnte er als der bevollmächtigte Vertreter einer Handfeuerwaffenfabrik, der einen Handel abzuschließen hofft, auf der Insel aufgetreten sein und zugleich im Sold der Revolutionäre gestanden haben? Monson hatte etwas erwähnt, was Thomas beunruhigte: Er hatte gesagt, Calthrop habe nicht viel von Gewehren verstanden, als er in die Firma eintrat. Und ein Meisterschütze mußte doch wohl in jedem Fall ein Experte sein. Andererseits konnte er die entsprechenden Kenntnisse ja auch erworben haben, während er für die Firma arbeitete. Aber warum sollten die Anti-Trujillo-Partisanen ihn gedungen haben, den Wagen des Generals mit einem einzigen Schuß auf einer Schnellstraße zum Stehen zu bringen, wenn er als Gewehrschütze ein Anfänger war? Oder hatten sie ihn gar nicht gedungen? Entsprach Calthrops eigene Darstellung womöglich der Wahrheit?

Thomas zuckte mit den Achseln. Es bewies nichts, und es widerlegte nichts. Also wieder bei Null angelangt, dachte er bitter. Aber in seinem Büro erwartete ihn eine Nachricht, die ihn umstimmte. Der Inspektor, der bei Calthrops Nachbarn Erkundigungen angestellt hatte, war zurückgekehrt. Er hatte eine Nachbarin angetroffen, die als Berufstätige den ganzen Tag über nicht zu Hause gewesen war. Die Frau gab an, Mr. Calthrop sei vor einigen Tagen verreist und habe erwähnt, daß er nach Schottland fahren wolle.Auf dem Rücksitz seines vor dem Haus geparkten Wagens glaubte die Frau etwas bemerkt zu haben, was wie eine zerlegbare Angelrute aussah.

Eine zerlegbare Angelrute? Superintendent Thomas überkam ein plötzliches Frösteln, obschon es im Büro warm war. Als der Kriminalinspektor seinen Bericht beendet hatte, trat einer seiner Kollegen ein.

«Super?«

«Was gibt's?«

«Mir ist gerade etwas eingefallen.«

«Ja?«

«Sprechen Sie französisch?«

«Nein, Sie?«

«Ja, meine Mutter war Französin. Der Killer, nach dem die PJ fahndet, hat doch den Decknamen Schakal, stimmt's?«

«Na, und?«

«Nun, Schakal heißt auf Französisch Chacal. C-H-A-C-A-L — fällt Ihnen nichts auf? Vielleicht ist es auch bloß Zufall. Aber der Bursche muß seiner Sache schon verdammt sicher sein, wenn er sich einen Decknamen zulegt, der aus den ersten drei Buchstaben seines Vornamens und den ersten drei Buchstaben seines Nachnamens besteht…«

«Donnerwetter!«sagte Thomas und nieste heftig. Dann griff er nach dem Telephon.

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