SIEBZEHNTES KAPITEL

Als der blaue Alfa in die Place de la Gare von Ussel einbog, war es fast l Uhr morgens. Gegenüber dem Bahnhof hatte ein Cafe noch geöffnet, und ein paar Reisende, die auf einen Nachtzug warteten, schlürften heißen Kaffee. Der Schakal fuhr sich rasch mit dem Kamm durchs Haar und ging an den bereits aufeinandergestellten Tischen und Stühlen vorbei zur Theke. Er fröstelte, denn die nächtliche Bergluft war kühl, wenn man mit einer Geschwindigkeit von mehr als hundert Stundenkilometer im offenen Wagen fuhr. Er fühlte sich wie gerädert, und seine Arm- und Beinmuskel schmerzten, nachdem er den Alfa durch ungezählte enge Kurven gezogen hatte. Zudem war er hungrig, denn seit dem Abendessen vor mehr als achtundvierzig Stunden hatte er außer einem Croissant zum Frühstück nichts mehr zu sich genommen.

Er bestellte sich zwei tartines beurrees — der Länge nach von einem schmalen, langgestreckten Brotlaib abgeschnittene und mit Butter bestrichene Scheiben eines kräftigen Landbrotes —, dazu vier hartgekochte Eier und eine große Schale Milchkaffee.

Während das Butterbrot gestrichen und der Kaffee gefiltert wurde, hielt er nach der Telephonzelle Ausschau. Es gab keine, aber am anderen Ende der Theke stand ein Apparat.»Haben Sie ein örtliches Fernsprechverzeichnis?«fragte er den Wirt, der, noch immer mit dem Bestreichen der tartines beschäftigt, stumm auf den Stapel der Telephonbücher wies, der auf dem Regal hinter der Theke lag.

Der Baron war unter» Chalonniere, M le Baron de la… «aufgeführt und als Wohnsitz das Schloß in La Haute Chalonniere angegeben. Der Schakal hatte sich die Adresse gemerkt, aber das Dorf war auf seiner Karte nicht eingezeichnet. Die Telephonnummer wurde jedoch unter dem Amt Egletons geführt, und dieser Ort fand sich rasch auf seiner Karte. Er lag dreißig

Kilometer hinter Ussel an der RN89. Der Schakal machte es sich an einem Tisch bequem, um seine tartines mit den hartgekochten Eiern zu verzehren und den Milchkaffee zu trinken.

Kurz vor zwei passierte er ein Schild mit der Aufschrift» Egletons, 6km «und beschloß, den Wagen in einer der dichten Waldungen, die an die Straßen grenzten, stehenzulassen. Die Wälder gehörten vermutlich irgendeinem alteingesessenen Adeligen, dessen Vorfahren, von einer Hundemeute begleitet, hier auf Wildschweinjagd geritten waren. Aber vielleicht war das auch heute noch Brauch, denn weite Teile des Departement Correze sahen aus, als schriebe man noch die Zeit des Sonnenkönigs.

Ein paar hundert Meter weiter fand er einen in den Wald führenden Weg. Er war mit einem quer über zwei Pfosten gelegten Balken, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Chasse Privee« hing, zur Straße hin versperrt.

Der Schakal hob den Balken ab, lenkte den Wagen auf den Weg und legte den Balken wieder auf seinen Platz.

Etwa achthundert Meter weit fuhr er auf dem Pfad in den Wald hinein, während die knorrigbizarren Silhouetten der Bäume, deren Äste wie die knochigen Arme von Gespenstern nach dem Eindringling zu greifen schienen, von den Scheinwerfern des Wagens angeleuchtet wurden. Schließlich stoppte er, schaltete das Licht aus und entnahm dem Handschuhfach Stahlschere und Taschenlampe. Auf dem Rücken liegend, verbachte er eine Stunde unter dem Wagen, und der betaute Waldboden durchnäßte sein Hemd. Dann waren die das zerlegte Scharfschützengewehr enthaltenden Stahlröhren, die er vor sechzig Stunden mit Lötdraht in ihrem Versteck befestigt hatte, vom Chassis gelöst, und er packte sie in den Koffer mit den alten Kleidungsstücken und dem Armeemantel. Er betrachtete den Wagen ein letztes Mal prüfend von allen Seiten, um sicherzugehen, daß nichts mehr darin verblieben war, was demjenigen, der ihn entdecken würde, auch nur den geringsten Hinweis auf den Fahrer hätte geben können, und steuerte ihn dann mitten in eine nahe Gruppe dichter wilder Rhododendronbüsche hinein.

Dann schnitt er mit der Stahlschere Äste von weiteren Rhododendronbüschen ab und steckte sie überall dort, wo der Alfa das Geäst geknickt hatte, in den Boden. Nach einer Stunde war der kleine Wagen gänzlich der Sicht entzogen.

Er knotete ein Ende seiner Krawatte am Handgriff eines Koffer fest und das andere an dem zweiten. Auf diese Weise konnte er, indem er sich die Krawatte über die Schulter hängte, so daß er ein Gepäckstück vor der Brust und das andere auf dem Rücken trug, in jeder Hand einen der beiden restlichen Koffer schleppen und den Rückmarsch zur Straße antreten.

Alle hundert Meter stellte er das Gepäck ab, ging zurück, um mit einem Rhododendronzweig die leichten Spuren zu verwischen, die der Alfa auf dem moosigen Waldboden hinterlassen hatte. Es dauerte eine weitere Stunde, bis er die Straße erreicht hatte, unter dem Schlagbaum hindurchgekrochen war und sich einen Kilometer vom Eingang zum Wald entfernt hatte.

Sein karierter Anzug war von Erde und Öl beschmutzt, der seidene Rollkragenpullover klebte ihm am Rücken und unter den Armen feucht auf der Haut, und er glaubte, seine Muskeln würden nie wieder zu schmerzen aufhören. Er stellte die Gepäckstücke ab, setzte sich auf einen der Koffer und begann zu warten, während der Himmel im Osten langsam heller wurde. Überlandbusse, sagte er sich, starten ja früh.

Er hatte tatsächlich Glück. Ein Traktor, der mit einem Anhänger voll Heu nach Egletons unterwegs war, hielt an.

«Autopanne?«fragte der Fahrer.

«Nein. Ich habe Wochenendurlaub bis Montag früh zum Wecken und will per Anhalter nach Hause. Bin letzte Nacht bis Ussel gekommen und wollte weiter nach Tülle. Da habe ich einen Onkel, der mich im Lastwagen bis Bordeaux mitnehmen kann. Weiter als bis hierher bin ich nicht gekommen. «Er grinste den Fahrer an, der lachend mit den Achseln zuckte.

«Verrückt, nachts in dieser Gegend herumzumarschieren. Nach Dunkelwerden fährt kein Mensch mehr auf dieser Strecke. Klettern Sie auf den Anhänger. Ich bringe Sie bis Egletons, und Sie können versuchen, von da aus weiterzukommen.«

Um Viertel vor sieben rollten sie in die kleine Stadt. Der Schakal dankte dem Bauern, ging um den Bahnhof herum und betrat ein Cafe.

«Gibt es ein Taxi in der Stadt?«fragte er den Mann hinter der Theke.

Der Mann nannte ihm die Telephonnummer, und er rief den Droschkenbetrieb an. Es gab einen Wagen, erfuhr er, der in einer halben Stunde vorfahren könne. Der Schakal benutzte die Wartezeit, um sich in der Herrentoilette des Cafes das Gesicht und die Hände mit kaltem Wasser zu waschen, die Zähne zu putzen und den Anzug zu wechseln.

Das Taxi — ein klappriger alter Renault — kam um 7 Uhr 30.»Kennen Sie das Dorf La Haute Chalonniere?«fragte er den Fahrer,»'türlich.«»Wie weit?«

«Achtzehn Kilometer. «Der Mann deutete mit dem Daumen zum Gebirge hinüber.»Ist da drüben in den Bergen.«

«Fahren Sie mich hin«, sagte der Schakal und hievte sein Gepäck mit Ausnahme eines Koffers, den er mit sich in den Wagen nahm, in die Gepäckablage auf dem Autodach.

Er bestand darauf, sich vor dem Cafe de la Poste auf dem Dorfplatz absetzen zu lassen. Der Taxifahrer aus der nahen Kleinstadt brauchte nicht zu erfahren, daß er zum Chateau wollte. Als das Taxi weggefahren war, schaffte er seine Koffer in das Cafe. Draußen auf dem Dorfplatz, wo zwei vor einen Heuwagen gespannte Ochsen nachdenklich wiederkäuten, während fette schwarze Fliegen ihre sanft dreinblickenden Augen umschwirrten, begann es bereits glühend heiß zu werden.

Im Cafe war es dunkel und kühl. Der Schakal bemerkte, daß sich die Leute an den Tischen nach ihm umwandten. Eine bäuerlich aussehende alte Frau in einem schwarzen Kleid, die eine Gruppe von Landarbeitern bedient hatte, klapperte in Holzpantinen über den Fliesenboden und trat hinter die Theke.»Monsieur?«krächzte sie. Er stellte seine Gepäckstücke ab und beugte sich über die Theke. Die Eingesessenen, das hatte er bemerkt, tranken Rotwein.

«Un gros rouge, s'il vousplatt, madame.«

«Wie weit ist es bis zum Schloß, Madame?«fragte er, als die Frau ihm den Wein eingoß. Sie sah ihn mit ihren listigen schwarzen Knopfaugen scharf an.

«Zwei Kilometer, Monsieur.«

Er seufzte müde.»Dieser Idiot von einem Taxifahrer hat mir doch einzureden versucht, hier gäbe es kein Schloß, und mich auf dem Marktplatz abgesetzt.«

«War er aus Egletons?«fragte sie. Der Schakal nickte.

«Die Leute in Egletons sind Narren«, bemerkte sie.

«Ich muß zum Chateau«, sagte er.

Keiner der Bauern, die rundum an den Tischen saßen und unverwandt herüberblickten, rührte sich. Er zog einen Hundertfrancschein aus der Tasche.

«Wieviel macht der Wein, Madame?«

Die alte Frau betrachtete den Schein mißtrauisch.

«Soviel kann ich nicht wechseln«, sagte sie.

Erhob ratlos die Schultern.»Wenn doch nur jemand mit einem Wagen da wäre, würde der vielleicht auch wechseln können«, sagte er.

Einer der Bauern stand auf und trat an ihn heran.

«Es gibt einen Wagen im Dorf, Monsieur«, sagte er.

Der Schakal drehte sich in gespielter Überraschung um.

«Gehört er Ihnen, mon ami?«

«Nein, Monsieur, aber ich kenne den Mann, dem er gehört. Vielleicht fährt er Sie hinauf.«

Der Schakal nickte nachdenklich, als erwäge er die Vorzüge des Angebots.

«Was trinken Sie inzwischen?«

Der Bauer gab der alten Frau einen Wink. Sie goß ihm ein großes Glas Rotwein ein.

«Und Ihre Freunde? Es ist ein heißer Tag. Ein Tag, der durstig macht.«

Das bartstoppelige Gesicht des Bauern verzog sich zu einem breiten Lächeln. Er nickte der alten Frau nochmals zu, die daraufhin zwei volle Flaschen zu der an dem großen Tisch sitzenden Gruppe hinübertrug.

«Benoit, geh und bring den Wagen her«, befahl der Bauer, und einer der Männer leerte sein Glas in einem Zug und ging hinaus.

Der Vorzug des Landvolks der Auvergne, dachte der Schakal, als er auf dem ratternden und schaukelnden Gefährt die letzten beiden Kilometer zum Schloß hinauf zurücklegte, besteht darin, daß es viel zu abweisend und verschlossen ist, um nicht seinen verdammten Mund zu halten — zumindest Fremden gegenüber.

Colette de la Chalonniere hatte sich im Bett aufgesetzt, um ihren Morgenkaffee auszutrinken und den Brief nochmals zu lesen. Der Ärger, der sie bei dessen erster Lektüre überkommen hatte, war einem verdrossenen Abscheu gewichen.

Sie fragte sich, was in aller Welt sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Nach der gemächlichen Heimfahrt von Gap war sie gestern nachmittag von der alten Ernestine, dem Hausmädchen, das bereits zu Alfreds Vaters Zeiten auf dem Schloß in Diensten stand, und dem Gärtner Louison, einem ehemaligen Bauernjungen, der Ernestine geheiratet hatte, als sie noch die Gehilfin des Hausmädchens war, begrüßt worden.

Die beiden fungierten jetzt praktisch als die Kuratoren des Schlosses, dessen Räume in der Mehrzahl verschlossen und dessen Möbel zum großen Teil mit Schonbezügen bespannt worden waren.

Sie war, darüber gab sie sich keiner Täuschung hin, die Herrin eines leeren Schlosses, in dessen Park keine Kinder mehr spielten und in dessen Hof kein Schloßherr sein Pferd mehr bestieg.

Sie betrachtete nochmals den Ausschnitt aus einem Pariser Modemagazin, den ihr eine Freundin in so rührender Weise zugeschickt hatte; sah ihren darauf abgebildeten Gatten dümmlich ins Blitzlicht lächeln, während sein leerer Blick zwischen der Kameralinse und dem aufreizenden Busen des Starletts, über dessen Schulter er blinzelte, hin und her irrte. Das Mädchen war eine zur Kabarettänzerin avancierte vormalige Bardame, die dem Vernehmen nach gesagt haben sollte, sie hoffe, den Baron, mit dem sie» sehr befreundet «sei,»eines Tages «heiraten zu können.

Während sie sich das faltige Gesicht und den dünnen Hals des alternden Barons auf dem Photo ansah, fragte sie sich, was mit dem gutaussehenden jungen Partisanenhauptmann der Resistance geschehen sein mochte, in den sie sich 1942 verliebt und den sie im Jahr darauf, als sie ein Kind — ihren Sohn — von ihm erwartete, geheiratet hatte.Als sie ihm damals in den Bergen begegnete, war sie ein junges Mädchen von noch nicht zwanzig Jahren gewesen, das für die Resistance Meldungen beförderte. Er war ein unter dem Decknamen» Pegasus «bekannter magerer, habichtgesichtiger, befehlsgewohnter Mann in den Dreißigern gewesen, der sofort ihr Herz gewann. Sie hatte sich in einem als Kapelle hergerichteten Keller von einem der Resistance angehörenden Pfarrer heimlich trauen lassen und ihren Sohn in ihrem Vaterhaus zur Welt gebracht.

Nach dem Krieg wurde ihm dann sein Vermögen und der gesamte Landbesitz wieder zugesprochen. Während des alliierten Vormarsches durch Frankreich war sein Vater einem Herzschlag erlegen, und er kehrte aus der Verbannung zurück, um Baron de la Chalonniere zu werden. Das Bauernvolk hatte ihm begeistert zugejubelt, als er seine junge Frau und seinen Sohn zu sich aufs Schloß holte. Das Leben auf den Besitzungen langweilte ihn jedoch schon bald, und die Lockungen, die Paris bereithielt, wie auch der Drang, sich für die im öden Kolonialdienst und im Untergrund verlorenen Jahre der Jugend und des frühen Mannesalters schadlos zu halten, erwiesen sich als zu stark, als daß er ihnen hätte widerstehen können.

Jetzt war er siebenundfünfzig Jahre alt und sah aus wie siebzig.

Die Baronin warf den Brief und den mitgeschickten Ausschnitt aus dem Magazin auf den Boden. Sie sprang aus dem Bett und stellte sich vor den großen Ankleidespiegel an der gegenüberliegenden Wand und zog die ihren Morgenrock vorn zusammenhaltenden Bänder auf. Dann hob sie sich auf die Zehenspitzen, um die Muskeln ihrer Schenkel so zu straffen, als trüge sie Pumps mit hohen Absätzen.

Nicht schlecht, dachte sie. Könnte jedenfalls viel schlimmer sein. Ich habe das, was man eine füllige Figur nennt — den Körper einer reifen Frau. Die Hüften waren breit, aber die Taille dank unzähliger im Sattel verbrachter Stunden und langer Spaziergänge in den Bergen glücklicherweise schlank geblieben. Sie umfaßte mit jeder Hand eine ihrer Brüste und prüfte deren Gewicht. Sie waren zu groß und zu schwer, um wirklich schön genannt zu werden, vermochten aber einen Mann im Bett durchaus noch zu erregen.

Nun, Alfred, dachte sie, was du dir erlaubst, kannst du mir nicht verbieten. Sie schüttelte den Kopf, um ihr schulterlanges Haar zu lösen, und eine Strähne fiel ihr über Wange und Brust.

Sie nahm ihre Hände vom Busen, ließ sie zwischen ihre Schenkel gleiten und dachte dabei an den Mann, den sie noch vor wenig mehr als vierundzwanzig Stunden dort gespürt hatte. Er war gut gewesen. Sie wünschte jetzt, daß sie in Gap geblieben wäre. Vielleicht hätten sie zusammen Ferien machen und unter falschem Namen im Land umherfahren können wie Liebesleute, die der bürgerlichen Ordnung ihres Lebens zu entfliehen versuchen. Wozu in aller Welt war sie nach Hause zurückgekehrt?

Vom Schloßhof her drang das Rattern eines klapprigen alten Automobils herauf. Sie band sich den Hausmantel zu und trat ans Fenster. Ein Lieferwagen aus dem Dorf stand dort unten, dessen hintere Türen geöffnet waren. Zwei Männer holten etwas aus dem Laderaum. Louison, der eine der ornamental gefaßten Rasenflächen gejätet hatte, trat hinzu, um mit anzupacken. Einer der vom Lieferwagen verdeckten Männer ging jetzt um diesen herum, kletterte auf den Fahrersitz und betätigte die knirschende Kupplung. Wer lieferte Waren aufs Schloß? Sie hatte nichts bestellt. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und sie stieß einen Laut der Überraschung aus. Drei Koffer und eine Reisetasche waren abgeladen worden, und daneben stand ein Mann. Sie erkannte ihn an dem metallischen Glanz des blonden Haars und lächelte freudestrahlend übers ganze Gesicht.

«Du Bestie. Du schöne, primitive Bestie. Du bist mir nachgefahren.«

Sie eilte ins Badezimmer, um sich anzukleiden.

Als sie an die Treppenbrüstung trat, hörte sie von der Halle her Stimmen. Ernestine fragte, was Monsieur wünsche.

«Madame la baronne, elle est la?«

Im nächsten Augenblick kam Ernestine, so schnell ihre alten Beine sie zu tragen vermochten, die Treppe heraufgelaufen.

«Ein Herr fragt nach Ihnen, Madame.«

An jenem Freitag war die allabendliche Besprechung im Innenministerium kürzer als üblich. Zu berichten gab es einzig und allein die Tatsache, daß es nichts zu berichten gab. Im Lauf der letzten vierundzwanzig Stunden war die Beschreibung des gesuchten Wagens den Polizeidienststellen in ganz Frankreich zugeleitet worden, und zwar, um keine Spekulationen hervorzurufen, auf dem in solchen Fällen gemeinhin üblichen Weg. Der Wagen war nicht gesichtet worden. Gleichzeitig hatte jedes Regionalkommando der Police Judiciaire alle örtlichen Kommissariate in den Stadt- und Landkreisen seines Bereichs angewiesen, bis spätestens anderntags 8 Uhr morgens sämtliche Hotelanmeldeformulare ins Regionalkommando zu schaffen. Dort wurden sie umgehend überprüft. Auf keiner der nach Zehntausenden zählenden Anmeldungen tauchte der Name Duggan auf. Er konnte die letzte Nacht daher nicht in einem Hotel verbracht haben, jedenfalls nicht unter diesem Namen.

«Wir müssen von zwei Möglichkeiten ausgehen«, erklärte Lebel einer schweigenden Zuhörerschaf t.»Entweder glaubt er sich noch immer unverdächtig, und seine Abreise vom

Hotel du Cerf war eine vorher nicht geplante Handlung, mit der er dem Anlaufen unserer Aktion rein zufällig zuvorkam. Dann besteht für ihn kein Grund, nicht ungeniert in aller Öffentlichkeit seinen Alfa zu fahren und seelenruhig unter dem Namen Duggan in Hotels abzusteigen. In diesem Fall muß er früher oder später entdeckt werden. Oder aber er hat auf irgendeine Weise Wind davon bekommen, daß wir ihm auf der Spur sind, und sich entschlossen, den Wagen irgendwo stehenzulassen und sich so durchzuschlagen. Sollte das der Fall sein, gibt es wiederum zwei Möglichkeiten.

Entweder er hat keine weiteren Rollen parat, in die er schlüpfen kann; dann kommt er nicht weit, ohne sich in einem Hotel einzuschreiben oder eine Grenzstation zu passieren. Oder er hat eine weitere gefälschte Identität vorbereitet und bereits angenommen. In diesem Fall ist er nach wie vor ungemein gefährlich.«

«Was veranlaßt Sie zu glauben, daß er eine weitere Identität parat haben könnte?«fragte Oberst Rolland.

«Wir müssen davon ausgehen, daß dieser Mann, dem die OAS eine beträchtliche Summe Geldes für die Ausführung des Attentats geboten hat, zu den raffiniertesten Berufsmördern der Welt gehört. Das setzt voraus, daß er Erfahrung besitzt. Dennoch hat er es fertiggebracht, nie mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und in keiner Kriminalakte verzeichnet zu sein.

Das konnte ihm nur gelingen, wenn er seine Aufträge unter falschem Namen und getarnt durch verändertes Äußeres ausführte. Mit anderen Worten, er muß auch in der Verstellung ein Meister sein. Der Vergleich der beiden Photographien beweist uns, daß Calthrop seine Größe durch Tragen von Schuhen mit überhöhten Absätzen verändert, sein Gewicht um einige Kilo reduziert, seine Augenfarbe mittels Kontaktlinsen und seine Haarfarbe durch Färbemittel gewechselt hat, um Duggan zu werden. Und wenn er das einmal gekonnt hat, dürfen wir uns nicht den Luxus leisten, anzunehmen, er könne das nicht ein zweites Mal tun.«»Aber es gibt keinen Grund zur Annahme, daß er damit rechnet, entdeckt zu werden, bevor er in die Nähe des Präsidenten gelangt ist«, wandte Saint Clair ein.»Warum sollte er derart weitgehende Vorsichtsmaßregeln getroffen und eine zweite — oder womöglich noch mehrere — Tarnrollen vorbereitet haben?«

«Weil er ganz offenbar grundsätzlich derart weitgehende Vorsichtsmaßregeln zu treffen pflegt«, sagte Lebel.»Täte er das nicht, hätten wir ihn inzwischen längst gefaßt.«

«Ich entnehme dem uns von den britischen Behörden zugeleiteten Dossier Calthrops, daß er seine Militärpflicht gleich nach dem Krieg in einem Fallschirmjäger-Regiment ableistete. Vielleicht macht er sich seine dort erworbene Erfahrung im Überleben unter härtesten Bedingungen zunutze und hält sich in den Bergen versteckt«, gab Max Fernet zu bedenken.»Vielleicht«, räumte Lebel ein.

«In dem Fall braucht er schwerlich noch als potentielle Gefahr erachtet zu werden.«

Lebel dachte einen Augenblick lang nach.

«Von diesem Mann möchte ich das nicht behauptet haben, ehe er nicht hinter Gittern sitzt«, sagte er dann.

«Oder tot ist«, fügte Rolland hinzu.

«Wenn er auch nur einen Funken Verstand hat«, sagte Saint Clair,»macht er, daß er aus Frankreich herauskommt, solange er noch am Leben ist.«

«Ich wünschte, er täte uns den Gefallen«, bemerkte Lebel, als die Sitzung beendet und er wieder in sein Büro zurückgekehrt war, zu Caron.»Aber ich glaube nicht daran. Einstweilen ist er noch ganz schön lebendig, bei bester Gesundheit, in Freiheit und bewaffnet. Wir suchen weiter nach dem Wagen. Er hat drei Gepäckstücke, und zu Fuß kann er damit nicht weit gekommen sein. Finden Sie mir den Wagen, und wir haben etwas, wovon wir ausgehen können.«

Der Mann, den sie suchten, streckte sich wohlig auf einem frisch bezogenen Bett aus, das im Schlaf gemacht eines Schlosses im Herzen von Correze stand. Er hatte gebadet und sich an einem Mahl von Landpate und Hasenpfeffer gestärkt, zu dem ihm Rotwein, Kaffee und

Cognac serviert worden waren. Den Blick auf die vergoldeten Stukkaturen an der Zimmerdecke gerichtet, erwog er, wie er die jetzt noch bis zum Zeitpunkt des Attentats verbleibenden Tage verbringen konnte. In etwa einer Woche, rechnete er sich aus, würde er aufbrechen müssen. Zwar mochte es sich als nicht so einfach erweisen, von hier wegzukommen. Aber es würde zu schaffen sein. Er mußte sich einen Grund einfallen lassen, um gehen zu können.

Die Tür öffnete sich, und die Baronin trat ins Zimmer. Das gelöste Haar fiel ihr bis über die Schultern, und sie trug einen Hausmantel, der am Hals geschlossen, im übrigen aber von oben bis unten vorn offen war. Im Gehen schlug er einen flüchtigen Augenblick lang auf. Sie war gänzlich nackt darunter, hatte jedoch die langen Seidenstrümpfe und hohen Pumps, die sie beim Essen trug, anbehalten.

Auf den Ellbogen gestützt, richtete sich der Schakal halb auf, während sie die Tür abschloß und an das Bett trat. Stumm sah sie auf ihn hinunter. Er hob die Arme und löste die Samtschleife, mit der ihr Hausmantel am Hals geschlossen war. Der Mantel öffnete sich und enthüllte ihre Brüste. Der Schakal beugte sich vor und streifte ihr den mit einer Spitzenborte versehenen Mantel vollends ab. Geräuschlos glitt der seidene Stoff zu Boden. Sie faßte den Schakal bei den Schultern und stieß ihn aufs Bett zurück. Dann packte sie seine Handgelenke und drückte sie, während sie sich auf ihn hockte, auf die Kissen nieder. Als ihre Schenkel sich mit hartem Druck gegen seine Rippen preßten, starrte er ihr herausfordernd in die Augen, und sie hielt seinem unverwandten Blick lächelnd stand. Ihr langes Haar war nach vorn geglitten und hing bis zu ihren Brustspitzen herab.

«Bon, monprimitif und jetzt wollen wir doch einmal sehen, was du alles kannst.«

Als sie ihr Gesäß von seinem Brustkorb hob, reckte er ihr den Kopf entgegen und schickte sich an, es ihr zu zeigen.

Drei Tage lang war die Spur unauffindbar geblieben, und bei jeder abendlichen Besprechung hatte sich die Meinung, der Schakal habe Frankreich still und heimlich verlassen, mehr und mehr durchgesetzt. Auf der Konferenz vom 19. August war es nur noch Lebel, der weiterhin die Ansicht vertrat, der Killer halte sich noch immer irgendwo in Frankreich verborgen und warte dort ab, bis der richtige Zeitpunkt für ihn gekommen sei.

«Der richtige Zeitpunkt wozu?«höhnte Saint Clair.»Das einzige, worauf er warten kann, wenn er sich tatsächlich noch auf französischem Boden aufhält, ist eine Gelegenheit, in Richtung Grenze zu fliehen. In dem Augenblick, wo er sich aus seinem Versteck hervorwagt, fassen wir ihn. Wenn es stimmt, was Sie vermuten, und er jede Verbindung mit der O AS und ihren Sympathisanten vermeidet, hat er keine Helfer, an die er sich wenden und bei denen er Unterschlupf finden kann.«

Rund um den Tisch erhob sich beifälliges Gemurmel von seilen all derjenigen Konferenzteilnehmer, die zu dem Schluß gekommen waren, daß die Polizei versagt und Bouviers Diktum, die Lokalisierung des Killers sei reine Detektivarbeit, sich als Irrtum erwiesen hatte.

Lebel schüttelte eigensinnig den Kopf. Die unablässige Nervenanspannung, der fortgesetzte Mangel an Schlaf und nicht zuletzt die Notwendigkeit, sich selbst und seinen Stab gegen die ständigen Nadelstiche und Vorwürfe von Männern verteidigen zu müssen, die ihre hohen Posten weniger ihrer einschlägigen Erfahrung als vielmehr ihrer parteipolitischen Richtung verdankten, hatten ihn ermüdet und erschöpft. Er wußte sehr wohl, daß er erledigt war, wenn er sich täuschte. Dafür würden einige von den Männern, die an diesem Tisch saßen, schon sorgen. Und wenn er sich nicht täuschte? Wenn der Schakal es nach wie vor auf den Präsidenten abgesehen hatte? Wenn er durch die Maschen des Netzes schlüpfte und bis zu seinem Opfer vordrang? Es war ihm klar, daß die in dieser Runde Versammelten dann verzweifelt nach einem Prügelknaben suchen würden. Und den würde er abgeben. So oder so war seine Laufbahn als Polizeibeamter zu Ende. Es sei denn — es gelang ihm, den Mann aufzuspüren und an der Tat zu hindern. Natürlich hatte er keine Beweise; nur die merkwürdige innere Gewißheit, mit der er diesen Herren natürlich nicht kommen durfte, daß der Mann, den er jagte, ebenfalls ein Profi war, der seinen Auftrag ausführen würde, koste es, was es wolle.

In den acht Tagen, die er diese Geschichte nun am Hals hatte, war er allmählich dazu gelangt, vor dem Mann mit dem Mördergewehr, der sein Vorhaben bis ins einzelne durchdacht und dabei alle nur denkbaren Eventualitäten eingeplant zu haben schien, eine Art widerwilliger Hochachtung zu empfinden. Dergleichen in diesem Kreis von meist durch politische Ernennungen zu Amt und Würden gelangten Funktionären auch nur anzudeuten, wäre jedoch seinem beruflichen Selbstmord gleichgekommen. Lediglich die Anwesenheit Bouviers, der, den massigen Kopf zwischen die Schultern gezogen, neben ihm saß und vor sich auf die Tischplatte starrte, empfand er als einigermaßen tröstlich. Er war wenigstens auch Detektiv.»Worauf, weiß ich nicht«, entgegnete Lebel.»Aber er wartet auf etwas oder wartet irgend etwas ab, einen bestimmten Tag vielleicht. Ich habe das Gefühl, meine Herren, daß sich das Thema >Schakal< für uns noch nicht erledigt hat. Warum ich dieses Gefühl habe, kann ich freilich selber nicht erklären.«

«Gefühl!«mokierte sich Saint Clair.»Einen bestimmten Tag! Kommissar, Sie lesen offenbar zu viele romantische Abenteuergeschichten. Aber wir haben es nicht mit der Romantik zu tun, sondern mit der Wirklichkeit. Der Mann hat sich aus dem Staub gemacht, mehr gibt es darüber nicht zu sagen. «Er lehnte sich im Sessel zurück und lächelte selbstgewiß.»Hoffentlich haben Sie recht«, sagte Lebel leise.»In diesem Fall darf ich Sie, Monsieur le Ministre, bitten, mich von der Leitung der Ermittlungen zu entbinden und wieder meine normalen kriminalpolizeilichen Obliegenheiten wahrnehmen zu lassen.«

Der Minister sah ihn unschlüssig an.

«Glauben Sie, es hat Sinn, die Ermittlungen fortzusetzen, Kommissar?«fragte er.»Besteht Ihrer Meinung nach noch immer Gefahr?«

«Was die zweite Frage anlangt, so kann ich darauf nur sagen: Ich weiß es nicht. Hinsichtlich der ersten bin ich der Meinung, daß wir mit den Nachforschungen so lange fortfahren sollten, bis wir unserer Sache absolut sicher sind.«

«Also gut. Meine Herren, ich wünsche, daß der Kommissar seine Ermittlungen fortsetzt und wir weiterhin jeden Abend zusammenkommen, um uns von ihm laufend berichten zu lassen — vorerst jedenfalls noch.«

Auf der Jagd nach schädlichem Getier verfolgte Marcange Mallet am Morgen des 20. August als Wildhüter der zwischen Egletons und Ussel im Departement Correze gelegenen Waldungen seines Arbeitgebers eine angeschossene Waldtaube, die in ein dichtes Rhododendrongebüsch gefallen war. In der Mitte des Gebüschs fand er die Waldtaube, die flügelschlagend auf dem Fahrersitz eines Sportwagens hockte, der offenkundig verlassen worden war.

Zunächst hatte er, während er dem Vogel den Hals umdrehte, angenommen, daß der Wagen von einem Liebespaar abgestellt worden war, das entgegen dem Verbotsschild, welches er am achthundert Meter entfernten Eingang zum Forst angenagelt hatte, im Wald picknicken wollte. Dann stellte er jedoch fest, daß einige von den Zweigen, die den Wagen vor der Sicht verbargen, in den Boden hineingesteckt waren. Bei näherer Untersuchung entdeckte er an anderen Rhododendronbüschen, die in der unmittelbaren Umgebung des Fundorts wuchsen, die Stümpfe, von denen die Äste abgeschnitten worden waren. Er mußte scharf hinschauen, um sie zu sehen, denn die weißen Schnittflächen waren sorgfältig mit Erde beschmiert worden, damit sie nicht auffielen.

Dem Vogeldreck auf den Sitzen nach zu urteilen, mußte der Wagen zumindest schon seit ein paar Tagen dort gestanden haben. Der Wildhüter packte die Taube und sein Gewehr, radelte durch den Wald zu seinem Häuschen zurück und nahm sich vor, auf seinem Gang ins Dorf, wo er im Laufe des späteren Vormittags ein paar weitere Kaninchenfallen besorgen wollte, den Gendarmen auf den Wagen hinzuweisen.

Es war fast Mittag, als der Dorfgendarm die Kurbel des in seinem Haus installierten Diensttelephons drehte und an das Kommissariat in Ussel einen mündlichen Bericht des Inhalts durchgab, daß im nahen Wald ein herrenloser Wagen gefunden worden sei. Ob es ein weißer Wagen sei, wurde er befragt. Nein, es war ein blauer Wagen. War es ein italienischer Wagen? Nein, er trug französische Kennzeichen, Fabrikat unbekannt. Gut, sagte die Stimme in Ussel, im Laufe des Nachmittags werde man einen Abschleppwagen schicken. Er möge sich bereithalten, um die Leute an die Fundstätte zu führen, denn gerade jetzt, wo es wegen der Suche nach dem weißen italienischen Sportwagen, die auf Weisung der hohen Herren in Paris im Gang war, so viel Arbeit gab, wurde jeder einzelne Mann dringend gebraucht. Der Dorfgendarm versprach, zur Stelle zu sein, wenn der Abschleppwagen eintraf.

Es war später als 4 Uhr nachmittags geworden, bevor der kleine Wagen auf den Hof des Kommissariats geschleppt wurde, und fast 5 Uhr, ehe einem Autoschlosser der Fahrbereitschaft bei der zur Identifikation vorgenommenen Überprüfung des Wagens auffiel, wie miserabel er lackiert war. Er nahm einen Schraubenzieher und kratzte an der Farbschicht eines Kotflügels. Unter dem Blau erschien ein weißer Streifen. Stutzig geworden, begann er die Nummernschilder zu untersuchen und stellte fest, daß sie offenbar umgedreht worden waren. Wenige Minuten später lag das abgeschraubte vordere Schild auf dem Hof. Die nach oben gekehrte Rückseite zeigte in weißen Lettern die Aufschrift MI-61741, und der Mann von der Fahrbereitschaft rannte zur Wachstube.

Claude Lebel erhielt die Nachricht kurz vor 18 Uhr. Sie kam von Kommissar Valentin vom Regionalkommando der PJ in Clermont-Ferrand, der Hauptstadt der Provinz Auvergne. Lebel war förmlich zusammengefahren, als Valentin zu berichten begann.

«Hören Sie, das ist eminent wichtig. Ich kann Ihnen jetzt nicht erklären warum, sondern nur wiederholen, daß es wichtig ist. Ja, ich weiß, es widerspricht den Vorschriften, aber in diesem Fall liegen die Dinge nun einmal so. Daß Sie regulärer Kommissar sind, weiß ich, mein Bester. Wenn Sie sich meine Befugnis in dieser Sache bestätigen lassen wollen, kann ich Sie sofort mit dem Generaldirektor der PJ verbinden. Also, ich möchte, daß Sie umgehend ein Team nach Ussel 'runterschicken. Die besten Leute, die Sie zusammentrommeln können, und davon so viele wie nur irgend möglich. Beginnen Sie mit den Nachforschungen an dem Punkt, wo der Wagen aufgefunden wurde. Schlagen Sie auf Ihrer Karte einen Kreis um diesen Punkt und bereiten Sie alles für eine planmäßige Durchkämmung des Geländes vor. Befragen Sie jeden Bauern, der regelmäßig die Straße nach Ussel befährt, und holen Sie in jedem Dorfgeschäft, jedem Cafe und in jeder Holzarbeiterhütte Erkundigungen ein.

Ihre Leute suchen einen hochgewachsenen, schlanken Mann, einen gebürtigen Engländer, der aber ausgezeichnet französisch spricht. Er trug drei Koffer und eine Reisetasche. Er hat eine Menge Geld bei sich und ist gut gekleidet, aber es wird ihm vermutlich anzusehen sein, daß er im Freien genächtigt hat.

Ihre Leute sollen fragen, wo er gesehen wurde, wohin er von dort aus gegangen ist, was er kaufen wollte. Oh, und noch etwas — die Presse muß unter allen Umständen ausgeschlossen werden. Was soll das heißen, das geht nicht? Aber natürlich werden die örtlichen Lokalreporter wissen wollen, was los ist. Nun, dann sagen Sie ihnen doch einfach, es sei ein Autounfall passiert, und man glaube, daß einer der Insassen im Schockzustand in der Gegend umherirre. Ja, eine großangelegte Hilfsaktion, meinetwegen. Von mir aus können Sie ihnen sagen, was Sie wollen — Hauptsache, Sie machen sie nicht mißtrauisch. Sagen Sie ihnen auch, daß es jetzt in der Ferienzeit mit über fünfhundert Verkehrsunfällen pro Tag bestimmt keine Story für die oberregionalen Blätter sei. Spielen Sie die Sache herunter, das ist die Hauptsache. Und noch etwas — wenn Sie den Mann irgendwo aufspüren, stellen Sie ihn nur ja nicht. Kreisen Sie ihn lediglich ein und passen Sie auf, daß er nicht entwischt. Ich komme so schnell zu Ihnen 'runter, wie ich kann.«

Lebel legte den Hörer auf und wandte sich an Caron.

«Lassen Sie sich mit dem Minister verbinden und bitten Sie ihn, die Besprechung auf acht Uhr vorzuverlegen.

Ich weiß, das ist die Essenszeit, aber es wird nicht lange dauern. Rufen Sie anschließend in Satory an und lassen Sie den Hubschrauber startklar machen. Diesmal für einen Nachtflug nach Ussel. Und sie sollen uns auf jeden Fall sagen, wo sie zu landen gedenken, damit wir einen Wagen dorthin bestellen können, der mich abholt. Sie werden inzwischen allein hier weitermachen müssen.«

Bei Sonnenuntergang errichteten die motorisierten Polizeieinheiten aus Clermont-Ferrand, verstärkt durch eine Reihe weiterer Einsatzwagen, die Ussel zur Verfügung gestellt hatte, ihr mobiles Hauptquartier auf dem Dorfplatz einer kleinen Ortschaft, die in unmittelbarer Nähe des Waldes lag, in welchem der Wagen aufgefunden worden war. Vom Funkwagen aus gab Valentin Anweisungen an die unzähligen Polizeiautos, die sich in den anderen Dörfern der Umgegend sammelten. Er hatte beschlossen, mit einem Radius von acht Kilometer im Umkreis des Ortes, an dem der Wagen entdeckt wurde, zu beginnen und die Nacht durchzuarbeiten. In den Stunden der Dunkelheit war die Chance, die Leute zu Hause anzutreffen, viel größer. Andererseits bestand durchaus die Möglichkeit, daß sich seine Männer in den unübersichtlichen Tälern und auf den Bergabhängen der Gegend verirrten oder irgendeine Holzfällerbude übersahen, in der sich der Flüchtige versteckt haben mochte. Erschwerend kam ein weiterer Faktor hinzu, den er Paris am Telephon kaum hatte verständlich machen können, auf den er Lebel jedoch — was ihm alles andere als angenehm war — mündlich würde hinweisen müssen. Ohne sein Wissen sollten einige seiner Leute diesen Faktor noch vor Mitternacht zu spüren bekommen. Sie befragten einen Bauern auf dessen etwa drei Kilometer von der Fundstelle des Wagens entfernten Hof.

Der Mann stand im Nachthemd in der Tür und dachte nicht im entferntesten daran, die Detektive hereinzubitten. Die blakende Paraffinlampe in seiner Hand warf ihren flackernden Schein auf die Gruppe.

«Aber Gaston, Sie fahren doch sehr häufig auf dieser Straße zum Markt. Sind Sie auch am Freitagmorgen auf der Straße nach Egletons gefahren?«

Der Bauer kniff leicht die Augen zusammen.

«Schon möglich.«

«Nun, sind Sie gefahren oder nicht?«

«Weiß ich nicht mehr.«

«Haben Sie einen Mann auf der Straße gesehen?«

«Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten.«

«Danach haben wir Sie nicht gefragt. Haben Sie einen Mann gesehen?«

«Ich habe nichts gesehen. Niemanden.«

«Einen blonden Mann. Groß, athletisch. Mit drei Koffern und einer Reisetasche.«

«Ich habe keinen gesehen. J'ai rien vu, tu comprends.«

So ging es zwanzig Minuten lang. Schließlich gaben sie es auf und zogen weiter. Die Hunde rissen knurrend an ihren Ketten und schnappten nach den Hosenbeinen der Detektive, die eiligst einen Schritt zur Seite traten und dabei prompt über den Misthaufen stolperten. Der Bauer sah ihnen nach, bis sie die Straße erreicht hatten und in ihrem Wagen davonfuhren. Dann schloß er die Tür und stieg wieder zu seiner Frau ins Bett.

«Die waren doch sicher wegen des Burschen da, den du neulich mitgenommen hast, stimmt's?«fragte sie.»Was haben sie mit ihm vor?«

«Keine Ahnung«, sagte Gaston.»Aber niemand soll von Gaston Grosjean je behaupten können, daß er mitgeholfen hat, einen anderen ans Messer zu liefern. «Er räusperte sich und spuckte in das verglimmende Feuer. »Sales flics.«

Er schraubte den Docht zurück und blies die Lampe aus, hob die Beine ins Bett und kroch tiefer in die Federn.

«Viel Glück, Kumpel, wo immer du jetzt auch bist.«

Lebel ließ die Papiere sinken und sah auf.

«Meine Herren, sobald die Sitzung zu Ende ist, fliege ich nach Ussel, um die Suchaktion persönlich zu beaufsichtigen.«

Nahezu eine Minute lang herrschte Schweigen.

«Was glauben Sie, Kommissar«, ließ sich der Minister vernehmen,»kann aus alldem geschlossen werden?«

«Zweierlei, Monsieur le Ministre. Wir wissen, daß der Schakal Farbe gekauft haben muß, um den Wagen zu überstreichen. Ich nehme an, die Nachforschungen werden ergeben, daß der Alfa in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag, als er von Gap nach Ussel gefahren wurde, bereits umgestrichen war. Wenn das zutrifft — und entsprechende Erkundigungen werden gegenwärtig angestellt —, steht zu vermuten, daß er gewarnt worden ist. Entweder hat jemand ihn angerufen, oder er seinerseits hat jemanden — hier oder in London — angerufen, der ihn über die Aufdeckung seines Pseudonyms Duggan unterrichtete. Er konnte sich ausrechnen, daß wir ihm bis Mittag auf der Spur sein und die Verfolgung des Wagens aufnehmen würden. Deswegen machte er, daß er wegkam, und das so rasch wie möglich.«

Er hatte das Gefühl, die Zimmerdecke müsse bersten, so lastete das Schweigen.

«Wollen Sie im Ernst andeuten«, fragte jemand wie aus weiter Ferne,»daß aus diesem Raum hier Dinge nach außen gedrungen sind?«

«Behaupten kann ich das nicht, Monsieur«, entgegnete Lebel.»Es gibt Telephonfräulein, Fernschreiberinnen und mittlere und untere Beamte, über welche die Orders weitergegeben werden müssen. Schon möglich, daß sich jemand darunter befindet, der heimlich für die O AS arbeitet. Aber eines scheint mir immer deutlicher zu werden. Er ist über die Aufdeckung seiner Absicht, den Präsidenten zu ermorden, informiert worden und hat sich dennoch entschlossen, nicht aufzugeben. Und er wurde von seiner Demaskierung als Alexander Duggan unterrichtet. Einen einzigen Kontakt hat er immerhin. Ich vermute, daß es der Mann namens Valmy ist, dessen Meldung an die OAS von der DST abgefangen wurde.«»Verdammt«, fluchte der Leiter der DST,»wenn wir den Burschen doch nur im Postamt erwischt hätten.«

«Und wie lautet der zweite Schluß, den wir ziehen können, Kommissar?«fragte der Minister.»Daß er Frankreich, als er erfuhr, Duggan sei aufgeflogen, nicht etwa zu verlassen versucht hat, sondern ganz im Gegenteil ins Zentrum des Landes weitergefahren ist. Mit anderen Worten, er ist von seinem Vorhaben, das Staatsoberhaupt zu ermorden, keineswegs abgerückt. Er hat sich vielmehr entschlossen, es ganz allein mit uns allen aufzunehmen.«

Der Minister erhob sich und raffte seine Papiere zusammen.

«Wir wollen Sie nicht aufhalten, Monsieur le Commissaire. Finden Sie ihn noch heute nacht. Machen Sie ihn unschädlich, wenn es sein muß. Das ist meine Weisung, die ich Ihnen im Namen des Präsidenten erteile.«

Damit verließ er den Konferenzraum.

Eine Stunde später hob Lebels Hubschrauber vom Startplatz in Satory ab und nahm im purpurnen Schein des rasch dunkler werdenden Abendhimmels Kurs nach Süden.»Unverfrorener Bursche. Wagt es, die Dinge so darzustellen, als seien wir, Frankreichs allerhöchste Staatsdiener, schuld daran. Ich werde das selbstverständlich in meinem nächsten Bericht erwähnen.«

Jacqueline streifte die schmalen Träger ihres dünnen Unterhemdchens von den Schultern und ließ den durchsichtigen Stoff auf ihre Hüften hinabgleiten, um die er sich in weichen Falten schmiegte. Sie spannte die Armmuskeln an, damit sich das Tal zwischen ihren Brüsten zu einem tiefen Spalt verengte, und zog den Kopf ihres Liebhabers an ihren Busen.

«Erzähl mir alles«, girrte sie.

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