SECHSTES KAPITEL

Der Brief an Viktor Kowalsky traf am folgenden Morgen in Rom ein. Als der hünenhafte Pole vom Postamt zurückkehrte, wo er die an Monsieur Poitiers adressierten Briefe in Empfang genommen hatte, und die Hotelhalle durchschritt, rief ihm einer der Pagen nach: »Signor, per favore…!«

Schroff wie immer, wandte er sich um. Spaghettifresser waren eine Sorte Mensch, die er grundsätzlich nicht zu beachten pflegte. Er übersah sie, wenn er durch die Hotelhalle zum Aufzug stapfte. Der dunkeläugige Junge, der auf ihn zutrat, hielt einen Brief in der Hand.

«E una lettera, signor. Per un Signor Kowalsky. No cognosce questo signor… Eforse un francese…«

Kowalsky verstand kein Wort von dem italienischen Redeschwall, begriff aber den Sinn und vor allem, daß es sein eigener Name war, den der Hotelpage, wenn auch in falscher Aussprache, genannt hatte. Er riß ihm den Brief aus der Hand und starrte auf den in ungelenker Schrift gekritzelten Namen und die Adresse. Kowalsky war unter falschem Namen gemeldet, und da er keine Zeitungen las, wußte er nicht, daß ein Pariser Blatt vor drei

Tagen berichtet hatte, daß die drei ranghöchsten OAS-Führer sich im obersten Stockwerk des Hotels verbarrikadiert hatten.

Was ihn betraf, so hätte niemand wissen sollen, wo er sich aufhielt. Und doch freute er sich über den Brief. Er bekam nur selten Post, und wie die meisten einfachen Leute empfand er die Ankunft eines Briefes als ein größeres Ereignis. Daß unter den im Empfang beschäftigten Hotelangestellten keiner einen Gast dieses Namens kannte und niemand mit dem Brief etwas anzufangen wußte, hatte Kowalsky dem Redeschwall des kleinen Italieners, der jetzt mit treuen Hundeaugen zu ihm aufblickte, als sei er der Hort menschlicher Weisheit und könne das Dilemma lösen, immerhin entnommen. »Bon. Je vais demander«, sagte er gnädig. Der Italiener blickte ihn noch immer fragend an. »Demander, demander«, wiederholte Kowalsky und deutete nach oben. Der Italiener begriff. Ah, si. Domandare, Prego, Signor. Tante grazie…« Kowalsky ließ ihn stehen und fuhr im Lift zum achten Stock hinauf, wo er beim Verlassen des Aufzugs vom in der Rezeption des Stockwerks postierten Wachhabenden mit gezogener Pistole empfangen wurde. Eine Sekunde lang starrten die beiden Männer einander an, dann sicherte der Posten seine Waffe und steckte sie wieder ein. Außer Kowalsky war niemand im Aufzug gewesen. Das Ganze war eine reine Routinesache, die sich jedesmal abspielte, wenn das Licht über der Fahrstuhltür ankündigte, daß der Aufzug höher als bis zum siebenten Stock hinauffahren würde.

Neben dem diensthabenden Mann am Empfangstisch gab es einen weiteren, der die Tür zur Feuerleiter am Ende des Korridors bewachte, und einen dritten, der auf dem Treppenabsatz postiert war. Obschon das Hotelmanagement nichts davon wußte, waren sowohl die Treppe als auch die Feuerleiter mittels Schreckminen gesichert, die nur durch Betätigung eines die Stromzufuhr zu den Zündern regulierenden Schalters unter dem Empfangstisch entschärft werden konnten.

Der vierte Mann hielt auf dem Dach über dem neunten Stock, in dem die Bosse wohnten, Wache. Im Falle eines Überraschungsangriffs würden drei weitere Männer, die Nachtschicht gehabt hatten und jetzt in ihrem Zimmer am Ende des Korridors schliefen, in wenigen Sekunden geweckt und einsatzbereit sein. Die Fahrstuhltür im neunten Stock war von außen zugeschweißt worden, aber sobald das Licht über der des achten Stocks anzeigte, daß der Lift zum neunten hinauffuhr, wurde Alarm geschlagen. Es war nur ein einziges Mal geschehen, und das rein zufällig. Ein Page, der

Drinks heraufbringen wollte, hatte den Knopf» Neun «gedrückt. Die Unart war ihm rasch abgewöhnt worden.

Der Wachhabende am Empfangstisch telephonierte mit dem neunten Stock, um die Ankunft der Post zu melden, und gab Kowalsky ein Zeichen, nach oben zu gehen. Der Ex-Korporal hatte den an ihn gerichteten Brief bereits in seine innere Jackentasche gesteckt, während er die für seine Chefs bestimmte Post in einem an sein linkes Handgelenk geketteten Stahletui trug. Sowohl die Kette als auch der flache Stahlbehälter waren mit Schnappschlössern versehen, zu denen nur Rodin die Schlüssel besaß. Ein paar Minuten später waren beide vom OAS-Chef aufgeschlossen, und Kowalsky kehrte in sein Zimmer zurück, um zu schlafen, bevor er den Wachhabenden am Empfangstisch am späten Nachmittag ablöste.

Auf seinem Zimmer im achten Stock las er schließlich den Brief, wobei er mit der Unterschrift begann. Er war überrascht, daß er von Kovacs sein sollte, den er seit einem Jahr nicht gesehen hatte und der so schlecht schreiben konnte, daß Kowalsky sich mit dem Lesen schwertat. Aber mit einiger Mühe gelang es ihm dann doch, den Brief zu entziffern. Er war nicht lang. Kovacs schrieb, er habe an dem Tag, an dem er diesen Brief abschickte, einen Bericht in der Zeitung gesehen, der ihm von einem Freund vorgelesen worden sei und besagte, daß Rodin, Montclair und Casson sich in dem Hotel in Rom versteckt hielten. Er habe angenommen, sein alter Kumpel Kowalsky würde bei ihnen sein, und daher auf die Möglichkeit hin, ihn auf diesem Weg zu erreichen, den Brief geschrieben.

Es folgten mehrere Sätze des Inhalts, daß die Dinge in Frankreich, wo an jeder Straßenecke flies die Ausweise kontrollierten und noch immer Anweisungen zu neuen Einbrüchen in Juwelierläden kämen, von Tag zu Tag schwieriger würden. Er selbst habe bei vier solcher Überfälle mitgemacht, schrieb Kovacs, und ein Vergnügen sei das, weiß Gott, nicht gewesen, schon deswegen nicht, weil man das ganze Zeug habe abliefern müssen. Da habe er sich in den guten alten Zeiten in Budapest weit besser gestanden, obwohl die nur zwei Wochen gedauert hätten.

Der letzte Satz berichtete davon, daß Kovacs vor einigen Wochen Michael getroffen habe, und Michael habe gesagt, daß er Jo-Jo gesehen habe, die gesagt habe, daß die kleine Sylvie krank sei und Leuko-irgendwas hätte. Jedenfalls hatte es damit zu tun,daß mit ihrem Blut etwas nicht in Ordnung sei, aber er, Kovacs, hoffe, daß sie bald wieder gesund würde, und Viktor solle sich keine Sorgen machen.

Aber Viktor machte sich Sorgen. Der Gedanke daran, daß die kleine Sylvie krank war, beunruhigte ihn sehr. In den sechsunddreißig gewalttätigen Jahren seines Lebens hatte es nicht sonderlich vieles gegeben, was Viktor Kowalsky unter die Haut gegangen war. Als die Deutschen in Polen einmarschierten, war er zwölf Jahre alt gewesen, und ein Jahr älter, als seine Eltern in einem grauen Lastwagen abgeholt wurden — alt genug, um zu wissen, was seine Schwester in dem großen, hinter der Kathedrale gelegenen Hotel tat, das von den Deutschen übernommen worden war und von ihren Offizieren rege besucht wurde. Seine Eltern hatten sich so sehr darüber empört, daß sie sich bei der Dienststelle des Militärbefehlshabers beschwerten. Er war alt genug, sich den Partisanen anzuschließen. Seinen ersten Deutschen hatte er mit fünfzehn getötet. Er war siebzehn Jahre alt, als die Russen kamen, aber seine Eltern hatten sie stets gefürchtet und gehaßt und ihm schaurige Geschichten von dem erzählt, was sie den Polen antaten, und so trennte er sich von der Partisanengruppe, die später auf Befehl des Kommissars exekutiert wurde, schlug sich nach Westen in die Tschechoslowakei durch und landete schließlich in einem Lager für Displaced Persons in Österreich. Man hielt den hochaufgeschossenen, grobknochigen Jungen, der nur Polnisch sprach und vom Hunger geschwächt war, für einen der unzähligen hilflosen Entwurzelten, die ziellos im Nachkriegseuropa umherwanderten. Amerikanische Verpflegung ließ ihn rasch wieder zu Kräften kommen. Eines Nachts im Frühjahr 1946 entwich er aus dem Lager, machte sich per Anhalter auf den Weg nach Italien und von dort in Begleitung eines anderen Polen, den er im DP-Lager kennengelernt hatte und der Französisch sprach, nach Frankreich. In Marseille verübte er einen nächtlichen Ladeneinbruch, brachte den Besitzer um, der ihn überrascht hatte, und war neuerlich auf der Flucht. Sein Kumpan trennte sich von ihm und gab Viktor den Rat, zur Fremdenlegion zu gehen. Er unterschrieb am nächsten Morgen, und noch ehe die polizeilichen Ermittlungen im vom Krieg zerstörten Marseille richtig angelaufen waren, befand er sich in Sidi-bel-Abbes. Marseille war damals noch immer das große Importzentrum für amerikanische Lebensmittel, und dieser Lebensmittel wegen verübte Morde gehörten zur Tagesordnung.

Der Fall wurde binnen kurzem zu den Akten gelegt, weil sich kein der Tat unmittelbar Verdächtiger finden ließ. Kowalsky war damals neunzehn, und die alten Kämpen der Fremdenlegion nannten ihn anfänglich »petit bonhomme«. Dann zeigte er ihnen, wie gut er killen konnte, und von da ab nannten sie ihn Kowalsky.

Sechs Jahre Indochina beseitigten vollends, was in ihm von einer normalen, zivilisierten Maßstäben angepaßten Persönlichkeit übriggeblieben sein mochte, und danach wurde der hünenhafte Korporal nach Algerien versetzt. Zwischendurch schickte man ihn jedoch auf einen sechsmonatigen Waffenlehrgang nach Marseille. Dort lernte er Julie, eine kleine, aber bösartige Hure, die mit ihrem Zuhälter Schwierigkeiten hatte, in einer Hafenbar kennen. Kowalsky beförderte den Mann mit einem einzigen Schlag, der ihn erst zehn Stunden später das Bewußtsein wiedererlangen ließ, sechs Meter weit quer durch den Schankraum. Noch

Jahre danach hatte der Mann Artikulationsschwierigkeiten, so übel war sein Unterkiefer zugerichtet worden.

Julie gefiel der riesenhafte Korporal, und ein paar Monate lang begleitete er sie als ihr ständiger» Beschützer «regelmäßig auf ihrem nächtlichen Heimweg von der Arbeit in ihre schlampige Dachbodenkammer am Vieux Port. Ihre Beziehung bescherte beiden, besonders aber ihr, ein beträchtliches Maß an körperlicher Lust, hatte jedoch mit Liebe nur wenig zu tun; und als sie entdeckte, daß sie schwanger war, noch weniger. Sie behauptete, das Kind sei von ihm, und er mag ihr das geglaubt haben, weil er es glauben wollte. Sie sagte ihm auch, daß sie es nicht haben wolle und eine alte Frau kenne, die es ihr wegmachen würde. Kowalsky schlug sie und drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie das täte. Drei Monate später mußte er nach Algerien zurückkehren. Er hatte sich inzwischen mit einem anderen Exilpolen angefreundet, einem Josef Grzybowski, genannt Jo-Jo, der Pole, der als Invalide aus dem Indochinakrieg gekommen war und sich mit einer lustigen Witwe zusammengetan hatte, die auf dem Hauptbahnhof einen fahrbaren Imbißstand die Bahnsteige hinauf- und hinunterschob. Seit sie 1953 geheiratet hatten, betrieben sie das Geschäft gemeinsam, und Jo-Jo hinkte hinter seiner Frau her, nahm das Geld entgegen und gab Kleingeld heraus, während sie die Snacks austeilte. An seinen freien Abenden suchte Jo-Jo mit Vorliebe die von den Legionären aus den nahen Kasernen frequentierten Kneipen auf, um von den alten Zeiten zu reden. Es waren meist junge Burschen,die man seit seinen längst vergangenen Tagen in Tourane in die Fremdenlegion aufgenommen hatte, aber eines Abends war er auf Kowalsky gestoßen. Und Jo-Jo war es gewesen, den Kowalsky wegen des Babys um Rat gefragt hatte. Jo-Jo hatte ihm den Rücken gestärkt. Schließlich waren sie beide einmal Katholiken gewesen.

«Sie will sich das Kind wegmachen lassen«, sagte Viktor.

«Salope«, sagte Jo-Jo.

«Dreckstück«, pflichtete ihm Viktor bei. Sie tranken weiter und starrten trübe in die Spiegelglasscheibe hinter der Theke.

«Nicht anständig gegen den kleinen Kerl«, meinte Viktor.

«Sauerei«, stimmte ihm Jo-Jo zu.

«Hab' noch nie ein Kind gehabt«, sagte Viktor nach einigem Nachdenken.

«Ich auch nicht, obwohl ich verheiratet bin und alles«, entgegnete Jo-Jo.

Irgendwann lange nach Mitternacht trafen sie eine Abmachung und stießen mit der Ernsthaftigkeit der total Betrunkenen darauf an. Am nächsten Morgen fiel Jo-Jo sein feierliches Versprechen wieder ein, aber er wußte nicht, wie er es Madame beibringen sollte. Er brauchte drei Tage dazu. Ein- oder zweimal redete er vorsichtig um den heißen Brei herum, dann platzte er, als die Dame neben ihm im Bett lag, mit der Sache heraus. Zu seiner Erleichterung war Madame hocherfreut. Und so war denn alles klar.

Viktor kehrte nach Algerien zurück, wo er Major Rodin, der jetzt ein Bataillon befehligte, wieder zugeteilt wurde, und zog mit ihm in einen neuen Krieg. In Marseille überwachten Jo-Jo und seine Frau die schwangere Julie und bedachten sie abwechselnd mit Drohungen und Schmeicheleien. Als Viktor Marseille verließ, war sie bereits im vierten Monat, und wie Jo-Jo dem Zuhälter mit dem gebrochenen Unterkiefer, der sich sehr bald wieder eingefunden hatte, unmißverständlich zu verstehen gab, kam eine Abtreibung nicht mehr in Frage. Der Bursche hatte inzwischen begriffen, daß es nicht ratsam war, sich mit Fremdenlegionären, und sei es auch nur ein Veteran mit einem Holzbein, ernstlich anzulegen; er stieß obszöne Verwünschungen gegen die vormalige Quelle seines Einkommens aus und sah sich anderweitig um.

Ende 1955 gebar Julie ein blauäugiges, goldhaariges Mädchen. Mit Zustimmung der Mutter reichten Jo-Jo und seine Frau einen vorschriftsmäßig ausgefüllten Adoptionsantrag ein, der genehmigt wurde. Julie nahm ihr altes Leben wieder auf, und die Jo-jos hatten eine Tochter. Sie unterrichteten Viktor brieflich, den auf seinem Strohsack in der Kaserne ein seltsames Glücksgefühl überkam. Aber er sprach mit niemandem darüber. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er nie etwas besessen, was ihm nicht, sobald er anderen davon Mitteilung machte, fortgenommen worden war.

Ungeachtet dessen hatte er drei Jahre später, bevor ihn ein langfristiger Kampfauftrag in die algerischen Berge führte, den Vorschlag des Kaplans, sein Testament zu machen, akzeptiert. Von selbst wäre er schon deswegen nie auf die Idee gekommen, weil er in den wenigen dienstfreien Tagen regelmäßig seinen gesamten aufgelaufenen Sold in den Kneipen und Bordellen der Städte auszugeben pflegte, und was er sonst besaß, gehörte der Legion. Aber der Kaplan versicherte ihm, daß es in der heutigen Legion keineswegs unüblich sei, ein Testament zu machen, und mit freundlicher Hilfe des Geistlichen setzte Kowalsky seines auf. Er vermachte seine gesamte bewegliche Habe der Tochter des derzeit in Marseille wohnhaften ehemaligen Fremdenlegionärs Josef Grzybowski. Eine Kopie dieses Dokuments wurde zusammen mit seinen restlichen Personalunterlagen dem Ministerium der bewaffneten Streitkräfte in Paris übersandt und im dortigen Archiv abgelegt. Als Kowalskys Name den französischen Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit den 1961 in Bone und Constantine verübten Terrorakten zur Kenntnis gelangte, wurde seine Personalakte zusammen mit vielen anderen ausgegraben und Oberst Rollands Aktionsdienst übersandt. Ein Besuch bei den Grzybowskis in Marseille folgte, und die Geschichte war heraus. Aber Kowalsky erfuhr nie etwas davon.

Er hatte seine Tochter zweimal in seinem Leben gesehen, das erstemal 1957, als er am Oberschenkel verwundet und auf Genesungsurlaub nach Marseille geschickt worden war, und dann wieder 1960, als er Oberstleutnant Rodin, der als Zeuge bei einer Militärgerichtsverhandlung in Marseille erscheinen mußte, dienstlich begleitete. Beim ersten Besuch war das kleine Mädchen zwei, beim nächsten viereinhalb Jahre alt gewesen. Mit Geschenken für die Jo-Jos und Spielzeug für Sylvie beladen, war Kowalsky angekommen. Das kleine Kind und sein bärenstarker Onkel Viktor hatten sich gut verstanden. Aber er sprach mit niemandem darüber, nicht einmal mit Rodin. Und jetzt hatte sie Leuko-irgendwas, und Kowalsky war den restlichen Vormittag hindurch außerordentlich beunruhigt. Nach dem Mittagessen ging er nach oben, um sich das Stahletui für die Post ans Handgelenk ketten zu lassen. Rodin erwartete einen wichtigen Brief aus Frankreich, der weitere Einzelheiten über die Höhe der Gesamtsumme enthielt, die durch die von Cassons kriminellen Untergrundelementen während des letzten Monats ver-übten Banküberfälle und Einbrüche erbracht worden war, und wollte daher, daß Kowalsky am Nachmittag nochmals zum Postamt ging.

«Was ist Leuko-irgendwas?«brach es unvermittelt aus dem Korporal hervor.

Rodin, der ihm die Kette ans Handgelenk schloß, blickte überrascht auf.

«Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte er.

«Es ist eine Blutkrankheit«, fügte Kowalsky hinzu.

Casson, der in einer anderen Ecke des Hotelzimmers saß und in einem Magazin blätterte, lachte.

«Sie meinen Leukämie«, sagte er.

«Ja. Was ist das, Monsieur?«

«Es ist Krebs«, sagte Casson.»Blutkrebs.«

Kowalsky sah Rodin an. Er traute Zivilisten nicht.

«Aber die Quacksalber können es doch heilen, mon colonel?«

«Nein, Kowalsky, Leukämie ist unheilbar. Da kann man nichts machen. Warum?«

«Ach, nichts«, murmelte Kowalsky,»ich hab' nur so was gelesen.«

Dann ging er. Wenn Rodin überrascht gewesen war, daß sein Leibwächter, von dem niemand angenommen hätte, daß er jemals etwas Komplizierteres als seinen Tagesbefehl durchgelesen hatte, auf ein solches Wort gestoßen sein sollte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken, und der Vorfall geriet bei ihm rasch in Vergessenheit. Denn mit der Nachmittagspost war der erwartete Brief gekommen, der besagte, daß sich das gesamte Guthaben der OAS auf schweizerischen Bankkonten jetzt auf mehr als 250000 Dollar belief.

Rodin war zufrieden, als er sich hinsetzte, um den Banken zu schreiben und die Überweisung des Betrags auf das Konto des gedungenen Killers zu veranlassen. Wegen der restlichen Summe machte er sich keine Sorgen. Wenn Präsident de Gaulle erst einmal tot war, würden die Bankiers und Industriellen der extremen

Rechten, die die OAS in früheren und erfolgreicheren Tagen finanziert hatten, nicht anstehen, ihrerseits die anderen 250000 Dollar beizubringen. Dieselben Leute, die seine dringenden Bitten um einen weiteren Vorschuß noch vor wenigen Wochen mit dem fadenscheinigen Hinweis abgelehnt hatten, der» Mangel an Initiativen und eindrucksvollen Erfolgen«, den die patriotischen Kräfte in den letzten Monaten gezeigt hätten, habe ihre Aussichten, jemals von den bei früheren Gelegenheiten investierten Geldern etwas wiederzusehen, erheblich vermindert — dieselben Leute würden sich um die Ehre reißen, die Militärs, die in Kürze die neuen Herren des wiedergeborenen Frankreich wären, finanziell nach Kräften zu unterstützen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte er die Anweisungen an die Banken aufgesetzt, aber als Casson die von Rodin verfügten Instruktionen las, denen zufolge die schweizerischen Bankhäuser das Geld an den Schakal überweisen sollten, erhob er Einwände. Er machte geltend, daß eine eminent wichtige Zusage, die sie alle drei ihrem Engländer gemacht hatten, darin bestand, ihm einen Kontaktmann in Paris zu nennen, der in der Lage war, ihn mit den jeweils neuesten Informationen über die Aktivitäten des französischen Präsidenten wie auch jede mögliche Änderung der seine Person betreffenden Sicherheitsvorkehrungen zu versorgen. Diese Informationen könnten, ja würden für den Killer von entscheidender Bedeutung sein. Den Schakal zum gegenwärtigen Zeitpunkt von der Überweisung des Geldes in Kenntnis setzen, hieße, so argumentierte Casson, ihn zu vorzeitigem Handeln ermutigen. Wann der Mann zuschlagen wolle, war ausschließlich ihm selbst überlassen, dabei würden ein paar Tage keinen entscheidenden Unterschied machen. Was dagegen sehr wohl den Unterschied zwischen einem Erfolg und einem weiteren, dann aber gewiß letztmaligen Fehlschlag bewirken könne, das seien die dem Killer verfügbaren Informationen.

Er, Casson, habe mit der heutigen Post Nachricht erhalten, daß es seinem wichtigsten Repräsentanten in Paris gelungen sei, einen Agenten in unmittelbare Nähe eines zu de Gaulles engstem Mitarbeiterstab zählenden Mannes zu placieren. Schon in wenigen Tagen würde dieser Agent in der Lage sein, über den jeweiligen Aufenthaltsort, die Reisepläne und jedes vorgesehene öffentliche Auftreten des Generals — über Dinge also, die nicht mehr im voraus angekündigt zu werden pflegten — laufend verläßliche Informationen zu erhalten. Ob Rodin daher seine Instruktionen bitte noch ein paar Tage zurückhalten würde, bis er, Casson in der Lage sei, dem Killer eine Pariser Telephonnummer zu nennen, unter der er die für das Gelingen seines Auftrags so entscheidend wichtigen Informationen erhalten könne?

Rodin ließ sich Cassons Einwände lange durch den Kopf gehen und kam endlich zu dem Schluß, daß er recht habe. Keiner der beiden Männer konnte wissen, wie der Schakal vorzugehen beabsichtigte, und in der Tat würden die Instruktionen an die Schweizer Banken, gefolgt von der Übersendung des Briefs mit der Pariser Telephonnummer nach London, den Killer in keiner Weise zu einer Änderung seines Zeitplans veranlaßt haben. Keiner der Terroristen in Rom konnte ahnen, daß der Schakal den Tag schon festgelegt hatte und seine Vorbereitungen und Absicherungen gegen unvorhergesehene Zufälle mit der Präzision eines Uhrwerks fortsetzte.

Den Colt locker in der geübten Hand, saß Kowalsky, eine hockende bullige Gestalt, die mit dem Schatten des Ventilationsschachts der Klimaanlage verschmolz, in der heißen römischen Nacht auf dem Hoteldach und sorgte sich um ein kleines Mädchen, das mit Leuko-irgendwas in Marseille im Bett lag. Kurz vor Anbruch der Dämmerung kam ihm eine Idee. Er erinnerte sich, daß Jo-Jo, als er ihn das letztemal sah, davon geredet hatte, sich Telephon in seine Wohnung legen zu lassen.

Am gleichen Morgen, an dem Kowalsky seinen Brief bekam, verließ der Schakal das Hotel Amigo in Brüssel und fuhr per Taxi zur Ecke der Straße, in der Goossens wohnte. Er hatte den Büchsenmacher vor dem Frühstück angerufen und sein Kommen für 11 Uhr angekündigt. Um 10 Uhr 30 traf er an der Straßenecke ein und verbrachte eine halbe Stunde damit, auf einer Bank in einer nahen öffentlichen Anlage sitzend, hinter einer aufgeschlagenen Zeitung hervor die Straße zu beobachten.

Sie erschien ihm ruhig genug. Um Punkt 11 Uhr stand er vor der Tür des Büchsenmachers, der ihn einließ und in das vom Korridor abgehende kleine Arbeitszimmer führte. Als der Schakal eingetreten war, schloß Goossens die Haustür ab und legte die Kette vor. Im Büro drehte sich der Schakal zu ihm um.

«Irgendwelche Schwierigkeiten?«fragte er. Der Belgier blickte verlegen drein.

«Nun ja, ich fürchte schon.«

Der Killer sah ihn aus halbgeschlossenen Augen von oben bis unten kalt an.

«Sie sagten mir, wenn ich am 1. August zurückkäme, könnte ich das fertige Gewehr am vierten mitnehmen«, entgegnete er.»Das ist vollkommen richtig«, sagte der Belgier.»Und ich versichere Ihnen, die Schwierigkeit hat nichts mit dem Gewehr zu tun. Das ist fertig, und ich halte es, ehrlich gesagt, für eines meiner Meisterwerke. Schwierigkeiten hat mir der andere Teil des Auftrags bereitet, bei dem ich ganz von vorn anfangen mußte. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Auf der Tischplatte lag ein etwa sechzig Zentimeter langer, fünfundvierzig Zentimeter breiter und zehn Zentimeter hoher Attachekoffer. Goossens öffnete ihn und ließ den Deckel zurückfallen. Der untere Teil des Koffers war in sorgfältig geformte Kästchen gegliedert, deren jedes den Umriß desjenigen Gewehrteils aufwies, den es enthielt.

«Das ist nicht etwa der ursprüngliche Gewehrkasten«, erklärte Goossens.»Der wäre viel zu lang gewesen. Ich habe den Koffer selbst gebaut. Es paßt alles.«

Entlang der oberen Wand des Koffers war der Lauf mit dem Verschluß untergebracht, deren Länge zusammen nicht mehr als fünfundvierzig Zentimeter betrug. Der Schakal hob den Lauf heraus und untersuchte ihn. Er war sehr leicht und sah aus wie der Lauf einer Maschinenpistole. Der Verschluß enthielt einen schmalen Bolzen, der nach rückwärts in einem gerändelten Riegel endete, welcher seinerseits nicht über die Kammer, in die der Bolzen gebettet war, hinausragte.

Der Engländer nahm den gerändelten Riegel zwischen Daumen und Zeigefinger seiner Rechten und drehte ihn ruckartig im Gegenuhrzeigersinn. Der Riegel rastete aus und legte sich nach links. Als der Engländer an ihm zog, glitt er zurück und ließ die schimmernde Kehlung sichtbar werden, in welcher das Geschoß liegen würde, sowie das dunkle Loch am hinteren Ende des Laufs. Er stieß den Riegel wieder nach vorn und drehte ihn jetzt im Uhrzeigersinn. Geschmeidig rastete er ein.

Unmittelbar unter dem rückwärtigen Ende des Bolzens war eine runde Stahlscheibe von etwas mehr als einem Zentimeter Dicke angeschweißt worden, deren Durchmesser zwei Zentimeter betrug. Der obere Teil der Scheibe wies eine halbmondförmige Perforation auf, die dem Bolzen nach hinten freien Durchlaß gewährte. Im Zentrum der Scheibe befand sich ein Loch von etwas mehr als einem Zentimeter Durchmesser, dessen Ränder, offenbar zur Aufnahme einer Schraube, gerillt waren.

«Das dient zur Befestigung der Streben für die Schulterstütze«, sagte der Belgier.

Der Schakal bemerkte, daß außer den Flanschen entlang der Unterseite des Schlosses vom Holzschaft des ursprünglichen Gewehrs nichts mehr geblieben war. Die beiden Löcher, in denen die den Holzteil mit dem Gewehr verbindenden Schrauben gesessen hatten, waren sorgfältig gedichtet und gebläut worden.

Er drehte das Gewehr herum und betrachtete die Unterseite. Unter dem Verschluß befand sich ein schmaler Schlitz, durch den die Unterseite des Bolzens zu sehen war, der die Zündnadel, die das Geschoß abfeuerte, enthielt. Durch beide Schlitze hindurch ragte der Stumpf des Abzugs; er war in Höhe des Verschlußmantels abgesägt worden.

An dem Stumpf befand sich ein angeschweißter Metallknopf, der ebenfalls ein gerilltes Loch aufwies. Schweigend reichte Goossens dem Engländer ein zweieinhalb Zentimeter langes, gekrümmtes und an einem Ende gerilltes Metallstückchen. Der Schakal führte das gerillte Ende in das Loch ein und drehte die Abzugzunge rasch mit Zeigefinger und Daumen fest. Als sie angeschraubt war, ragte sie unterhalb des Verschlusses heraus.

Der Belgier griff in den kofferartigen Behälter, der geöffnet auf dem Tisch lag, und hielt eine einzelne, schmale Stahlstange hoch, die an einem Ende ein Gewinde aufwies.

«Die erste Strebe für die Schulterstütze«, sagte er.

Der Killer paßte das Ende der Stahlstange in das Loch hinten am Verschluß ein und schraubte sie fest. Von der Seite gesehen, ragte die Stange in einem abwärts geneigten Winkel von dreißig Grad rückwärts aus dem Gewehr heraus. Fünf Zentimeter vor ihrem gerillten Ende war sie flach gewalzt und durch die Mitte dieses abgeflachten Teils in schräger Richtung ein Loch gebohrt worden.

Goossens hielt eine zweite Stahlstange hoch.

«Die obere Strebe«, sagte er.

Auch sie wurde eingeschraubt, so daß jetzt beide Streben — die obere in einem flacheren Winkel als die untere — nach hinten aus dem Gewehr herausragten wie ein spitzwinkeliges Dreieck, dem die Basis fehlte. Goossens ergänzte sie. Die Schulterstütze war gekrümmt, etwa fünfzehn Zentimeter lang und üppig mit schwarzem Leder gepolstert. An beiden Enden der Schulterstütze befand sich ein kleines Loch.

«Hier gibt es nichts anzuschrauben«, sagte der Büchsenmacher.»Drücken Sie es nur gegen die Enden der Streben.«

Der Engländer tat es, und die Schulterstütze rastete ein. Von der Seite betrachtet, sah das Gewehr mit Abzug und einem Kolben, dessen Umrisse von den beiden Streben sowie der Schulterstütze gebildet wurden, jetzt viel normaler aus. Der Schakal brachte es in Anschlag, zielte, die linke Hand an der Unterseite des Laufs, den rechten Zeigefinger um den Abzug gekrümmt, auf die gegenüberliegende Wand und drückte durch. Im Verschluß machte es leise» klick«.

Er drehte sich zu dem Belgier um, der in jeder Hand eine etwa fünfundzwanzig Zentimeter lange schwarze Röhre hielt.

«Schalldämpfer«, sagte der Engländer. Er nahm die ihm gereichte Röhre entgegen und betrachtete den mündungsnahen Teil des Laufs, der mit feinen Rillen versehen war. Der Schakal streifte das breitere Ende des Schalldämpfers über den Lauf und schraubte es fest.

Der Schalldämpfer ragte über die Mündung hinaus wie eine lange Wurst. Der Engländer streckte die Hand aus, und Monsieur Goossens reichte ihm das Zielfernrohr.

In Längsrichtung war oben auf dem Lauf eine Anzahl zweibahniger Nuten eingefräst, in welche die gefederten Klammern an der Unterseite des Zielfernrohrs gedrückt wurden, um die parallele Richtung von Lauf und Teleskop zu gewährleisten. Auf der rechten Seite des Zielfernrohrs wie auch oben auf ihm waren winzige Einstellschrauben angebracht, die zum Adjustieren des Fadenkreuzes in der Optik dienten. Wieder hob der Engländer das Gewehr, kniff das linke Auge zu und blinzelte mit dem rechten, zum Schein zielend, durchs Fernrohr. Dem flüchtigen Beobachter mochte er wie ein Gentleman erscheinen, der sich in einem eleganten Waffengeschäft am Piccadilly Square ein neues Jagdgewehr zeigen ließ. Aber was noch vor zehn Minuten eine Anzahl merkwürdig aussehender Einzelteile gewesen war, war kein Jagdgewehr mehr; es war eine weitreichende, schallgedämpfte Mordwaffe. Der Schakal setzte sie ab. Er wandte sich dem Belgier zu und nickte zufrieden.

«Gut«, sagte er.»Sehr gut. Ich beglückwünsche Sie. Eine hervorragende Arbeit. «Goossens strahlte.

«Bleibt noch, die Nulleinstellung vorzunehmen. Außerdem muß ich ein paar Probeschüsse abgeben. Haben Sie Patronen da?«Der Belgier griff in die Tischlade und holte eine Schachtel mit hundert Geschossen heraus. Die Siegel der Schachtel waren aufgebrochen, und sechs Patronen fehlten.

«Ich habe sechs herausgenommen und als Explosionsgeschosse hergerichtet«, sagte der Büchsenmacher.»Der Rest ist zum Üben da.«

Der Schakal nahm die Schachtel, schüttelte eine Handvoll Patronen in seine geöffnete Linke und betrachtete sie. Für die Aufgabe, die einer unter ihnen zugedacht war, erschienen sie fast lachhaft klein, aber er sah, daß sie von der extralangen Sorte dieses Kalibers waren, und wußte, daß die zusätzliche Explosivladung dem Geschoß eine sehr viel höhere Geschwindigkeit und damit erhöhte Zielgenauigkeit und Wirkungsweise verleihen würde. Im Gegensatz zu den meisten auf der Jagd verwendeten Kugeln waren diese Patronen nicht stumpf, sondern zugespitzt und die Patronenköpfe noch dazu nicht wie jene aus Blei, sondern aus einer Kupfer-Nickel-Legierung gegossen. Es waren Schießwettbewerbspatronen vom gleichen Kaliber wie das Jagdgewehr, das er in der Hand hielt.

«Wo sind die richtigen Geschosse?«fragte er. Goossens ging wieder zum Tisch hinüber und holte ein in Seidenpapier gewickeltes Päckchen hervor.

«Normalerweise verwahre ich dergleichen selbstverständlich an einem sicheren Platz«, erklärte er,»aber als Sie mir sagten, Sie kämen, habe ich sie bereitgelegt.«

Er öffnete das Päckchen und schüttete den Inhalt auf seinen weißen Schreibblock. Auf den ersten Blick sahen sie genauso aus wie die Patronen, die der Engländer jetzt wieder in die Pappschachtel zurückschüttete. Als er seine Hand geleert hatte, nahm er eines der auf dem Schreibblock liegenden Geschosse und schaute es sich genauer an.

Vom Kopf der Patrone war die Kupfer-Nickel-Schicht sorgfältig weggeschliffen worden, so daß man an dieser Stelle die Bleifüllung sehen konnte. Die scharfe Geschoßspitze war geringfügig gekürzt und in sie ein winziges, etwa einen halben Zentimeter tiefes Loch gebohrt worden, das der Länge der Geschoßkappe entsprach. In diese Öffnung hatte Goossens ein Tröpfchen Quecksilber gegossen und sie dann mit einem Tropfen flüssigen Bleis verschlossen. Nachdem das Blei erhärtet war, hatte Goossens es ebenfalls so lange zurechtgeschliffen, bis die Geschoßspitze wieder ihre ursprüngliche Form auf wies.

Der Schakal kannte diese Geschosse, hatte selbst jedoch nie Gelegenheit gehabt, eines zu verwenden. Viel zu umständlich in der Herstellung, um in größerer Anzahl benutzt zu werden, von der Genfer Konvention verboten, weil von noch weit verheerenderer Wirkung als das simple Dumdumgeschoß, würde das Explosivgeschoß krepieren wie eine kleine Granate, wenn es den menschlichen Körper traf. Beim Feuern wurde das Quecksilbertröpfchen in seinem Hohlraum durch die Vehemenz des vorwärtsschießenden Projektils in ganz ähnlicher Weise zurückgeschleudert, wie ein Autofahrer durch plötzliche Akzeleration in das Polster seines Sessels gepreßt wird. Sobald das Geschoß auf Fleisch, Knorpel oder Knochen traf, bewirkte die plötzliche Minderung seiner Geschwindigkeit, daß das Quecksilber nach vorn gegen die plombierte Geschoßspitze gepreßt wurde, wobei es das Blei nach außen bog wie die Finger einer gespreizten Hand oder die Blätter einer aufblühenden Blume. In dieser Form würde es sich seinen Weg durch Nerven und Gewebe bahnen und dabei Fragmente seiner selbst in einem Umkreis von der Größe einer Untertasse im Fleisch zurücklassen. Traf es den Kopf, so würde ein solches Projektil nicht aus ihm wieder austreten, sondern alles, was sich in ihm befand, zerreißen und durch den Druck der freigewordenen Energie die Schädeldecke sprengen.

Der Killer legte das Geschoß sorgfältig wieder auf das Seidenpapier zurück. Der sanfte kleine Mann neben ihm sah ihn fragend an.

«Die scheinen mir in Ordnung zu sein. Sie verstehen wirklich etwas von Ihrem Handwerk, Monsieur Goossens. Wo also liegt denn nun die Schwierigkeit, von der Sie sprachen?«

«Ich meinte die Röhren, Monsieur. Die waren viel schwerer anzufertigen, als ich angenommen hatte. Zunächst habe ich Aluminium genommen, wie Sie es vorgeschlagen hatten. Aber verstehen Sie bitte, daß ich zuerst das Gewehr erworben und hergerichtet habe. Deswegen bin ich erst vor ein paar Tagen dazu gekommen, mich mit den anderen Dingen zu befassen. Ich hatte gehofft, es würde relativ einfach sein, mit meiner Erfahrung und den Geräten, die ich in der Werkstatt habe. Um die Röhren so schmal wie möglich anfertigen zu können, habe ich sehr dünnes Metall gekauft. Es war zu dünn. Als ich es in meiner Maschine hatte, um es für die Montage mit Schraubengewinden zu versehen, war es, als hätte ich Silberfolie genommen. Schon unter geringfügigem Druck verlor es jede Form. Um einen Durchmesser zu erhalten, der groß genug war, damit der breiteste Teil des Verschlusses hineinpaßte, hätte ich, sofern ich ein dickeres Metall verwendet hätte, etwas bauen müssen, was nicht so aussieht, wie wir es uns vorgestellt haben. Es würde einfach nicht natürlich gewirkt haben. Deswegen habe ich mich für rostfreien Stahl entschieden. Es war das einzig Mögliche. Er sieht aus wie Aluminium, ist aber etwas schwerer. Da er stärker ist, darf er auch dünner sein. Er hält das Gewinde aus und ist immer noch stark genug, um nicht zu verbiegen. Aber natürlich ist er schwieriger zu bearbeiten, und es dauert etwas länger. Ich habe gestern damit angefangen…«

«Schon gut. Was Sie sagen, klingt logisch. Aber ich brauche die Dinger, und sie müssen einwandfrei sein. Wann kann ich sie haben?«

Der Belgier hob die Schultern.»Das ist schwer zu sagen. Ich habe alle Bestandteile da, es sei denn, es treten noch andere Schwierigkeiten auf. Was ich bezweifle. Ich bin sicher, daß die letzten technischen Schwierigkeiten so gut wie überwunden sind. Fünf Tage, sechs Tage — vielleicht eine Woche…«

Der Engländer ließ sich seine Verstimmung nicht anmerken. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, während er den Ausführungen des Belgiers lauschte.

«Also gut«, sagte er schließlich.»Das bedeutet, daß ich meine Reisepläne abändern muß. Möglicherweise sind die Folgen nicht so katastrophal, wie ich annahm, als ich das letztemal hier war. Das wird bis zu einem gewissen Grad von dem Ergebnis eines Telephongesprächs abhängen, das ich zu führen habe. Auf jeden Fall muß ich mich mit dem Gewehr vertraut machen, und das kann ebensogut in Belgien geschehen. Ich werde es also mitnehmen, dazu die normalen Patronen und eine von den hergerichteten. Was ich brauche, ist eine einsame, abgelegene Gegend, wo mich niemand stört, wenn ich die Waffe über eine Distanz von hundertdreißig bis hundertfünfzig Meter im Freien ausprobiere. Wohin würde man in diesem Land fahren, um entsprechende Bedingungen vorzufinden?«

Goossens überlegte einen Augenblick.»In die Ardennen«, sagte er schließlich.»Es gibt dort ausgedehnte Waldgebiete, wo man stundenlang niemandem begegnet. Sie können an einem Tag dort sein und zurückkommen. Heute ist Donnerstag, morgen fängt das Wochenende an, und möglicherweise gehen die Leute in den Wäldern picknicken. Ich würde Montag, den fünften, vorschlagen. Dienstag oder Mittwoch bin ich dann hoffentlich mit dem Rest fertig. «Der Engländer nickte.

«Einverstanden. Dann nehme ich jetzt das Gewehr und die Munition mit und melde mich am Dienstag oder Mittwoch nächster Woche wieder bei Ihnen.«

Der Belgier schien Einwendungen machen zu wollen, aber sein Kunde kam ihm zuvor.

«Ich glaube, ich schulde Ihnen noch siebenhundert Pfund. Hier«- er ließ ein paar Päckchen gebündelter Banknoten auf den Schreibblock fallen —»sind weitere fünfhundert. Die noch ausstehenden zweihundert Pfund erhalten Sie, sobald Sie mir das restliche Gerät übergeben haben.«

«Merci, monsieur«, sagte der Büchsenmacher und steckte die zwanzig 25-Pfund-Noten ein. Stück für Stück nahm er das Gewehr auseinander und bettete die Einzelteile sorgsam in die mit Flanell ausgeschlagenen Kästen des Attachekoffers. Das Explosivgeschoß, um das der Killer gebeten hatte, wurde in Seidenpapier gewickelt und in das für die Reinigungslappen und — bürsten vorgesehene Fach gelegt. Als der Koffer geschlossen war, reichte er ihn mitsamt der Munitionsschachtel dem Engländer, der die Munition in die Tasche steckte und den Attachekoffer in die Hand nahm.

Höflich geleitete Goossens ihn hinaus.

Der Schakal war rechtzeitig zum Lunch wieder in seinem Hotel. Bevor er in den Speisesaal ging, stellte er den Koffer mit dem zerlegten Gewehr in den Garderobenschrank, schloß ihn ab und steckte den Schlüssel ein.

Am Nachmittag schlenderte er zum Hauptpostamt hinüber und verlangte, mit einer Nummer in Zürich verbunden zu werden. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Verbindung zustande kam, und weitere fünf Minuten, bis Herr Meier an den Apparat geholt worden war. Der Engländer meldete sich, indem er zunächst eine Nummer und dann seinen Namen nannte.

Herr Meier entschuldigte sich für einen Augenblick und war nach zwei Minuten wieder da. Der Tonfall seiner Stimme, der eben noch vorsichtige Zurückhaltung verraten hatte, war wie ausgewechselt. Kunden, deren Guthaben in Dollar und Schweizer Franken stetig wuchs, verdienten mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt zu werden. Der Mann in Brüssel stellte eine Frage, und wiederum entschuldigte sich der schweizerische Bankmanager, um diesmal in weniger als dreißig Sekunden die gewünschte Auskunft: zu geben. Er hatte offenkundig die Bankauszüge und Unterlagen des Kunden aus dem Safe holen lassen und durchgesehen.»Nein, mein Herr«, sagte er.»Wir haben Ihre Anweisung hier vorliegen, daß Sie per LuftpostExpreßbrief unterrichtet zu werden wünschen, sobald neue Einzahlungen erfolgt sind, aber bisher ist in dem von Ihnen genannten Zeitraum nichts überwiesen worden.«

«Danke, Herr Meier. Ich frage nur, weil ich seit zwei Wochen nicht in London war und es für möglich hielt, daß in der Zwischenzeit etwas gekommen sein könnte.«

«Nein, es ist nichts gekommen. Sobald etwas eingezahlt wird, werden wir Sie unverzüglich benachrichtigen.«

Noch ehe der von Herrn Meier geäußerte Schwall guter Wünsche verebbt war, hängte der Schakal ein, erlegte die geforderte Gebühr und ging.

Kurz nach 18 Uhr betrat er die Bar in der Nähe der rue Neuve, wo der Fälscher ihn bereits erwartete. Der Engländer erspähte einen freien Eckplatz und forderte den Fälscher mit einem Kopfnicken auf, sich zu ihm zu setzen.

«Fertig?«fragte er, als der Belgier an seinen Tisch kam.

«Ja, alles fertig. Und beste Arbeit, das muß ich selber sagen.«

Der Engländer streckte die Hand aus.»Zeigen Sie her«, befahl er. Der Belgier zündete sich eine von seinen» Bastos «an und schüttelte den Kopf.

«Bitte begreifen Sie, Monsieur. Hier gibt es zu viele Neugierige. Außerdem brauchen Sie gutes Licht, um sie sich anzusehen, besonders die französischen Karten. Ich habe sie im Studio.«

Der Schakal maß ihn mit einem kalten Blick und nickte dann.

«Gut, also gehen wir dahin, wo wir unter uns sind und ich sie mir genau anschauen kann. «Wenige Minuten später verließen sie die Bar und fuhren im Taxi zur Ecke der Straße, in der sich das Kellerstudio befand. Es war ein warmer Abend, die Sonne schien noch immer, und der Schakal trug wie stets im Freien seine dunkle Sonnenbrille, die wie eine Skibrille große Partien seiner oberen Gesichtshälfte bedeckte und ihn davor schützte, erkannt zu werden.

Die Straße war jedoch so eng, daß kein Sonnenstrahl in sie drang. Ein alter Mann kam ihnen entgegen, aber er war von Gicht gebeugt und schlurfte mit gesenktem Kopf dahin.

Der Fälscher ging vor dem Schakal die Treppe hinunter und schloß die Tür auf. Im Studio war es fast so dunkel, als sei es draußen bereits Nacht. Nur ein paar Streifen trüben Tageslichts sickerten zwischen den an der Innenseite der Scheibe neben der Tür befestigten schaurigen Photos hindurch, so daß der Engländer im Vorraum die Umrisse des Sessels und des Tisches erkennen konnte. Durch den geteilten Samtvorhang ging der Fälscher ihm voran in das Studio und schaltete das Oberlicht ein.

Aus seiner inneren Jackentasche zog er einen braunen Umschlag hervor und breitete den Inhalt auf dem kleinen runden Mahagonitisch aus, der bei Porträtaufnahmen als Requisit diente. Dann trug er das Tischchen in die Mitte des Raums unter die Lampe. Die beiden Scheinwerfer auf der winzigen Bühne an der hinteren Wand des Studios blieben ausgeschaltet.

«Bitte, Monsieur. «Er lächelte breit und deutete auf die drei Ausweise, die auf dem Tisch lagen. Der Engländer nahm den ersten zur Hand und betrachtete ihn unter dem Licht. Es war sein Führerschein. Ein auf die erste Seite geklebter Zettel bekundete, daß Mr. Alexander James Quentin Duggan, wohnhaft in London W. 1., berechtigt sei, innerhalb des Zeitraums vom 10. Dezember 1960 bis zum 9. Dezember 1963 einschließlich Motorfahrzeuge der Gruppen la, Ib, 2, 3, 11, 12 und 13 zu fahren. Darüber war die Nummer des polizeilichen Kennzeichens (eine fiktive Nummer natürlich) angegeben und als ausstellende Behörde das» London County Council «mit dem Zusatz» Road Traffic Act 1960«vermerkt, und ganz oben schließlich stand» Driving Licence «sowie» Fee of 15/- received«. Soweit der Schakal es beurteilen konnte, war es eine perfekte Fälschung; für seine Zwecke jedenfalls schien sie ihm vollkommen ausreichend zu sein. Das zweite Dokument war eine auf den Namen Andre Martin ausgestellte französische Identitätskarte, die das Alter ihres in Colmar geborenen und in Paris wohnhaften Inhabers mit dreiundfünfzig Jahren angab. Um zwanzig Jahre gealtert, mit grauem, bürstenartig geschnittenem, wirrem Haar, starrte ihm aus dem auf eine Ecke der Karte geklebten Photo sein eigenes Gesicht mit leidender Miene entgegen. Die Karte selbst war fleckig und hatte Eselsohren.

Das dritte Exemplar interessierte ihn am meisten. Die Photographie, mit der es versehen war, unterschied sich ein wenig von,derjenigen auf der Identitätskarte, denn das Ausstellungsdatum j beider differierte um einige Monate, weil die Verlängerung, hätte es sich um echte Ausweise gehandelt, vermutlich nicht zum gleichen Datum fällig gewesen wäre.

Das Photo auf dem Ausweis, den er in der Hand hielt, war ebenfalls vor fast zwei Wochen aufgenommen worden, zeigte ihn jedoch in einem dunkleren Hemd und mit der Andeutung eines Stoppelbarts um das Kinn herum. Dieser Effekt war das Resultat geschickter Retuschen, die den Eindruck vermittelten, daß es sich bei den beiden Photographien um zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommene Porträts eines und desselben Mannes in jeweils anderer Bekleidung handelte. In beiden Fällen hatte sich das handwerkliche Können des Fälschers als ausgezeichnet erwiesen. Der Schakal blickte auf und steckte die Ausweise ein.

«Sehr hübsch«, sagte er.»Genau das, was ich suchte. Gratuliere. Wenn ich nicht irre, bekommen Sie noch fünfzig Pfund.«

«Das stimmt, Monsieur. «Der Fälscher lächelte erwartungsvoll.

Der Engländer zog ein einzelnes Päckchen von zehn Fünfpfundnoten aus der Tasche und hielt es ihm mit spitzen Fingern unter die Nase. Bevor er das Bündel losließ, sagte er:»Etwas fehlt noch.«

Der Belgier versuchte vergeblich, so zu tun, als verstände er nicht.

«Monsieur?«

«Die erste Seite des Führerscheins. Die echte, die ich wiederhaben wollte.«

Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß der Fälscher Theater spielte. Er hob die Brauen in übertriebener Überraschung, als sei ihm die Sache eben erst wieder eingefallen, ließ das Päckchen Banknoten los, drehte sich auf dem Absatz um und entfernte sich, die Arme auf dem Rücken, mit gesenktem Kopf, als sei er in tiefes Nachdenken versunken, ein paar Schritte vom Schakal. Dann kehrte er um und kam zurück.

«Ich hatte gedacht, daß wir uns über dieses Papierchen noch ein wenig unterhalten könnten, Monsieur.«

«Ja?«Der fragende Tonfall des Schakals war so unbeteiligt wie sein Gesicht, das keinerlei Gefühlsregung verriet, sein Blick kalt und ausdruckslos.

«Tatsächlich, Monsieur, befindet sich die erste Seite Ihres Führerscheins, auf der Ihr — wie ich annehme — richtiger Name steht, nicht hier im Studio. Oh, bitte, bitte — «er gestikulierte, als ginge es darum, jemanden, der von plötzlicher Angst gepackt war — wovon beim Engländer wahrlich keine Rede sein konnte —, beruhigen zu müssen.»Sie wird an einem absolut sicheren Ort verwahrt, in einer nur mir zugänglichen Kassette im Tresor einer Bank. Sie verstehen, Monsieur, daß ein Mann, der wie ich in einer etwas riskanten Branche tätig ist, gewisse Vorkehrungen treffen und sich absichern muß.«

«Was wollen Sie?«

«Nun, eher monsieur, ich hatte auf Ihre Bereitschaft gehofft, mit mir aufgrund der Tatsache, daß sich besagtes Papierchen in meinem Besitz befindet, einen zusätzlichen Handel auf Basis einer Summe abzuschließen, die allerdings um einiges über der zuletzt hier in diesem Raum erwähnten von hundertfünfzig Pfund liegen würde.«

Der Engländer seufzte leise, als sei ihm die Fähigkeit des Menschen, sich seine eigene Existenz auf dieser Erde durch unnötige Komplikationen zu erschweren, schlechthin unbegreiflich. Ob er den Vorschlag des Belgiers erwog, war ihm nicht anzumerken.

«Sind Sie interessiert?«erkundigte sich der Fälscher artig. Er spielte seine Rolle, als habe er sie sorgfältig einstudiert. Das schlechtkaschierte Angebot, die vermeintlich subtilen Anspielungen erinnerten Schakal an einen zweitklassigen Gangsterfilm.

«Ich habe schon öfter mit Erpressern zu tun gehabt«, sagte er, und es war keine Beschuldigung, sondern eine in sachlichem Tonfall getroffene nüchterne Feststellung.

«Aber Monsieur, ich bitte Sie. Ich bin doch kein Erpresser! Was ich Ihnen vorschlage, ist lediglich ein kleines Zusatzabkommen. Sie erhalten das gesamte Paket für eine bestimmte Summe. Schließlich habe ich nicht nur das Original Ihres Führerscheins, die entwickelten Abzüge und sämtliche Negative Ihrer Photos in meiner Kassette, sondern leider«- er hob bedauernd die Hände —»auch eine weitere Aufnahme von Ihnen, die Sie ohne Ihr Make-up hier in diesem Studio im Scheinwerferlicht zeigt. Ich bin sicher, daß Ihnen diese Dinge, sofern sie in die Hände der britischen oder französischen Behörden gelangten, beträchtliche Schwierigkeiten verursachen dürften. Sie sind offenkundig ein Mann, der sich in der Welt auskennt und zahlt. Aber um die Unannehmlichkeiten des Lebens zu vermeiden…«»Wieviel?«

«Eintausend Pfund, Monsieur.«

Der Engländer erwog den Vorschlag und nickte leichthin, als sei die Angelegenheit für ihn von rein akademischem Interesse.

«Diese Summe wäre es mir schon wert, das Material zurückzubekommen.«

Der Belgier lächelte triumphierend.»Ich bin sehr froh, das zu hören, Monsieur.«

«Aber die Antwort ist nein«, fuhr der Engländer fort, als dächte er noch immer angestrengt nach. Die Augen des Belgiers verengten sich.

«Aber wieso? Ich verstehe nicht. Sie sagten doch, es sei Ihnen tausend Pfund wert, die Sachen zurückzubekommen. Dann ist doch alles klar. Wir beide sind es gewohnt, mit gesuchten Dingen zu handeln und dafür bezahlt zu werden.«

«Aus zwei Gründen«, sagte der Schakal.»Zum einen habe ich keinerlei Beweis dafür, daß von den Negativen der Photos keine Kopien existieren und auf die erste Geldforderung nicht weitere folgen werden. Und zweitens — wer sagt mir, ob Sie das Material nicht einem Freund gegeben haben, der, aufgefordert, es herauszugeben, plötzlich erklärt, er habe es nicht mehr, es sei denn, ich machte weitere eintausend Pfund locker.«

Der Belgier sah erleichtert aus.»Wenn das alles ist, was Sie beunruhigt, dann sind Ihre Befürchtungen grundlos. Zunächst einmal läge es schon deswegen nicht in meinem Interesse, das Material einem Partner anzuvertrauen, weil ich damit rechnen müßte, daß er es nicht wieder herausrückt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich von tausend Pfund trennen, ohne das Material bekommen zu haben. Es gibt also keinen Grund für mich, warum ich es hätte weggeben sollen.

Und was die Möglichkeit weiterer Geldforderungen betrifft, von der Sie sprachen, so besteht sie nicht. Eine Photokopie des Führerscheins würde die britischen Behörden nicht beeindrucken, und selbst wenn man Sie mit einem gefälschten Führerschein erwischte, so würde Ihnen das zwar Unannehmlichkeiten bereiten, aber doch nicht so schwerwiegende, daß es sich, um sie abzuwenden, verlohnte, mir weitere Zahlungen zu leisten. Wenn dagegen die französischen Behörden erführen, daß ein gewisser Engländer sich als der nichtexistente Franzose Andre Martin verkleidet hat, würden sie Sie sicherlich festnehmen, falls Sie unter diesem Namen einreisten. Aber wenn ich tatsächlich mit weiteren Forderungen an Sie herantreten wollte, wäre es für Sie viel sinnvoller, die Ausweise wegzuwerfen und einen anderen Fälscher zu finden, der Ihnen neue anfertigt. Dann brauchten Sie nicht mehr zu befürchten, als Andre Martin in Frankreich verhaftet zu werden, weil Andre Martin zu existieren aufgehört hätte.«»Und warum sollte mir genau das nicht jetzt möglich sein«, fragte der Engländer,»wo es mich doch vermutlich kaum mehr als nochmals hundertfünfzig Pfund kosten dürfte, die Papiere ein zweites Mal anfertigen zu lassen?«

Der Belgier gestikulierte mit beschwörend erhobenen Händen.

«Ich baue darauf, daß Ihnen die Bequemlichkeit und der Zeitfaktor das Geld wert sind. Ich glaube, daß Sie diese Andre-Martin-Papiere und mein Schweigen sehr bald brauchen. So rasch sind neue Papiere nicht zu bekommen und so gute überhaupt nicht. Die, die Sie jetzt haben, sind perfekt. Also brauchen Sie die Papiere und brauchen Sie mein Schweigen, und beides jetzt. Die Papiere haben Sie. Mein Schweigen kostet eintausend Pfund.«

«Also gut, wenn Sie es so darstellen. Aber was veranlaßt Sie zu glauben, ich hätte tausend Pfund hier in Belgien bei mir?«

Der Fälscher lächelte nachsichtig.

«Monsieur, Sie sind ein englischer Gentleman. Das sieht jeder. Und doch wollen Sie sich als französischer Arbeiter mittleren Alters maskieren. Ihr Französisch ist fließend und fast akzentlos. Deswegen habe ich als Geburtsort von Andre Martin Colmar angegeben. Sie wissen, daß Elsässer französisch ähnlich wie Sie mit einem ganz leichten Akzent sprechen. Sie geben sich in Frankreich als Andre Martin aus. Perfekt, eine absolut geniale Idee, kein Zweifel. Wer käme jemals darauf, einen alten Mann wie Martin zu durchsuchen? Also sind Sie, was immer Sie auch vorhaben mögen, ein wichtiger Mann. Vielleicht Rauschgift? Soll in gewissen englischen Kreisen ja heutzutage sehr beliebt sein. Und Marseille ist eine der wichtigsten Umschlagplätze. Oder Diamanten? Was weiß ich? Aber das Geschäft, in dem Sie sind, ist einträglich. Englische Mylords verschwenden nicht mit Taschendiebstählen auf Rennbahnen ihre Zeit. Bitte, Monsieur, hören wir doch auf, uns gegenseitig etwas vorzumachen, hein? Sie rufen Ihre Freunde in London an und bitten sie, Ihnen telegraphisch tausend Pfund auf Ihre hiesige Bank zu überweisen. Dann tauschen wir morgenabend unsere Päckchen aus, und — hopp! — kann es losgehen mit der Reise, was meinen Sie?«

Der Engländer nickte mehrmals wie in schmerzlicher Rückschau auf ein Leben voller Irrtümer. Plötzlich hob er den Kopf und lächelte den Belgier freundlich an. Es war das erste Mal, daß der Fälscher ihn lächeln sah, und er fühlte sich ungemein erleichtert, daß dieser ruhige Engländer die Sache so gelassen nahm. Das übliche sich Drehen und Wenden, die Suche nach einem Ausweg, nun ja. Aber kein wirklich schwieriger Fall. Der Mann hatte schließlich doch noch gespurt.

«Also gut«, sagte der Engländer,»ich gebe mich geschlagen. Bis morgen mittag kann ich mir tausend Pfund kommen lassen. Aber ich stelle eine Bedingung.«

«Bedingung?«Der Belgier war sofort wieder mißtrauisch.

«Wir treffen uns nicht hier.«

Der Fälscher war überrascht.»Was haben Sie gegen dieses Studio einzuwenden? Es ist ruhig und abgelegen…«

«Ich habe eine ganze Menge gegen dieses Studio einzuwenden«, entgegnete der Engländer.»Sie haben mir gerade erzählt, daß Sie hier in diesem Raum heimlich ein Photo von mir gemacht haben. Ich lege keinen Wert darauf, daß unsere morgige kleine Übergabezeremonie von dem leisen Klicken einer Kamera unterbrochen wird, mit der sich einer Ihrer Freunde rücksichtsvollerweise hier irgendwo versteckt hält…«

Sichtbar erleichtert, lachte der Belgier laut auf.

«Da brauchen Sie keine Angst zu haben, cher ami. Dieser Laden gehört mir, und niemand kommt hierher, den ich nicht dazu aufgefordert habe. Ich muß da sehr vorsichtig sein, verstehen Sie, sehr diskret, denn ich betreibe hier noch ein Nebengeschäft mit Photos für die Touristen, wenn Sie wissen, was ich meine. Sehr gefragt übrigens, diese Arbeit, aber doch nicht ganz das Genre, das für ein Studio an der Grande Place geeignet ist…«

Mit Daumen und Zeigefinger ein O formend, hob er die linke Hand und bewegte den durch die kreisförmige Öffnung gesteckten Zeigefinger seiner Rechten mehrfach hin und her.

Der Engländer zwinkerte, grinste dann breit und fing schließlich an zu lachen. Der Belgier lachte ebenfalls über den Witz. Der Engländer klatschte dem Belgier auf die Oberarme, und seine Finger, die sich um deren Muskeln legten, packten unvermittelt stahlhart zu und hielten den Belgier, der weiter die obszöne Geste vollführte, fest im Griff. Der Fälscher lachte noch immer, als er einen fürchterlichen Schmerz in seinen Genitalien verspürte.

Ruckartig schnellte sein Kopf nach vorn, während seine Hände, die mitten in ihrer Pantomime erstarrt waren, zu den zerquetschten Hoden hinabfuhren, in die der Mann, der ihn mit eisernem Griff gepackt hielt, sein rechtes Knie gerammt hatte. Sein Lächeln wurde zu einem Schreien, einem Gurgeln, einem Röcheln. Halb bewußtlos, sackte er in die Knie und versuchte dann, sich vornüber fallen und auf die Seite rollen zu lassen. Er krümmte sich vor Schmerzen.

Der Schakal beugte sich rittlings über den Rücken der zusammengesunkenen Gestalt, ließ seinen rechten Arm um den Hals des Belgiers gleiten, packte mit der rechten Hand den eigenen linken Oberarm, während seine Linke sich um den Hinterkopf des Fälschers legte.

Mit einem kurzen, harten Ruck drehte er ihm den Hals seitlich nach hinten um. Das Knirschen, mit dem die Wirbelsäule brach, war vermutlich nicht sehr laut, aber in der Stille des Studios klang es, als krache ein Schuß aus einer kleinen Pistole. Der Körper des Fälschers bäumte sich ein letztes Mal auf und sackte dann in sich zusammen wie eine Stoffpuppe. Der Schakal hielt ihn noch einen Augenblick in seinem Griff fest, bevor er ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Boden fallen ließ. Der Kopf des Toten drehte sich zur Seite, und zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen stand die fast durchgebissene Zunge leicht hervor, während die starren Augen auf das verschlissene Muster des Linoleumfußbodens gerichtet und die Hände noch immer um das Genital gekrallt waren. Der Engländer ging rasch zu den Vorhängen hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie gänzlich zugezogen waren, und kehrte dann zu der Leiche zurück. Er drehte sie herum, tastete die Taschen des Fälschers ab und fand die Schlüssel schließlich in dessen rechter Hosentasche. In der hinteren Ecke des Studios stand die große Kiste mit den Requisiten und Schminkkästen. Der vierte Schlüssel, mit dem er sie zu öffnen versuchte, paßte endlich, und er verbrachte zehn Minuten damit, die Kiste zu leeren und den Inhalt in unordentlichen Haufen auf dem Fußboden aufzutürmen.

Dann packte er die Leiche des Fälschers unter den Achseln und schleifte sie zur Kiste hinüber. Sie ging bequem hinein, weil sich ihre Glieder leicht krümmen und den Begrenzungen der Kiste anpassen ließen. In wenigen Stunden würde der Rigor mortis einsetzen und die Leiche in der jetzt auf dem Boden der Kiste eingenommenen Position erstarren lassen. Dann begann der Schakal, die Gegenstände, die er herausgeholt hatte, wieder in die Kiste zurückzulegen. Perücken, Damenunterwäsche, Toupets und was sonst noch weich und nicht sperrig war, stopfte er in die zwischen den Gliedern verbliebenen Hohlräume. Obenauf packte er die Make-up-Pinsel und Schminktöpfe, und zum Abschluß folgte eine aus den restlichen Cremetuben, mehreren Paaren schwarzer Netzstrümpfe, zwei Negligees und einem Morgenmantel bestehende Schicht, welche die Leiche vollständig bedeckte und die Kiste bis zum Rand füllte. Der Schakal mußte ein bißchen nachdrücken, um den Deckel zu schließen, aber dann rastete das Schloß ein.

Er hatte seine Hand mit einem aus der Kiste stammenden Stofffetzen umwickelt, bevor er die Flakons und Schminktöpfe anfaßte, und zog jetzt sein eigenes Taschentuch hervor, um damit das Schloß und die Außenflächen der Kiste abzuwischen. Dann steckte er das Bündel Fünfpfundnoten ein, das auf dem Tisch liegengeblieben war, wischte auch diesen ab und stellte ihn wieder dorthin an die Wand zurück, wo er gestanden hatte, als er gekommen war. Schließlich schaltete er das Licht aus und setzte sich in einen der an der Wand stehenden Sessel, um den Anbruch der Dunkelheit abzuwarten. Nach ein paar Minuten holte er seine Zigarettenschachtel hervor, steckte sich eine Zigarette an und deponierte die restlichen zehn in eine der Seitentaschen seines Jacketts, um die Schachtel als Aschenbecher zu benutzen und den aufgerauchten Stummel darin zu verwahren.

Er gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß das Verschwinden des Fälschers nicht allzu lange unentdeckt bleiben würde, hielt es jedoch für wahrscheinlich, daß ein Mann wie der Belgier periodisch in den Untergrund oder auf Reisen gehen mußte. Wenn es einigen seiner Freunde auffiel, daß er sich in den Kneipen und Bars, in denen er normalerweise anzutreffen war, nicht mehr blicken ließ, so würden sie es vermutlich diesem Umstand zuschreiben. Nach einer gewissen Zeit mochte eine Suche beginnen, an der sich vor allem Leute beteiligen würden, die mit dem Fälscherhandwerk oder dem Pornogeschäft zu tun hatten. Möglicherweise kannten einige von ihnen das Studio und würden sich dorthin begeben, um die Tür verschlossen zu finden. Wer in das Studio eindrang, mußte es durchsuchen, das Vorhängeschloß der Kiste erbrechen und sie leeren müssen, bevor er die Leiche entdeckte.

Ein Mitglied der Unterwelt, das dies täte, würde — so vermute-tete der Schakal — in der Annahme, daß der Fälscher mit einem Gangsterboß aneinandergeraten sei, der Polizei die Angelegenheit nicht melden. Kein manischer Pornoliebhaber würde nach einem im Affekt der Leidenschaft begangenen Mord die Leiche so sorgfältig versteckt haben. Aber irgendwann müßte es die Polizei erfahren. Zu dem Zeitpunkt würde zweifellos ein Photo veröffentlicht werden und der Barmixer sich vermutlich daran erinnern, daß der Fälscher seine Bar am Abend des 1. August in Begleitung eines hochgewachsenen blonden Mannes verlassen hatte, der einen Glencheck-Anzug und dunkle Augengläser trug. Aber es war höchst unwahrscheinlich, daß in den kommenden Monaten irgend jemand die Kassette des Ermordeten untersuchen würde, selbst wenn er sie unter seinem eigenen Namen registriert haben sollte.

Er hatte mit dem Barmixer kein Wort gesprochen, und die Bestellung der beiden Biere bei dem Ober derselben Bar war zwei Wochen zuvor erfolgt. Der Kellner würde schon ein phänomenales Gedächtnis haben müssen, wenn er sich an den kaum merklichen ausländischen Akzent erinnern wollte, mit dem sie ausgesprochen worden war. Die Polizei würde eine routinemäßige Fahndung nach dem blonden Mann veranstalten, aber selbst wenn sie dabei auf den Namen Alexander Duggan stieße, hätte sie den Schakal damit noch lange nicht gefunden. Nach sorgfältigem Abwägen aller kalkulierbaren Umstände kam er zu dem Schluß, daß ihm mindestens ein Monat Zeit verblieb, und mehr brauchte er ohnehin nicht.

Die Tötung des Fälschers war so beiläufig geschehen wie das Zertreten eines Kakerlaken. Der Schakal rauchte entspannt eine zweite Zigarette und schaute hinaus. Es war 21 Uhr 30, und über die enge Straße hatte sich tiefe Dunkelheit gesenkt. Leise verließ er das Studio und schloß die äußere Tür hinter sich ab. Niemand begegnete ihm, als er rasch die Straße hinunterging. Etwa einen Kilometer vom Studio entfernt, ließ er die Schlüssel in ein Siel fallen und hörte sie in einigen Metern Tiefe auf das Kanalisationswasser klatschen. Er kehrte in sein Hotel zurück, wo er ein spätes Abendessen einnahm.

Den nächsten Tag — es war Freitag — verbrachte er mit Einkäufen in den Arbeitervororten Brüssels. In einem auf Camping-Ausrüstungsartikel spezialisierten Geschäft erstand er ein Paar Wanderstiefel, lange Wollsocken, eine grobe Drillichhose, ein gewürfeltes wollenes Holzfällerhemd und einen Rucksack. Unter seinen anderen Erwerbungen befanden sich mehrere Lagen von dünnem Schaumgummi, ein Einkaufsnetz, ein Bindfadenknäuel, ein Jagdmesser, zwei dünne Pinsel, ein Topf mit rosa und ein weiterer mit brauner Farbe. Er überlegte sich, ob er an einem Obstkarren eine große Melone kaufen sollte, nahm aber davon Abstand, weil die Melone über das Wochenende wahrscheinlich verderben würde.

Wieder im Hotel, benutzte er seinen neuen Führerschein, der wie sein Paß auf den Namen Alexander Duggan ausgestellt war, um für den folgenden Morgen einen Leihwagen zu bestellen, und beauftragte den Empfangschef, ihm über das Wochenende ein Einzelzimmer mit Bad oder Dusche in einem Badeort an der See reservieren zu lassen. Obwohl im August nahezu alle Häuser ausgebucht waren, gelang es dem Mann, ihm in einem kleinen Hotel in Zeebrügge ein Zimmer mit Blick auf den malerischen Fischereihafen zu bestellen.

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