ACHTZEHNTES KAPITEL

Auch am Morgen des 21. August war der Himmel so strahlend und klar wie schon an den vorangegangenen vierzehn Tagen der hochsommerlichen Hitzewelle. Von den Fenstern des Chateau de la Haute Chalonniere aus, die den Blick auf die hügelige Heidelandschaft freigaben, wirkte der Morgen heiter und friedlich und verriet keinerlei Anzeichen der Unruhe, die eben jetzt durch die polizeiliche Großaktion im achtzehn Kilometer entfernten Egle-tons verursacht wurde.

Nur mit seinem Morgenmantel bekleidet, stand der Schakal im Arbeitszimmer des Barons am Fenster und meldete sein allmorgendliches Routinegespräch mit Paris an. Er hatte seine Geliebte nach einer weiteren wilden Liebesnacht oben in ihrem Zimmer schlafend zurückgelassen.

Als die Verbindung mit Paris hergestellt war, meldete er sich wie gewohnt mit »Ici Chacal«.»Ici Valmy«, sagte die heisere Stimme am anderen Ende der Leitung.»Die Dinge sind wieder in Bewegung geraten. Sie haben den Wagen gefunden…«

Er lauschte zwei Minuten lang angespannt und stellte nur ab und zu eine knappe Zwischenfrage. Dann legte er mit einem abschließenden »Merci« den Hörer auf und griff nach Zigaretten und Feuerzeug in seine Taschen. Was er soeben erfahren hatte, zwang ihn, seine Pläne, ob er es wollte oder nicht, zu ändern. Er hatte beabsichtigt, noch weitere zwei Tage auf dem Schloß zu bleiben, aber jetzt mußte er von hier verschwinden, und je eher er das tat, desto besser. Außerdem war da noch etwas gewesen, weswegen ihn das Gespräch beunruhigte — etwas, das ihn hätte stutzig machen sollen.

Es war ihm zunächst gar nicht aufgefallen, aber als er jetzt an seiner Zigarette zog, kam es ihm zum Bewußtsein. Kurze Zeit nachdem er den Hörer aufgenommen hatte, war ein leises Klicken in der Leitung vernehmbar gewesen. Bei den Telephongesprächen der letzten drei Tage hatte er nichts dergleichen gehört. In Colettes Zimmer gab es zwar einen Nebenanschluß, aber sie hatte bestimmt ganz fest geschlafen, als er aufstand. Bestimmt… Er drückte die Zigarette aus und warf den Stummel zum offenen Fenster auf den Kiesboden hinaus. Dann drehte er sich abrupt um, rannte lautlos auf bloßen Füßen die Treppe hinauf und stürmte ins Schlafzimmer. Der Telephonhörer war auf die Gabel zurückgelegt worden. Der Garderobenschrank stand offen, die drei geöffneten Koffer und sein Schlüsselring lagen auf dem Fußboden. Die Baronin hockte inmitten des Durcheinanders auf den Knien und starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Um sie herum lag eine Anzahl schlanker Stahlröhren, deren zum Verschluß der offenen Enden bestimmte Kappen abgenommen worden waren. Aus einer der Röhren ragte das Zielfernrohr heraus, aus einer anderen die Mündung des Schalldämpfers. Sie hielt etwas in den Händen — etwas, das sie voll Schrecken angestarrt hatte, als er eintrat.

Sekundenlang blieben beide stumm. Der Schakal faßte sich zuerst.»Du hast mitgehört.«

«Ich — ich wollte wissen, mit wem du jeden Morgen telephonierst.«

«Ich dachte, du schläfst.«

«Nein. Ich werde immer wach, wenn du aufstehst. Dieses… Ding- das ist ein Gewehr, eine Mordwaffe.«

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und doch drückte sich darin die unsinnige Hoffnung aus, er könne erklären, daß es sich um etwas anderes, etwas ganz Harmloses handele. Er sah auf sie hinunter, und zum erstenmal bemerkte sie, daß sich die grauen Flecken in seinen Augen vermehrt und deren Ausdruck wie mit einem wolkigen Schleier überzogen hatten. Sein Blick war kalt und leblos geworden, und sie hatte das Gefühl, als starre eine Maschine sie an.

Sie richtete sich zögernd auf und ließ den Gewehrlauf scheppernd zu Boden fallen.

«Du willst ihn umbringen«, flüsterte sie.»Du bist einer von den OAS-Leuten. Du brauchst dies hier, um de Gaulle damit zu töten.«

Daß er ihr nicht antwortete, war Antwort genug. Sie wollte zur Tür stürzen. Er fing sie mühelos ein und schleuderte sie quer durch den Raum, setzte ihr mit drei raschen Schritten nach und warf sie aufs Bett. Auf das zerwühlte Laken gestreckt, öffnete sie den Mund, um zu schreien. Ein Hieb mit dem Handrücken auf die Halsschlagader würgte den Schrei ab, noch bevor er aus ihrem Mund gedrungen war. Dann packte der Schakal mit seiner Linken ihr Haar und drehte ihr den Kopf mit dem Gesicht nach unten über die Bettkante. Ein Ausschnitt aus dem Teppichmuster war das letzte, was sie wahrnahm, bevor der Handkantenschlag mit voller Wucht auf ihren Nacken niederfuhr.

Der Schakal ging zur Tür, um zu lauschen, aber von unten drang kein Laut herauf. Ernestine war vermutlich in der im hinteren Teil des Schlosses gelegenen Küche, um das Frühstück zu richten, und Louison würde sich in Kürze auf den Weg zum Markt machen. Glücklicherweise waren beide ziemlich schwerhörig.

Er steckte die Einzelteile des Gewehrs wieder in die Stahlrohre zurück, packte diese in den dritten Koffer mit dem Armeemantel und den ungereinigten Kleidungsstücken Andre Martins und tastete das Kofferfutter nach den Papieren ab, um sicherzugehen, daß sie sich noch an ihrem Platz befanden. Dann schloß er den

Koffer zu. Der zweite Koffer, der die Garderobe des dänischen Pastors Per Jensen enthielt, war geöffnet, aber nicht durchwühlt worden.

Er brauchte fünf Minuten, um sich in dem ans Schlafzimmer angrenzenden Bad zu waschen und zu rasieren. Anschließend nahm er seine Schere zur Hand und verbrachte weitere zehn Minuten damit, sein langes blondes Haar sorgfältig hochzukämmen und es gute fünf Zentimeter kürzer zu schneiden. Alsdann bürstete er genügend Färbemittel hinein, um ihm die eisengraue Haarfarbe eines älteren Mannes zu verleihen. Die Feuchtigkeit des Färbemittels erlaubte es ihm schließlich, es genau in der Weise zu bürsten, wie es auf dem Photo in Pastor Jensens Paß, den er vor sich auf das Bord über dem Waschbecken gelegt hatte, zu sehen war. Zu guter Letzt setzte er sich die Kontaktlinsen ein.

Er spülte alle Spuren des Färbemittels fort, wischte das Waschbecken sorgfältig aus, nahm sein Rasierzeug und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Der nackten Leiche auf dem Bett gönnte er keinen weiteren Blick.

Er zog sich die Socken, das Hemd, die Hose und die Weste an, die er in Kopenhagen gekauft hatte, legte den steifen weißen Priesterkragen um und band sich das schwarze Plastron. Schließlich schlüpfte er in die festen schwarzen Schuhe und zog sich die schwarze Anzugjacke über. Er steckte die goldgeränderte Brille in die Brusttasche, packte sein Wasch-und Rasierzeug in die Reisetasche und legte auch das dänische Buch über die französischen Kathedralen dazu. Der Paß des Dänen wanderte in die innere Anzugtasche, ein Bündel Banknoten desgleichen. Seine englischen Kleidungsstücke legte er in den Koffer, aus dem er sie entnommen hatte, und schloß auch diesen ab.

Inzwischen war es fast 8 Uhr geworden, und Ernestine konnte jeden Augenblick mit dem Morgenkaffee kommen. Die Baronin hatte versucht, ihre Affäre vor den Dienstboten zu verheimlichen, denn beide waren in den Baron vernarrt gewesen, als er noch ein kleiner Junge war, und auch dem späteren Schloßherrn rückhaltlos ergeben.

Vom Fenster aus sah der Schakal Louison den breiten Pfad, der zum Portal des Anwesens führte, hinunterradeln, während der leichte Einkaufsanhänger hüpfend hinter dem Rad herrollte. Im gleichen Augenblick hörte er Ernestine an die Tür klopfen. Er gab keinen Laut von sich. Sie pochte nochmals.»Ya vot', cafe, ma-dame«, kreischte sie durch die verschlossene Tür. Der Schakal überlegte kurz und rief dann mit verschlafener Stimme auf französisch:

«Stellen Sie ihn nur ab, wir holen ihn uns, wenn wir soweit sind. «Ernestine sagte nur:»Oh. «Skandalös! Dahin war es also gekommen — und das im Schlafzimmer des Schloßherrn! Sie eilte die Treppe hinab, um Louison von ihrer Entdeckung zu unterrichten, aber da er fortgefahren war, mußte sie sich damit begnügen, dem Küchenausguß über die moralische Verkommenheit der Menschen heutzutage, die so ganz anders waren als zu Zeiten des alten Barons, eine längere Predigt zu halten. So konnte sie auch nicht das dumpfe Poltern hören, mit dem vier an zusammengeknoteten Bettlaken aus dem Fenster herabgelassene Gepäckstücke in dem Blumenbeet vor der Schloßfront aufschlugen.

Sie ahnte nicht, daß auf dem Bett im Stockwerk über ihr der leblose Körper ihrer Herrin zu einer täuschend lebensecht wirkenden Schlummerpose arrangiert und der Toten die Bettdecke bis unters Kinn hinaufgezogen wurde. Sie hörte weder das Geräusch, mit dem der draußen auf dem Gesims hockende grauhaarige Mann den Fensterflügel hinter sich zuzog, noch den gedämpften Aufprall, als er mit einem Sprung auf dem Rasen landete.

Was sie hörte, war das Brummen des Motors, als in dem zur Garage umgebauten Pferdestall neben dem Schloß Madames Renault angelassen wurde. Durchs Küchenfenster konnte sie den Wagen gerade noch um die Ecke biegen und über den vorderen Schloßhof die Auffahrt hinunterjagen sehen.

«Na, was die nur jetzt wieder vorhaben mag?«murmelte sie kopfschüttelnd und stieg neuerlich die Treppe hinauf. Der Kaffee auf dem vor der Schlafzimmertür abgestellten Tablett war noch lauwarm und unberührt. Nachdem sie ein paarmal geklopft hatte, versuchte sie die Tür zu öffnen. Sie war abgeschlossen, und die Tür zum Gästezimmer ebenfalls. Niemand antwortete ihr. Ernestine fand, daß hier außergewöhnliche Dinge vor sich gingen, Dinge von der Art, wie sie sich seit den Tagen, da sich die Boches als Dauergäste im Schloß einquartiert und dem Baron die verrücktesten Fragen nach dem jungen Herrn gestellt hatten, nicht mehr passiert waren.

Sie beschloß, Louison zu konsultieren. Er müßte jetzt auf dem Marktplatz angelangt sein, und jemand aus dem Cafe würde gehen und ihn ans Telephon holen. Sie wußte nicht, wie der Apparat funktionierte; sie glaubte, wenn man den Hörer aufnahm, müsse sich jemand melden und die gewünschte Person ans Telephon holen. Aber es war alles Unsinn. Sie hielt den Hörer zehn Minuten lang an ihr Ohr, ohne daß jemand das Wort an sie richtete. Daß die Schnur dort, wo sie die Scheuerleiste der Bibliothek berührte, säuberlich durchgeschnitten war, entging ihrer Aufmerksamkeit.

Gleich nach dem Frühstück flog Claude Lebel im Hubschrauber nach Paris zurück. Wie er Caron später berichtete, hatte Valentin trotz der Behinderung durch die Sturheit der Bauern ausgezeichnete Arbeit geleistet. Gegen 8 Uhr war die Spur des Schakals bereits bis zu einem Cafe verfolgt, wo dieser gefrühstückt hatte, und Valentin suchte nach dem Fahrer eines Taxis, das telephonisch bestellt worden war. In der Zwischenzeit hatte er die Errichtung von Straßensperren in einem Umkreis von zwanzig Kilometer rund um Egletons angeordnet, und bis Mittag würden sie an Ort und Stelle gebracht und das Gebiet abgeriegelt sein.

Valentins Umsicht und Tatkraft hatten Lebel bewogen, ihm immerhin anzudeuten, wieviel von der Ergreifung des Schakals abhing, und Valentin hatte sich seinerseits bereit erklärt, einen Ring um Egletons zu legen, der nach seinen eigenen Worten» so festgeschlossen wie das Arschloch einer Maus «war.

Von Haute Chalonniere aus jagte der Renault in südlicher Richtung durchs Gebirge auf Tülle zu. Der Schakal schätzte, daß die Polizei, wenn sie seit gestern abend im ständig erweiterten Umkreis der Stelle, wo der Alfa gefunden worden war, Ermittlungen durchführte, bei Einbruch der Dämmerung Egletons erreicht haben mußte. Der Mann hinter der Theke würde reden, der Taxifahrer ebenfalls und das Schloß spätestens am Nachmittag umstellt sein, sofern sich das nicht durch irgendwelche unvorhergesehenen Umstände verzögerte.

Aber selbst dann würden sie nach einem blonden Engländer suchen, denn er hatte sorgfältig darauf geachtet, daß ihn niemand als grauhaarigen Pastor zu Gesicht bekam. Dennoch würde er ihnen diesmal nur mit knapper Not entkommen. Er jagte den kleinen Wagen in halsbrecherischem Tempo über die gebirgigen Nebenstraßen und traf schließlich achtzehn Kilometer südwestlich von Egletons auf die RN 8 nach Tülle, wohin es noch zwanzig Klimmeter waren. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: es war zwanzig Minuten vor zehn.

Als er am Ende einer langen Geraden hinter einer Biegung verschwand, kam ein kleiner Polizeikonvoi von Egletons her die Straße heruntergebraust. Der Konvoi stoppte mitten auf der geraden Strecke, und sechs Polizisten begannen eine Straßensperre zu errichten.

«Was heißt: >Er ist unterwegs

«Ich weiß nicht, Monsieur. Ich weiß es nicht. Er wartet jeden Morgen am Bahnhofsplatz auf den Zug aus Ussel. Wenn niemand aussteigt, kommt er hierher zurück und geht in die Werkstatt, um mit den Reparaturarbeiten weiterzumachen. Wenn er nicht zurückkommt, heißt das, daß er einen Fahrgast hat.«

Valentin blickte mißmutig drein. Es hatte keinen Sinn, die Frau anzuschreien. Es war ein EinMann-Taxibetrieb, den ein Bursche leitete, der nebenher auch Autoreparaturen ausführte.

«Hat er am Freitagmorgen irgend jemanden gefahren?«fragte er in ruhigerem Tonfall.

«Ja, Monsieur. Er ist vom Bahnhof zurückgekommen, weil dort niemand war, und dann kam ein Anruf aus dem Cafe, daß jemand ein Taxi bestellen wollte. Er hatte gerade ein Rad abgenommen und befürchtete, daß der Kunde inzwischen weggehen und ein anderes Taxi nehmen könnte. Deswegen hat er während der ganzen zwanzig Minuten, die es dauerte, bis das Rad wieder dran war, in einem fort geflucht. Dann ist er losgefahren. Er hat den Kunden abgeholt, aber mir nicht gesagt, wohin er mit ihm gefahren ist. Er redet nicht viel mit mir«, fügte sie erklärend hinzu.

Valentin tätschelte ihr die Schulter.

«Schon gut, Madame. Regen Sie sich nicht auf. Wir warten, bis er zurückkommt. «Er wandte sich an einen der Sergeanten.»Schicken Sie einen Mann zum Bahnhof und einen weiteren zum Cafe gegenüber. Die Nummer von dem Taxi haben Sie. Sobald er auftaucht, will ich ihn sprechen — umgehend.«

Er verließ die Werkstatt und bestieg seinen Wagen.

«Zum Kommissariat«, sagte er. Das Hauptquartier der an der Fahndung beteiligten Einheiten war auf seine Veranlassung in die Polizeiwache von Egletons verlegt worden, die seit Menschengedenken nicht mehr soviel Betriebsamkeit gesehen hatte.

Zehn Kilometer außerhalb Tulles warf der Schakal den Koffer mit seinen englischen Kleidungsstücken und dem Paß Alexander Duggans in eine Schlucht. Der Koffer segelte über das Brückengeländer und verschwand krachend im dichten Unterholz am Fuß des Wasserfalls.

Nach kurzem Suchen hatte er den Bahnhof von Tülle gefunden und parkte den Wagen drei Straßen weiter an unauffälliger Stelle. Er trug seine beiden Koffer und die Reisetasche zum achthundert Meter entfernten Bahnhofsgebäude und trat an den Fahrkartenschalter.

«Einmal zweiter Paris, bitte«, sagte er und blickte über den Rand seiner Brille hinweg durch das kleine Gitterfenster, hinter dem der Bahnangestellte saß.»Wieviel macht das?«»Siebenundneunzig Neue Franc, Monsieur.«

«Und wann, bitte, geht der nächste Zug?«

«Um 11 Uhr 50. Sie haben fast eine Stunde Zeit. Es gibt ein Restaurant am Ende des Bahnsteigs. Bahnsteig eins nach Paris, je vous en prie.«

Der Schakal nahm sein Gepäck auf und begab sich zur Sperre. Die Karte wurde gelocht, er ergriff wiederum seine Koffer und trat auf den Bahnsteig. Eine blaue Uniform versperrte ihm den Weg.

«Vospapiers, s'ilvousplatt.«

Der Mann vom CRS war sehr jung und gab sich alle Mühe, gestrenger dreinzublicken, als seine Jahre es ihm erlaubten. Er trug einen Schnellfeuerkarabiner, dessen Riemen er über die Schulter gehängt hatte. Der Schakal setzte nochmals sein Gepäck ab und zeigte den dänischen Paß vor. Der CRS-Mann blätterte ihn durch, ohne auch nur ein Wort lesen zu können.

«Vous etes Danois?«

«Pardon?«

«Vous… Danois?« Er tippte auf den Paß.

Der Schakal strahlte und nickte hocherfreut.

«Danske… ja, ja.«

Der CRS-Mann reichte ihm den Paß zurück und deutete mit einem Kopfnicken zum Bahnsteig. Ohne sich noch weiter für den dänischen Geistlichen zu interessieren, wandte er sich dem nächsten Reisenden zu, der durch die Sperre trat.

Es war fast 13 Uhr, als Louison zurückkam. Er hatte zwei Glas Wein getrunken, vielleicht auch drei. Seine Frau empfing ihn mit einer aufgeregten Schilderung dessen, was in seiner Abwesenheit geschehen war. Louison nahm die Sache in die Hand.

«Ich werde zum Fenster hinaufklettern«, kündigte er an,»und nachsehen.«

Zunächst einmal hatte er Schwierigkeiten mit der Leiter. Sie neigte sich hartnäckig in jede andere als die von Louison erstrebte Richtung. Aber schließlich ließ sie sich doch unterhalb des Schlafzimmerfensters der Baronin gegen das Mauerwerk lehnen, und Louison begann seinen schwankenden Aufstieg zur obersten Sprosse. Fünf Minuten später kletterte er wieder hinunter.

«Madame la Baronne schläft«, verkündete er.

«Aber sie schläft doch sonst nie so lange«, protestierte Ernestine.

«Nun, dann tut sie es eben heute«, entgegnete Louison.»Man darf sie nicht stören.«

Der Zug nach Paris hatte leichte Verspätung. Er lief um 12 Uhr ein. Unter den Reisenden, die ihn bestiegen, befand sich ein grauhaariger protestantischer Geistlicher. Er setzte sich auf einen Fensterplatz in einem Abteil, in dem sich nur zwei ältere Frauen befanden, putzte seine goldgeränderte Brille, holte ein großformatiges Buch über französische Kathedralen aus seiner Reisetasche und begann zu lesen. Wie er aus dem im Bahnhof ausgehängten Fahrplan ersehen hatte, würde der Zug um 20 Uhr 10 in Paris eintreffen.

Charles Bobet stand am Straßenrand neben seinem defekten Taxi, sah auf seine Uhr und fluchte. Es war halb zwei durch, höchste Zeit zum Mittagessen, und er saß hier einsam und allein auf der Straße zwischen Egletons und dem Flecken Lamaziere. Mit einer gebrochenen Vorderachse. Merde und nochmals merde. Er konnte den Wagen stehenlassen, ins nächste Dorf gehen, von dort mit dem Bus nach Egletons fahren und am Abend mit einem Abschleppwagen zurückkehren. Das allein würde ihn die Einnahmen einer Woche kosten. Aber der Wagen war nicht abzuschließen, und Bobets ganze Existenz hing von dem klapprigen Taxi ab. Da war es schon besser, sich in Geduld zu fassen und auf einen Lastwagen zu warten, der ihn — gegen ein Entgelt natürlich — nach Egletons zurückschleppen könnte, als das Auto den diebischen Dorfkindern zu überlassen, die es von vorn bis hinten durchstöbern würden. Nun, mit dem Mittagessen war es heute zwar nichts, aber im Handschuhfach befand sich noch eine Flasche Wein. Na ja, sie war jetzt schon fast alle. Unter dem Taxi herumzukriechen machte einen halt durstig. Er setzte sich in den Fond des Wagens, um zu warten. Es war glühend heiß auf der Straße, und bevor es nicht ein wenig abkühlte, würde ohnehin kein Lastwagen daherkommen. Und die Bauern hielten ihre Siesta. Er machte es sich auf den Rücksitzen bequem und war kurz darauf eingenickt.

«Wieso ist er denn immer noch nicht zurück?«brüllte Kommissar Valentin ins Telephon.»Wohin ist der Kerl nur gefahren?«Er saß im Kommissariat von Egletons und sprach mit einem seiner Untergebenen, den er im Haus des Taxifahrers postiert hatte. Die wortreiche Auskunft des Beamten klang beschwichtigend. Valentin schmetterte den Hörer auf die Gabel. Den ganzen Vormittag hindurch und auch während der Mittagsstunde waren Funkberichte von den Streifenwagen eingelaufen, deren Besatzungen die Straßensperren bewachten. Niemand, der einem blonden Engländer auch nur im entferntesten ähnlich sah, hatte den hermetischen Ring um Egletons zu passieren versucht. Jetzt lag das Marktstädtchen wie ausgestorben in der hochsommerlichen Hitze da und döste seelenruhig, als sei es von den zweihundert Polizeibeamten aus Ussel und Clermont-Ferrand nie in seinem Frieden gestört worden.

Bis Ernestine schließlich ihren Willen bekam, war es 4 Uhr nachmittags geworden.

«Du mußt da noch mal hinaufsteigen und Madame wecken«, drängte sie Louison.»Es ist unnatürlich, den ganzen Tag zu verschlafen.«

Der alte Louison, der sich nichts Besseres vorstellen konnte, als genau das zu tun, war zwar anderer Meinung, aber er wußte, daß es zwecklos war, Ernestine etwas ausreden zu wollen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. So stieg er also nochmals — und diesmal weniger schwankend — die Leiter empor, öffnete das Fenster und trat ins Zimmer. Ernestine schaute von unten zu.

Nach ein paar Minuten erschien der Kopf des alten Mannes im Fenster.

«Ernestine«, rief er heiser,»Madame scheint tot zu sein.»Er war im Begriff, die Leiter wieder hinunterzusteigen, als Ernestine ihm zurief, er solle die Schlafzimmertür von innen aufschließen. Gemeinsam lugten sie über den Rand der Bettdecke und betrachteten Madames Augen, die starr auf ein nur wenige Zentimeter entferntes Kissen gerichtet waren.

Ernestine übernahm das Kommando.

«Louison.«

«Ja, meine Liebe.«

«Lauf schnell ins Dorf und hole Doktor Mathieu. Beeil dich.«

Wenige Minuten später radelte Louison, so rasch seine alten Beine es erlaubten, die Auffahrt hinunter. Er traf Dr. Mathieu, der seit vierzig Jahren sämtliche Gebrechen, Krankheiten und Unpäßlichkeiten der Leute von Haute Chalonniere behandelte, im Schatten eines Aprikosenbaums in seinem Garten schlafend an, und der alte Landarzt sagte zu, sogleich zu kommen. Es war 16 Uhr 30, als sein Wagen auf den Schloßhof rollte. Fünfzehn Minuten später richtete er sich nach abgeschlossener Untersuchung der Leiche auf und wandte sich den beiden Hausangestellten zu, die auf der Schwelle der Schlafzimmertür stehengeblieben waren.»Madame ist tot«, erklärte er mit zitternder Stimme.»Ihr Genick ist gebrochen. Wir müssen den Gendarmen holen.«

Gendarm Caillou war ein Mann von Methode. Er wußte, welcher Ernst seiner Aufgabe, den Arm des Gesetzes zu verkörpern, zukam und wie wichtig es war, alle Tatsachen klarzustellen. Nachdem man sich an den Küchentisch gesetzt hatte, nahm er die Aussagen Ernestines, Louisons und Dr. Mathieus zu Protokoll.

«Es besteht kein Zweifel«, sagte er, als der Doktor seine Erklärung unterschrieben hatte,»daß ein Mord begangen wurde. Verdächtig ist in erster Linie offenkundig der blonde Engländer, der sich hier aufgehalten hat und mit Madames Wagen davongefahren ist. Ich werde die Sache sofort dem Hauptquartier in Egletons melden.«

Und er radelte den Hügel hinunter ins Dorf zurück.

Um 18 Uhr 30 rief Claude Lebel Kommissar Valentin aus Paris an. »Alors, Valentin?«

«Noch nichts«, antwortete Valentin.»Seit dem späten Vormittag haben wir alle Straßen und Wege, die aus der Gegend herausführen, blockiert. Er muß noch im Sperrgebiet sein, es sei denn, er ist sehr weit gekommen, nachdem er den Wagen stehengelassen hat. Dieser dreimal verfluchte Taxifahrer, der ihn am Freitag gefahren hat, ist noch immer nicht aufgetaucht. Ich habe Streifen losgeschickt, damit sie die Straßen in der Umgebung nach ihm absuchen — Augenblick mal, eben kommt gerade eine neue Meldung.«

Lebel konnte Valentin mit jemandem im Hintergrund reden hören, der sehr schnell sprach. Dann meldete sich Valentins Stimme wieder am Apparat.

«Himmelherrgott, was wird denn hier nur gespielt? Es ist ein Mord passiert.«

«Wo?«fragte Lebel mit sofort erwachtem Interesse.

«Auf einem Schloß in der Umgebung. Die Meldung ist gerade eben vom Dorfpolizisten durchgegeben worden.«

«Wer ist das Opfer?«

«Die Schloßherrin. Warten Sie — eine Baronin de la Chalonniere.«

Caron sah Lebel blaß werden.

«Valentin, hören Sie zu. Das war er. Ist er schon aus dem Schloß entkommen?«

Wieder gab es eine kurze Beratung im Polizeikommissariat von Egletons.

«Ja«, sagte Valentin dann.»Er ist heute morgen im Wagen der Baronin weggefahren. Ein kleiner Renault. Der Gärtner hat die Leiche gefunden, aber erst heute nachmittag. Er hatte gedacht, die Baronin schliefe noch. Dann ist er durchs Fenster geklettert und hat sie entdeckt.«

«Haben Sie die polizeilichen Kennzeichen und die Beschreibung des Wagens?«fragte Lebel.»Ja.«

«Dann geben Sie Großalarm. Zur Geheimhaltung besteht keine Notwendigkeit mehr. Jetzt machen wir regelrecht Jagd auf einen Mörder. Ich werde sofort Alarm für das gesamte Staatsgebiet auslösen lassen. Aber versuchen Sie unbedingt, die Spur noch in der Nähe des Tatorts aufzunehmen, wenn Sie irgend können. Sehen Sie zu, daß Sie auf jeden Fall seine generelle Fluchtrichtung feststellen.«

«Wird gemacht. Jetzt können wir richtig loslegen.«

Lebel hängte ein.

«Mein Gott, ich werde alt. Der Name der Baronin stand auf der Gästeliste des Hotel du Cerf für die Nacht, die der Schakal dort verbracht hat. «Der Renault wurde von einem Verkehrspolizisten um 19 Uhr 30 in Tülle in einer Nebenstraße entdeckt. Es war 19 Uhr 45, als er sich im Kommissariat zurückmeldete, und 19 Uhr 55, als Tülle sich mit Valentin in Verbindung setzte. Um 20 Uhr 05 rief der Kommissar der Auvergne Lebel an.

«Etwa fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt«, berichtete er.

«Haben Sie einen Fahrplan zur Hand?«

«Ja, es müßte hier irgendwo einer vorhanden sein.«

«Um welche Zeit ist der Morgenzug nach Paris von Tülle abgefahren, und wann kommt er an der Gare d'Austerlitz an? Beeilen Sie sich, Mann! Um Gottes willen, beeilen Sie sich!«

Am anderen Ende der Leitung fand ein hastiger Disput statt.

«Nur zwei Züge täglich«, sagte Valentin.»Der Morgenzug ging um 11 Uhr 50 von Tülle ab und ist in Paris um — Augenblick, das werden wir gleich haben —, um 20 Uhr 10…«

Lebel ließ Tülle in der Leitung hängen. Er rief Caron zu, rasch mitzukommen, und stürzte zur Tür hinaus.

Pünktlich auf die Minute dampfte der 20-Uhr-10-Expreß in die Halle der Gare d'Austerlitz. Er war kaum zum Stillstand gekommen, als den ganzen glitzernden Zug entlang auch schon die Türen aufgestoßen wurden und die Reisenden auf den Bahnsteig strömten, um dort von wartenden Verwandten und Freunden begrüßt zu werden oder den Torbogen zuzustreben, die aus der Wandelhalle zu den Taxis führten. Zu ihnen zählte auch ein hochgewachsener, grauhaariger Geistlicher in steifem, weißem Kragen. Er erreichte den Taxistand als einer der ersten und verstaute seine drei Gepäckstücke im Fond eines Mercedes-Benz-Diesel.

Der Fahrer schaltete die Uhr ein und fuhr langsam die abschüssige Auffahrt hinunter, die in einem halbkreisförmigen Bogen auf das Ausfahrttor zuführte. Chauffeur und Fahrgast fiel ein wehklagender Heulton auf, der das Stimmengewirr der Reisenden, die sich eines Taxis zu bemächtigen versuchten, bevor sie an der Reihe waren, teils untermalte, teils übertönte. Als das Taxi die Straße erreicht hatte und kurz anhielt, bevor es in den Verkehr einscherte, brausten drei Streifenwagen und zwei geschlossene Mannschaftswagen durch das Einfahrtstor und stoppten vor dem Haupteingang des Bahnhofs.

«Na, die Brüder sind ja wieder ganz schön in Fahrt heute abend«, sagte der Taxifahrer.»Wohin soll's denn gehen, Monsieur l'Abbe?«

Der Geistliche nannte ihm die Adresse eines kleinen Hotels am Quai des Grands Augustins. Um 21 Uhr war Claude Lebel wieder in seinem Büro, wo er einen Zettel mit der Nachricht vorfand, daß Kommissar Valentin vom Kommissariat in Tülle um seinen Rückruf bäte. In fünf Minuten war die Verbindung hergestellt. Während Valentin berichtete, machte sich Lebel Notizen.

«Haben Sie Fingerabdrücke am Wagen abgenommen?«fragte er.

«Selbstverständlich. Auch im Schloß, in dem Zimmer. Hunderte von Abdrücken, alle übereinstimmend.«

«Schaffen Sie sie so rasch wie möglich her.«

«Wird gemacht. Wollen Sie, daß ich Ihnen auch den CRS-Mann vom Bahnhof in Tülle hinauf schicke?«

«Nein, nicht nötig. Mehr, als er uns bereits gesagt hat, wird er ohnehin nicht zu berichten haben. Vielen Dank für alles, Valentin. Sie können Ihre Leute nach Hause schicken. Er ist jetzt in unserem Bereich. Wir werden die Sache von hier aus handhaben.«

«Sind Sie sicher, daß es der dänische Geistliche ist?«fragte Valentin.»Es könnte auch eine zufällige Übereinstimmung sein.«

«Nein«, sagte Lebel,»er ist es, verlassen Sie sich darauf. Er hat einen seiner Koffer weggeworfen. Wahrscheinlich werden Sie ihn irgendwo zwischen La Haute Chalonniere und Tülle auffinden. Achten Sie besonders auf die Flüsse und die Schluchten. Aber die anderen drei Gepäckstücke stimmen allzu genau mit der Beschreibung überein. Er ist es garantiert.«»Ein Pfaffe also diesmal«, bemerkte er bitter zu Caron, als er den Hörer aufgelegt hatte.»Ein dänischer Geistlicher. Name unbekannt, der CRS-Mann konnte sich nicht mehr erinnern, was im Paß stand. Der menschliche Faktor, immer wieder der menschliche Faktor. Ein Taxifahrer schläft am Straßenrand ein, ein Gärtner ist zu ängstlich, um nachzusehen, warum seine Arbeitgeberin sechs Stunden verschläft, ein Polizeibeamter weiß nicht mehr, auf welchen Namen ein Paß ausgestellt war. Eines kann ich Ihnen sagen,Lucien, dies ist mein letzter Fall. Ich werde alt. Alt und langsam. Lassen Sie meinen Wagen vorfahren, ja? Es ist mal wieder Zeit für die Abendvorstellung.«

Die Besprechung im Ministerium verlief in einer gespannten, ja gereizten Atmosphäre.

Vierzig Minuten lang lauschten die Konferenzteilnehmer Lebels Bericht, der die Verfolgung der Spur von der Waldlichtung im Departement Correze nach Egletons, von der Unauffindbarkeit des Taxichauffeurs als des wichtigsten Zeugen, über den Mord im Schloß bis zu dem hochgewachsenen, grauhaarigen dänischen Geistlichen, der in Tülle den Expreßzug nach Paris bestieg, Phase für Phase schilderte.

«Kurz und gut«, erklärte Saint Clair eisig, als Lebel geendet hatte,»der Killer ist jetzt in Paris, unter einem neuen Namen und mit einem neuen Gesicht. Sie scheinen wiederum versagt zu haben, mein lieber Kommissar.«

«Heben wir uns die gegenseitigen Anschuldigungen und Vorwürfe für später auf, meine Herren«, schaltete sich der Minister ein.»Wie viele Dänen übernachten heute in Paris?«»Vermutlich einige hundert, Monsieur le Ministre.«

«Können wir sie überprüfen?«

«Erst morgen früh, wenn die Meldeformulare in die Präfektur gebracht werden«, antwortete Lebel.

«Ich werde veranlassen, daß jedes Hotel um Mitternacht, um 2 und um 4 Uhr morgens kontrolliert wird«, erklärte der Polizeipräfekt.»Als Beruf wird er in der entsprechenden Spalte >Pastor< angeben müssen, wenn er den Hotelportier nicht mißtrauisch machen will. «Die Mienen der Konferenzteilnehmer hellten sich auf.

«Er wird vermutlich einen Schal über seinem Priesterkragen tragen oder ihn abnehmen und sich als >Mister Soundso «eintragen«, bemerkte Lebel. Mehrere Herren bedachten ihn mit ärgerlichen Blicken.

«Angesichts dieser Situation scheint nur eines noch übrigzubleiben, meine Herren«, sagte der Minister.»Ich werde den Präsidenten um eine weitere Unterredung ersuchen und ihn dringend bitten, jedwedes Erscheinen in der Öffentlichkeit absagen zu lassen, bis dieser Mann aufgespürt und dingfest gemacht worden ist. Inzwischen wird morgen in aller Frühe jeder in Paris registrierte Däne persönlich überprüft werden. Kann ich mich, was das betrifft, auf Sie verlassen, Kommissar? — Und Sie, Monsieur le Prefet de Police?«

Lebel und Papon nickten.

«Das wäre dann wohl alles, meine Herren.«

«Was mich wirklich ärgert«, sagte Lebel, als er wieder in seinem Büro war, zu Caron,»ist, daß sie nicht von der Meinung abzubringen sind, es läge alles bloß an seinem Glück und an unserer Dummheit. Nun ja, Glück hat er in der Tat gehabt, aber er ist auch teuflisch schlau. Und wir haben viel Pech gehabt und auch manchen Fehler gemacht. Ich habe sie gemacht. Aber da ist noch etwas. Zweimal haben wir ihn nur um Stunden verfehlt. Einmal ist er uns in Gap im letzten Augenblick in einem übermalten Wagen entwischt. Jetzt bringt er seine Geliebte um und verschwindet wenige Stunden, nachdem der Alfa gefunden wird, aus dem Schloß. Und beide Male hatte ich am Abend zuvor den Teilnehmern der Besprechung im Ministerium erklärt, wir hätten ihn so gut wie gefaßt und mit seiner Verhaftung könne innerhalb der nächsten zwölf Stunden gerechnet werden. Luden, mein Lieber, ich glaube, ich komme nicht drumherum, von meinen uneingeschränkten Machtbefugnissen Gebrauch zu machen und einen kleinen Telephonabhördienst einzurichten.«

Er lehnte sich ans Fensterbrett und blickte über die gemächlich dahinfließende Seine hinweg zum Quartier Latin hinüber, dessen strahlende Lichter sich im Wasser spiegelten.

Dreihundert Meter von ihm entfernt stand ein anderer Mann am offenen Fenster und starrte nachdenklich in die sommerliche Nacht hinaus und zu dem wuchtigen Gebäudekomplex der Police Judiciaire hinüber, der sich vor den angestrahlten Türmen von Notre-Dame dunkel abzeichnete. Der Mann trug schwarze Beinkleider und Schuhe sowie einen seidenen Rollkragenpullover, der sein darunter befindliches weißes Hemd und das schwarze Plastron bedeckte. Er rauchte eine englische King-Size-Filterzigarette, und sein junges Gesicht kontrastierte auffallend mit dem eisgrauen Haarschopf, der es krönte.

Während die beiden Männer einander über das Wasser der Seine hinweg nichtsahnend anblickten, begannen die Pariser Kirchenglocken den 22. August einzuläuten.

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