SECHZEHNTES KAPITEL

Madame la Baronne de la Chalonniere blieb vor ihrer Zimmertür stehen und drehte sich zu dem jungen Engländer um, der sie dorthin begleitet hatte. Im Halbdunkel des Korridors konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen; es war nur ein aufgehellter Fleck im Schatten.Der Abend war recht amüsant gewesen, und sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie ihn vor ihrer Tür beenden sollte oder nicht. Die Frage beschäftigte sie schon seit einer Stunde.

Einerseits war sie, obwohl sie Liebhaber gehabt hatte, eine achtbare verheiratete Frau; sich von wildfremden Männern verführen zu lassen, sobald sie allein in einem Hotel übernachtete, zählte nicht zu ihren Gewohnheiten. Andererseits war sie in einer Verfassung, in der sie sich Anfechtungen weniger denn je gewachsen fühlte, und ehrlich genug, sich das selbst einzugestehen.

Sie hatte den Tag in den Hochalpen in der Kadettenschule von Barcelonette verbracht, um der Abschlußparade beizuwohnen, an der ihr Sohn als frisch gebackener Unterleutnant der Chasseurs Alpins, des alten Regiments seines Vaters, teilnahm. Obschon sie ohne Zweifel die bei weitem reizvollste Mutter unter den Zuschauern der Parade gewesen war, hatte ihr die Zeremonie, bei der ihr Sohn das Offizierspatent erhielt und in die französische Armee aufgenommen wurde, fast schockartig bewußtgemacht, daß sie nahezu vierzig und Mutter eines erwachsenen Mannes war.

Obwohl sie gut und gern fünf Jahre jünger aussah und sich zuweilen zehn Jahre jünger fühlte, hatte sie die Tatsache, daß ihr Sohn zwanzig geworden war, inzwischen vermutlich mit Frauen schlief und in den Ferien nicht mehr heimkommen würde, um in den Wäldern, die das Schloß der Familie umgaben, auf die Jagd zu gehen, in Ratlosigkeit und Panik versetzt.

Sie hatte die marionettenhafte Galanterie des schnarrenden alten Obersten, der die Kadettenanstalt leitete, und die bewundernden Blicke der apfelbäckigen Klassenkameraden ihres Sohnes lächelnd erduldet und sich plötzlich sehr einsam gefühlt. Ihre Ehe, das war ihr seit Jahren klar, bestand nur noch auf dem Papier, denn der Baron lebte in Paris und war zu sehr damit beschäftigt, den kleinen Mädchen nachzustellen, als daß er den Sommer auf dem Schloß verbracht hätte oder auch nur zur Vereidigung seines Sohnes erschienen wäre. Während sie in dem schweren Tourenwagen der Familie auf dem Rückweg aus den Hautes Alpes die kurvenreiche Straße nach Gap hinunterjagte, um die Nacht in einem ländlichen Hotel zu verbringen, kam ihr erstmals voll zum Bewußtsein, daß sie hübsch, attraktiv und einsam war. Außer den Aufmerksamkeiten älterer Galane wie des Obersten in der Kadettenanstalt oder frivolen und unbefriedigenden Flirts mit kleinen Jungen hatte sie nichts mehr zu erwarten, und zu irgendeiner karitativen Tätigkeit fühlte sie sich nicht berufen — noch nicht.

Aber was Alfred in Paris trieb, während die halbe Gesellschaft über ihn und die restliche über sie lachte, war für sie eine einzige Beleidigung und Erniedrigung.

Beim Kaffee, den sie in der Hotelhalle nahm, hatte sie sich über ihre Zukunft Gedanken gemacht und unversehens den Wunsch verspürt, sich von jemandem sagen zu lassen, daß sie eine Frau sei und eine schöne dazu, und nicht bloße Madame la Baronne. In genau diesem Augenblick war es dann geschehen, daß der Engländer auf sie zutrat, um sie zu fragen, ob er, da sie allein in der Halle waren, seinen Kaffe bei ihr trinken dürfe. Er hatte sie überrumpelt, und sie war ganz einfach zu überrascht gewesen, um nein zu sagen. In der nächsten Sekunde hätte sie sich am liebsten geohrfeigt, aber schon zehn Minuten später bedauerte sie es kaum mehr, ihn nicht abgewiesen zu haben. Schließlich war er ihrer Schätzung nach zwischen dreißig und fünfunddreißig, also im denkbar besten Alter. Obschon Engländer, sprach er fließend französisch; er sah recht gut aus und konnte amüsant sein. Seine geschickten Komplimente hatten ihr wohlgetan, und sie hatte ihn sogar zu weiteren ermuntert. Es war fast Mitternacht geworden, ehe sie aufstand und erklärte, anderntags in aller Frühe aufbrechen zu müssen.

Er hatte sie die Treppe hinaufbegleitet und vor dem Fenster im Zwischenstock auf die bewaldeten Berghänge hinausgedeutet, die vom hellen Mondlicht beschienen wurden. Sie waren stehengeblieben, um einen Blick auf die schlafende Landschaft zu werfen. Als sie sich vom Fenster wegwandte, mußte sie feststellen, daß seine Augen nicht auf der Aussicht, sondern auf das tiefe Tal zwischen ihren Brüsten gerichtet waren, deren Haut im Mondlicht alabasterweiß erschien.

Er hatte gelächelt, als er ertappt worden war, und, indem er seine Lippen ihrem Ohr näherte, geflüstert:»Bei Mondlicht wird auch der wohlerzogenste Mann zum Halbwilden. «Verstimmung vortäuschend, obschon sie die unverfrorene Bewunderung des Fremden in eine angenehme Erregung versetzte, hatte sie sich auf dem Absatz umgedreht, um die restlichen Stufen zu ihrer Etage hinaufzusteigen.

«Es war ein reizender Abend, Monsieur.«

Die Hand auf der Türklinke, fragte sie sich, ob der Mann sie wohl zu küssen versuche würde. In gewisser Weise erhoffte sie es.Vielleicht lag es nur am Wein oder an dem feurigen Calvados, den er zum Kaffee bestellt hatte, vielleicht auch an der Szene im Mondlicht — jedenfalls war ihr bewußt, daß sie mit einem solchen Ende des Abends nicht gerechnet hatte. Sie fühlte, wie sich die Arme des Fremden um sie legten und seine Lippen sich unvermittelt auf ihre preßten.»Das muß aufhören«, sagte ihr eine innere Stimme. Eine Sekunde später erwiderte sie den Kuß mit noch geschlossenen Lippen. Der Wein hatte sie ein bißchen benommen gemacht, ja, es mußte die Wirkung des Weins sein. Sie spürte, wie seine Arme sich fester um sie legten — kraftvolle Arme mit harten Muskeln.

Ihr Schenkel wurde gegen ihn gedrückt, und durch den Satin ihres Kleides fühlte sie die arrogante Härte seines Gliedes. Sie zog ihr Bein schnell zurück und preßte es gleich darauf wieder gegen ihn. Eine bewußte Entscheidung gab es gar nicht; die Gewißheit, daß sie ihn haben wollte, zwischen ihren Schenkeln, in ihrem Schoß, die ganze Nacht, war urplötzlich gekommen.

Als sie merkte, daß seine Hand hinter ihr zur Türklinke tastete, löste sie sich aus der Umarmung, und ohne sich von ihm abzuwenden, trat sie einen Schritt in ihr Zimmer zurück.

«Viens, primitif. «

Er folgte ihr und schloß die Tür.

Die ganze Nacht hindurch wurden sämtliche Archive im Pantheon neuerlich durchforscht, diesmal nach dem Namen Duggan und mit mehr Erfolg. Eine Karteikarte fand sich, die besagte, daß Alexander James Quentin Duggan, aus Brüssel kommend, am 22. Juli im Brabant-Expreß nach Frankreich eingereist war. Eine Stunde später wurde ein weiterer Bericht von derselben Zollgrenzwache, die ihren Dienst in den zwischen Brüssel und Paris verkehrenden Expreßzügen versah, gefunden. Er enthielt eine vom 31. Juli datierende Liste der Fahrgäste des Etoile-du-Nord-Expreß, auf der sich auch der Name Duggan befand.

Aus der Polizeipräfektur kam ein auf den Namen Duggan ausgefülltes Anmeldeformular, aus dem hervorging, daß er vom 22. bis einschließlich 30. Juli in einem kleinen Hotel nahe der Place de la Madeleine gewohnt hatte. Die auf der Anmeldung vermerkte Paßnummer stimmte laut Auskunft aus London mit derjenigen überein, die der von ihm beantragte Paß trug. Inspektor Caron war dafür, sofort eine Razzia in dem Hotel zu veranstalten, aber Lebel zog es vor, es in den frühen Morgenstunden allein aufzusuchen und sich mit dem Hotelbesitzer zu unterhalten. Es genügte ihm, zu erfahren, daß der Mann, den er suchte, sich nicht mehr in dem Hotel aufhielt, und der Besitzer war ihm dankbar für die Rücksichtnahme auf seine schlafenden Gäste.

Lebel wies einen Kriminalbeamten an, bis auf weiteres als zahlender Gast im Hotel Quartier zu nehmen und sich, für den Fall, daß Duggan wieder auftauchen sollte, ständig dort aufzuhalten. Der Besitzer wurde informiert und zeigte sich in jeder Weise entgegenkommend.»Dieser Aufenthalt im Juli war eine Erkundungsreise«, bemerkte Lebel zu Caron, als er morgens um 4 Uhr 30 in sein Büro zurückkam.»Wie immer er vorgehen wird, er hat alles bis ins einzelne geplant und festgelegt.«

Er lehnte sich in seinen Schreibtischsessel zurück, starrte zur Decke hinauf und dachte nach. Warum war er in einem Hotel abgestiegen? Warum nicht im Haus eines OAS-Sympathisanten, wie dies alle flüchtigen O AS- Agenten taten? Weil er sich nicht darauf verließ, daß die OAS-Sympathisanten dichthielten. Recht hatte er. Deswegen arbeitete er allein, vertraute niemandem, plante seine Operation auf seine eigene Weise, benutzte einen gefälschten Paß, verhielt sich unauffällig, erregte keinen Verdacht. Der Besitzer des Hotels, den er soeben befragt hatte, bestätigte dies.»Ein echter Gentleman«, hatte er gesagt. Ein echter Gentleman, dachte Lebel, und gefährlich wie eine Schlange. Echte Gentlemen — für einen Polizisten sind die immer die Schlimmsten. Keiner wagt es, sie zu verdächtigen.

Er blickte auf die beiden Photos von Calthrop und Duggan, die aus London gekommen waren. Durch Veränderung der Körpergröße, der Haar- und Augenfarbe und vermutlich auch des Auftretens und der Manieren war Caltroph Duggan geworden. Er versuchte sich ein Bild von dem Mann zu machen. Wie würde er auf einen wirken, wenn man ihm begegnete? Selbstsicher, arrogant, seiner Unangreifbarkeit gewiß. Gefährlich, durchtrieben, peinlich genau in seinen Vorbereitungen, nichts dem Zufall überlassend. Selbstverständlich bewaffnet, aber womit? Mit einer Automatic, die in einem Halfter unter der linken Achsel steckte?

Einem griffbereit _um den Brustkorb geschnallten Wurfmesser? Einem Gewehr? Aber wo sollte er es bei der Zollkontrolle verstecken? Wie wollte er mit einer solchen Waffe in General de Gaulles Nähegelangen, wenn schon jede zweihundert Meter vom Präsidenten entfernt gesichtete Damenhandtasche Verdacht erregte und man Männer kurzerhand abführte, die mit einem länglichen Paket unter dem Arm im Umkreis der Örtlichkeit angetroffen wurden, wo der Präsident sich der Öffentlichkeit zu zeigen beabsichtigte?

Mon Dieu, und dieser Oberst aus dem Elysee-Palast hielt ihn lediglich für irgendeinen x-beliebigen Gangster! Lebel war sich darüber klar, daß er einen Vorteil hatte: Er wußte den neuen Namen des Killers — und der Killer wußte nicht, daß er ihn wußte. Das war seine einzige Trumpf karte; in jeder anderen Hinsicht war der Schakal im Vorteil, und keiner von den Teilnehmern an den abendlichen Konferenzen würde das zugeben wollen oder können. Sollte er auf irgendeine Weise Wind davon bekommen, daß du seinen falschen Namen weißt, und seine Identität neuerlich wechseln, dann, Claude, mein Junge, kannst du dich aber auf einiges gefaßt machen.

Laut sagte er:»Auf einiges gefaßt machen.«

Caron sah auf.

«Sie haben recht, Chef. Er ist so gut wie gefaßt.«

Ganz entgegen seiner Gewohnheit reagierte Lebel ihm gegenüber gereizt. Der Mangel an Schlaf fing an, sich bemerkbar zu machen.

Der Lichtstrahl des verblassenden Mondes kroch langsam über das zerwühlte Bettlaken zum Fensterrahmen zurück. Er glitt über das zwischen der Tür und dem Fußende des Bettes zerknüllt am Boden liegende Satinkleid, den abgestreiften Büstenhalter und die Seidenstrümpfe auf dem Teppich. Die beiden nackten Leiber auf dem Bett verblieben im Schatten.

Colette lag auf dem Rücken und sah zur Zimmerdecke hinauf, während ihre Finger durch das blonde Haar des Fremden fuhren, der seinen Kopf auf ihren Bauch gebettet hatte. Ihre Lippen umspielte ein versonnenes Lächeln, als sie an die vergangenen Stunden zurückdachte.

Er war gut gewesen, dieser englische Halbwilde, heftig aber geschickt. Mit seinen Händen, seiner Zunge und seinem Glied hatte er es verstanden, sie fünfmal zum Höhepunkt zu bringen, während er selbst dreimal gekommen war. Sie hatte eine solche Nacht allzu lange entbehrt und mit einer seit Jahren nicht mehr gekannten Intensität reagiert.

Der kleine Reisewecker neben dem Bett zeigte auf Viertel nach fünf. Sie packte den blonden Schöpf fester und beutelte ihn ein paarmal.

«Hallo.«

Der blonde Kopf schüttelte ihre Hand ab und drängte sich zwischen ihre Schenkel. Wieder begann sein heißer Atem und das Zucken der suchenden Zunge sie zu kitzeln.

«Nein, genug jetzt.«

Sie preßte rasch die Schenkel zusammen, setzte sich auf, griff ihm ins Haar und bog seinen Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen. Er richtete sich halb auf, preßte sein Gesicht gegen eine ihrer vollen, schweren Brüste und begann sie zu küssen.

«Ich habe nein gesagt.«

Er blickte zu ihr hinauf.

«Das reicht, Lover. Ich muß in zwei Stunden aufstehen. Geh jetzt in dein Zimmer zurück. Jetzt, mein kleiner Engländer,jetzt.«

Er gehorchte, schwang sich aus dem Bett und suchte seine Kleidungsstücke zusammen. Sie glättete die zerwühlt am Fußende des Bettes liegende Decke und zog sie sich bis unters Kinn herauf. Mit dem Jackett und der Krawatte über dem Arm trat er angekleidet ans Bett und blickte auf sie hinunter. In der halben Dunkelheit konnte sie seine Zähne schimmern sehen, als er grinste. Er setzte sich auf die Bettkante und umfaßte mit der Rechten ihren Nacken.»War es gut?«

«Hmmmmmm. Sehr gut. Und für dich?«

Er grinste wieder.»Was denkst du?«

Sie lachte.»Wie heißt du?«

Er überlegte einen Augenblick.»Alex«, log er.

«Ja, Alex, es war sehr gut. Aber es wird jetzt Zeit, daß du in dein Zimmer gehst.«

Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie auf den Mund.

«Dann also gute Nacht, Colette.«

In der nächsten Sekunde war er gegangen und hatte leise die Tür hinter sich geschlossen. Gegen 7 Uhr früh radelte ein Gendarm zum Hötel du Cerf hinaus, stieg vom Fahrrad und betrat die Hotelhalle. Der Wirt, der bereits in der Rezeption saß, um die Reihenfolge der von einigen seiner Gäste gewünschten Weckanrufe festzulegen und die cafe-complet-Bestellungen telephonisch entgegenzunehmen, begrüßte ihn.

«Alors, so früh schon unterwegs?«

«Wie immer«, entgegnete der Gendarm,»Man muß sich tüchtig abstrampeln, wenn man mit dem Fahrrad zu Ihnen hinausfährt, und ich hebe mir diese Tour immer bis zuletzt auf.«»Erzählen Sie mir nicht«, sagte der Hotelwirt grinsend,»daß wir den besten Kaffee in der Nachbarschaft kochen. Marie-Louise, bringen Sie Monsieur eine Tasse Kaffee. Wenn ich nicht irre, trinkt er ihn gern mit einem Trou Normand.«

Der Gendarm lächelte erfreut.

«Hier sind die Anmeldungen«, sagte der Wirt und händigte ihm die von den am Vortag eingetroffenen Gästen ausgefüllten kleinen weißen Formulare aus.»Gestern hatten wir nur drei neue.«

Der Gendarm steckte die Anmeldungen in seine am Koppel befestigte Ledertasche.

«Lohnt sich kaum, extra deswegen herauszukommen«, meinte er grinsend und nahm auf der Sitzbank vor der Rezeption Platz, um auf seinen Kaffee und den Calvados zu warten. Als Marie-Louise beides brachte, scherzte er noch ein wenig mit ihr, bevor er sich dem Apfelschnaps zuwandte.

Es war 8 Uhr geworden, als er sich mit den eingesammelten Formularen in seiner Ledertasche beim Gendarmerie- und Polizeiposten von Gap zurückmeldete. Der wachhabende Inspektor nahm die Anmeldungen entgegen, überflog sie rasch und legte sie in das Abholfach, damit sie im Lauf des Tages nach Lyon zum regionalen Hauptquartier geschickt wurden, von wo aus sie dann später in die Archive der RG nach Paris wanderten. Nicht, daß er diesen Papierkrieg für sonderlich sinnvoll hielt.

Als der Inspektor die Formulare in das Fach legte, beglich Madame Colette de la Chalonniere ihre Rechnung, setzte sich ans Steuer ihres Wagens und fuhr in Richtung Westen davon. Im Stockwerk darüber schlief der Schakal bis 9 Uhr.

Superintendent Thomas, der in seinem Schreibtischsessel eingenickt war, zuckte heftig zusammen, als das Telephon neben ihm schrillte. Es war der Hausapparat, der sein Büro mit dem auf dem gleichen Stockwerk gelegenen Raum verband, in welchem die sechs Sergeants und zwei Inspektoren, seit er ihnen um 8 Uhr 30 neue Instruktionen erteilt hatte, ununterbrochen mit Reisebüros, Fluggesellschaften und Reedereien telephonierten.

Er sah auf seine Uhr. Es war zehn. Verdammt, sieht mir gar nicht ähnlich, am Schreibtisch einzudösen. Dann fiel ihm ein, mit wie wenig Schlaf er sich hatte begnügen müssen, seit Dixon ihn am Montagnachmittag zu sich gerufen hatte. Und jetzt war es der Donnerstagmorgen. Das Telephon klingelte erneut.»Hallo.«

Die Stimme des dienstälteren Inspektors meldete sich.»Freund Duggan, Sir. Er ist am Montagvormittag mit einer Linienmaschine der BEA von London abgeflogen. Gebucht hat er den Flug am Sonnabend. Der Name steht einwandfrei fest. Alexander Duggan. Das Ticket wurde am BEA-Schalter auf dem Flugplatz bar bezahlt.«

«Wohin? Ist er nach Paris geflogen?«»Nein, Super. Nach Brüssel. «Thomas war jetzt hellwach.

«Hören Sie, er kann auch abgereist und wiedergekommen sein. Überprüfen Sie weiterhin alle in den letzten Tagen vorgenommenen Buchungen, und stellen Sie fest, ob vielleicht ein weiterer Flug auf seinen Namen gebucht ist — womöglich mit der Maschine, die London noch gar nicht verlassen hat. Gehen Sie die Vorausbuchungen durch. Ich will wissen, ob er aus Brüssel zurückgekommen ist — was ich übrigens bezweifle. Ich glaube, wir haben ihn verloren. Da er London jedoch schon ein paar Stunden, bevor unsere Ermittlungen begannen, verlassen hat, trifft uns natürlich keine Schuld. O.K.?«

«O.K. Soll die auf das gesamte Gebiet des Vereinigten Königreichs ausgedehnte Suche nach dem richtigen Calthrop weitergehen? Sie bindet starke Polizeikräfte im ganzen Land, und der Yard hat eben angerufen, um uns zu sagen, daß von den Dienststellen in der Provinz ständig Beschwerden eingehen. «Thomas dachte einen Augenblick nach.»Blasen Sie die Suche ab«, sagte er dann.»Ich bin sicher, daß er weg ist.«

Er nahm den Hörer des zweiten Telephonapparats zur Hand und ließ sich mit dem Büro von Kommissar Lebel bei der Police Judiciaire verbinden.

Noch ehe der Donnerstagvormittag herum war, fühlte sich Inspektor Caron reif fürs Irrenhaus. Kurz nach zehn hatten die Engländer angerufen. Er selbst war am Apparat gewesen, dann aber, weilSuperintendent Thomas darauf bestand, Lebel zu sprechen, aufgestanden und zu dem in der Zimmerecke aufgestellten Feldbett hinübergegangen, um den schlafenden Inspektor wachzurütteln. Obwohl er aussah, als sei er schon vor einer Woche gestorben, hatte Lebel den Anruf entgegengenommen, den Hörer freilich gleich darauf Caron zurückgereicht, um sich von ihm übersetzen zu lassen, was Thomas ihm und was er seinerseits Thomas zu sagen hatte.

«Sagen Sie ihm«, wies er Caron an, als er die Nachricht verdaut hatte,»daß wir uns von hier aus mit den Belgiern ins Einvernehmen setzen. Sagen Sie ihm, daß ich ihm für seine Hilfe sehr, sehr dankbar bin und ihn, falls wir den Killer irgendwo auf dem Kontinent aufspüren sollten, sofort benachrichtigen werde, damit er seine Männer nach Hause schicken kann. «Sobald der Hörer aufgelegt war, sagte Lebel:»Geben Sie mir die Sürete in Brüssel.«

Der Schakal wachte auf, als die Sonne schon hoch über den Hügeln stand und einen weiteren sommerlich heißen Tag ankündigte. Er duschte und zog sich den karierten Anzug an, den Marie-Louise, das Zimmermädchen, aufgebügelt hatte.

Kurz nach halb elf fuhr er im Alfa ins Städtchen, um von der Post aus ein Ferngespräch mit Paris zu führen. Als er zwanzig Minuten später das Postamt verließ, hatte er es offenkundig eilig. In einem nahe gelegenen Haushaltsgeschäft kaufte er eine große Dose mitternachtsblauen Hochglanzlack, eine kleinere Dose weißen Lack sowie einen spitzen Rund- und einen breiten Flachpinsel, ferner einen Schraubenzieher. Dann fuhr er zum Hotel du Cerf zurück und verlangte seine Rechnung.

Während sie ausgestellt wurde, ging er nach oben, packte rasch seine Koffer und trug sie selbst zum Wagen. Er verstaute die drei größeren Gepäckstücke im Kofferraum, legte die Reisetasche auf den Beifahrersitz und ging in die Hotelhalle, um die Rechnung zu begleichen. Der Portier, der den Wirt in der Rezeption abgelöst hatte, sagte wenig später aus, der

Engländer habe nervös gewirkt; er schien in großer Eile gewesen zu sein und habe mit einem neuen Hundertfrancschein gezahlt.

Was er nicht erwähnte, weil er es nicht bemerkt hatte, war die Tatsache, daß der Engländer in seiner Abwesenheit — er war in das Geschäftszimmer gegangen, um den Schein zu wechseln, und hatte das Gästebuch, in das er die Namen der für jenen Tag erwarteten Gäste eintragen wollte, offen liegenlassen — die Eintragungen des Vortages überflogen hatte. Der Engländer hatte eine Seite zurückgeschlagen und sich die hinter dem Namen von Mme. la Baronne de la Chalonniere angegebene Adresse — Haute Chalonniere, Correze — gemerkt.

Wenige Minuten nachdem er die Rechnung beglichen hatte, war von der Auffahrt her das dröhnende Motorengeräusch des Alfa zu hören. Es wurde rasch schwächer, und bald hatte es sich gänzlich in der Ferne verloren.

Gegen Mittag rief die Brüsseler Sürete Lebel in seinem Büro an, um zu melden, daß Duggan am Montag nur vier Stunden in der belgischen Hauptstadt verbracht hatte. Er war mit der BEA-Maschine aus London eingetroffen und am Nachmittag mit der Alitalia nach Mailand weitergeflogen. Das Ticket war am Schalter bar bezahlt, der Flug jedoch bereits zwei Tage zuvor telephonisch von London aus gebucht worden.

Lebel ließ sich sofort mit der Mailänder Polizeibehörde verbinden.

Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, da klingelte das Telephon wiederum. Diesmal war es die DST, die ihn wissen ließ, daß sie soeben auf dem normalen Dienstweg eine Meldung erhalten hatte, derzufolge sich Alexander James Quentin Duggan unter den am gestrigen Vormittag über die Grenzstation Ventimiglia von Italien nach Frankreich eingereisten Touristen befunden habe.

Lebel bekam einen Tobsuchtsanfall.

«Fast dreißig Stunden«, schrie er,»länger als ein Tag!«

Er schmetterte den Hörer auf die Gabel. Caron zog die Brauen hoch.

«Die Grenzübertrittskarte«, erklärte Lebel resigniert,»hat so lange gebraucht, um von Ventimiglia nach Paris zu gelangen. Die Kollegen sind jetzt dabei, die inzwischen von allen Grenzstationen eingegangenen Karten von gestern morgen zu sortieren. Sie sagen, es sind mehr als fünfundzwanzigtausend. Nur von gestern morgen! Ich hätte sie wohl doch nicht so anbrüllen sollen. Eines wissen wir jetzt wenigstens — er ist in Frankreich. Das steht fest. Wenn ich bei der Besprechung heute abend nicht irgend etwas Konkretes vorzuweisen habe, ziehen die mir die Haut ab. Oh, übrigens — rufen Sie doch bitte nochmals Superintendent Thomas an. Sagen Sie ihm, daß der Schakal in Frankreich ist und wir die Sache von hier aus handhaben. «Als Caron das Gespräch mit London beendet hatte, meldete sich die Zentrale des regionalen Dienstes der PJ in Lyon. Lebel lauschte gespannt und sah Caron dann triumphierend an. Er legte die Hand auf die Sprechmuschel.

«Wir haben ihn. Er ist gestern abend im Hötel du Cerf in Gap abgestiegen und hat offenbar vor, zwei Tage dort zu bleiben. «Er nahm die Hand von der Muschel und sprach weiter mit Lyon.

«Hören Sie, Kommissar, ich kann Ihnen jetzt nicht erklären, warum wir diesen Mann fassen wollen. Sie müssen es mir schon abnehmen, daß es wichtig ist. Sie machen jetzt folgendes…«Er sprach zehn Minuten lang, und als er das Gespräch beendete, klingelte der auf Carons Schreibtisch stehende Telephonapparat. Es war nochmals die DST, die meldete, daß Duggan in einem gemieteten weißen Alfa-Romeo-Zweisitzer eingereist sei, der das polizeiliche Kennzeichen MI-61741 trug.

«Soll ich eine Suchmeldung an alle Gendarmerieposten und Polizeikommissariate durchgeben lassen?«fragte Caron.

Lebel überlegte einen Augenblick lang.

«Nein, noch nicht«, sagte er dann.»Wenn er irgendwo in der Gegend herumgondelt, würde er vermutlich von einem Landgendarmen angehalten werden, der meint, die Suche gelte bloß einem gestohlenen Sportwagen. Der Schakal legt jeden um, der sich ihm in den Weg stellt. Das Gewehr muß irgendwo im Wagen versteckt sein. Entscheidend ist, daß er sich für zwei Nächte in dem Hotel einquartiert hat. Wenn er zurückkommt, wird es von einer ganzen Armee umstellt sein. Ich will nicht, daß bei der Aktion jemand zu Schaden kommt, wenn es irgend zu vermeiden ist. Los jetzt, beeilen Sie sich, Caron. Der Hubschrauber wartet.«

Lebel wollte nicht das Leben irgendeines einzelnen motorisierten Polizisten aufs Spiel setzen. Daß es ein Fehler war, sich von solchen Überlegungen leiten zu lassen, sollte er sehr bald erkennen.

Während Caron und er sich zum Aufbruch anschickten, waren in und um Gap alle verfügbaren Polizeikräfte fieberhaft damit beschäftigt, auf den Ausfallstraßen der Stadt und in der Umgebung des Hotels Straßensperren zu errichten. Die Anweisung dazu war aus Lyon gekommen. Dort und in Grenoble kletterten jetzt mit Maschinenpistolen und Karabinern bewaffnete Bereitschaftspolizisten in schwarze Mannschaftswagen. Und im Polizeilager Satory außerhalb von Paris wurde für Kommissar Lebel ein Hubschrauber flugklar gemacht.

Am frühen Nachmittag war die Hitze selbst im Schatten der Bäume drückend. Der Schakal hatte das Hemd ausgezogen und sich mit bloßem Oberkörper, Pinsel in der einen, Farbtopf in der anderen Hand, an die Arbeit gemacht.

Unmittelbar hinter Gap war er nach Westen abgebogen und über Veynes nach Aspres-sur-Buech gefahren. Wie ein achtlos abgestreiftes Band schlängelte sich die zumeist bergab verlaufende Straße zwischen den Bergen hindurch. Er fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit und zog den Alfa mit quietschenden Reifen durch die engen Kurven, wobei er zweimal um ein Haar einen entgegenkommenden Wagen von der Straße gedrängt und in den Abgrund geschickt hätte. Hinter Aspres setzte er die Fahrt auf der RN93 fort, die dem Lauf der weiter westlich in die Rhone mündenden Drome folgte.

Während der nächsten dreißig Kilometer hatte die Straße mehrfach den Fluß gekreuzt. Kurz hinter Luc-en-Diois hielt es der Schakal für an der Zeit, den Wagen in eine der zahlreichen Nebenstraßen zu lenken, die hügelan in die höher gelegenen Dörfer führten. Bei der nächsten Abzweigung bog er ein und folgte nach etwa drei Kilometer einem Pfad, der von der Nebenstraße weg nach rechts in einen Wald führte.

Nach zwei Stunden hatte er es geschafft. Der Wagen war leuchtend dunkelblau gestrichen und der Lack größtenteils schon trocken. Obschon alles andere als eine fachmännische Arbeit, würde sie besonders in der Dämmerung niemandem weiter auffallen, es sei denn, man schaute genauer hin.

Die beiden Nummernschilder waren abgeschraubt und lagen mit der Vorderseite nach unten im Gras. Auf ihre Rückseiten hatte er in Weiß eine fiktive französische Nummer gemalt, die mit der Kennzahl 75 — der Codezahl für Paris- endete. Der Schakal wußte, daß dies auf französischen Straßen die häufigste Wagennummer war.

Daß die auf den weißen italienischen Alfa ausgestellten Leih-und Versicherungspapiere nicht zu dem blauen französischen Alfa paßten, war offenkundig, und wenn er von einer Verkehrsstreife angehalten und ohne Wagenpapiere angetroffen wurde, war er geliefert. Die einzige Frage, die ihn beschäftigte, während er einen Lappen in den Tank tauchte, um sich die Farbflecken von den Händen zu wischen, war die, ob er jetzt starten und dabei in Kauf nehmen sollte, daß die amateurhafte Übermalung des ursprünglich weißen Wagens im hellen Sonnenlicht auffiel, oder ob es klüger wäre, den Einbruch der Dämmerung abzuwarten.

Er schätzte, daß die Polizei, nachdem sie nun schon seinen falschen Namen in Erfahrung gebracht hatte, in Kürze auch heraushaben dürfte, über welche Grenzstation er nach Frankreich eingereist war, und alsbald nach dem Wagen zu fahnden beginnen würde.

Für den Auftrag in Paris war es noch immer mehr als eine Woche zu früh, und er mußte einen Unterschlupf suchen, wo er sich bis dahin verstecken und vor möglicher Entdeckung sicher fühlen konnte. Das hieß, er mußte gut und gern dreihundertachtzig Kilometer in westlicher

Richtung zurücklegen, um das Departement Correze zu erreichen; und am schnellsten gelangte man mit dem Auto dorthin. Es war zwar riskant, aber er beschloß, es darauf ankommen zu lassen. Je eher er startete, desto besser. Es galt, die Strecke hinter sich zu bringen, noch bevor jeder Verkehrspolizist des Landes nach einem Alfa Romeo mit einem blonden Engländer am Steuer Ausschau hielt.

Er schraubte die neuen Nummernschilder an, warf die Farbtöpfe mit dem restlichen Lack sowie die beiden Pinsel fort, zog sich den seidenen Rollkragenpullover und das Jackett wieder über und ließ den Motor an. Als er in die RN 93 einbog, blickte er auf seine Uhr. Es war 15 Uhr 41.

Hoch über sich hörte er einen Hubschrauber knattern, der nach Osten flog. Bis nach Die waren es noch zwölf Kilometer. Er hätte den Namen der Ortschaft zwar nie englisch ausgesprochen, aber die Koinzidenz der Schreibweise fiel ihm doch auf. Obwohl er nicht abergläubisch war, preßte er die Lippen zusammen, als er sich dem Städtchen näherte. Vor dem Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz stand ein baumlanger motorisierter Polizist mitten auf der Fahrbahn und signalisierte ihm, anzuhalten und scharf rechts heranzufahren. Das Gewehr des Schakals befand sich noch immer in den am Chassis befestigten Röhren. Er trug weder eine Automatic noch ein Messer. Eine Sekunde lang war er unschlüssig, ob er anhalten oder Gas geben, den Polizisten mit dem Kotflügel streifen und davonpreschen sollte, um den Wagen zwanzig Kilometer weiter stehenzulassen, sich ohne Spiegel und Waschbecken als Pastor Jensen herzurichten und mit vier Gepäckstücken zu Fuß durchzuschlagen.

Der Polizist nahm ihm die Entscheidung ab. Sobald der Alfa die Fahrt verlangsamt hatte, beachtete der Polizist ihn überhaupt nicht mehr, sondern drehte sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Der Schakal steuerte den Wagen an den Straßenrand und wartete. Vom anderen Ende des Ortes her war Sirenengeheul zu hören. Was auch immer geschehen mochte, es war zu spät, um jetzt noch zu entkommen. Vier Citroen-Polizeiwagen und sechs» Schwarze Marias «rasten durch die Ortschaft. Als der Verkehrspolizist zur Seite sprang und grüßend den Arm hob, preschte der Konvoi an dem geparkten Alfa vorbei und die Straße hinunter, die dieser gekommen war. Durch die vergitterten Fenster, die den Wagen im französischen Volksmund die Bezeichnung» Salatschleuder «eingetragen hatten, konnte der Schakal die dichtbesetzten Reihen behelmter Polizisten mit umgehängten Maschinenpistolen sitzen sehen. Fast ebenso schnell, wie er gekommen war, war der Konvoi wieder verschwunden. Der Verkehrspolizist ließ den grüßenden Arm sinken, bedeutete dem Schakal mit gleichmütiger Geste, daß er jetzt weiterfahren dürfe, und stapfte zu seinem Motorrad, das er gegen das Kriegerdenkmal gelehnt hatte. Er trat noch immer auf den Anlasser, als der Alfa bereits um die Ecke gebogen war, um seine Fahrt in Richtung Westen fortzusetzen.

Es war 16 Uhr 50, als sie sich dem umstellten Hotel du Cerf näherten. Begleiter von Caron, der einen geladenen und entsicherten MAT-49-Schnellfeuerkarabiner unter dem über seinen rechten Arm gelegten Regenmantel trug, ging Claude Lebel, der anderthalb Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Ortes gelandet und von einem Polizeiwagen zum Hotel gefahren worden war, zum Haupteingang.

Daß irgend etwas Ungewöhnliches im Gang war, hatte sich inzwischen im ganzen Städtchen herumgesprochen; nur der Besitzer des Hotels wußte von nichts. Es war seit fünf Stunden von der Außenwelt abgeschnitten, und das Ausbleiben des Forellenverkäufers, der täglich seinen frischen Fang abzuliefern pflegte, war in diesem Zeitraum das einzig ungewöhnliche Vorkommnis gewesen.

Von seinem Empfangschef herbeigerufen, trat der Hotelbesitzer aus dem Büro, wo er über Rechnungen und Bestellungen gesessen hatte, und beantwortete Carons Fragen, während er mißtrauische Blicke auf das unförmige Bündel warf, das dieser unter dem Arm trug. Lebel hörte zu und ließ enttäuscht die Schultern hängen.

Fünf Minuten später wimmelte das Hotel von uniformierten Polizisten. Sie verhörten die Angestellten, untersuchten das Zimmer des Schakals und kehrten das Unterste zuoberst. Lebel trat allein auf die Auffahrt hinaus und starrte zu den umliegenden Berghängen hinüber. Caron gesellte sich zu ihm.

«Meinen Sie wirklich, daß er uns entwischt ist, Chef?«Lebel nickte.

«Darüber gibt es wohl keinen Zweifel.«

«Aber er hat sich doch für zwei Tage angemeldet. Halten Sie es für möglich, daß der Hotelbesitzer mit ihm unter einer Decke steckt?«

«Nein. Seine Angestellten und er sagen die Wahrheit. Der Schakal hat es sich irgendwann heute vormittag anders überlegt und Reißaus genommen. Die Frage ist, wohin er gefahren sein kann und ob er schon weiß, daß wir wissen, wer er ist.«

«Aber wie sollte er das? Das kann er doch gar nicht wissen. Es muß ein Zufall sein.«

«Hoffen wir es, mein lieber Lucien, hoffen wir es.«

«Dann ist die Autonummer das einzige, wovon wir jetzt ausgehen können.«

«Ja. Das war mein Fehler. Wir hätten eine Suchmeldung nach dem Wagen an alle Gendarmerieposten und Polizeikommissariate ergehen lassen sollen. Laufen Sie zu einem der Streifenwagen hinüber und rufen Sie Lyon. Geben Sie die Suchmeldung an alle durch. Höchste Dringlichkeitsstufe. Weißer Alfa Romeo, Italien, polizeiliches Kennzeichen MI-61741. Vorsicht, Fahrer vermutlich bewaffnet und zum Gebrauch der Schußwaffe entschlossen und so weiter und so weiter. Sie kennen ja den in solchen Fällen üblichen Text. Halt, noch eines: Niemand darf der Presse gegenüber auch nur ein Wort verlauten lassen. Erwähnen Sie in der Suchmeldung, daß der Mann vermutlich nicht ahnt, daß nach ihm gefahndet wird, und ich jeden zur Verantwortung ziehen werde, der ihm durch Nichtbefolgung dieser Anweisung die Möglichkeit verschafft, es in der Zeitung zu lesen oder im Radio zu hören. Ich werde Kommissar Gaillard vom Regionaldienst in Lyon mit der Abwicklung der Aktion beauftragen, und dann fliegen wir nach Paris zurück.«

Es war fast 18 Uhr, als der blaue Alfa Valence erreichte, wo ein unaufhörlicher Strom von Automobilen auf der Route Nationale 7, die Paris mit der Cöte d'Azur verbindet, am Ufer der Rhöne entlangschoß. Der Alfa kreuzte die große Nord-Süd-Straße und den in der Spätnachmittagssonne glitzernden breiten Fluß, um seine Fahrt auf der RN 533 fortzusetzen. Hinter St-Peray preschte der kleine Sportwagen bei sinkender Dämmerung höher und höher in die Berge des Zentralmassivs und der Provinz Auvergne hinauf. Von Le Puy ab stieg die Straße immer steiler an, wurden die Berge immer höher und schien jedes Nest ein florierender Badeort zu sein, von dessen wundertätigen Quellwassern sich Scharen mit Rheuma und Ekzemen gestrafter Großstädter Heilung erhofften.

Hinter Brioude verließ die Straße das Tal der Allier, und die Nachtluft begann nach Heide und dem trocknenden Heu auf den Wiesen des Hochlandes zu duften. In Issoire hielt der Schakal an, um zu tanken, und jagte dann über Mont-Dore nach La Bour-doule weiter. Es war fast Mitternacht, als er das Quellgebiet der Dordogne umrundete, die den Felsen der Auvergne entspringt und über ein halbes Dutzend Staudämme nach Süden und Südwesten fließt, um sich bei Bordeaux in die Gironde zu verströmen.

Hinter St-Sauves fuhr er auf der RN 89 nach Ussel, der Kreisstadt von Correze, weiter.

«Sie sind ein Narr, Kommissar, ein Narr. Sie hatten ihn schon so gut wie gefaßt, und Sie haben ihn laufenlassen. «Saint Clair hatte sich halb vom Stuhl erhoben, um seinen Vorhaltungen Nachdruck zu verleihen, und starrte wütend auf den neben ihm am unteren Ende des Konferenztisches sitzenden Kommissar hinunter. Der Detektiv fuhr fort, ungerührt in den mitgebrachten Akten zu blättern, als existiere Saint Clair für ihn überhaupt nicht.

Er hatte erkannt, daß dies die einzig richtige Art war, den arroganten Obersten aus dem Palais zu behandeln, und Saint Clair seinerseits war sich nicht sicher, ob die vorgeneigte Kopfhaltung des Kommissars geziemende Zerknirschung oder unverfrorene Gleichgültigkeit ausdrückte. Er zog es vor, das erstere anzunehmen. Als er geendet hatte und sich auf seinen Sessel zurücksinken ließ, hob Lebel den Kopf.

«Wenn Sie die Güte hätten, sich den photokopierten Bericht einmal anzuschauen, der vor Ihnen liegt, dann würden Sie, verehrter Herr Oberst, sich davon überzeugen können, daß wir ihn zu keinem Zeitpunkt schon >so gut wie gefaßt< hatten«, bemerkte er gelassen.»Die Meldung aus Lyon, daß sich am Abend zuvor ein Mann unter dem Namen Duggan in einem Hotel in Gap eingeschrieben habe, hat die PJ erst heute mittag um 12 Uhr 15 erreicht. Wir wissen inzwischen, daß der Schakal das Hotel um 11 Uhr 05 überraschend verließ. Welche Maßnahmen wir auch immer getroffen hätten, er würde in jedem Fall einen Vorsprung von einer Stunde gehabt haben. Auch Ihre die Tüchtigkeit der Polizeibehörden dieses Landes generell in Frage stellenden Bemerkungen muß ich entschieden zurückweisen. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Order des Präsidenten dahingeht, diese Angelegenheit unter strengster Geheimhaltung zu handhaben. Es war daher nicht möglich, an jeden Gendarmerieposten der Provinz eine Fahndungsmeldung nach einem Mann namens Duggan ergehen zu lassen, denn das würde Aufsehen erregt und die Presse auf den Plan gerufen haben. Das von Duggan ausgefüllte Meldeformular ist pünktlich abgeholt und noch am gleichen Tag nach Lyon weitergeleitet worden. Dort erst stellte sich heraus, daß Duggan gesucht wird. Diese Verzögerung war unvermeidlich, es sei denn, wir hätten eine auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnte Großfahndung gestartet, und das würde meinen Anweisungen widersprochen haben.

Und schließlich und endlich war Duggan für zwei Tage in dem Hotel angemeldet. Was ihn heute vormittag um 11 Uhr veranlaßt hat, es sich anders zu überlegen und wegzufahren, wissen wir nicht.«

«Vermutlich doch Ihr Polizeiaufgebot, das sich in der Gegend herumgetrieben hat«, bemerkte Saint Clair gehässig.

«Ich habe bereits klargestellt, daß die Polizeiaktion erst um 12 Uhr 15 anlief, und zu dem Zeitpunkt befand sich der Mann schon seit siebzig Minuten nicht mehr im Hotel«, entgegnete Lebel.

«Nun gut, wir haben eben Pech gehabt, schreckliches Pech«, schaltete sich der Minister ein.»Aber ich begreife noch immer nicht, warum die Fahndung nach dem Wagen nicht sofort veranlaßt wurde. Kommissar?«

«Ich gebe zu, daß das ein Fehler war. Aber ich hatte Grund zu der Annahme, daß der Mann im Hotel war und die Nacht dort verbringen würde. Wenn er in der Umgebung herumgefahren und von einem motorisierten Streifenpolizisten, der es mit einem Autodieb zu tun zu haben glaubt, gestoppt worden wäre, würde er den nichtsahnenden Polizisten mit großer Wahrscheinlichkeit niedergeschossen haben und uns, auf diese Weise gewarnt, entkommen sein.«

«Und genau das ist ihm ja wohl gelungen«, versetzte Saint Clair.

«Stimmt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, daß er gewarnt worden ist, was fraglos der Fall gewesen wäre, wenn ein einzelner Streifenpolizist ihn angehalten hätte. Es kann durchaus sein, daß er aus einer Laune des Augenblicks heraus beschlossen hat, woanders hinzufahren. Wenn das zutreffen und er heute nacht ein anderes Hotel aufsuchen sollte, wird uns das gemeldet werden. Und wenn sein Wagen gesichtet wird, erhalten wir ebenfalls Meldung.«»Wann ist die Suchmeldung nach dem weißen Alfa hinausgegangen?«fragte Max Fernet, der Direktor des PJ.

«Ich habe die Anweisungen um 17 Uhr 15 vom Hotel aus gegeben«, antwortete Lebel.»Sie müßten bis 19 Uhr alle auf den Überlandstraßen patrouillierenden motorisierten Streifeneinheiten erreicht haben, und die Polizeibeamten in den Städten finden sie bei Antritt des Nachtdienstes vor. In Anbetracht der Gefährlichkeit dieses Mannes habe ich den Wagen als gestohlen eingestuft und die Beamten instruiert, bei seinem Auftauchen sofort die regionale Zentrale zu unterrichten, jedoch ausdrücklich untersagt, daß ein einzelner Polizeibeamter den Mann stellt. Wenn auf dieser Besprechung eine Änderung meiner diesbezüglichen Anweisungen beschlossen werden sollte, muß ich die Anwesenden bitten, die Verantwortung für alle sich daraus ergebenden Folgen zu übernehmen.«

Längere Zeit herrschte Schweigen.

«Die Sorge um das Leben eines Polizeibeamten darf die zum Schutz des Präsidenten der Republik erforderlichen Maßnahmen nicht beeinträchtigen«, ließ sich Oberst Rolland vernehmen. Seine Bemerkung erntete rund um den Tisch herum beifälliges Nicken.

«Das ist schön und gut und zweifellos sehr richtig«, stimmte ihm Lebel zu,»vorausgesetzt, der Polizeibeamte ist in der Lage, diesen Mann unschädlich zu machen. Aber die wenigsten Polizisten und Gendarmen, die in ihrem Revier Streife gehen oder auf den Überlandstraßen patrouillieren, sind hochtrainierte Scharfschützen wie der Schakal. Wenn er gestellt wird, einen oder zwei Beamte niederschießt und entkommt, haben wir es nicht mehr mit einem Killer zu tun, der nicht weiß, daß wir ihm auf der Spur sind, sondern mit einem, der gewarnt und möglicherweise in der Lage ist, sich mit einer weiteren Identität zu tarnen, die wir noch nicht kennen. Hinzu kommt, daß ein solcher Vorfall in allen Zeitungen Schlagzeilen machen würde und wir das nicht herunterspielen könnten. Wenn der eigentliche Zweck seines Aufenthalts in Frankreich achtundvierzig Stunden lang geheim bleibt, sollte mich das außerordentlich wundern. Die Presse wird innerhalb weniger Tage wissen, daß er es auf den Präsidenten abgesehen hat. Wenn irgendeiner der Anwesenden es auf sich nehmen möchte, das dem General gegenüber zu vertreten, bin ich nur zu gern bereit, die Leitung dieser Aktion niederzulegen, damit er sie übernehmen kann.«

Niemand meldete sich. Die Sitzung wurde wie üblich um Mitternacht beendet. Ein neuer Tag war angebrochen — Freitag, der 16. August.

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