FÜNFTES KAPITEL

Kurz vor 13 Uhr lief der Brabant-Expreß in die Gare du Nord ein. Der Schakal nahm sich ein Taxi, das ihn zu einem kleinen, jedoch ungemein behaglichen Hotel in der von der Place de la Madeleine abgehenden rue de Suresne brachte. Es war kein Hotel in der Preislage des D'Angleterre in Kopenhagen oder des Brüsseler Amigo, aber der Schakal hatte seine Gründe, die ihn für die Dauer dieses Aufenthalts in Paris ein bescheideneres und weniger bekanntes Haus vorziehen ließen. Da war einmal der Umstand, daß er längere Zeit bleiben würde, und zum anderen die weitaus größere Wahrscheinlichkeit, hier in Paris jemandem, der ihn in London unter seinem richtigen Namen flüchtig gekannt haben mochte, zufällig wiederzubegegnen als in Kopenhagen oder Brüssel. Draußen auf der Straße würden die dunklen Gläser seiner Brille, die im strahlenden Sonnenlicht der Boulevards zu tragen ganz normal war, seine Identität hinreichend schützen. Die mögliche Gefahr bestand darin, auf dem Korridor oder in der Halle eines Hotels gesehen zu werden. Was er in dieser Phase um jeden Preis vermeiden wollte, das war, von irgend jemandem mit einem fröhlichen» Na so was — Sie hier wiederzusehen!«angehalten und womöglich in Hörweite eines Empfangschefs, der ihn als Mr. Duggan kannte, mit seinem richtigen Namen angesprochen zu werden.Nicht daß sein Aufenthalt in Paris in irgendeiner Weise geeignet;] war, Aufmerksamkeit zu erregen. Er verbrachte seine Tage mit der 1 beflissenen Geschäftigkeit eines Touristen. Am ersten Tag kaufte: er sich einen Stadtplan von Paris, auf dem er anhand eines mitgebrachten kleinen Notizbuchs die Plätze und Bauwerke, die er unbedingt sehen wollte, ankreuzte. Diese besuchte und besichtigte er ' sodann mit bemerkenswerter Ausdauer, wobei er der architektonischen Schönheit sein besonderes Augenmerk widmete oder J doch, wo von solcher nicht die Rede sein konnte, ihrer historischen Bedeutung ständig eingedenk war.

Er verbrachte drei Tage damit, in der unmittelbaren Umgebung des Arc de Triomphe umherzustreifen oder das Bauwerk und die Dächer der die Place de l'Etoile säumenden Gebäude von der Terrasse des Cafe de l'Elysee aus in Augenschein zu nehmen. Wer ihm, in jenen Tagen nachspioniert hätte (was niemand tat), wäre überrascht gewesen, daß sogar die Architektur des verdienstvollen Monsieur Haussmann einen so glühenden Bewunderer gefunden haben sollte. Gewiß hätte kein noch so scharfer Beobachter auch nur ahnen können, daß der gepflegt aussehende, elegant gekleidete englische Tourist, der in seinem Kaffee rührte und stundenlang unverwandt zu den Dächern der umstehenden Gebäude hinaufstarrte, insgeheim Schußwinkel, Entfernungen von den oberen Stockwerken bis zur Ewigen Flamme, die unter dem Triumphbogen flackerte, und die Chancen, über Feuerleitern zu entkommen und unerkannt in der flanierenden Menschenmenge unterzutauchen, berechnete.

Nach drei Tagen verließ er die Gegend des Etoile und besuchte die Gedenkstätte für die Märtyrer der französischen Resistance auf dem Montvalerien. Hier traf er mit einem Blumenstrauß ein; und ein Wärter, den diese Geste gegenüber seinen ehemaligen ResistanceKameraden von Seiten eines Engländers rührte, veranstaltete ihm zu Ehren eine ausgedehnte Einzelführung durch die Gedenkstätte. Er dürfte kaum bemerkt haben, daß der Blick des Besuchers immer wieder von deren Portal fort- und zu den hohen Gefängnismauern hinüberwanderte, die jede Möglichkeit, von den Dächern der umgebenden Gebäude aus direkte Einsicht in den Hof zu nehmen, verwehrten. Nach zwei Stunden verabschiedete er sich mit einem höflichen» Thank you «sowie einem großzügigen, aber nicht exzessiven Trinkgeld. Er suchte auch die Place des Invalides auf, die von dem an ihrem südlichen Ende gelegenen Invalidendom, der Herberge der Grabstätte Napoleons und dem Hort des Ruhms der französischen Armee, beherrscht wird. Die von der rue Fabert gebildete Westseite des weiten Platzes interessierte ihn am meisten, und einen ganzen Vormittag lang saß er vor dem Eckcafe, das sich dort befindet, wo die rue Fabert an die kleine dreieckige Place de Santiago du Chili grenzt. Vom siebten oder achten Stockwerk des hinter ihm befindlichen Gebäudes aus — dem Eckhaus Nr. 146 der die rue Fabert in einem Winkel von neunzig Grad schneidenden rue de Grenelle — mußte ein Scharfschütze seiner Schätzung nach die Vorgärten des Hotel des Invalides, den Eingang zum inneren Hof, den größten Teil der Place des Invalides sowie zwei oder drei Straßen kontrollieren können. Ein für Nachhuten zu hinhaltendem letztem Widerstand, nicht aber ein für Attentate geeigneter Ort. Zum einen betrug die Entfernung zwischen den oberen Fenstern und dem kiesbestreuten Weg, der vom Invaliden-Palast dorthin führte, wo die Wagen am Fuß der Treppe zwischen den beiden Tanks vorfahren würden, mehr als zweihundert Meter. Zum anderen würde die Sicht von den Fenstern des Hauses Nr. 146 aus zum Teil durch die obersten Zweige der Lindenbäume, mit denen die Place de Santiago dicht bepflanzt war und von denen die Tauben ihren grauweißen Tribut der geduldigen Statue Vaubans auf die Schultern fallen ließen, beeinträchtigt sein. Schweren Herzens zahlte er seinen Vittel Menthe und ging.

Einen Tag verbrachte er in der unmittelbaren Umgebung der Kathedrale von Notre-Dame. Hier, im Labyrinth der Ile de la Cite, gab es Hintertreppen, — höfe und schmale Gänge, aber die Entfernung vom Portal der Kathedrale zu den am Fuß der Treppe geparkten Wagen betrug nur wenige Meter, und die Dächer der Gebäude an der Place Parvis waren zu weit weg, die derjenigen am winzigen Square Charlemagne dagegen zu nah und von den Sicherheitskräften auch allzu leicht durch Beobachter zu kontrollieren.

Sein letzter Besuch galt dem Platz am südlichen Ende der rue de Rennes, den er am 28. Juli in Augenschein nahm. Ehedem Place de Rennes genannt, war der Platz, als die Gaullisten die Macht im Hotel de Ville übernahmen, in» Place du 18 Juin 1940«umbenannt worden. Der Schakal ließ seinen Blick zu dem nagelneuen Straßenschild an der Hausmauer wandern, und die Erinnerung an etwas, wovon er im vergangenen Monat gelesen hatte, stellte sich wieder ein. Der 18. Juni 1940 war der Tag gewesen, an welchem der einsame, aber stolze Mann im Londoner Exil sich an das Mikrophon begeben hatte, um den Franzosen zu verkünden, daß sie zwar eine Schlacht, nicht aber den Krieg verloren hatten.

Irgend etwas an diesem für die Pariser der Kriegsgeneration von Erinnerungen erfüllten Platz, mit der gedrungenen Masse der Gare Montparnasse an seiner Südseite, veranlaßte den Schakal stehenzubleiben. Sein Blick umfaßte die weite, asphaltierte Fläche, die jetzt vom Mahlstrom des den Boulevard du Montparnasse entlang dröhnenden und sich mit anderen Strömen aus der rue d'Odessa und der rue de Rennes vereinigenden Verkehrs gekreuzt wurde. Er sah zu den hohen, schmalen Häusern zu beiden Seiten der rue de Rennes zurück, deren Fenster ebenfalls auf den Platz hinausgingen. Langsam umschritt er ihn bis zur Südseite und schaute durch die Gitterstäbe des Geländers in den Innenhof der Gare Montparnasse. Der Hof war erfüllt vom Lärm der Taxis und Privatwagen, die tagtäglich Zehntausende von Pendlern vom Bahnhof abholten oder zu ihm brachten. Länger als ein halbes Jahrhundert hindurch einer der großen Pariser Kopfbahnhöfe, sollte er noch in jenem Winter zu einem stummen Klotz werden, der über den menschlichen und geschichtlichen Ereignissen brütete, die in seinen rauchgeschwärzten Hallen stattgefunden hatten. Der Bahnhof war zum Abbruch vorgesehen.

Der Schakal drehte dem Geländer den Rücken zu und blickte nach Norden die breite rue de Rennes hinauf. Vor ihm lag die Place du 18 Juin 1940 — der Platz, an welchem, dessen war er ganz sicher, Charles de Gaulle sich am vorgesehenen Tag ein letztes Mal einfinden würde. Was das betraf, stellten die anderen Plätze, die er in der vergangenen Woche aufgesucht hatte, bloße Möglichkeiten dar; dieser dagegen, darüber bestand keinerlei Zweifel, bedeutete eine Gewißheit. In Kürze würde es keine Gare Montparnasse mehr geben; die Arkaden, die auf so vieles hinabgeblickt hatten, würden verschwinden, und der Vorhof, der die Schmach der abziehenden Besatzer und die Befreiung von Paris erlebt hatte, würde einer Cafeteria für Büroangestellte weichen. Aber bevor das geschah, würde er, der Mann im kepi mit den beiden goldenen Sternen, noch einmal hier erscheinen. Indes betrug die Entfernung vom obersten Stockwerk des Eckhauses auf der Westseite der rue de Rennes bis zur Mitte des Vorhofs etwa hundertdreißig Meter… Der Schakal musterte die Stadtlandschaft vor ihm mit geübtem Auge. Beide Eckhäuser der rue de Rennes, die sich dort befanden, wo die Straße in den Platz einmündete, boten ganz offenkundig die günstigsten Möglichkeiten. Die nächsten drei Häuser, weiter die Straße hinauf, offerierten einen engen Schußwinkel in den Vorhof zum Bahnhof und kamen ebenfalls in Frage. Jenseits dieser Häuser wurde der Winkel zu eng. Desgleichen waren die ersten drei Gebäude am Boulevard du Montparnasse, der den Platz in gerader ost-westlicher Richtung kreuzte, geeignet. Hinter ihnen wurde der Winkel wiederum zu eng und die Entfernung zu groß. Sonstige Gebäude, die den Platz beherrschten und nicht zu weit entfernt waren, gab es nicht — es sei denn, das Bahnhofsgebäude selbst. Aber das würde abgesperrt und sein oberes Stockwerk mit den auf den Vorhof hinausgehenden Fenstern von Sicherheitsbeamten besetzt sein. Der Schakal beschloß, als erstes die drei Eckhäuser auf der westlichen Seite der rue de Rennes näher in Augenschein zu nehmen, und schlenderte zu einem auf der Ostseite gelegenen Eckcafe, dem Cafe Duchesse Anne, hinüber.

Hier nahm er, nur wenige Meter vom lärmenden Straßenverkehr entfernt, auf der Terrasse Platz, bestellte sich einen Kaffee und starrte zu den Häusern auf der anderen Straßenseite hinüber. Er blieb drei Stunden. Später lunchte er in der gegenüberliegenden Hansi Brasserie Alsacienne und studierte die Häuserfronten der Ostseite. Nach dem Essen schlenderte er auf und ab und machte sich mit den Eingängen der in Frage kommenden Apartmenthäuser vertraut. Auf diese Weise gelangte er schließlich bis zu den ersten Häusern des Boulevard du

Montparnasse, die jedoch Büros neueren Datums beherbergten und von geschäftigem Leben erfüllt waren.

Am nächsten Tag war er wieder da, schlenderte an den Häuserfronten entlang, kreuzte die Fahrbahn, um sich unter den Bäumen auf eine der Straßenbänke zu setzen und nochmals die oberen Stockwerke zu inspizieren. Fünf- oder sechsgeschossige Steinfassaden, gekrönt von einem umgitterten First, dann die steile, von Mansardenfenstern unterbrochene Schräge des mit schwarzen Ziegeln gedeckten Dachstuhls, der ehedem die Unterkünfte der Dienstboten beherbergte und jetzt ärmeren Pensionären als Wohnung diente. Die Dächer, und möglicherweise auch die Mansarden, würden an dem betreffenden Tag vermutlich überwacht werden. Es mochte sogar Beobachtungsposten auf den Dächern geben, die, den Feldstecher auf die gegenüberliegenden Fenster und Dächer gerichtet, zwischen den Kamingruppen umherkrochen. Aber die Höhe des unmittelbar unter dem Dachboden gelegenen obersten Stockwerks war ausreichend, vorausgesetzt, man konnte weit genug vom Fenster weg im Schatten sitzen, um nicht vom gegenüberliegenden Haus aus gesehen zu werden. In der schwülen Hitze jenes Sommers würde das offene Fenster nicht auffallen. Aber je weiter man den Stuhl ins Zimmer hinein rückte, desto enger wurde der Schußwinkel zum Vorhof des Bahnhofs hinunter. Aus diesem Grund schied das jeweils dritte Haus zu beiden Seiten der rue de Rennes aus. Damit blieben dem Schakal vier Häuser, unter denen er wählen konnte. Da es zu der Tageszeit, zu welcher er seiner Schätzung nach zum Schuß käme, Nachmittag sein und die Sonne bereits im Westen, aber immer noch hoch genug am Himmel stehen würde, um über das Dach des Bahnhofsgebäudes hinweg in die Fenster der auf der Ostseite der Straße gelegenen Häuser zu scheinen, entschied er sich schließlich für eines auf der Westseite. Um ganz sicher zu gehen, wartete er an jenem 29. Juli bis 16 Uhr und stellte fest, daß die Sonne die obersten Fenster der Häuser auf der Westseite nur mit einem schrägen Strahl erreichte, die Häuser auf der Ostseite dagegen noch immer voll beschien.

Am nächsten Tag bemerkte er die Concierge. Es war der dritte Tag, an dem er entweder auf einer Cafeterrasse oder auf einer Straßenbank saß, und er hatte sich eine Bank ausgesucht, die nur wenige Meter von den Eingängen der beiden Mietshäuser entfernt war, für die er sich noch immer interessierte. Ein paar Schritte hinter ihm und nur durch die Breite des Bürgersteigs, über den endlose Schwärme von Passanten dahineilten, von ihm getrennt, saß die Concierge in ihrem Hauseingang und strickte. Einmal kam ein Kellner aus einem benachbarten Cafe zu einem Plausch herübergeschlendert. Er nannte die Concierge Madame Berthe. Es war eine reizende Idylle, der Tag war warm, die Sonne strahlte und reichte, solange sie noch im Südosten und Süden über dem Bahnhofsdach auf der anderen Seite des Platzes hoch am Himmel stand, zwei bis drei Meter weit in den dunklen Hauseingang hinein. Die Concierge war eine gemütvolle großmütterliche Person, und aus der Art, wie sie »Bonjour monsieur« flötete, wenn gelegentlich jemand das Mietshaus verließ oder betrat, wie auch aus dem fröhlichen »Bonjour, Madame Berthe«, das sie jedesmal zur Antwort erhielt, schloß der auf der fünf Meter entfernten Straßenbank sitzende Beobachter, daß sie beliebt sein mußte. Eine mitleidige Natur, die für die weniger gut Weggekommenen dieser Erde ein Herz hatte: Kurz nach 14 Uhr erschien eine Katze, und innerhalb weniger Minuten kam Madame Berthe, die vorübergehend ihre Portiersloge im hinteren Teil des Parterres aufgesucht hatte, mit einer Untertasse voll Milch für das Tier, das sie» ma petite Minette «nannte, zurück.

Kurz vor 16 Uhr packte sie ihr Strickzeug zusammen, steckte es in eine der geräumigen Taschen ihrer Schürze und schlurfte auf ihren Pantoffeln die Straße hinunter zur Bäckerei.

Der Schakal stand von der Bank auf und betrat das Mietshaus. Er zog es vor, statt des Aufzugs die Treppen zu benutzen, und rannte lautlos nach oben.

Die Treppen umliefen den Liftschacht und erreichten bei jeder zum hinteren Teil des Gebäudes führenden Wendung einen kleinen Absatz. Auf jedem zweiten Stockwerk gelangte man von diesem Absatz aus durch eine Tür in der hinteren Mauer des Hauses zu einer eisernen Feuertreppe. Vor dem sechsten — dem obersten — Stock, über dem sich lediglich der

Dachboden befand, öffnete der Schakal diese Tür und blickte hinunter. Die Feuertreppe führte in einen Innenhof, auf den die Hintereingänge der anderen Häuser gingen, welche die Ecke des hinter ihm befindlichen Platzes bildeten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs wurde die Masse der Gebäude von einer nach Norden verlaufenden schmalen, überdachten Passage unterbrochen.

Der Schakal schloß die Tür leise, schob den Riegel wieder vor und stieg die letzte halbe Treppe zum sechsten Stock hinauf. Von hier aus führte am Ende des Korridors eine schmalere Treppe zu den oberen Dachböden. Der Korridor hatte zwei Türen zu Wohnungen, die auf den inneren Hof hinausgingen, und zwei weitere zu Wohnungen im vorderen Teil des Hauses.

Sein Orientierungssinn sagte ihm, daß eine dieser beiden Wohnungen Fenster haben müsse, die auf die rue de Rennes oder halb seitlich zum Platz und darüber hinaus zum Vorhof des Bahnhofs hinausgingen. Das waren die Fenster, die er so lange von der Straße aus beobachtet hatte.Auf dem einen der Namenschilder neben den Klingelknöpfen der beiden vorderen Wohnungen stand» Mlle Deranger«, auf dem anderen» M et Mme Charrier«. Er lauschte einen Augenblick, aber aus keiner der Wohnungen drang ein Laut. Er untersuchte die Schlösser; beide waren in das Holz eingelassen, das überaus hart und von beträchtlicher Stärke war. Die Schloßzapfen an den Innenseiten der Türen waren vermutlich von der Art jener stählernen Riegel, wie sie die um ihre Sicherheit so besorgten Franzosen bevorzugten, und wahrscheinlich auch von der doppelt verschließbaren Sorte. Er würde Schlüssel benötigen, von denen Mme Berthe gewiß irgendwo in ihrer kleinen Loge für jede Wohnung mindestens einen verwahrte.

Ein paar Minuten später lief er die Treppe, über die er hinaufgekommen war, lautlos wieder hinunter. Alles in allem hatte er sich keine fünf Minuten lang in dem Haus aufgehalten. Die Concierge war inzwischen zurückgekehrt. Durch die Milchglasscheibe der Tür zu ihrer Loge sah er im Vorübergehen flüchtig ihre verschwommenen Umrisse. Im nächsten Augenblick hatte er sich nach rechts gewendet und mit großen Schritten den von einem Bogen überwölbten Hauseingang erreicht.

Er ging nach links ein Stück weit die rue de Rennes hinauf, kam an zwei weiteren Mietshäusern und einem Postamt vorbei und bog, der Fassade des Postamts noch immer folgend, in die erste Querstraße — die rue Littre — ein. Am Ende des Postgebäudes befand sich eine enge, überdachte Passage. Der Schakal blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und blickte, während die Flamme aufflackerte, verstohlen die Passage entlang. Sie führte zu dem von der Nachtschicht der Telephonvermittlung benutzten Hintereingang des Postamtes. Jenseits des tunnelartigen Durchgangs war ein sonnenbeschienener Hinterhof zu sehen. Auf der gegenüberliegenden beschatteten Seite konnte er die letzten Sprossen der Feuerleiter des Hauses erkennen, das er gerade verlassen hatte. Der Schakal machte einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und ging weiter. Er hatte seinen Fluchtweg entdeckt.

Am Ende der rue Littre wandte er sich wiederum nach links und folgte der rue de Vaugirard bis zum Boulevard du Montparnasse. Er hatte die Ecke erreicht und hielt, den Boulevard hinauf- und hinunterblickend, Ausschau nach einem freien Taxi, als ein PolizeiMotorradfahrer heranbrauste, seine Maschine aufbockte und von der Mitte der Kreuzung aus den Verkehr anzuhalten begann.

Mit schrillen Pfiffen seiner Trillerpfeife stoppte er alle aus der rue de Vaugirard wie auch die aus der Richtung des Bahnhofs den Boulevard hinunter kommenden Automobile. Der Gegenverkehr von Duroc her wurde gebieterisch an den rechten Straßenrand verwiesen.

Kaum hatte er sämtliche Fahrzeuge zum Stillstand gebracht, als auch schon das entfernte Heulen von Polizeisirenen aus der Richtung Duroc hörbar wurde. Von der Ecke der rue de Vaugirard aus den Boulevard hinunterblickend, sah der Schakal fünfhundert Meter weiter einen aus dem Boulevard des Invalides kommenden Automobilkonvoi über die Kreuzung der rue de Sevres hinweg auf sich zufahren. Vornweg knatterten zwei lederbekleidete Motorradfahrer in weißen Helmen, die im Sonnenlicht blinkten, und ließen ihre Sirenen aufheulen. Hinter ihnen wurden die Haifischmäuler zweier Citroen DS 19 sichtbar. Der Polizist, der mit dem Rücken zum Schakal auf der Kreuzung stand und den Verkehr regelte, wies, den gebeugten rechten Arm mit der Handfläche nach unten über die Brust gelegt und so die Vorfahrt des herannahenden Konvois signalisierend, mit straff ausgestrecktem linkem Arm zur Avenue du Maine.

Nach rechts geneigt, kurvten die beiden Motorradfahrer, gefolgt von den Limousinen, in die Avenue du Maine. Aufrecht hinter dem Fahrer im Fond des ersten Wagens sitzend und starr geradeaus blickend, wurde sekundenlang eine hochgewachsene, mit einem dunkelgrauen Anzug bekleidete Gestalt sichtbar. Der Schakal erhaschte einen flüchtigen Blick auf das hocherhobene Haupt und die unverkennbare Nase, bevor der Konvoi vorbeigebraust war. Das nächstemal, wenn ich dein Gesicht sehe, schwor er der blitzartig entschwundenen Erscheinung, werde ich es scharf eingestellt im Fadenkreuz meines Zielfernrohrs haben.

Dann fand er ein Taxi und ließ sich in sein Hotel zurückfahren.

Ein Stück weiter den Boulevard hinauf, nahe der Metro-Station Duroc, der sie soeben entstiegen war, hatte eine andere Gestalt die Vorbeifahrt des Präsidenten mit mehr als dem üblichen Interesse beobachtet. Sie war im Begriff gewesen, die Straße zu überschreiten, als ein Polizist sie zurückwinkte. Sekunden später schoß der aus dem Boulevard des Invalides kommende Automobilkonvoi über die kopfsteingepflasterte Place Leon Paul Fargue in den Boulevard du Montparnasse. Auch sie hatte das unverkennbare Profil im Fond des ersten Citroen gesehen, und ihre Augen hatten in leidenschaftlichem Haß gefunkelt. Noch als die Wagen lange schon vorübergefahren waren, hatte sie ihnen nachgestarrt, bis sie sah, daß der Polizist sie mißtrauisch von oben bis unten zu mustern be-; gann. Rasch hatte sie ihren Weg zur anderen Straßenseite fortgesetzt.

Jacqueline Dumas war damals sechsundzwanzig Jahre alt und von beträchtlicher Schönheit, die sie vorzüglich zur Geltung zu bringen verstand, da sie als Kosmetikerin in einem teuren Salon hinter den Champs-Elysees arbeitete. Am späten Nachmittag des 30. Juli beeilte sie sich, rechtzeitig in ihre bei der Place de Breteuil gelegene kleine Wohnung zurückzukehren, um sich für ihr Rendezvous am Abend zurechtzumachen. Sie wußte, daß sie sich in wenigen Stunden nackt in den Armen ihres Liebhabers finden würde, den sie haßte, und sie wollte so schön aussehen, wie es ihr nur möglich war.

Noch vor wenigen Jahren war das nächste Rendezvous alles gewesen, was in ihrem Leben zählte. Sie stammte aus gutem Haus, und ihre Familie bildete eine engverbundene, von starkem Zusammengehörigkeitsgefühl erfüllte kleine Gruppe. Ihr Vater war ein verdienter Angestellter eines Bankhauses, ihre Mutter die typische Hausfrau und maman der französischen Mittelklasse, sie selbst im Begriff, ihren Kosmetikkurs zu beenden, und ihr Bruder Jean-Claude damals dabei, seinen Militärdienst abzuleisten. Die Familie wohnte in dem Pariser Vorort le Vesinet, nicht gerade in dessen bester Gegend, aber doch in einem recht hübschen Haus.

Das Telegramm des Ministeriums der bewaffneten Streitkräfte war eines Tages gegen Ende des Jahres 1959 zum Frühstück gebracht worden. Es besagte, daß der Minister es unendlich bedaure, Madame und Monsieur Dumas vom Tod ihres Sohnes Jean-Claude, Soldat im Ersten Kolonialen Fallschirm Jägerregiment in Algerien, Mitteilung machen zu müssen. Seine persönliche Habe werde der schwergetroffenen Familie so rasch wie möglich übersandt werden.

Eine Zeitlang war Jacquelines private Welt wie zerstört. Nichts mehr schien einen Sinn zu haben — weder die stille Geborgenheit im Schoß der Familie in le Vesinet noch das Geplauder der anderen Mädchen im Schönheitssalon über den Charme Yves Montands oder le Rock, den jüngst aus Amerika importierten Modetanz. Das einzige, was ihr wie eine sich ewig um dieselbe Spule drehende Bandaufnahme im Kopf herumging, war der Gedanke daran, daß der kleine Jean-Claude, ihr so verletzliches und sanftes geliebtes Brüderchen, das Krieg und Gewalttätigkeit immer gehaßt und sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als mit seinen Büchern allein gelassen zu werden, in einem Gefecht irgendwo in einem gottverlassenen algerischen wadi erschossen worden war. Sie begann zu hassen. Es waren die Araber, die widerwärtigen, dreckigen und feigen »melons«, die ihr das angetan hatten.

Dann war Francis gekommen. Ganz plötzlich war er eines Morgens an einem Sonntag im Winter erschienen, als die Eltern das Haus verlassen hatten, um Verwandte zu besuchen. Es war im Dezember gewesen, Schnee hatte auf der Avenue gelegen und auch den Gartenpfad bedeckt. Andere Leute waren blaß und verfroren, und Francis sah braun gebrannt und fit aus. Er fragte, ob er Mademoiselle Jacqueline sprechen könne. Sie sagte »C'est mol meme« und was er denn wünsche. Er sagte, daß er den Zug führe, dem der gefallene Soldat Jean-Claude Dumas zugeteilt gewesen sei, und daß er einen Brief zu überbringen habe. Sie bat ihn hereinzukommen.

Der Brief war einige Wochen, bevor Jean-Claude fiel, geschrieben worden, und er hatte ihn auf der Patrouille im Djebel, auf der sie nach einer Bande von Fellachen Ausschau hielten, die eine ganze Siedlerfamilie niedergemacht hatte, in der inneren Brusttasche seiner Uniformjacke verwahrt. Sie hatten die Guerillas nicht aufgespürt, waren aber auf ein Bataillon der ALN, der kampferprobten regulären Truppe der algerischen Nationalbewegung FLN, gestoßen. In der anbrechenden Dämmerung hatte es ein erbittertes Gefecht gegeben, bei dem Jean-Claude einen Lungendurchschuß erhielt. Bevor er starb, übergab er den Brief seinem Zugführer.

Jacqueline las ihn und weinte ein wenig. Der Brief erwähnte die letzten Wochen nicht, sondern beschrieb lediglich das Kasernenleben in Constantine, die Nahkampfübungen und die strenge Disziplin. Den Rest erfuhr sie von Francis: Er berichtete ihr von dem fünf Kilometer langen Rückmarsch durch das Unterholz, während die ALN sie überholte und einkreiste; von den verzweifelten Funkrufen nach Luftunterstützung und dem Eingreifen der Kampfbomber mit ihren heulenden Triebwerken und donnernden Raketen. Und davon, wie ihr Bruder, der sich freiwillig zum Dienst in einem der härtesten Regimenter gemeldet hatte, um zu beweisen,daß er ein Mann war, auch wie ein solcher zu sterben wußte, während er im Schatten eines Felsbrockens auf die Knie eines Korporals Blut hustete.

Francis war sehr zartfühlend ihr gegenüber gewesen. Als Mann war er hart wie die Erde der kolonialen Provinz, die ihn in vier Kriegsjahren zum Berufssoldaten gestählt hatte. Aber gegenüber der Schwester eines seiner Männer war er zartfühlend und sanft. Das nahm sie für ihn ein, und so stimmte sie seinem Vorschlag, in Paris zu Abend zu essen, gern zu.

Abgesehen davon befürchtete sie, ihre Eltern könnten zurückkehren und sie überraschen. Sie wollte nicht, daß sie erführen, wie Jean-Claude gestorben war, denn beide hatten es verstanden, sich in den seither vergangenen zwei Monaten dem Schmerz zu verschließen und ihr gewohntes Leben weiterzuleben. Beim Essen beschwor sie den Leutnant, ihren Eltern nichts von alldem zu sagen, und er versprach es ihr.

Sie selbst aber konnte nicht genug erfahren über den Krieg in Algerien; sie mußte wissen, was in Wahrheit geschah, worum es in Wahrheit ging, was die Politiker in Wahrheit bezweckten. General de Gaulle hatte im vergangenen Januar als Premierminister die Präsidentschaft erlangt und war von einer Woge vaterländischer Begeisterung als der Mann, der den Krieg beenden und Algerien dennoch Frankreich erhalten würde, in den Elysee-Palast getragen worden. Es geschah aus Francis' Mund, daß sie erstmals die Bezeichnung» Verräter Frankreichs «für den Mann hörte, den ihr Vater bewunderte.

Solange Francis' Urlaub währte, trafen sie sich allabendlich nach ihrer Arbeit im Schönheitssalon, in dem sie seit Januar 1960, als sie ihre Kosmetikprüfung abgelegt hatte, beschäftigt war. Er berichtete ihr von dem Verrat an der französischen Armee, von den geheimen Verhandlungen, welche die Pariser Regierung mit Ahmed Ben Bella, dem Führer der FLN, aufgenommen hatte, und von der bevorstehenden Übergabe Algeriens an die melons. In der zweiten Januarhälfte war er in seinen Krieg zurückgekehrt, und in Marseille hatte sie noch einmal eine kurze Zeit mit ihm allein verbringen können, als es ihm gelang, eine Woche Urlaub zu erhalten. Seither hatte sie auf ihn gewartet, und in ihren geheimsten Gedanken war er ihr zu einem Symbol alles dessen geworden, was an junger französischer Männlichkeit gut und sauber und aufrichtig war. Sein Photo, das bei Tag und am Abend neben ihrem Bett auf dem Tischchen stand, hielt sie im Schlaf unter dem Nachthemd an ihren Bauch gepreßt. Sie wartete den Herbst und Winter 1960 hindurch auf ihn.

Auf seinem letzten Urlaub im Frühjahr 1961 war er wiederum nach Paris gekommen, und als sie die Boulevards entlangschlenderten, er in Uniform, sie in ihrem schönsten Kleid, fand sie, daß er der stärkste, bestgewachsene und hübscheste Mann der Stadt war. Eine ihrer Arbeitskolleginnen hatte sie mit ihm zusammen gesehen, und am nächsten Tag machte die aufregende Nachricht von Jacquis schönem »para« im Schönheitssalon die Runde. Sie selbst war gar nicht da; sie hatte ihren Jahresurlaub genommen, um die Zeit ganz mit ihm verbringen zu können.

Francis war erregt. Es lag etwas in der Luft. Die Nachricht von den Gesprächen mit der FLN hatte sich allgemein herumgesprochen. Die Armee, die richtige Armee, würde dem nicht mehr lange tatenlos zuschauen, prophezeite er. Daß Algerien französisch blieb, war für sie beide, den kampferprobten 27jährigen Offizier und die ihn anbetende 23jährige werdende Mutter, ein Glaubensartikel.

Francis hat nie erfahren, daß er Vater werden sollte. Im März 1961 kehrte er nach Algerien zurück, und am 21. April meuterten mehrere Einheiten der französischen Armee gegen die Pariser Regierung. Nur eine Handvoll wehrpflichtig Dienender schlich sich aus den Kasernen, um sich im Büro des Präfekten zu melden. Die Berufssoldaten ließen sie laufen. Innerhalb einer Woche kam es zu Kämpfen zwischen den Meuterern und den loyalen Regimentern. Anfang Mai fiel Francis im Gefecht mit einer regierungstreuen Armee-Einheit.

Jacqueline, die seit April keine Briefe mehr erwartet hatte, war, bis man ihr im Juli die Nachricht überbrachte, arglos geblieben. Sie mietete sich eine Wohnung in einem billigen Pariser Vorort, um sich dort mit Gas zu vergiften. Der Versuch mißlang, weil der Raum nur ungenügend abzudichten war, aber sie verlor das Baby. Im August nahmen ihre Eltern sie auf ihre alljährliche Sommerreise mit, und bei ihrer Rückkehr schien sie sich gut erholt zu haben. Im Dezember begann sie ihre aktive Untergrundarbeit für die OAS.

Ihre Motive waren einfach: Francis und nach ihm Jean-Claude. Sie sollten gerächt werden, gleichgültig, mit welchen Mitteln, und gleichgültig auch, was es sie und andere kosten würde. Von dieser Leidenschaft abgesehen, gab es nichts mehr auf derWelt, wofür es sich zu leben lohnte. Ihre einzige Klage war, daß man sie nur Botengänge machen, Meldungen weitergeben und gelegentlich einen mit Plastik-Explosivstoff gefüllten Brotlaib in ihrer Einholtasche an seinen Bestimmungsort bringen ließ. Sie war überzeugt, mehr tun zu können. Ließen sie die nach jedem Bombenanschlag auf Cafes und Kinos an den Straßenecken postierten flies bei der Durchsuchung wahllos herausgegriffener Passanten denn nicht regelmäßig schon auf ein bloßes Senken ihrer seidigen langen Wimpern, ein leichtes Schürzen ihrer vollen Lippen hin unbehelligt?

Nach dem Petit-Clamart-Vorfall hatte einer der nicht zum Zuge gekommenen flüchtigen Killer drei Nächte in ihrer Wohnung bei der Place de Breteuil verbracht. Es war ihr großer Augenblick gewesen, aber dann hatte der OAS-Kämpfer den Unterschlupf gewechselt. Einen Monat später war er gefaßt worden, hatte aber über seinen Aufenthalt in ihrer Wohnung kein Wort verlauten lassen. Um sicherzugehen, wurde sie jedoch von ihrem Zellenleiter instruiert, ein paar Monate lang, bis Gras über die Sache gewachsen sei, nicht mehr für die OAS zu arbeiten. Es war Januar 1963, als sie wieder Meldungen zu übermitteln begann.

Und so ging es weiter, bis dann im Juli ein Mann sie aufsuchte. Er war in Begleitung ihres Zellenleiters gekommen, der ihm gegenüber großen Respekt an den Tag legte. Er hatte keinen Namen. Ob sie bereit sei, eine Spezialaufgabe für die Organisation zu übernehmen? Selbstverständlich. Eine vielleicht gefährliche, gewiß aber unangenehme Aufgabe? Auch das. Drei Tage später zeigte man ihr einen Mann, der aus einem Apartmenthaus trat. Sie saßen in einem geparkten Wagen. Ihr wurde gesagt, wer es war und welche Stellung er bekleidete. Und was sie zu tun hatte.

Mitte Juli hatten sie, offenkundig per Zufall, Bekanntschaft geschlossen, als sie in einem Restaurant in unmittelbarer Nähe des Mannes saß und ihn mit scheuem Lächeln um das auf seinem Tisch befindliche Salzfaß bat. Er war gesprächig geworden, sie zurückhaltend und scheu geblieben. Dieses Verhalten erwies sich als genau richtig. Ihre Sprödigkeit reizte ihn. Die Unterhaltung, die der Mann führte und der sie artig folgte, belebte sich. Innerhalb von vierzehn Tagen hatten sie eine Affäre miteinander.

Sie verstand genug von den Männern, um sehr rasch über die generelle Richtung und Beschaffenheit ihrer Wünsche Bescheid zu wissen. Ihr neuer Liebhaber war leichte Eroberungen und erfahrene Frauen gewohnt. Sie spielte die Scheue, war aufmerksam, aber keusch, nach außen hin kühl, jedoch nicht ohne gelegentlich durchblicken zu lassen, daß sie ihren erlesenen Leib eines Tages, sofern nur der Richtige käme, willig hingeben würde. Das zog. Sie zu gewinnen wurde für den Mann zu einer Angelegenheit von höchster Priorität.

Ende Juli wies sie ihr Zellenleiter an, daß ihr Zusammenleben in Kürze beginnen solle. Das einzige Hindernis stellten die Frau und die Kinder des Mannes dar, von denen er nicht getrennt lebte. Am 29. Juli reisten sie zum Landhaus der Familie im Loiretal ab, während der Mann seiner Arbeit wegen in Paris zurückbleiben mußte. Wenige Minuten nach der Abreise seiner Familie hatte er bereits im Salon angerufen und darauf bestanden, daß Jacqueline und er noch am gleichen Tag in seinem Apartment gemeinsam zu Abend aßen.

In ihrer Wohnung angekommen, warf Jacqueline Dumas einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Sie hatte drei Stunden Zeit, um sich für den Abend herzurichten, und obschon sie beabsichtigte, ihre Vorbereitungen mit größer Sorgfalt zu treffen, würden dazu zwei Stunden genügen. Sie zog sich aus, duschte und sah, während sie sich vor dem in die Innenseite der Schranktür eingelassenen Standspiegel abtrocknete, mit teilnahmsloser Gleichgültigkeit zu, wie das Handtuch in kreisender Bewegung ihre Haut frottierte, und als sie die Arme hochstreckte, um ihre vollen, von zarten rosa Knospen gekrönten Brüste zu heben, geschah es ohne jenes Vorgefühl kommender Entzückungen, das sie noch stets empfunden hatte, wenn sie wußte, daß Francis' Handflächen sie bald liebkosen würden.

Sie dachte mit Widerwillen an die bevorstehende Nacht, und ihre Bauchmuskeln strafften sich vor Ekel. Sie würde, das gelobte sie sich, durchhalten und es hinter sich bringen, egal, welche Art von Liebe er von ihr verlangte. Aus einer Kommodenlade holte sie das Photo von Francis hervor, aus dessen Rahmen er ihr mit dem gleichen, leise ironischen Lächeln zuzunicken schien, das seine Lippen immer umspielt hatte, wenn er sie über die ganze Länge des Bahnsteigs hinweg auf ihn zulaufen sah, um von ihm in die Arme genommen zu werden. Das weiche braune Haar, das khakifarbene Uniformhemd mit der breiten, muskulösen Brust darunter, an der den Kopf zu bergen sie vor langer, langer Zeit so sehr geliebt hatte, das Abzeichen mit den stählernen Fallschirmjägerschwingen, das sich an ihrer heißen Wange so kühl anfühlte, alles das war noch immer da — auf Photopapier. Sie lag auf dem Bett und hielt Francis über sich, der auf sie hinunterblickte, wie er es getan hatte, wenn sie sich liebten.

Und seine Frage: »Alors, petite, tu veux…?« wäre auch jetzt wieder ganz überflüssig gewesen. Wie stets flüsterte sie: »Oui, tu sais bien…« und schloß die Augen. Sie glaubte ihn in sich zu fühlen, seine ganze heiße und harte, pochende Kraft, meinte seine ihr leise ins Ohr geraunten Koseworte und schließlich den erstickten Befehl:» Viens, viens…!« zu hören, dem sie noch immer gehorcht hatte.

Sie öffnete die Augen und starrte zur Zimmerdecke hinauf.»Francis«, flüsterte sie und preßte das erwärmte Glas des Photos an ihre Brüste,»hilf mir, bitte, hilf mir heute nacht.«

Am letzten Tag des Monats war der Schakal ungemein beschäftigt. Er verbrachte den Vormittag auf dem Flohmarkt, wo er, eine zusammenlegbare, billige Reisetasche mit sich führend, von Stand zu Stand ging. Er kaufte ein speckiges schwarzes beret, ein Paar ausgetretener Schuhe, eine nicht allzu saubere Hose und, nach langem Suchen, einen ausgedienten, schweren Militärmantel. Er würde einen Mantel aus leichterem Stoff vorgezogen haben, aber Militärmäntel sind selten für den Hochsommer geschneidert, und die der französischen Armee werden aus Duffel angefertigt. Der Mantel war jedoch lang genug, selbst an ihm, dem er, und darauf kam es ihm an, ein gutes Stück bis unters Knie reichte.

Im Weggehen fiel sein Blick auf einen Stand voller Orden und Medaillen, die zumeist alt und fleckig waren. Er suchte sich eine Kollektion aus und erwarb sie zusammen mit einer Broschüre, welche die französischen Militärmedaillen mitsamt Ordensbändern auf verblichenen Farbabbildungen zeigte und den Betrachter anhand ausführlicher Bildunterschriften darüber aufklärte, für welche Schlachten oder tapferen Handlungen sie verliehen zu werden pflegten.

Nach einem leichten Lunch bei Queenie's in der rue Royale ging er in sein nahes Hotel, zahlte seine Rechnung und begann zu packen. Seine jüngsten Anschaffungen wurden im doppelten Boden eines seiner beiden teuren Koffer verstaut. Aus der Medaillensammlung stellte er mit Hilfe der erworbenen Broschüre eine Ordensschnalle zusammen, die von der Medaille Militaire für Tapferkeit vor dem Feind über die Medaille de la Liberation bis hin zu fünf der den Angehörigen der Streitkräfte des Freien Frankreich im Zweiten Weltkrieg verliehenen Gefechtsauszeichnungen reichte. Er verlieh sich selbst Medaillen für die Teilnahme an den Kämpfen bei Bir Hakeim, in Libyen, Tunesien und der Normandie sowie das Abzeichen für die Angehörigen der von General Philippe Leclerc befehligten Zweiten Panzerdivision.

Die restlichen Medaillen wie auch die Broschüre deponierte er in zwei auf dem Boulevard Malesherbes an Laternenkandelabern befestigten Papierkörben. Der Empfangschef seines Hotels unterrichtete ihn, daß der bequeme Etoile-du-Nord-Expreß nach Brüssel um 17 Uhr 15 von der Gare du Nord abfuhr. Er erreichte den Zug, speiste ausgezeichnet zu Abend und traf in den letzten Stunden des Juli in Brüssel ein.

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