ELFTES KAPITEL

Kurz vor Mitternacht kam Oberst Saint Clair de Villauban nach Hause. Die letzten drei Stunden hatte er damit verbracht, seinen Bericht über die Besprechung im Innenministerium, den der Generalsekretär anderntags schon am frühen Vormittag auf seinem Arbeitstisch vorfinden sollte, fein säuberlich auf der Maschine zu schreiben. Er hatte sich mit der Formulierung beträchtliche

Mühe gegeben und zwei Entwürfe zerrissen, bevor er daran ging, eigenhändig die Reinschrift der endgültigen Fassung zu tippen. Es irritierte ihn zwar, sich mit der ihm ungewohnten manuellen Tätigkeit des Maschineschreibens abgeben zu müssen, brachte aber den Vorteil mit sich, daß auf diese Weise keine Sekretärin etwas von dem Geheimnis erfuhr- ein Umstand, auf den im Hauptteil seines Berichts hinzuweisen er denn auch nicht versäumt hatte — und das Dokument zudem bereits in aller Frühe vorgelegt werden konnte, was, wie er hoffte, höheren Orts nicht unbemerkt bleiben würde. Mit einigem Glück konnte das Schriftstück schon eine Stunde, nachdem es der Generalsekretär gelesen hatte, auf dem Schreibtisch des Präsidenten liegen, und auch das würde ihm gewiß nicht zum Schaden gereichen.

Er war in der Wahl seiner Worte besonders sorgfältig verfahren, um seine Mißbilligung der Tatsache durchblicken zu lassen, daß eine so gravierende Angelegenheit wie die Sicherheit des Staatsoberhaupts in die Hände eines einzigen Polizeikommissars gelegt worden war, den Ausbildung und Erfahrung doch wohl eher zum Überführen kleiner Gauner und anderer Übeltäter prädestinierten, denen es an Verstand oder Talent oder auch an beidem mangelte.

Es wäre ungeschickt gewesen, allzu deutlich zu werden, denn womöglich fand Lebel seinen Mann sogar. Falls ihm dies jedoch nicht gelang, würde es sich gut ausnehmen, daß es jemanden gab, der alert genug gewesen war, die Klugheit der Wahl Lebels frühzeitig zu bezweifeln.

Während er über den ersten beiden Entwürfen brütete, die er handschriftlich notiert hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß die vorteilhafteste Taktik für ihn die sei, der Ernennung des avancierten Schutzmannes zunächst keinen offenen Widerstand entgegenzusetzen, da sich die Konferenzteilnehmer ohne Einspruch auf ihn geeinigt hatten und er stichhaltige Gründe nennen müßte, wenn er dagegen opponieren wollte, andererseits aber die ganze Unternehmung aus der Sicht und im Auftrag des Präsidialsekretariats aufmerksam zu verfolgen und auf Unzulänglichkeiten der Ermittlung, wann und in welchem Ausmaß auch immer sie sich zeigen sollten, als erster mit gebührendem Ernst hinzuweisen.

Seine Überlegungen, wie er sich am besten über Lebels Vorgehen auf dem laufenden halten könnte, wurden durch Sanguinettis Anruf unterbrochen, der ihn davon unterrichtete, daß der Minister beschlossen habe, unter seinem Vorsitz allabendlich bis auf weiteres Lagebesprechungen abzuhalten, um sich von Lebel über den Fortgang der Aktion informieren zu lassen. Saint Clair war über diese Nachricht hoch erfreut gewesen, hatte sie sein Problem doch für ihn gelöst. Mit einem in den Dienststunden spielend zu bewältigenden Minimalpensum an täglicher Vorbereitung würde er abends in der Lage sein, dem Detektiv unbequeme Fragen zu stellen und den anderen zu beweisen, daß man sich zumindest im Präsidialsekretariat des Ernstes wie der Gefahr der Lage vollauf bewußt war.

Er selbst hielt die Chancen des Mörders, wenn es ihn überhaupt gab, für außerordentlich gering. Die zum Schutz des Präsidenten getroffenen Sicherheitsvorkehrungen waren die wirksamsten der Welt, und zu seinen eigenen Aufgaben im Generalserkretariat gehörte es, die präsidiale Sicherungsgruppe über jedes bevorstehende Erscheinen des Präsidenten in der Öffentlichkeit und die hierfür vorgesehene Route zu unterrichten. Daß dieses engmaschige Netz bis ins letzte durchorganisierter Sicherungsmaßnahmen von einem ausländischen Attentäter durchbrochen werden könnte, erschien ihm so gut wie ausgeschlossen.

Er schloß die Wohnungstür auf und hörte seine Geliebte, die seit kurzem bei ihm zu Hause wohnte, aus dem Schlafzimmer rufen:»Bist du es, cherie?«

«Ja, Liebling. Natürlich bin ich es. Hast du dich einsam gefühlt?«

Angetan mit einem durchsichtigen schwarzen Baby-Doll-Nightie, kam sie ihm aus dem Schlafzimmer entgegengelaufen. Das indirekte Licht der Nachttischlampe konturierte die Kurven ihres jungen Frauenkörpers. Wie immer, wenn er seine Geliebte sah, empfand Raoul Saint Clair außerordentliche Genugtuung darüber, daß sie ihm gehörte und so heftig in ihn verliebt war.

Sie schlang ihre nackten Arme um seinen Hals und küßte ihn lange mit geöffneten Lippen. Er erwiderte ihren Kuß, so gut er konnte, den Attachekoffer und die Abendzeitung noch immer in der Hand.

«Geh schon ins Bett«, sagte er schließlich,»ich komme gleich. «Er gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil, um ihren Abgang zu beschleunigen. Das Mädchen hüpfte ins Schlafzimmer zurück und warf sich auf das Bett, wo sie, die Arme unter dem Nacken verschränkt, die Brüste zu provozierender Modellierung gestrafft, ihre Schenkel spreizte.

Saint Clair betrat das Schlafzimmer ohne seinen Attachekoffer und betrachtete sie zufrieden. Sie erwiderte seinen Blick mit laszivem Grinsen.

In den vierzehn Tagen ihres Beisammenseins hatte sie begriffen, daß nur ein überdeutliches Ausspielen demonstrativster Reize, gepaart mit der Vorspiegelung krudester Sinnlichkeit, seinen saftlosen Lenden zur Lust verhelfen konnte. Insgeheim haßte ihn Jacqueline noch genauso wie an dem Tag, als sie einander erstmals begegnet waren. Aber sie hatte herausgefunden, wie man ihn dazu bringen konnte, seinen Mangel an Männlichkeit mit seiner Redseligkeit, insbesondere was die Bedeutung seiner Stellung im Elysee-Palast anbetraf, zu kompensieren.

«Mach schnell«, flüsterte sie.»Ich will dich. «Saint Clair lächelte ehrlich entzückt und zog sich die Schuhe aus, die er sorgfältig ausgerichtet nebeneinander vor den stummen Diener stellte. Als nächstes folgte das Jackett, wobei er den Inhalt der Taschen auf die Nachttischplatte entleerte. Dann kam die Hose an die Reihe, die pedantisch gefaltet und über den hierfür vorgesehenen Arm des stummen Dieners gehängt wurde. Seine dürren langen Beine sahen unter dem Hemd hervor wie zwei dünne weiße Stricknadeln.

«Was hat dich denn so lange aufgehalten?«fragte Jacqueline.»Ich warte schon seit einer Ewigkeit auf dich.«

Saint Clair warf ihr einen tadelnden Blick zu.»Nichts, worüber du dir das Köpfchen zerbrechen solltest, meine Liebe.«

«Oh, du bist gemein. «Sie spielte die Schmollende, wandte sich abrupt ab und rollte sich, ihm den Rücken zukehrend, mit hochgezogenen Knien zusammen. Seine Finger zerrten am Knoten seiner Krawatte, während er auf das kastanienbraune Haar hinuntersah, das ihr über die Schultern und die vollen Hüften fiel, über die sich das kurze Nightie hinauf geschoben hatte. Nach weiteren fünf Minuten war er endlich soweit, ins Bett zu steigen, und knöpfte sich den mit seinem Monogramm bestickten seidenen Pyjama zu.

Er streckte sich neben ihr auf dem Bett aus und ließ seine Hand von der sanften Mulde ihrer Taille über den Hügel ihrer Hüfte wandern und seine Finger nach der schwellenden Rundung ihrer warmen Gesäßbacke tasten.»Was hast du denn?«»Nichts.«

«Ich dachte, du wolltest geliebt werden.«

«Du sagst mir überhaupt nichts. Ich darf dich ja nicht im Amt anrufen. Ich habe stundenlang hier gelegen und Angst gehabt, daß dir irgend etwas zugestoßen sein könnte. Du bist noch nie so spät heimgekommen, ohne mich anzurufen.«

Sie drehte sich auf den Rücken und blickte zu ihm hinauf. Auf den Ellenbogen gestützt, ließ er seine freie Hand unter ihr Nightie gleiten und begann, eine ihrer Brüste zu kneten.»Hör mal, cherie, ich habe sehr viel zu tun gehabt. Es hat da so etwas wie eine Krise gegeben, die wir in den Griff bekommen mußten, bevor ich weggehen konnte. Ich hätte dich ja angerufen, aber es waren so viele Leute da, die noch arbeiteten. Einige von denen wissen, daß meine Frau verreist ist, und es würde komisch ausgesehen haben, wenn ich über die Vermittlung zu Hause angerufen hätte.«

Sie steckte ihre Hand in den Schlitz seiner Pyjamahose und umfaßte den schlaffen Penis. Ein schwaches Erbeben belohnte sie.»Es gibt überhaupt nichts, was so wichtig wäre, daß du mich nicht anrufen und mir Bescheid sagen könntest, wann du kommst, Liebling. Ich habe mir den ganzen Abend Sorgen gemacht.«

«Nun, dazu ist ja jetzt kein Grund mehr vorhanden. Nun komm schon und mach's mir, du weißt doch, daß ich das gern habe.«

Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und biß ihn ins Ohrläppchen.

Nein, er hat es nicht verdient, dachte sie, jedenfalls jetzt noch nicht. Um ihm eine Lehre zu erteilen, kniff sie in sein mählich härter werdendes Glied. Der Oberst atmete merklich rascher. Er fing an, sie mit offenem Mund zu küssen, während seine Hand erst ihre eine, dann ihre andere Brustwarze so fest massierte, daß sie sich wand.

«Mach's mir«, knurrte er.

Sie beugte sich über ihn und löste die Schnur seiner Pyjamahose. Raoul Saint Clair sah die Mähne kastanienbraunen Haars von ihren Schultern herabgleiten und seinen Bauch einhüllen, ließ sich zurückfallen und seufzte genießerisch.

«Die OAS scheint es noch immer auf den Präsidenten abgesehen zu haben«, sagte er.»Heute nachmittag ist die Verschwörung aufgedeckt worden. Wir mußten uns darum kümmern. Deswegen bin ich so spät gekommen.«

Es machte hörbar» Plopp«, als das Mädchen den Kopf wenige Zentimeter hob.

«Sei nicht albern, Liebling. Die sind doch längst erledigt«, sagte sie und setzte ihre Tätigkeit fort.

«Das sind sie ganz und gar nicht. Sie haben jetzt einen ausländischen Killer engagiert, der ihn umlegen soll. Au, beiß mich nicht,

du.«

Eine halbe Stunde später war Oberst Saint Clair de Villauban eingeschlafen und erholte sich, das Gesicht halb im Kissen vergraben, sanft schnarchend von seinen Anstrengungen. Seine Geliebte lag neben ihm und starrte in der Dunkelheit zur Zimmerdecke hinauf, die dort, wo das Licht von der Straße durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen hereindrang, schwach erhellt wurde.

Sie war entsetzt von dem, was sie gehört hatte. Obschon ihr von einer Verschwörung nichts bekannt gewesen war, konnte sie sich die Folgen von Kowalskys Geständnis selbst ausmalen. Ohne sich zu rühren, wartete sie, bis das Leuchtzifferblatt des Reiseweckers neben dem Bett 2 Uhr anzeigte. Dann stand sie leise auf und zog die Telephonschnur aus der Steckdose im Schlafzimmer.

Bevor sie zur Tür ging, beugte sie sich über den Obersten und war froh, daß er nicht zu den Männern gehörte, die es liebten, ihre Bettgenossin im Schlaf zu umarmen. Er schnarchte noch immer.

Als sie das Schlafzimmer verlassen hatte, schloß sie leise die Tür, ging durch das Wohnzimmer in die Halle und zog auch hier die Tür hinter sich zu. Von dem Apparat aus, der auf dem Tisch in der Halle stand, rief sie eine Molitor-Nummer an. Sie mußte ein paar Minuten warten, bis sich eine verschlafene Stimme meldete. Sie sprach zwei Minuten lang so rasch sie konnte, ließ sich bestätigen, daß sie verstanden worden war, und legte auf. Eine Minute später war sie wieder im Bett und versuchte einzuschlafen.

Im Verlauf der Nacht wurden die Spitzenfunktionäre der Kriminalbehörden fünf westeuropäischer Länder sowie der Vereinigten Staaten und Südafrikas durch Anrufe aus Paris geweckt. Die meisten Kripochefs reagierten gereizt oder verschlafen. In Washington war es 9 Uhr abends, als der Anruf durchkam. Der Leiter der Mordkommission beim FBI befand sich auf einer Dinnerparty. Erst beim dritten Versuch gelang es Caron, ihn an den Apparat zu bekommen. Ihre Unterhaltung wurde durch das aus dem Nebenzimmer hereindringende Stimmengewirr der anderen Gäste beeinträchtigt. Aber der Amerikaner verstand die Botschaft und sagte zu, sich um 2 Uhr morgens (Washingtoner Ortszeit) in der Fernsprechzentrale der FBI-Direktion einzufinden, um mit Kommissar Lebel zu sprechen, der ihn um 8 Uhr morgens (Pariser Ortszeit) von der dortigen Interpol-Zentrale aus anrufen würde.

Die Kripochefs Belgiens, Italiens, Westdeutschlands und Hollands waren offenbar allesamt vorbildliche Familienväter; einer nach dem anderen wurden sie geweckt und erklärten sich bereit, zu der ihnen von Caron vorgeschlagenen Zeit einen Anruf Lebels in einer Sache von außerordentlicher Dringlichkeit entgegenzunehmen.

Der Südafrikaner Van Ruys hielt sich zur Zeit des Anrufs außerhalb der Stadt auf und würde in keinem Fall bei Sonnenaufgang wieder in seinem Amt sein können. Caron ließ sich daher mit Andersen, seinem Stellvertreter, verbinden. Lebel war keineswegs unzufrieden, als er das erfuhr, denn er kannte Andersen recht gut, Van Ruys dagegen überhaupt nicht. Zudem vermutete er, daß Van Ruys' Ernennung aus politischen Gründen erfolgt war, während Andersen sich wie er selbst in der Polizei von unten heraufgedient hatte.

Mr. Anthony Mallinson, Assistant Commissioner (Crime) von Scotland Yard, erreichte der Anruf kurz vor 4 Uhr morgens in seinem Haus in Bexley. Er brummte protestierend, als der neben seinem Bett stehende Apparat klingelte, langte schlaftrunken nach dem Hörer und murmelte:»Mallinson.«

«Mister Anthony Mallinson?«fragte eine Stimme.

«Am Apparat. «Er zuckte mit den Schultern, um den Oberkörper von der Bettdecke zu befreien, und sah auf die Uhr.

«Hier spricht Inspektor Caron von der Sürete Nationale in Paris. Ich rufe Sie im Auftrag Kommissar Lebels an.«

Die Stimme, die ein gutes, wenngleich nicht akzentfreies Englisch sprach, war so deutlich zu verstehen, als handele es sich um ein Ortsgespräch. Um diese Stunde waren die Leitungen kaum belastet. Mallinson runzelte die Brauen. Konnten die Brüder nicht zu einer zivilisierten Zeit anrufen?

«Ja.«

«Ich glaube, Sie kennen Kommissar Lebel, Mister Mallinson.«

Mallinson überlegte einen Augenblick. Lebel? O ja, der rundliche kleine Mann, der die Mordkommission der PJ geleitet hatte. Sah nicht sonderlich beeindruckend aus, hatte aber Resultate vorzuweisen. War vor zwei Jahren in der Sache mit dem ermordeten englischen Touristen verdammt hilfsbereit gewesen. Hätte damals ein gefundenes Fressen für die Presse werden können, wenn der Killer nicht im Handumdrehen von der PJ gefaßt worden wäre.

«Ja, ich kenne Kommissar Lebel«, sagte er.»Was gibt's denn?«Lily, seine Frau, murmelte neben ihm im Schlaf.

«Es handelt sich um eine Sache von äußerster Dringlichkeit, die zudem absolute Diskretion erfordert. Ich bin Kommissar Lebel zugeteilt worden, um ihm bei diesem Fall zu assistieren. Es ist ein ganz ungewöhnlicher Fall. Der Kommissar würde Sie gern heute morgen um 9 Uhr im Yard anrufen. Könnten Sie es vielleicht einrichten, sich zu der Zeit in der Fernsprechzentrale sprechbereit zu halten?«Mallinson dachte einen Augenblick nach.

«Geht es um eine übliche Ermittlungssache unter Einschaltung kooperierender Polizeidienststellen?«Wenn das der Fall war, konnten sie das Interpol-Netz in Anspruch nehmen. Um 9 Uhr war Hochbetrieb im Yard.

«Nein, Mister Mallinson. Es handelt sich um ein persönliches Ansuchen, das Kommissar Lebel an Sie hat. Der Kommissar bittet Sie um Ihre diskrete Hilfe in dieser Sache. Es kann durchaus sein, daß sie Scotland Yard gar nicht betrifft. Falls sich das bewahrheitet, ist es besser, wenn kein offizielles Ansuchen gestellt wurde.«

Mallinson überlegte. Er war von Natur aus ein vorsichtiger Mann und hatte kein Interesse daran, von einer ausländischen Polizeibehörde in eine geheime Ermittlungssache hineingezogen zu werden. Wenn ein Verbrechen begangen worden und der Täter nach Großbritannien entflohen war, sah das schon anders aus. Aber wozu dann die Heimlichtuerei? Plötzlich fiel ihm eine andere Geschichte ein, die vor Jahren passiert war. Man hatte ihn damals ausgeschickt, um die Tochter eines Kabinettsmitgliedes zurückzuholen, die mit einem hübschen jungen Bengel durchgebrannt war. Das Mädchen war noch minderjährig gewesen, so daß eine Klage wegen Entfernung des Kindes aus der elterlichen Obhut hätte erhoben werden können. Aber der Minister hatte die ganze Geschichte so gehandhabt wissen wollen, daß die Presse kein Sterbenswörtchen davon erfuhr. Die italienischen Polizeibehörden waren ungemein kooperativ gewesen, als man das Paar, das sich selbst Romeo und Julia vorspielte, in Verona aufspürte. Na schön,Lebel brauchte ein bißchen Hilfe, die er über den» Old-Boy«-Draht von ihm bekommen konnte. Dazu waren» Old-Boy«-Drähte ja schließlich da.

«Geht in Ordnung. Ich erwarte seinen Anruf. Um 9 Uhr.«

«Haben Sie vielen Dank, Mister Mallinson.«

«Gute Nacht. «Mallinson legte den Hörer auf, stellte den Wecker auf 6 Uhr 30 statt auf 7 Uhr und legte sich wieder schlafen.

Während Paris der Morgendämmerung entgegenschlief, ging ein Schullehrer mittleren Alters ruhelos im engen Wohn-Schlafzim-mer einer muffigen kleinen Junggesellenwohnung auf und ab. Um ihn herum herrschte ein Chaos: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Manuskripte lagen überall auf dem Tisch, den Sesseln und dem Sofa, ja selbst auf der Decke des in einen Alkoven eingebauten schmalen Bettes herum. In einem weiteren Alkoven befand sich ein Spülbecken, in dem schmutziges Geschirr gestapelt war.

Was ihn zu seiner ruhelosen Wanderung trieb, war jedoch nicht der unordentliche Zustand seines Zimmers, denn seit seiner Enthebung vom Posten eines Gymnasialdirektors in Sidi-bel-Abbes und dem Verlust seines schönen Hauses und der beiden Diener, die dazu gehörten, hatte er gelernt, so zu leben, wie er jetzt lebte. Seine Schwierigkeiten waren anderer Art.

Als die Dämmerung über den östlichen Vorstädten anbrach, setzte er sich schließlich und nahm eine der herumliegenden Zeitungen zur Hand. Sein Blick überflog nochmals den Bericht auf der Seite mit den Meldungen aus dem Ausland. Die Überschrift lautete:»OAS-Chefs igeln sich in römischem Hotel ein. «Nachdem er den Artikel ein letztes Mal gelesen hatte, faßte er einen Entschluß, schlüpfte in einen leichten Überzieher, um sich gegen die frühmorgendliche Kühle zu wappnen, und verließ die Wohnung.

Auf dem nahe gelegenen Boulevard hielt er ein Taxi an und ließ sich zur Gare du Nord fahren. Als das Taxi ihn abgesetzt hatte, wartete er, bis es davongefahren war, und entfernte sich dann vom Bahnhof. Er überschritt die Straße und betrat eines der durchgehend geöffneten Cafes. Nachdem er sich einen Kaffee bestellt und eine Telephonmarke hatte geben lassen, suchte er die im hinteren Teil des Raumes befindliche Telephonzelle auf, wählte die Auskunft, die ihn ihrerseits mit der Auslandsauskunft verband. Er fragte nach der Telephonnummer eines Hotels in Rom, erhielt innerhalb von sechzig Sekunden die gewünschte Auskunft, hängte ein und ging.

Weitere hundert Meter vom Bahnhof entfernt, rief er von einem anderen Cafe aus abermals die Auskunft an, diesmal, um sich nach dem nächstgelegenen durchgehend geöffneten Postamt zu erkundigen. Man sagte ihm, daß es sich, wie er angenommen hatte, gleich um die Ecke beim Bahnhof befand.

Auf dem Postamt meldete er ein Gespräch mit der Nummer in Rom an, die man ihm gegeben hatte, vermied es jedoch, das Hotel, um dessen Nummer es sich handelte, beim Namen zu nennen. Er wartete zwanzig Minuten lang, bis die Verbindung hergestellt war.»Ich möchte Signor Poitiers sprechen«, erklärte er der italienischen Stimme am anderen Ende der Leitung. »Signor ehe?« fragte die Stimme. »IISignorfrancesi. Poitiers, Poitiers…«»Che?» wiederholte die Stimme. »Francesi, francesi…« sagte der Mann in Paris. »Ah, si, ilsignor francesi. Momenta, perfavore… « Es klickte ein paarmal, dann meldete sich eine müde Stimme auf französisch. »Ouäi…«

«Hören Sie«, sagte der Mann in Paris beschwörend.»Ich habe nicht viel Zeit. Nehmen Sie Papier und Bleistift und schreiben Sie auf, was ich Ihnen sage. Haben Sie? Also: >Valmy an Poitiers. Der Schakal ist aufgeflogen. Wiederholen Sie: Der Schakal ist aufgeflogen.

Kowalsky wurde geschnappt. Hat gesungen, bevor er starb. Ende.< Haben Sie das?«

«Ouäi«, sagte die Stimme.»Ich gebe es weiter. «Valmy hängte ein, zahlte rasch die Gebühren und verließ eilig das Postamt. Innerhalb einer Minute war in der Menge der Pendler verschwunden, die in diesem Augenblick aus der Bahnhofshalle strömte. Die Sonne stand über dem Horizont und begann das Pflaster und die kühle Morgenluft zu erwärmen.

Zwei Minuten nachdem Valmy gegangen war, fuhr ein Wagen vor dem Postamt vor, und zwei Männer von der DST eilten hinein. Sie ließen sich von dem Beamten in der Telephonvermittlung eine Personenbeschreibung geben, die jedoch auf jedermann gepaßt hätte.

In Rom erwachte Marc Rodin um 7 Uhr 55, als ihn der Mann, der während der Nacht ein Stockwerk tiefer den Dienst am Emfpangstisch versehen hatte, an der Schulter rüttelte. Rodin war sofort hellwach, griff nach der Pistole unter seinem Kopfkissen und wollte mit einem Satz aus dem Bett springen. Dann sah er das Gesicht des Ex-Fremdenlegionärs über sich und atmete erleichtert auf. Ein Blick auf seine Armbanduhr belehrte ihn, daß er ohnedies verschlafen hatte. Nach all den in den Tropen verbrachten Jahren war er es gewohnt, zu einer sehr viel früheren Stunde aufzuwachen, und die römische Augustsonne stand schon hoch über den Dächern. Aber die wochenlange Untätigkeit, der gesteigerte Rotweinkonsum und der Mangel an körperlicher Bewegung hatten ihn träge und schläfrig gemacht.

«Eine Meldung, mon Colonel. Eben hat jemand angerufen. Schien es eilig zu haben.«

Der Legionär reichte ihm einen aus seinem Meldeblock herausgerissenen Zettel, auf dem Valmys Botschaft gekritzelt war. Rodin überflog sie und sprang dann aus dem nur mit einer leichten Decke versehenen Bett. Er hüllte sich in den Sarong, den zu tragen er sich in Indochina angewöhnt hatte, und las Valmys Meldung ein zweites Mal.

«Schon gut. Abtreten. «Der Legionär verließ das Zimmer und begab sich wieder in das daruntergelegene Stockwerk.

Rodin stieß eine Serie stummer Flüche aus und zerknüllte wütend den Zettel in seiner Hand. Ein schwachsinniger Idiot, dieser verdammte Kowalsky!

In den ersten beiden Tagen nach Kowalskys Verschwinden hatte er zunächst angenommen, der Mann sei ganz einfach desertiert. Im gleichen Maß, in dem sich unter den Mannschaften die Überzeugung verbreitete, daß die OAS versagt habe und ihr Ziel, de Gaulle zu beseitigen und die gegenwärtige Regierung Frankreichs zu stürzen, nie erreichen würde, mehrten sich in letzter Zeit die Fälle, in denen OAS-Männer der Sache untreu wurden. Von Kowalsky allerdings hatte er immer angenommen, daß er bis zum letzten Atemzug loyal bleiben würde. Und hier lag nun der Beweis vor, daß er aus irgendeinem unerklärlichen Grund nach Frankreich zurückgekehrt oder auch in Italien ergriffen und nach Frankreich verschleppt worden war. Offenbar hatte er ausgepackt, unter Druck selbstverständlich.

Der Tod seiner Ordonnanz betrübte Rodin aufrichtig. Zu einem nicht geringen Teil beruhte sein Ruf als Truppenoffizier auf der unermüdlichen Fürsorge, die er seinen Untergebenen gegenüber bewiesen hatte. Eine solche Einstellung wird von kämpfenden Soldaten weit mehr anerkannt, als Militärtheoretiker sich das träumen lassen. Nun war Kowalsky tot, und Rodin machte sich über die Art, wie er gestorben war, keine Illusionen.

Weit wichtiger als alles andere war jetzt allerdings die Frage, was genau Kowalsky zu erzählen gehabt hatte. Die Zusammenkunft in Wien, der Name der Pension. Die drei Männer, die an der Besprechung teilgenommen hatten. Das war keine Neuigkeit für den SDECE. Aber was hatte er über den Schakal gewußt? Daß er nicht an der Tür gelauscht hatte, stand fest. Er mochte ihnen von einem hochgewachsenen, blonden Ausländer erzählt haben, der die drei Männer in der Pension aufgesucht hatte. Für sich genommen, besagte das gar nichts. Der Ausländer konnte ebensogut ein Waffenhändler gewesen sein oder ein Geldgeber. Namen waren nicht genannt worden.

Aber Valmys Meldung erwähnte den Decknamen des Schakals. Wie hatte Kowalsky ihnen den nennen können?

Plötzlich fiel Rodin wieder ein, was sich beim Weggang des Schakals abgespielt hatte, und ein tödlicher Schrecken durchzuckte ihn. Er hatte mit dem Engländer in der offenen Tür gestanden, und der Pole, noch immer verstimmt, weil er von dem Engländer im Alkoven entdeckt worden war, ein paar Schritte entfernt auf dem Korridor, auf Ärger gefaßt, ja ihn herbeiwünschend. Und was hatte er, Rodin, gesagt? »Bonsoir, Mister Schakal. «O verflucht, genau das waren seine Worte gewesen. Aber dann fiel ihm ein, daß Kowalsky den Klarnamen des Engländers nie erfahren haben konnte. Er war nur Montclair, Casson und ihm selbst bekannt. Dennoch hatte Valmy recht. Wenn dem SDECE Kowalskys Geständnis vorlag, war der Schaden schon zu groß, als daß er noch hätte repariert werden können. Sie hatten Kenntnis von der Besprechung in Wien, sie wußten den Namen der Pension, und wahrscheinlich hatten sie auch schon mit dem Portier gesprochen. Sie besaßen eine Personenbeschreibung des Mannes und kannten seinen Decknamen. Es konnte keinen Zweifel darüber geben, daß sie erraten würden, was schon Kowalsky erraten hatte — daß der blonde Mann ein Killer war. Von da ab würde das Netz der zum persönlichen Schutz de Gaulles getroffenen Sicherheitsmaßnahmen noch engmaschiger gezogen werden; alle öffentlichen Veranstaltungen, zu denen sein Erscheinen vorgesehen gewesen war,würden abgesagt werden. Er würde den Elysee-Palast nicht mehr verlassen und damit seinem Mörder jede Chance nehmen, ihn zu erwischen. Es war vorbei, die Aktion geplatzt. Er würde den Schakal zurückpfeifen und auf Erstattung des überwiesenen Geldes, abzüglich aller Unkosten und eines Ausfallhonorars für die investierte Zeit und die aufgewendeten Mühen, bestehen müssen.

Eines hatte sofort zu geschehen. Der Schakal mußte dringend gewarnt und veranlaßt werden, die Aktion abzubrechen. Rodin war noch immer Troupier genug, um keinen Mann auf eine Mission zu schicken, für die jede Aussicht auf Erfolg geschwunden war.

Er befahl den Legionär zu sich, dem seit Kowalskys Verschwinden die Aufgabe übertragen worden war, täglich das Hauptpostamt aufzusuchen, um die für Monsieur Poitiers bestimmten Sendungen abzuholen und, wenn nötig, Ferngespräche zu führen. Rodin instruierte den Mann sorgfältig.

Um 9 Uhr war der Legionär auf dem Postamt und meldete ein Ferngespräch mit London an. Es dauerte zwanzig Minuten, bevor das Telephon am anderen Ende der Leitung zu läuten begann. Der Postbeamte wies dem Franzosen eine Zelle zu, in die er das Gespräch gelegt hatte. Der Franzose hob den Hörer ab und lauschte dem jeweils von einer Pause gefolgten zweimaligen kurzen Summerton, mit dem in England eine freie Leitung signalisiert wird, bis sich nach einer Weile automatisch das Besetztzeichen einschaltete.

An diesem Morgen war der Schakal früh aufgestanden, denn er wollte die Vormittagsmaschine nach Brüssel nehmen. Am Abend zuvor hatte er die drei gepackten Koffer nochmals geöffnet und ihren Inhalt auf seine Vollständigkeit überprüft. Nur die Reisetasche war unverschlossen geblieben, weil sie noch seinen Waschbeutel und sein Rasierzeug aufnehmen sollte. Er trank wie immer zwei Tassen Kaffee, duschte und rasierte sich. Dann packte er die restlichen Toilettensachen in die Reisetasche, schloß sie und trug alle vier Gepäckstücke zur Tür.

In der kleinen, modern eingerichteten Küche bereitete er sich ein aus Orangensaft, Rühreiern und weiterem Kaffee bestehendes Frühstück, das er am Küchentisch verzehrte. Ordentlich und methodisch, wie er war, schüttete er die restliche Milch in den Ausguß, schlug die beiden übriggebliebenen Eier auf und leerte sie ebenfalls in den Ausguß. Die Orangendose warf er, nachdem er den letzten Saft ausgetrunken hatte, in den Abfalleimer, und die Eierschalen, der Kaffeesatz sowie der Brotrest wanderten in den Müllschlucker. Nichts von dem, was er zurückließ, würde in der Zeit seiner Abwesenheit verderben.

Schließlich zog er sich an, wobei er sich einen seidenen Sweater mit Rollkragen, den taubengrauen Anzug, in dessen Jackentasche er die auf den Namen Duggan ausgestellten Papiere sowie die 100 Pfund in bar steckte, dunkelgraue Socken und leichte schwarze Mokassins entschied. Die unvermeidliche dunkle Sonnenbrille vervollständigte das Ensemble. Um 9 Uhr 15 nahm er sein Gepäck auf, ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen und ging, in jeder Hand zwei Gepäckstücke, die Treppen hinunter. Bis zur Ecke Adams's Row und South Audley Street, wo er ein Taxi anhielt, waren es nur ein paar Schritte.

Als das Taxi anfuhr, begann in seiner Wohnung das Telephon zu klingeln.

Es war 10 Uhr, als der Legionär in das nahe der Via Condotti gelegene Hotel zurückkehrte, um Rodin zu melden, daß er dreißig Minuten lang versucht habe, mit der Londoner Nummer zu sprechen, aber niemand abgenommen hätte.

«Was gibt's denn?«erkundigte sich Casson, der die Erklärung des Legionärs mitangehört hatte. Die drei OAS-Bosse saßen im Salon ihrer Hotelsuite. Rodin zog ein Stück Papier aus der inneren Brusttasche und reichte es Casson.

Casson las es und reichte es Montclair weiter. Beide Männer sahen ihren Führer fragend an. Schweigend, mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen, starrte Rodin zum Fenster hinaus auf die von gleißendem Sonnenlicht beschienenen Dächer Roms.

«Wann ist das gekommen?«fragte Casson schließlich.

«Heute morgen«, erwiderte Rodin.

«Sie müssen ihn stoppen«, verlangte Montclair.»Die werden halb Frankreich alarmiert haben.«

«Sie werden halb Frankreich wegen eines hochgewachsenen blonden Ausländers alarmiert haben«, bemerkte Rodin gelassen.»Im August halten sich über eine Million Ausländer in Frankreich auf. Soweit wir wissen, haben sie weder einen Namen noch ein Gesicht oder einen Paß, nach dem sie fahnden können. Als Fachmann, der er ist, wird er vermutlich falsche Papiere besitzen. Diehaben ihn noch lange nicht, und es besteht durchaus die Möglichkeit, daß er gewarnt wird, wenn er Valmy anruft. Dann wird er es schon noch schaffen, wieder herauszukommen.«

«Wenn er Valmy anruft, erhält er doch gewiß Anweisung, die Aktion abzubrechen«, meinte Montclair.»Valmy wird sie ihm geben. «Rodin schüttelte den Kopf.

«Dazu ist Valmy nicht befugt. Seine Weisung lautet, Informationen von dem Mädchen zu empfangen und sie dem Schakal weiterzugeben, wenn er von ihm angerufen wird. Genau das wird er tun, und nichts anderes.«

«Aber der Schakal muß sich ja selbst sagen können, daß alles vorbei ist«, wandte Montclair ein.»Sobald er Valmy angerufen hat, wird er machen, daß er aus Frankreich herauskommt.«»Theoretisch schon«, sagte Rodin nachdenklich.»Wenn er das tut, muß er das Geld zurückgeben. Für uns alle, aber auch für ihn, ist der Einsatz sehr hoch. Es hängt davon ab, wieweit er auf seinen eigenen Plan vertraut.«

«Halten Sie es für möglich, daß er noch eine Chance hat — jetzt, wo dies geschehen ist?«fragte Casson.

«Ehrlich gesagt, nein«, sagte Rodin.»Aber er ist ein Spezialist. In gewisser Weise bin ich das auch. Es ist eine Frage der Einstellung, die man hat oder nicht hat. Eine Aktion, die man bis ins letzte selbst geplant hat, bläst man nicht ohne weiteres ab.«

«Dann pfeifen Sie ihn doch, in Gottes Namen, zurück!«protestierte Casson.

«Das kann ich nicht«, erklärte Rodin.»Ich würde es tun, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht. Er ist abgereist. Er ist schon auf dem Weg. Er hat es ja so gewollt, und genauso hat er es jetzt bekommen. Wir wissen nicht, wo er sich aufhält und wie er vorgehen will. Er ist ganz auf sich selbst gestellt. Ich kann noch nicht einmal Valmy anrufen und ihn anweisen, den Schakal zu instruieren, daß die ganze Sache abgeblasen ist. Ich würde Valmy gefährden, wenn ich das täte. Jetzt kann niemand den Schakal mehr aufhalten. Dazu ist es zu spät.«

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