DREIZEHNTES KAPITEL

«Nichts.«

Der zweite der beiden jungen Kriminalinspektoren, die in Bryn Thomas' Büro arbeiteten, schloß den Aktendeckel des letzten Dossiers, dessen Durchsicht ihm aufgetragen war, und blickte zu seinem Vorgesetzten hinüber.

Sein Kollege war mit seiner Arbeit ebenfalls fertiggeworden,und sein Resümee hatte genauso gelautet. Thomas selbst war fünf Minuten zuvor nach beendeter Durchsicht der Akten, die er sich seinerseits vorgenommen hatte, ans Fenster getreten und hatte seitdem auf den in der sinkenden Dämmerung vorbeiflutenden Verkehr hinuntergestarrt. Im Gegensatz zu Assistant Commissioner Mallinson hatte er kein Zimmer mit Ausblick auf den Fluß, sondern nur ein im ersten Stock gelegenes mit Blick auf den Automobilverkehr, der unaufhörlich die Horseferry Road hinabströmte.

Er fühlte sich halbtot. Seine Kehle war rauh und wund von den vielen Zigaretten, die er bei seiner Erkältung nicht hätte rauchen sollen, aber nicht aufgeben konnte, und schon gar nicht dann, wenn er unter Hochdruck arbeitete.

Den ganzen Nachmittag über hatte er ständig telephoniert, weil sich wieder und wieder die Notwendigkeit zu Rückfragen über die in den Berichten und Akten auftauchenden Namen ergab. Jedesmal war die Auskunft negativ gewesen. Entweder lag ein vollständiges Dossier über den Betreffenden vor, oder er hatte ganz einfach nicht das Kaliber, sich auf eine Unternehmung wie die Ermordung des französischen Präsidenten einzulassen.

«Also gut, Schluß«, sagte er und wandte sich vom Fenster ab.»Wir haben alles getan, was wir tun konnten. Eine Person, die den in der Nachfrage gemachten Angaben entspricht, gibt es ganz einfach nicht.«

«Warum sollte es keinen Engländer geben, der auf diesem Gebiet arbeitet«, meinte einer der Inspektoren.»Aber wir haben ihn nicht in unseren Akten.«

«Hören Sie mal, wir haben sie allesamt in unseren Akten«, knurrte Thomas. Der Gedanke, daß es in seinem Herrschaftsbereich einen professionellen Killer geben könnte, der nicht irgendwo aktenkundig geworden sein sollte, war wenig geeignet, ihn zu erheitern, und infolge der Erkältung und der Kopfschmerzen war seine Laune ohnehin nicht die beste. Immer, wenn er sich gereizt fühlte, machte sich sein walisischer Akzent stärker bemerkbar. In den dreißig Jahren, die er fernab der heimatlichen Täler verbracht hatte, war er ihn nie gänzlich losgeworden.

«Schließlich ist ein politischer Killer ein extrem seltener Vogel«, bemerkte der andere Inspektor.»Hier bei uns existiert so was vermutlich gar nicht. Es verstößt ganz einfach zu sehr gegen den guten englischen Geschmack. «Thomas sah ihn mißtrauisch an. Er zog das Wort» britisch «als

Bezeichnung für die Bewohner des Vereinigten Königreichs vor und vermutete, daß der Inspektor mit dem Gebrauch des Wortes» englisch «womöglich hatte andeuten wollen, die Waliser, Schotten oder Iren könnten sehr wohl einen solchen Mann hervorgebracht haben. Aber natürlich war nichts dergleichen beabsichtigt gewesen.

«Nun, dann schaffen Sie die Akten jetzt wieder in die Registratur zurück. Ich werde melden, daß eine gründliche Suche keinen in Betracht kommenden möglichen Täter zutage gefördert hat. Mehr können wir nicht tun.«

«Von wem kam denn die Anfrage, Super?«

«Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle nicht den Kopf zerbrechen, mein Junge. Es scheint, daß jemand in Schwierigkeiten ist, aber es sind, Gott sei Dank, nicht unsere.«

Die beiden jüngeren Männer hatten das gesichtete Material eingesammelt und schickten sich an, es in die Zentralkartei zurückzutragen. Beide wurden zu Hause von ihren Frauen erwartet, und einer von ihnen sollte dieser Tage Familienvater werden. Er war bereits an der Tür. Der andere wandte sich mit nachdenklich gerunzelter Stirn um.

«Super, ich habe mir etwas durch den Kopf gehen lassen, während ich die Akten überprüfte. Wenn tatsächlich ein solcher Mann existiert und dieser Mann britischer Staatsbürger sein sollte, wird er doch sowieso nicht hier operieren. Ich meine, selbst ein Mann wie er muß irgendwo eine Basis haben. Eine Art Buen Retiro, wo er sich sicher fühlen kann. Wahrscheinlich gilt er in seinem Land als ehrbarer Bürger.«

«Worauf wollen Sie hinaus, auf eine Art Dr.Jekyll und Mr. Hyde?«

«So ungefähr, ja. Ich meine, wenn es einen professionellen Killer des Typs gibt, den wir zu ermitteln versucht haben, und er so viel Format hat, daß irgendwer sich veranlaßt sah, Nachforschungen von diesem Ausmaß in Gang zu setzen, die jemand von Ihrem Dienstrang leitet, dann muß der gesuchte Mann schon ein As sein. Und wenn er das ist, auf seinem Gebiet, meine ich, muß er auch schon ein paar Aufträge dieser Art ausgeführt haben. Sonst wäre es mit seiner Reputation ja nicht weit her, oder?«

«Reden Sie weiter«, sagte Thomas, der ihm aufmerksam zugehört hatte.

«Nun ja, ich dachte nur, daß so ein Mann wahrscheinlich nur außerhalb seines Landes operiert. Solange alles nach Plan verläuft, würde er also die Aufmerksamkeit der internen Sicherungskräfte gar nicht auf sich ziehen. Vielleicht, daß der Geheimdienst irgendwann einmal von ihm Wind bekommen hat…«

Thomas erwog die Theorie des jungen Inspektors und schüttelte dann den Kopf.

«Denken Sie nicht weiter darüber nach und gehen Sie jetzt nach Hause, mein Junge. Ich schreibe den Bericht. Und vergessen Sie, daß wir jemals Nachforschungen angestellt haben. «Aber als sich der Inspektor verabschiedet hatte, ging Thomas die Idee, die ihm vorgetragen worden war, noch längere Zeit im Kopf herum. Er hätte sich jetzt hinsetzen und seinen Bericht schreiben können. Aber angenommen, an der Geschichte war doch etwas dran? Angenommen, die Franzosen hatten nicht, wie Thomas vermutete, wegen eines bloßen Gerüchts, das die Sicherheit ihres über alles geliebten Präsidenten betraf, den Kopf verloren? Wenn sie tatsächlich so wenig Anhaltspunkte hatten, wie sie behaupteten, und wenn es keinen Hinweis darauf gab, daß der Mann ein Engländer war, dann mußten sie in der ganzen Welt Erkundigungen dieser Art und dieses Umfangs anstellen lassen. Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß gar kein solcher Killer existierte, und wenn, daß er aus einem jener Länder kam, in denen der politische Mord eine alte Tradition hatte. Aber was wäre, wenn sich die Vermutungen der Franzosen als zutreffend erwiesen? Und sich zudem herausstellte, daß der Mann die britische Staatsangehörigkeit besaß?

Thomas war ungemein stolz auf den Ruf, den Scotland Yard — und insbesondere der Sicherheitsdienst des Yard — genoß. Schwierigkeiten von der Art, wie sie jetzt aufgetaucht waren, hatte es niemals gegeben. Kein einziges Mal hatten sie einen in England zu Besuch weilenden ausländischen Würdenträger aus den Augen verloren und nie auch nur die Andeutung eines Skandals zu befürchten gehabt. Um den verhaßten kleinen Russen Iwan Serow, den Leiter des KGB, hatte er sich selbst gekümmert, als er im Zug der Vorbereitungen für den Chruschtschow-Besuch nach England gekommen war, und es hatte Tausende von Balten und Polen gegeben, die ihm an den Kragen wollten. Kein einziger Schuß war gefallen, obschon es von Serows Sicherheitsleuten, die eine Pistole bei sich trugen und entschlossen waren, sie gegebenenfalls auch zu benutzten, überall nur so wimmelte.

Superintendent Bryn Thomas hatte noch zwei Jahre abzudienen, bevor ersieh pensionieren lassen und mit Meg in das von grünen Wiesen umgebene kleine Haus ziehen konnte, das er wegen seines Ausblicks auf den Bristol-Kanal gekauft hatte. Es war besser, auf sicher zu gehen und alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.

In seiner Jugend war Thomas ein ausgezeichneter Rugbyspieler gewesen, und mancher, der gegen Glamorgan gespielt hatte, erinnerte sich noch heute daran, wie wenig ratsam es gewesen war, am schwachbesetzten Flügel des gegnerischen Feldes vorbei einen Durchbruch zu versuchen, wenn Bryn Thomas im Sturm spielte. Er nahm auch jetzt noch regen Anteil an den Geschicken der London Welsh und fuhr, wann immer er die Zeit dazu fand, zum Old Deer Park nach Richmond hinaus, um sie spielen zu sehen. Er kannte alle Mitglieder der Mannschaft und saß nach dem Spiel meistens noch im Klubhaus mit ihnen zusammen.

Daß einer der Spieler zum Stab des Foreign Office gehörte, war den anderen Klubmitgliedern bekannt — mehr aber auch nicht. Thomas wußte, daß die zwar unter der Schirmherrschaft des

Foreign Office stehende, ihm jedoch nicht angegliederte Abteilung, für die Barrie Lloyd arbeitete, der Secret Intelligence Service war, der gelegentlich SIS, manchmal auch einfach nur» The Service«-»der Dienst«- und in der Öffentlichkeit vielfach — fälschlich — MI-6 genannt wurde.

Er griff zum Telephon, das auf seinem Tisch stand, und verlangte eine Nummer…

Die beiden Männer hatten sich zwischen 8 und 9 Uhr zu einem Bier in einem unten am Fluß gelegenen Pub verabredet. Sie sprachen eine Weile vom Rugby, aber Lloyd konnte sich ausrechnen, daß der Mann vom Sicherheitsdienst des Yard ihn nicht in einem am Flußufer gelegenen Pub hatte treffen wollen, um mit ihm über ein Spiel zu reden, für das die Saison erst in zwei Monaten begann. Als sie ihr Bier bekommen und einander mit» Cheers «zugeprostet hatten, deutete Thomas mit einem Kopfnicken auf die Terrasse hinaus, die zum Kai hinunterführte. Es war ruhiger draußen, denn die jungen Leute aus Chelsea und Fulham hatten größtenteils ihre Gläser geleert und waren im Begriff, zum Dinner aufzubrechen.

«Habe da übrigens so eine Art Problem, wissen Sie«, begann Thomas.»Dachte, daß Sie mir vielleicht ein bißchen weiterhelfen könnten.«»Wenn ich kann — «sagte Lloyd.

Thomas berichtete ihm von dem Ansuchen aus Paris und der Ergebnislosigkeit aller bisherigen kriminalpolizeilichen und sicherheitsdienstlichen Nachforschungen.

«Mir ist nun der Gedanke gekommen, daß dieser Mann, falls er ein Brite sein sollte, es sich womöglich zum Geschäftsprinzip gemacht haben könnte, sich in England nicht die Hände schmutzig zu machen, sondern grundsätzlich nur im Ausland zu operieren. Wenn er überhaupt je Spuren zurückgelassen hat, könnten sie nur dem Dienst zur Kenntnis gelangt sein.«»Dem Dienst?«fragte Lloyd befremdet.»Aber nun tun Sie doch nicht so, Barry. Wir erfahren zwangsläufig so einiges. «Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.»Während der Blake-Untersuchung mußten wir eine Menge Aktenmaterial zur Verfügung stellen. Viele Leute vom Foreign Office haben damals Einblick in das bekommen, was die Brüder in Wirklichkeit vorhatten. Ihre Personalakte war auch dabei, denn Sie waren zu der Zeit, in der er in Verdacht geriet, in seiner Sektion. Daher weiß ich, für welche Abteilung Sie arbeiten.«»Ich verstehe«, sagte Lloyd.

«Hören Sie, im Klub kennt man mich zwar nur als Bryn Thomas. Aber Sie wissen immerhin, daß ich Superintendent vom Sicherheitsdienst beim Yard bin. Schließlich können wir nicht ausnahmslos alle für jeden von uns anonym bleiben, stimmt's?«Lloyd starrte in sein Bierglas.»Ist das hier ein offizielles Ersuchen um Informationen?«»Nein, das kann ich noch nicht stellen. Das französische Ansuchen war inoffiziell. Es stammt von Lebel und erging an Mallinson. Weil er im Zentralarchiv nichts finden konnte, antwortete er, daß er nicht helfen könne. Aber er hat sich auch mit Dixon unterhalten, der mich dann bat, eine rasche Überprüfung vorzunehmen. Alles ganz inoffiziell und diskret, verstehen Sie? Gewisse Dinge können eben nur so behandelt werden. Sehr heikle Geschichte, das. Die Presse darf unter keinen Umständen davon Wind bekommen. Höchstwahrscheinlich gibt es hier bei uns in Großbritannien überhaupt nichts, was für Lebel von Interesse sein könnte. Ich wollte nur auf Nummer Sicher gehen und alle Möglichkeiten ausschöpfen. Sie waren die letzte.«

«Dieser Mann soll es auf de Gaulle abgesehen haben?«»Der ganzen Art des Ansuchens nach zu urteilen, zweifellos.

«Offenbar. Aber warum wenden sie sich nicht direkt an uns?«

«Das Ersuchen um Nennung von Namen ist über den >Old-Boy<-Draht gekommen, von Lebel direkt an Mallinson. Vielleicht hat der französische Geheimdienst keinen >Old-Boy<-Draht zu Ihrer Abteilung.«

Wenn Lloyd die Anspielung auf die notorisch schlechten Beziehungen zwischen dem SDECE und dem SIS nicht entgangen war, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

«Merkwürdig«, sagte Lloyd und blickte nachdenklich auf den Fluß hinaus.»Sie erinnern sich doch noch an den Fall Philby?«» Selbstverständlich. «

«Das Thema ist in unserer Sektion immer noch tabu«, fuhr Lloyd fort.»Im Januar 1961 ging er von Beirut aus rüber. Natürlich wurde die Geschichte erst später publik, aber die Sache verursachte damals ein Mordsspektakel im Service. Eine Menge Leute wurden versetzt.

Mußte sein, denn er hatte den größten Teil unserer arabischen Sektion und noch ein paar andere Leute dazu platzen lassen. Einer von denen, die ganz schnell ausgetauscht werden mußten, war unser Residenturchef in Westindien. Er war bis vor einem halben Jahr mit Philby zusammen in Beirut gewesen und dann nach Westindien versetzt worden.

Im gleichen Monat, es war im Januar, wurde Trujillo, der Diktator der Dominikanischen Republik, auf einer einsamen Landstraße unweit von Ciudad Trujillo ermordet. Den Berichten zufolge ist er von Partisanen umgebracht worden — er hatte viele Feinde. Unser Mann wurde damals nach London zurückgerufen, und wir arbeiteten eine Weile im gleichen Büro, bis man ihn dann wieder hinausschickte. Er erzählte mir von dem Gerücht, daß Trujillos Wagen durch einen einzigen Gewehrschuß gestoppt worden sei, den ein Scharfschütze abgegeben haben soll — aus hundertzwanzig Meter Entfernung. Durchschlug das kleine dreieckige Fenster neben dem Fahrersitz, das einzige, das nicht kugelsicher war. Der ganze Wagen war gepanzert. Der Schuß traf den Chauffeur in die Kehle, und er verlor sofort die Kontrolle über den Wagen.

Das war der Augenblick, in dem die Partisanen in Aktion traten. Das Merkwürdige daran ist, daß das Gerücht besagte, der Schütze sei ein Engländer gewesen.«

Die beiden Männer starrten eine Weile schweigend auf die jetzt schon nachtdunkle Themse hinaus, während ihnen das Bild einer kargen, ausgedörrten Landschaft auf einer fernen, heißen Insel vor Augen stand, in der eine mit hundertzwanzig Stundenkilometern dahinfahrende gepanzerte Limousine von der asphaltierten Straße abkam… Sie stellten sich den alten Mann in der mit Goldlitzen reich bestickten hellbraunen Uniform vor, der sein Land dreißig Jahre lang mit eiserner Faust regiert hatte und jetzt aus den Trümmern des Wagens gezerrt wurde, um unter den Pistolenschüssen der Partisanen neben dem Straßenrand im Staub zu verenden.

«Dieser Mann, von dem das Gerücht wissen will — kennt man seinen Namen?«

«Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht. Wir hatten damals andere Dinge im Kopf, und ein karibischer Diktator war das letzte, worüber wir uns Gedanken machten.«

«Und dieser Kollege, der es Ihnen erzählte — hat er einen Bericht geschrieben?«

«Muß er wohl. Das entspricht der üblichen Praxis. Aber es war nur ein Gerücht, verstehen Sie. Nur ein Gerücht. Nichts, worauf man etwas hätte geben können. Wir befassen uns mit Fakten und stichhaltigen Informationen.«

«Aber aktenkundig wird es doch sicher geworden sein — irgendwo?«

«Ich nehme es an«, sagte Lloyd.»Niedrigste Dringlichkeitsstufe. Lediglich ein Gerücht, das damals da drüben in den Kneipen und Bars kursierte. Muß überhaupt nichts besagen.«

«Aber Sie könnten doch vielleicht rasch einen Blick in die alten Akten werfen und nachsehen, ob der Mann dort namentlich genannt ist?«

Lloyd trat von der Balustrade zurück.

«Sie fahren jetzt am besten nach Hause«, sagte er dem Superintendenten.»Falls ich auf irgend etwas stoßen sollte, was in dieser Sache von Interesse sein könnte, rufe ich Sie an.«

Sie kehrten in das Pub zurück, stellten ihre Biergläser ab und gingen zum Ausgang.

«Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte Thomas, als sie sich trennten.»Vermutlich werden sich keine Anhaltspunkte ergeben. Aber auch nur die leiseste Chance dazu scheint mir schon den Versuch wert zu sein.«

Während Thomas und Lloyd sich in dem an der Themse gelegenen

Pub unterhielten und der Schakal in einem Dachgartenrestaurant in Mailand den Rest seiner Zabaglione auslöffelte, nahm Kommissar Claude Lebel in Paris an der im Konferenzraum des Innenministeriums stattfindenen Lagebesprechung teil.

Die Sitzordnung war die gleiche wie bei der vierundzwanzig Stunden zurückliegenden ersten Besprechung. Der Innenminister saß am oberen Ende des Tisches, an dessen Längsseiten die Abteilungsleiter Platz genommen hatten. Claude Lebel saß wieder am unteren Ende und hatte einen schmalen Aktenordner vor sich liegen. Mit einem freundlichen Nicken eröffnete der Minister die Sitzung.

Als erster sprach sein chef de cabinet. Im Laufe des gestrigen Tages und der vergangenen Nacht, berichtete er, habe jeder Zollbeamte an jeder Grenzstation Frankreichs Anweisung erhalten, das Gepäck aller einreisenden hochgewachsenen blonden Ausländer männlichen Geschlechts gründlich zu durchsuchen. Pässe seien besonders eingehend zu überprüfen und von den DST-Beamten beim Zoll insbesondere auf etwaige Fälschungen zu untersuchen. (Der Leiter des DST nickte bekräftigend.) Touristen und Geschäftsleuten mochte die so plötzlich gesteigerte Wachsamkeit der Zollbehörden zwar auffallen, aber man hielt es doch für unwahrscheinlich, daß irgendeiner der Betroffenen, deren Gepäck in solcher Weise durchsucht worden war, dahinterkommen könnte, daß diese Maßnahme sich auf blonde, hochgewachsene Männer beschränkte. Sollten von Seiten eines alerten Pressevertreters Erkundigungen angestellt werden, so habe die Erklärung zu lauten, daß es sich um routinemäßig vorgenommene Stichproben handele. Aber man bezweifelte, daß es überhaupt zu derartigen Anfragen kommen würde. Und noch etwas hatte Sanguinetti.zu berichten. Es war der Vorschlag gemacht worden, die Möglichkeit zu erörtern, ob man nicht einen der drei zur Zeit in Rom residierenden OAS-Chefs entführen solle. Aus diplomatischen Erwägungen heraus habe der Quai d'Orsay mit aller Entschiedenheit von einer solchen Idee abgeraten (allerdings war er auch nicht in die Schakal-Verschwörung eingeweiht worden) und werde darin vom Präsidenten (der die Hintergründe sehr wohl kannte) unterstützt. Als ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma schied der Vorschlag daher aus.

General Guibaud erklärte, daß die inzwischen vorgenommene vollständige Überprüfung einschlägiger Akten des SDECE keinerlei Hinweise auf die Existenz eines außerhalb der OAS oder ihres Sympathisantenkreises selbständig operierenden politischen Killers ergeben habe. Der Leiter der Renseignements Generaux erklärte, die Durchsicht relevanter Kriminalakten habe zum gleichen negativen Resultat geführt, und zwar nicht nur in Hinsicht auf französische Staatsbürger, sondern auch auf Ausländer, die jemals in Frankreich aktiv zu werden versucht hatten.

Als nächster erstattete der Chef der DST Bericht. Um 7 Uhr 30 am Morgen des gleichen Tages war ein Telephongespräch abgehört worden, das von einem in der Nähe der Gare du Nord befindlichen Postamt aus mit der Nummer des römischen Hotels, in welchem die drei OAS-Bosse sich aufhielten, geführt wurde. Seit sie sich dort vor acht Wochen eingemietet hatten, waren alle Bediensteten der internationalen Telephonauskunfts- und — vermittlungsstelle angewiesen, jedes mit dieser Nummer geführte Gespräch zu melden. Der betreffende Beamte, der an diesem Morgen den Dienst am Klappenschrank versah, hatte freilich die Verbindung bereits hergestellt gehabt, bevor er sich darüber klar wurde, daß es sich um die auf seiner Liste befindliche Nummer in Rom handelte. Immerhin brachte er die Geistesgegenwart auf, das Gespräch abzuhören. Die übermittelte Botschaft lautete:»Valmy an Poitiers. Der Schakal ist aufgeflogen. Kowalsky wurde geschnappt. Hat gesungen, bevor er starb. Ende.«

Ein paar Sekunden lang herrschte in dem Konferenzraum absolutes Schweigen.

«Wie haben die das herausbekommen?«ließ sich schließlich Lebels Stimme vom unteren Ende des Tisches her vernehmen. Mit Ausnahme Oberst Rollands, der nachdenklich einen imaginären Punkt auf der ihm gegenüberliegenden Wand anstarrte, richteten alle den Blick auf den Kommissar.

«Verdammt«, sagte Rolland, noch immer auf die Wand starrend, laut und vernehmlich. Die Blicke wanderten zum Chef des Aktionsdienstes hinüber.

«Marseille«, sagte der Oberst.»Um Kowalsky nach Marseille zu locken, haben wir einen Köder benutzt. Einen alten Freund namens Jo-Jo Grzybowski. Der Mann ist verheiratet und hat eine Tochter. Wir hielten sie alle drei in Schutzhaft, bis sich Kowalsky in unserer Hand befand. Dann erlaubten wir ihnen, nach Hause zurückzukehren. Was ich von Kowalsky wollte, waren lediglich

Informationen über seine Chefs. Zu dem Zeitpunkt hatten wir von der Schakal-Verschwörung noch keine Kenntnis. Es bestand daher auch kein Grund, ihnen zu verheimlichen, daß wir Kowalsky gefaßt hatten. Seither hat sich die Situation freilich geändert. Es muß der Pole Jo-Jo gewesen sein, der den Agenten Valmy informiert hat. Tut mir leid.«

«Hat die DST Valmy auf dem Postamt erwischt?«fragte Lebel.

«Nein, infolge der Dummheit des Fernsprechbeamten vefehlten wir ihn um wenige Minuten«, erklärte der Leiter der DST.

«Also gleich eine Serie eklatanter Fehlschläge und Versäumnisse, wie mir scheint«, bemerkte Oberst Saint Clair beißend. Die Blicke, die sich auf ihn richteten, waren nicht gerade freundlich zu nennen.

«Wir tasten im dunklen — nach einem unbekannten Gegner«, entgegnete General Guibaud.»Wenn es den Obersten drängen sollte, freiwillig die Leitung der Operation zu übernehmen — und selbstverständlich auch die Verantwortung…«

Der Oberst aus dem Elysee-Palast betrachtete angelegentlich die vor ihm liegenden Besprechungsunterlagen, als käme ihnen größere Bedeutung zu als der kaum verhüllten Drohung, die in der Bemerkung des Generals gelegen hatte. Aber er begriff, daß seine Äußerung nicht sonderlich klug gewesen war.

«In gewisser Weise«, gab der Minister zu bedenken,»ist es ebensogut, wenn sie wissen, daß ihr gedungener Schütze aufgeflogen ist. Immerhin werden sie die Aktion jetzt doch wohl abblasen müssen?«

«Genau das«, sagte Saint Clair, darauf bedacht, wieder an Boden zu gewinnen.»Der Minister hat völlig recht. Die müßten ja verrückt sein, wenn sie jetzt noch weitermachen wollten. Sie werden den Mann zweifellos zurückpfeifen.«

«Er ist nicht wirklich aufgeflogen«, bemerkte Lebel, dessen Anwesenheit man ganz allgemein fast schon vergessen zu haben schien.»Wir kennen den Namen des Mannes noch immer nicht. Die Warnung mag ihn lediglich veranlaßt haben, für zusätzliche Absicherungen zu sorgen, als da sind falsche Papiere, Tarnung durch maskenbildnerische Tricks und so weiter…«

Der Optimismus, den die Bemerkung des Ministers in der Tischrunde hervorgerufen hatte, verflüchtigte sich schlagartig. Roger Frey musterte den kleinen Kommissar respektvoll.

«Ich hielte es für angebracht, wenn wir uns jetzt KommissarLebels Bericht anhörten, meine Herren. Schließlich leitet er diese Ermittlungen, und wir sind hier, um ihm dabei behilflich zu sein, wo immer wir können.«

In dieser Weise dazu aufgefordert, zählte Lebel die Maßnahmen auf, die er seit dem vergangenen Abend eingeleitet hatte; erwähnte die wachsende Überzeugung, in der er sich durch die Überprüfung der einschlägigen französischen kriminalpolizeilichen und sicherheitsdienstlichen Unterlagen bestärkt fühlte, daß der Ausländer, wenn überhaupt, dann nur in irgendeinem anderen Land aktenkundig sein könne. Berichtete von seiner Forderung, durch kooperierende Polizeibehörden anderer Staaten Ermittlungen anstellen zu lassen, und stellte klar, daß die Genehmigung hierzu erteilt worden sei. Schilderte die Gespräche, die er über das Interpol-Netz mit den Polizeichefs sieben verschiedener Länder geführt hatte.

«Die Auskünfte trafen im Laufe des Tages ein«, faßte Lebel zusammen.»Sie lauteten wie folgt: Holland: Nichts. Italien: Mehrere kriminalpolizeilich erfaßte Killer, die auf Kontraktbasis arbeiten, allesamt jedoch ausschließlich im Auftrag der Mafia. Diskrete Rückfragen der Carabinieri beim Capo in Rom wurden mit der Versicherung beantwortet, daß kein Mafia-Killer jemals einen politischen Mord begehe, es sei denn auf Weisung, und daß die Mafia der Ermordung eines ausländischen Staatsmannes nie zustimmen würde. «Lebel blickte auf.»Ich persönlich neige zu der Annahme, daß dies vermutlich der Wahrheit entspricht.

Weiter. Großbritannien: Nichts. Allerdings ist die weitere Ermittlung einer anderen Abteilung dem Sicherheitsdienst des Yard — übertragen worden.«

«Langsam wie immer«, murmelte Saint Clair halblaut. Lebel hörte die Bemerkung und blickte wiederum auf.

«Aber sehr gründlich, das muß man unseren englischen Freunden lassen. Unterschätzen Sie Scotland Yard nicht. «Er fuhr fort:»Amerika: Zwei Möglichkeiten. Einmal die rechte Hand eines von Miami aus operierenden Waffenhändlers. Der Mann war früher im US-Marine Corps und später CIA-Agent in Westindien. Wurde geschaßt, weil er kurz vor dem Desaster in der Schweinebucht einen kubanischen Anti-Castroisten in einem Streit getötet hat. Der Kubaner hätte bei dem Unternehmen eine Abteilung befehligen sollen. Der Amerikaner wurde dann von dem Waffenhändler engagiert, der zu den Leuten gehörte, mit deren inoffizieller Hilfe die

CIA die Schweinebucht-Invasionstruppe bewaffnet hatte. Man nimmt an, daß der Amerikaner für zwei ungeklärte Unfälle verantwortlich ist, denen unliebsame Konkurrenten seines Arbeitgebers zum Opfer fielen. Der Mann heißt Charles >Chuck< Arnold. Das FBI ist jetzt dabei, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln.

Bei Marco Vitellino, dem zweiten Mann, den das FBI nannte, handelt es sich um einen ehemaligen persönlichen Leibwächter von Albert Anastasia, dem New Yorker Gangsterboß. Dieser Capo wurde 1957 in einem Friseurstuhl erschossen, und Vitellino flüchtete außer Landes, weil er um sein eigenes Leben fürchten mußte. Er ließ sich in Caracas, Venezuela, nieder und versuchte dort auf eigene Faust, wieder ins Geschäft zu kommen, jedoch ohne Erfolg. Die Unterwelt boykottierte ihn. Das FBI hält es für möglich, daß er sich, sofern er völlig mittellos sein sollte, bereit erklären könnte, einen ihm von einer ausländischen Organisation angetragenen Mordauftrag auszuführen, vorausgesetzt, das Honorarangebot ist hoch genug.«

Im Konferenzraum des Innenministeriums herrschte Totenstille. Die vierzehn anwesenden Männer waren Lebels Ausführungen gebannt gefolgt.

«Belgien: Eine Möglichkeit. Psychopathischer Mörder, früher im Stab Tschombes in Katanga. 1962 von den Truppen der Vereinten Nationen gefangengenommen und außer Landes verwiesen. Konnte wegen Mordanklage in zwei Fällen nicht nach Belgien zurückkehren. Ein gedungener Mordschütze, aber ein gerissener Kopf. Heißt Jules Beranger. Vermutlich ebenfalls nach Zentralamerika emigriert. Die belgische Polizei hat seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort jedoch noch immer nicht zweifelsfrei ermitteln können.

Deutschland: Eine Möglichkeit. Hans-Dieter Kassel, ehemaliger SS-Führer, in zwei Ländern wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Lebte nach dem Krieg unter angenommenem Namen in Westdeutschland und war für ODESSA, die Untergrundorganisation ehemaliger SS-Mitglieder, als Kontraktkiller tätig. Der Mittäterschaft an der Ermordung zweier sozialistischer Nachkriegspolitiker verdächtig, die auf eine Intensivierung der Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher gedrängt hatten. Später als Kassel identifiziert, aber dank eines Hinweises, der ihm von einem höheren Polizeibeamten, der daraufhin seinen Posten verlor, gegeben worden war. nach Spanien entkommen. Lebt jetzt vermutlich in Madrid.«'i Lebel sah von seinen Papieren auf.» Übrigens scheint mir der]

Mann für diese Art von Job doch ein wenig zu alt zu sein. Er ist| jetzt siebenundfünfzig.«

Dann fuhr er fort.»Und schließlich Südafrika: Ein möglicher Täter. Professioneller Söldner. Name: Piet Schuyper. Ebenfalls einer von Tschombes Leuten. In Südafrika j liegt offiziell nichts gegen ihn vor, aber er wird als unerwünscht er-] achtet. Ein Meisterschütze und ein ausgesprochener Spezialist für individuellen Mord. Wurde Anfang dieses Jahres nach dem Zusammenbruch der katangesischen Sezession aus dem Kongo abgeschoben. Hält sich vermutlich irgendwo in Westafrika auf. Die Südafrikaner ermitteln weiter. «Er hielt inne und blickte auf. Die vierzehn Männer, die um den Tisch herumsaßen, sahen ihn ihrerseits unverwandt an.

«Alles das«, meinte Lebel unzufrieden,»ist natürlich noch sehr vage. Einmal, weil ich es zunächst nur bei den sieben Ländern versucht habe, in denen der Schakal möglicherweise bereits aktenkundig geworden sein könnte. Aber selbstverständlich kann er auch Schweizer, Österreicher oder sonst irgend etwas sein. Drei von sieben Ländern meldeten, daß sie keine in Frage kommenden Täter zu nennen wüßten. Das mag eine Fehleinschätzung sein. Der Schakal könnte auch die italienische, die holländische oder die englische Staatsbürgerschaft besitzen. Ebensogut kann er ein Südafrikaner, Belgier, Deutscher oder Amerikaner sein, dessen kriminelle Tätigkeit den Polizeibehörden seines Landes bis dato nicht zur Kenntnis gelangt ist. Man weiß es nicht. Man tastet im dunkeln und kann nur hoffen, daß wir möglichst bald auf einen entscheidenden Hinweis stoßen.«

«Mit der bloßen Hoffnung ist uns nicht gedient«, bemerkte Saint Clair sarkastisch.

«Vielleicht hat der Oberst andere Vorschläge zu machen?«erkundigte sich Lebel höflich.

«Ich persönlich glaube ganz sicher, daß der Mann zurückgepfiffen worden ist«, erklärte Saint Clair eisig.»Es ist völlig ausgeschlossen, daß es ihm jetzt, nachdem seine Absicht bekannt ist, überhaupt noch gelingt, jemals nahe genug an den Präsidenten; heranzukommen. Was auch immer Rodin und seine Gesinnungsgenossen diesem Schakal geboten haben mögen, sie werden ihr; Geld zurückfordern und die Aktion abblasen.«»Sie glauben, daß der Mann zurückgepfiffen wurde«, wandte j Lebel ein,»aber Glauben ist vom Hoffen nicht so weit entfernt.

Ich würde es vorziehen, die Ermittlungen zunächst fortzusetzen.«»Wie steht es mit diesen Ermittlungen, Kommissar?«fragte der Minister.

«Die Polizeibehörden, die uns die erwähnten Namen nannten, haben mit der fernschriftlichen Übermittlung der vollständigen Dossiers bereits begonnen. Bis morgen mittag erwarte ich den letzten Bericht. Funkbilder der Betreffenden erhalten wir ebenfalls. Einige Polizeibehörden setzen ihre Nachforschungen zur Ermittlung der Verdächtigen mit Hochdruck fort, damit wir dann den Fall übernehmen können.«

«Meinen Sie, daß sie den Mund halten werden?«fragte Sangui-netti.

«Ich sehe keinen Grund, warum sie das nicht tun sollten«, entgegnete ihm Lebel.»Hunderte von vertraulichen Anfragen werden alljährlich an höhere Polizeibeamte der Interpol-Länder gerichtet, darunter nicht wenige über persönliche Kontakte und inoffizielle Drähte. Glücklicherweise sind sich ausnahmslos alle Länder ungeachtet ihrer politischen Orientierung in der Bekämpfung des Verbrechens einig. Mit Rivalitäten, wie sie die mit den internationalen Beziehungen befaßten diplomatischen und politischen Organe kennen, haben wir es daher nicht zu tun. Die Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden ist ausgezeichnet.«

«Auch in der Bekämpfung politischer Verbrechen?«fragte Roger Frey.

«Für Polizisten, Herr Minister, bleibt ein Verbrechen ein Verbrechen. Das ist der Grund, weshalb ich lieber meine ausländischen Kollegen zu Rate ziehen wollte, statt meine Anfrage an die verschiedenen Auswärtigen Ämter zu richten. Zweifellos werden die Vorgesetzten meiner Kollegen darüber unterrichtet werden müssen, daß Nachforschungen angestellt wurden, aber sie haben keinerlei Veranlassung, das Vorgehen ihrer Untergebenen zu mißbilligen oder auch nur irgendein Aufhebens davon zu machen. In der ganzen Welt ist der politische Mörder ein Geächteter.«

«Aber wenn sie schon wissen, daß Ermittlungen angestellt wurden, werden sie sich auch ausrechnen können, worum es sich dreht, und die Gelegenheit wahrnehmen, sich insgeheim über unseren Präsidenten lustig zu machen«, rügte Saint Clair.

«Ich sehe nicht, warum sie das tun sollten«, erwiderte Lebel.»Eines Tages könnten sie selbst an der Reihe sein.«»Sie wissen nichts von der Politik, wenn Ihnen nicht klar ist, daß manche

Leute nur zu glücklich wären, wenn sie erführen, daß ein Killer es auf den Präsidenten der Republik abgesehen hat«, ereiferte sich Saint Clair.»Die öffentliche Kenntnis der Angelegenheit ist genau das, was der Präsident um jeden Preis vermieden wissen wollte.«»Von öffentlicher Kenntnis kann gar keine Rede sein«, erwiderte Lebel.»Es ist im Gegenteil eine Kenntnis, die auf eine knappe Handvoll Männer beschränkt bleibt. Diese Männer sind in Geheimnisse eingeweiht, deren Preisgabe fünfzig Prozent aller Politiker ihres Landes ruinieren würde. Einige von ihnen kennen die geheimsten Einzelheiten der militärischen Einrichtungen, die Europas Sicherheit garantieren. Sie müssen sie kennen, um sie schützen zu können. Wenn sie nicht verschwiegen wären, würden sie nicht das Amt haben, das sie zum Teil seit Jahren bekleiden.«

«Wenn ein paar Leute wissen, daß wir nach einem Killer fahnden, so ist das immer noch besser, als daß wir ihnen Einladungen zum Begräbnis des Präsidenten schicken müssen«, knurrte Bouvier.»Zwei Jahre lang haben wir die OAS bekämpft. Die Instruktionen des Präsidenten gingen dahin, daß es über diese Dinge keine Schlagzeilen geben und nichts an die breite Öffentlichkeit gelangen dürfe.«

«Aber meine Herren«, schaltete sich der Minister ein,»das genügt jetzt. Ich war es, der Kommissar Lebel ermächtigt hat, mit den Leitern ausländischer Polizeibehörden in dieser Sache Fühlung aufzunehmen. Das geschah«- er blickte zu Saint Clair hinüber —»nach Rücksprache mit dem Präsidenten.«

Die allgemeine Belustigung über die Niederlage des Obersten war unverhohlen.

«Sonst noch etwas?«fragte Roger Frey.

Rolland hob die Hand.

«Wir unterhalten ein ständiges Büro in Madrid«, sagte er.»Es gibt eine Anzahl OAS-Flüchtlinge in Spanien, und deswegen haben wir es eingerichtet. Wir könnten über den Nazi Kassel Erkundigungen einziehen, ohne auf die Westdeutschen angewiesen zu sein. Soweit ich weiß, sind unsere Beziehungen zum Bonner Auswärtigen Amt noch immer nicht die allerbesten.«

Seine Anspielung auf die Argoud-Entführung und die daraus resultierende Verärgerung Bonns rief hier und dort ein amüsiertes Lächeln hervor. Frey sah Lebel fragend an.

«Danke«, sagte der Detektiv,»es wäre außerordentlich hilfreich, wenn Sie den Mann lokalisieren könnten. Im übrigen kann ich alle Abteilungen nur bitten, mir weiterhin die Unterstützung zuteil werden zu lassen, die Sie mir schon während der vergangenen vierundzwanzig Stunden gewährten.«

«Dann also bis morgen, meine Herren«, sagte der Minister, nahm die vor ihm liegenden Papiere und erhob sich. Die Sitzung war beendet.

Draußen auf der Freitreppe atmete Lebel tief die milde Pariser Nachtluft ein. Die Kirchturmuhren schlugen zwölf und läuteten den neuen Tag ein. Es war Donnerstag, der 13. August.

Kurz nach Mitternacht rief Barrie Lloyd Superintendent Thomas in dessen Wohnung in Chiswick an. Thomas war gerade im Begriff gewesen, die Nachttischlampe auszuknipsen, und hatte angenommen, daß der SIS-Mann ihn am anderen Morgen anrufen würde.»Ich habe den Durchschlag des Berichts gefunden, von dem wir sprachen«, sagte Lloyd.»In gewisser Weise hatte ich recht. Es handelt sich tatsächlich nur um einen Routinebericht über ein Gerücht, das damals auf der Insel umging. Erhielt, kaum daß er eingegangen war, den Vermerk: >Keine Maßnahme erforderlich< Wie ich schon sagte, hatten wir zu der Zeit genügend andere Dinge um die Ohren.«

«Ist irgendein Name erwähnt worden?«fragte Thomas leise, um seine neben ihm liegende Frau nicht im Schlaf zu stören.

«Ja, ein gewisser Charles Chalthrop, ein britischer Geschäftsmann, der etwa zu jenem Zeitpunkt verschwand. Er braucht mit der Geschichte nichts zu tun gehabt zu haben, aber das Gerücht bringt seinen Namen damit in Verbindung.«

«Danke, Barrie. Ich gehe der Sache gleich morgen früh nach. «Er legte den Hörer auf und knipste die Nachttischlampe aus.

Als gewissenhafter junger Mann verfaßte Lloyd eine kurze Notiz über das Ansuchen und seine Reaktion hierauf und sandte sie an die zentrale Verteilerstelle. In den frühen Morgenstunden überflog der diensttuende Beamte die Notiz und war einen Augenblick unschlüssig. Da sie Paris betraf, steckte er sie schließlich in den Umschlag, der für das Referat Frankreich des Foreign Office bestimmt war. Den Gepflogenheiten entsprechend, sollte der Umschlag noch im Laufe des Vormittags dem Leiter des Referats persönlich ausgehändigt werden.

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