ACHTES KAPITEL

Es war Kowalskys Pech, daß es am Mittwochvormittag auf dem Postamt keine Telephonanrufe zu erledigen gab; wäre dies der Fall gewesen, hätte er seine Maschine verpaßt. Die Post wartete schon auf ihn, und er legte die fünf Briefe in sein an das Handgelenk gekettete Stahletui, ließ es zuschnappen und begab sich eilig auf den Rückweg zum Hotel. Um halb zehn hatte er Oberst Rodin die Post übergeben und war bis zur nächsten Wache, die er um 19 Uhr auf dem Hoteldach übernehmen sollte, dienstfrei.

Normalerweise würde er sich für ein paar Stunden schlafen gelegt haben, aber er ging nur auf sein Zimmer, um sich seinen Colt 45, den auf der Straße zu tragen Rodin ihm nie erlaubt haben würde, in den Achselhafter zu stecken. Wenn seine Anzuggröße auch nur einigermaßen passend gewesen wäre, hätte man ihm auf hundert Meter Entfernung angesehen, daß er eine Pistole unter der Achsel trug; aber seine Kleidung saß so schlecht, wie sie selbst ein drittklassiger Schneider nicht anzufertigen vermocht hätte, und trotz seiner Unförmigkeit hingen seine Anzüge wie Säcke an ihm herunter. Er steckte die Leukoplastrolle und die Baskenmütze, die er am Tag zuvor erstanden hatte, in seine Jackentasche, das Päckchen 10-Lire- und Francsscheine, das seine Ersparnisse des letzten halben Jahres darstellte, in die andere und schloß die Tür hinter sich.

Der Wachhabende am Empfangstisch blickte auf.

«Jetzt wollen die da oben, daß ich telephonieren gehe«, sagte Kowalsky und wies mit dem Daumen zur Decke hinauf. Der Wachhabende sagte nichts, behielt ihn aber im Auge, bis der Fahrstuhl kam und Kowalksy einstieg. In der nächsten Minute war er auf der Straße und setzte sich seine dunkle Sonnenbrille auf.

Der Mann, der im gegenüberliegenden Cafe die Zeitschrift» Oggi «las, ließ das Blatt ein paar Millimeter sinken und beobachtete den Polen, der nach einem Taxi Ausschau hielt, durch seine dunklen Sonnengläser. Als kein Taxi kam, ging Kowalsky zur nächsten Straßenecke. Der Mann mit dem Magazin verließ die Cafeterrasse und stellte sich an den Straßenrand. Ein kleiner Fiat steuerte aus einer Reihe weiter die Straße hinauf geparkter Wagen und hielt ihm gegenüber auf der anderen Seite der Straße. Er stieg ein, und der Fiat folgte Kowalsky im Schrittempo. An der Ecke hielt Kowalsky ein Taxi an.

«Fiumicino«, sagte er dem Fahrer.

Auf dem Flughafen folgte ihm der SDECE-Mann unauffällig und behielt ihn im Auge, als er an den Alitalia-Schalter trat, sein Ticket in bar bezahlte und der jungen Dame erklärte, er habe keinen Koffer und kein Handgepäck bei sich. Man sagte ihm, daß die Passagiere für den Flug nach Marseille in einer Stunde und fünf Minuten aufgerufen werden würden. Der ExLegionär schlenderte in die Cafeteria hinüber, bestellte sich an der Theke eine Tasse Kaffee und trug sie zu einem Platz an dem großen Fenster hinüber, von wo aus er die Maschinen landen und starten sehen konnte. Er liebte Flughäfen, obwohl er nicht verstand, wie sie funktionierten. Die meiste Zeit seines Lebens hindurch war das Motorengeräusch von Flugzeugen für ihn gleichbedeutend mit deutschen Messerschmitts, russischen Stormoviks oder amerikanischen Fliegenden Festungen gewesen. Später hatte es Luftunterstützung durch die B-26 oder Skyraiders in Indochina, Mysteres oder Fougas in Algerien bedeutet. Aber er liebte es, die Maschinen auf zivilen Flughäfen mit gedrosselten Triebwerken wie große silberne Vögel einschweben und unmittelbar vor dem Aufsetzen wie an unsichtbaren Fäden in der Luft hängend zu sehen. Obgleich er ein scheuer und im Umgang mit Menschen unbeholfener Mann war, fand er es erregend, die unaufhörliche Geschäftigkeit des Lebens und Treibens auf Flughäfen zu beobachten. Vielleicht hätte er, wenn alles anders gekommen wäre, auf einem Flughafen arbeiten können. Aber er war, was er geworden war, und jetzt gab es kein Zurück mehr. Seine Gedanken wanderten zu Sylvie, und seine zusammengewachsenen dichten Brauen runzelten sich zu einem einzigen Gestrüpp, das seinen Blick verfinsterte. Es war nicht recht, sagte er sich, daß sie sterben sollte, während all die verräterischen Hunde in Paris weiterlebten. Oberst Rodin hatte ihm davon erzählt, wie sie Frankreich im Stich gelassen, die Armee hinters Licht geführt, die Legion betrogen und die Leute in Indochina und Algerien den Terroristen ausgeliefert hatten. Und Oberst Rodin hatte immer recht.

Sein Flug wurde aufgerufen, und er trat durch die Glastür auf den gleißendhellen Beton des Vorfelds hinaus, um die hundert Schritte zur Maschine zu gehen. Von der Aussichtsterrasse aus beobachteten die beiden Agenten Oberst Rollands, wie er die Treppe zum Flugzeug hinaufstieg. Er trug jetzt die schwarze Baskenmütze und auf der Wange ein Pflaster. Einer der beiden Agenten wandte sich seinem Kollegen zu und hob gelangweilt die Brauen. Als die Turboprop-Maschine nach Marseille startete, traten die beiden Männer von der Brüstung zurück. Auf ihrem Weg durch die Haupthalle blieb der eine vor einem Zeitungskiosk stehen, während der andere in eine Telephonzelle trat, um ein Ortsgespräch zu führen. Er meldete sich mit einem Vornamen und sagte:»Er ist abgeflogen. Alitalia vier-fünf-eins. Ankunft Marignane um 12 Uhr 10. Ciao.«

Zehn Minuten später war Paris unterrichtet und nach weiteren zehn Minuten auch Marseille informiert.

Die Viscount der Alitalia flog einen weiten Bogen über der unglaublich blauen Bucht und schwenkte dann zum Anflug auf den Flughafen Marignane ein. Die hübsche römische Stewardess beendete ihren lächelnden Rundgang, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß alle Passagiere angeschnallt waren, und setzte sich auf ihren Platz im Heck des Flugzeugs, um sich ihrerseits den Sicherheitsgurt umzulegen.

Ihr fiel auf, daß der Fluggast im Sessel vor ihr unverwandt aus dem Fenster auf die blendendhelle Öde des Rhönedeltas hinabstarrte, als habe er es nie zuvor gesehen. Der große, ungeschlachte Mann sprach kein Italienisch, und sein Französisch verriet seineHerkunft aus irgendeinem osteuropäischen Land. Er trug eine schwarze Baskenmütze auf seinem kurzgeschnittenen schwarzen Haar, einen zerknitterten dunklen Anzug und eine dunkle Sonnenbrille, die er nicht abzunehmen pflegte. Ein riesiges Pflaster verdeckte seine eine Gesichtshälfte; er mußte sich ziemlich arg geschnitten haben, dachte sie.

Sie landeten pünktlich auf die Minute, und da die Maschine unweit des Flughafengebäudes zum Stehen kam, begaben sich die Fluggäste zu Fuß zur Zollkontrolle in die Halle hinüber.

Als die ersten Passagiere durch die geöffneten Glastüren traten, stieß ein kleiner, nahezu kahlköpfiger Mann den neben ihm stehenden Beamten der Paßkontrolle unauffällig an.»Großer Bursche, schwarze Baskenmütze, Heftpflaster. «Dann schlenderte er weiter und gab den anderen Beamten die gleiche Personenbeschreibung.

Die Fluggäste stellten sich in zwei Reihen auf, um die Kontrolle zu passieren. Die Beamten saßen einander auf drei Meter Entfernung hinter ihren Gittern gegenüber und ließen die Passagiere einzeln zwischen sich hindurch. Die Fluggäste wiesen ihren Paß und die Landekarte vor. Die Beamten gehörten der Sicherheitspolizei an, die über die Kontrolle einreisender Ausländer und zurückkehrender Franzosen hinaus für die gesamte innere Sicherheit Frankreichs verantwortlich war.

Als Kowalsky an der Reihe war, blickte der Mann in der blauen Uniformjacke kaum auf. Er drückte seinen Stempel auf die gelbe Landekarte, nickte und bedeutete dem schwerfälligen großen Mann mit einer Handbewegung, daß er weitergehen könne. Erleichtert begab sich Kowalsky zur Zollkontrolle. Einige der Zollbeamten hatten sich gerade angehört, was ihnen der kleine, nahezu kahlköpfige Mann zu sagen hatte, bevor er sich in das hinter ihnen gelegene verglaste Büro begab. Der dienstälteste Zollbeamte rief Kowalsky zu: Monsieur, votre bagage.«

Er deutete zum Förderband hinüber, an dem die anderen Fluggäste auf ihr Gepäck warteten, das aus dem draußen im Sonnenschein stehenden Wagen entladen wurde. Kowalsky beugte sich zu den Zollbeamten hinunter. »J'ai pas de bagage«, sagte er. Der Zolbeamte hob die Brauen.

«Pas de bagage? Eh bien, avez vous quelque chose a declarer?«»Non, rien«, sagte Kowalsky.

Der Zollbeamte lächelte freundlich, fast so breit wie sein singsangartiger Marseiller Dialekt. »Eh bien, passez, monsieur.« Er wies zum Ausgang, der zum Taxistand führte. Kowalsky nickte und trat in den Sonnenschein hinaus. Nicht gewohnt, für seine Bequemlichkeit Geld auszugeben, zog er es vor, den Flughafenbus zu nehmen.

Als er das Gebäude verlassen hatte, umringten einige der Zollbeamten ihren dienstältesten Kollegen.

«Was die wohl von ihm wollen«, sagte einer.

«Sah ziemlich finster aus, der Bursche«, meinte ein zweiter.

«Er wird noch ganz anders aussehen, wenn die Brüder mit ihm fertig sind«, sagte ein dritter und deutete auf das hinter ihnen gelegene Büro.

«Los, geht wieder an die Arbeit«, unterbrach sie der ältere Beamte.»Unsere Pflicht fürs Vaterland haben wir heute getan.«

«Für Charles den Großen, meinst du wohl«, entgegnete der erste, als die Gruppe sich auflöste, und murmelte leise:»Wenn er doch nur verrecken würde.«

Es war Mittagszeit, als der Bus schließlich vor dem Air-France-Gebäude im Zentrum der Stadt hielt, und zu dieser Stunde sogar noch heißer als in Rom. Die Augusthitze lastete wie eine Krankheit auf der Stadt, kroch in jede Fiber des Körpers, raubte ihm die Kraft und Energie, irgend etwas anderes tun zu wollen, als bei geschlossen Jalousien mit auf vollen Touren gestelltem Ventilator in einem kühlen Zimmer zu liegen.

Selbst die Cannebiere, sonst die unermüdlich pulsierende Verkehrsader der Stadt, war wie ausgestorben. Kowalsky brauchte eine halbe Stunde, um ein Taxi zu finden; die meisten Fahrer hatten ihre Wagen irgendwo im Schatten abgestellt und hielten Siesta.

Die Adresse, die Jo-Jo ihm genannt hatte, gab ein an der in Richtung Cassis aus der Stadt hinausführenden Hauptstraße gelegenes Haus an. Auf der Avenue de la Liberation bat er den Fahrer, ihn abzusetzen, weil er das letzte Stück zu Fuß gehen wollte. Dem »Si vous voulez«des Taxifahrers war deutlich anzumerken, was er von Ausländern hielt, die bei dieser Hitze mehr als fünf Meter zu Fuß gingen, obwohl ihnen ein Wagen zur Verfügung stand.

Kowalsky sah dem in die Stadt zurückfahrenden Taxi nach, bis es aus der Sicht entschwunden war, und machte sich auf den Weg. Er fand die Seitenstraße, die ihm von einem auf der Terrasse be-dienenden Cafehauskellner, den er im Vorbeigehen befragt hatte, genannt worden war, sehr rasch. Der Wohnblock sah ziemlich neu aus, und Kowalsky dachte, daß sich das Geschäft mit dem fahrbaren Erfrischungsstand auf dem Bahnsteig für die Jo-Jos gut entwickelt haben mußte. Vielleicht hatten sie den Kiosk bekommen, mit dem Madame Jo-Jo seit Jahren liebäugelte. Das würde die Verbesserung ihres Lebensstandards hinreichend erklären. Und für die kleine Sylvie war es in jedem Fall besser, in dieser Wohngegend aufzuwachsen als in der Nähe der Docks. Bei dem Gedanken an seine Tochter und die unsinnige Überlegung, die er ihretwegen soeben angestellt hatte, blieb er am Fuß der Treppe, die zu dem Wohnblock hinaufführte, stehen. Was hatte Jo-Jo am Telephon gesagt — eine Woche? Vielleicht vierzehn Tage? Das war doch nicht möglich!

Er rannte die Treppe hinauf und las die Namensschilder an den Briefkästen, die in doppelter Reihe an der linken Wand der Eingangshalle befestigt waren. Auf einem Schild stand» Grzybowski, Apartment 23«. Er beschloß, nicht auf den Aufzug zu warten, denn die Wohnung lag im zweiten Stock.

An der Tür zum Apartment 23 befand sich eine kleine weiße Karte, die in ein für das Namensschild vorgesehenes Rähmchen gesteckt war. In Schreibmaschinenschrift stand» Grzybowski «darauf. Die Tür war am Ende des Korridors und wurde von den Türen der Apartments 22 und 24 flankiert. Kowalsky klingelte. Die Tür öffnete sich, und aus dem Spalt heraus fuhr der Griff einer Spitzhacke auf seinen Schädel nieder. Der Schlag riß ihm die Haut auf, prallte jedoch mit einem dumpfen Knall von seiner Schädeldecke ab. Gleichzeitig wurden zu beiden Seiten des Polen die Türen der angrenzenden Apartments 22 und 24 aufgerissen, aus denen eine Anzahl Männer herausstürzte. Alles das spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Kowalsky sah rot. Obschon seine Reaktionsfähigkeit sonst nicht die schnellste war, gab es eine Technik, die er wie kein zweiter beherrschte — die des Kämpfens.

In der räumlichen Enge des Korridors war ihm aber weder seine Körpergröße noch seine überlegene Kraft von Vorteil. Seine Größe hatte lediglich verhindert, daß der niedersausende

Stiel der Spitzhacke die beabsichtigte volle Wucht erreichte, bevor er seinen Kopf traf. Durch das Blut, das ihm über die Augen lief, sah er, daß vor ihm in der Tür zwei Männer standen und zwei weitere auf jeder Seite. Er brauchte Raum, um sich Bewegungsfreiheit zum Kämpfen zu verschaffen, und stürmte, mit angewinkelten Ellbogen Stöße austeilend, vorwärts in das Apartment 23.

Der Mann, der unmittelbar vor ihm stand, taumelte unter dem Anprall zurück. Die anderen drängten von hinten nach und versuchten, ihn am Kragen und am Jackett zu packen. In die Wohnung vorgedrungen, zog er den Colt aus dem Achselhalfter, drehte sich auf dem Absatz um und feuerte in Richtung auf die Tür. Im gleichen Augenblick traf ihn ein heftiger Schlag am Handgelenk, und der Schuß wurde nach unten verrissen. Die Kugel zerschmetterte die Kniescheibe eines seiner Gegner, der mit einem schmerzerfüllten Schrei zu Boden ging. Aber nachdem ein weiterer Schlag auf das Handgelenk Kowalskys Finger gefühllos gemacht hatte, wurde ihm die Waffe entrissen. In der nächsten Sekunde warfen sich die fünf Männer auf den Polen und überwältigten ihn. Der Kampf hatte drei Minuten gedauert. Später erklärte ein Arzt, Kowalsky müsse von unzähligen Schlägen mit den lederumwickelten Knüppeln am Kopf getroffen worden sein, bevor er schließlich das Bewußtsein verlor. Ein abprallender Schlag hatte ihm ein Stück Ohr weggerissen, sein Nasenbein war gebrochen und sein Gesicht eine einzige blutige, verschwollene Masse.

Keuchend und fluchend umstanden die drei Sieger den reglos auf dem Boden liegenden riesigen Körper. Der Mann mit dem Beinschuß saß mit wachsbleichem Gesicht, die blutverschmierten Hände an sein zerschmettertes Knie gepreßt, zusammengesunken neben der Tür an der Wand, während seine schmerzverzerrten, weißen Lippen unaufhörlich Obszönitäten ausstießen. Ein anderer wiegte sich, auf den Knien hockend, langsam hin und her wie ein Jude vor der Klagemauer und bohrte seine Hände tief in seine von Kowalskys gezieltem Fußtritt getroffene Lendengegend. Der letzte Verwundete lag mit dem Gesicht nach unten neben dem Polen auf dem Teppich. Eine blutunterlaufene Prellung an seiner linken Schläfe zeigte an, wo Kowalsky einen seiner wuchtigen Schwinger gelandet hatte.

Der Anführer der Gruppe drehte den Polen auf den Rücken und hob sein geschlossenes Augenlid. Dann ging er zum Telephon hinüber, drehte eine Ortsnummer und wartete.

«Wir haben ihn«, sagte er, noch immer schwer atmend, als sich die Dienststelle meldete.»Widerstand? Und ob er Widerstand geleistet hat! Einen Schuß hat er abgegeben, Guerinis Kniescheibe ist hinüber. Capetti hat einen Tritt in die Eier bekommen, und Vissart ist noch bewußtlos… Was? Ja, der Pole lebt. Das war doch die Anweisung, oder? Sonst hätte er nicht so viel Unheil anrichten können… Na ja, verletzt ist er schon. Weiß ich nicht, er ist bewußtlos… Hör mal, wir brauchen keine grüne Minna, sondern zwei oder drei Krankenwagen. Und zwar rasch.«

Er schmetterte den Hörer auf die Gabel und murmelte ein offenbar der Welt im allgemeinen geltendes »Cons«. Im ganzen Zimmer verstreut lagen die Trümmer zerschlagener Möbelstücke umher. Sie hatten allesamt angenommen, daß der Pole draußen im Hausflur zu Boden gehen würde. Kein einziges Möbelstück war vorsorglich aus dem Weg geräumt und in das Nebenzimmer geschafft worden. Er selbst war mit voller Wucht von einem Lehnsessel, den Kowalsky mit einer Hand geschleudert hatte, am Brustkorb getroffen worden, und die Stelle schmerzte auch jetzt noch höllisch. Verdammter Pole, dachte er, die Scheißkerle in der Präfektur hatten ihm kein Wort davon gesagt, was für ein Bursche das war.

Eine Viertelstunde später fuhren zwei Citröen-Krankenwagen vor, und der Arzt kam herauf.

Er verbrachte fünf Minuten damit, Kowalsky zu untersuchen. Schließlich schob er dem Bewußtlosen einen Ärmel hoch und gab ihm eine Spritze. Als die beiden Krankenträger mit dem riesigen Polen auf der Bahre zum Aufzug stolperten, wandte sich der Arzt dem verwundeten Korsen zu, der ihn, inmitten seiner Blutpfütze an der Wand hockend, mit finsterer Miene anblickte.

Er zog dem Mann die Hände vom Knie weg und stieß einen leisen Pfiff aus.

«Morphium, und ab ins Hospital. Ich gebe Ihnen eine Knockout-Spritze. Weiter kann ich hier nichts für Sie tun. Auf jeden Fall ist Ihre Laufbahn beendet. Sie werden sich einen anderen Beruf zulegen müssen, mon petit.«

Guerini stieß einen Schwall obszöner Verwünschungen aus, als ihm die Injektionsnadel unter die Haut fuhr.

Vissart hatte sich aufgesetzt und hielt sich den Kopf. Capetti war jetzt wieder auf die Beine gekommen und lehnte sich röchelnd gegen die Wand. Zwei seiner Kollegen griffen ihm unter die Achseln und führten den Humpelnden in den Treppenhausflur hinaus. Der Anführer der Gruppe half Vissart beim Aufstehen, während die Krankenträger der zweiten Ambulanz den betäubten Guerini mit sich fortschleppten.

Draußen auf dem Treppenhausflur warf der Anführer der sechs einen letzten Blick in den verwüsteten Raum zurück.

«Ein beachtliches Chaos, hein?« bemerkte der Arzt.

«Das können die Leute vom örtlichen Polizeirevier in Ordnung bringen«, sagte der Korse und schloß die Tür.»Es ist schließlich deren verdammte Wohnung. «Die Türen der Apartments 22 und 24 standen ebenfalls noch offen, aber die Wohnungen waren unbeschädigt. Er zog beide Türen zu.

«Keine Nachbarn?«fragte der Arzt.

«Keine Nachbarn«, sagte der Korse.»Wir haben die ganze Etage gemietet.«

Hinter dem Arzt führte er den noch immer benommenen Vissart die Treppe hinunter zum wartenden Krankenwagen.

Zwölf Stunden später lag Kowalsky nach einer raschen Fahrt quer durch Frankreich auf der Pritsche einer Zelle, die sich in den Kasematten einer als Kaserne dienenden alten Befestigung außerhalb von Paris befand.

Der Raum hatte fleckige, feuchte Wände, die wie in allen Gefängnissen weiß getüncht und stellenweise mit in das Gemäuer geritzten Obszönitäten und Gebeten bedeckt waren. Die Luft in der heißen, engen Zelle war stickig und roch nach Karbol, Schweiß und Urin. Der Pole lag auf dem Rücken auf einer schmalen Eisenpritsche, deren Füße in den Betonfußboden eingelassen waren. Außer der harten Matratze und einer aufgerollten Decke unter dem Kopf gab es kein Bettzeug. Zwei breite Lederriemen banden seine Fußgelenke, je zwei weitere seine Schenkel und Handgelenke an die Pritsche. Ein einzelner Riemen umspannte seinen Brustkorb. Kowalsky war noch immer bewußtlos, atmete jedoch tief und regelmäßig.

Man hatte ihm das Blut vom Gesicht gewaschen und die Wunden am Ohr und an der Kopfhaut genäht. Ein Pflaster bedeckte die gebrochene Nase, und in dem offenen Mund, durch den der Atem rasselte, waren die Stümpfe zweier ausgeschlagener Schneidezähne zu sehen.

Unter der dichten Wolle schwarzen Haares, die Brust, Schultern und Bauch bedeckte, zeichneten sich Prellungen und Schürfwunden ab, die von Faustschlägen, Fußtritten und Knüppelhieben herrührten. Das rechte Handgelenk war bandagiert und mit Leukoplast umwickelt. I

Der Mann im weißen Kittel beendete seine Untersuchung, richtete sich auf und legte das Stethoskop in seine Tasche zurück. Er drehte sich um und nickte dem Mann zu, der hinter ihm stand und gegen die Tür pochte. Sie wurde geöffnet, und die beiden traten in den Gang hinaus. Die Zellentür schlug zu, und der Aufseher; legte wieder die beiden schweren Stahlriegel vor.

«Womit haben sie ihn so zugerichtet?«fragte der Arzt, als sie den Gefängniskorridor hinuntergingen.

«Es waren sechs Mann nötig, um das zu schaffen«, erwiderte Oberst Rolland.

«Nun, sie haben ganze Arbeit geleistet. Es fehlte nicht viel, und sie hätten ihn umgebracht. Wäre er nicht ein solcher Bulle von einem Kerl, würden sie es geschafft haben.«

«Es ging nicht anders«, entgegnete der Oberst.»Er hat drei meiner Leute außer Gefecht gesetzt.«

«Muß ja ein beachtlicher Kampf gewesen sein.«»Das war es. Also, was hat er abbekommen?«;»Möglicherweise eine Fraktur des rechten Handgelenks — geröntgt werden konnte es ja nicht —, Riß- und Platzwunden am linken Ohr und an der Kopfhaut sowie einen Nasenbeinbruch. Verschiedene Schnittwunden und Prellungen, leichte innere Blutungen, die zunehmen und sein Ende bedeuten, aber auch ganz von selbst aufhören können. Was mir Sorge macht, ist sein Kopf. Daß eine Gehirnerschütterung vorliegt, steht außer Zweifel. Ob sie leicht oder schwer ist, läßt sich im Augenblick nicht sagen. Für eine Schädelfraktur gibt es keine Anzeichen, was allerdings nicht das Verdienst Ihrer Leute ist. Aber die Gehirnerschütterung könnte schlimmer werden, wenn er nicht in Ruhe gelassen wird.«

«Ich muß ihm ein paar Fragen stellen«, sagte der Oberst, angelegentlich die Glut seiner Zigarette betrachtend. Zur Gefängnisklinik des Arztes gelangte man, wenn man den Korridor nach links hinunterging, und die rechter Hand gelegene Treppe führte zum Erdgeschoß hinauf. Die beiden Männer blieben stehen. Der Arzt sah den Chef des Aktionsdienstes mit mühsam beherrschtem Widerwillen an.

«Dies ist ein Gefängnis«, sagte er sehr ruhig,»für diejenigen, welche sich gegen die Sicherheit des Staates vergangen haben. So weit, so gut. Aber ich bin noch immer der Gefängnisarzt. Überall woanders in diesem Gefängnis gilt, was ich sage, sobald es die Gesundheit der Gefangenen betrifft. Der Flur — «er deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung, aus der sie gekommen waren —»ist Ihre Enklave. Man hat mir in höchst eindeutiger Weise zu verstehen gegeben, daß mich das, was dort unten passiert, nichts angeht und ich da nicht hineinzureden habe. Aber eines möchte ich noch klarstellen: Wenn Sie anfangen, dem Mann, wie Sie es nennen, >Fragen zu stellen, und das mit Ihren Methoden, dann wird er entweder krepieren oder binnen kurzem wahnsinnig werden. «Oberst Rolland lauschte der Prognose des Arztes, ohne eine Miene zu verziehen.

«Wie lange?«fragte er nur. Der Arzt zuckte mit den Achseln.

«Schwer zu sagen. Er kann schon morgen das Bewußtsein wiedererlangen, möglicherweise aber noch tagelang bewußtlos bleiben. Aber wenn er zu sich kommt, wird er, vom ärztlichen Standpunkt aus gesehen, mindestens zwei Wochen lang nicht vernehmungsfähig sein. Vorausgesetzt, es handelt sich nur um eine leichte Gehirnerschütterung.«

«Es gibt gewisse Drogen«, wandte der Oberst ein.

«Ja, die gibt es. Aber ich habe nicht die Absicht, sie zu verschreiben. Sie werden möglicherweise in der Lage sein, sie zu bekommen, sehr wahrscheinlich sogar. Aber nicht von mir. In jedem Fall würde das, was er Ihnen jetzt sagen könnte, überhaupt keinen Sinn ergeben. Es wäre totaler Nonsens. Sein Geist ist verwirrt. Das mag wieder in Ordnung kommen oder auch nicht. Aber wenn es in Ordnung kommt, dann braucht das seine Zeit. Bewußtseinsverändernde Drogen würden ganz einfach einen Kretin aus ihm machen, der weder Ihnen noch sonst jemand anderem nützen kann. Es kann eine Woche dauern, bis auch nur ein erstes Zucken der Lider einsetzt. So lange werden Sie sich schon gedulden müssen. «Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging auf seine Krankenstation zurück.

Aber der Arzt sollte sich getäuscht haben. Drei Tage später, am 10. August, öffnete Kowalsky die Augen, und noch am gleichen Tag wurde er seinem ersten und einzigen Verhör unterzogen.

Die letzten drei Tage nach seiner Rückkehr aus Brüssel verbrachte der Schakal damit, seine Vorbereitungen für die bevorstehende Mission in Frankreich abzuschließen.

Er steckte seinen auf den Namen Alexander James Quentin Duggan lautenden neuen Führerschein ein und ging zur Hauptgeschäftsstelle der Automobile Association ins Fanum House, wo er sich auf den gleichen Namen einen internationalen Führerschein ausstellen ließ. In einem auf Reiseartikel spezialisierten Gebrauchtwarenladen erstand er eine Anzahl zueinander passender Koffer aus gleichem Leder. In den ersten packte er die Kleidungsstücke, die es ihm gegebenenfalls ermöglichen sollten, sich als Pastor Per Jensen aus Kopenhagen zu maskieren. Bevor er die Sachen in den Koffer legte, trennte er die Schildchen der dänischen Hersteller aus den drei in Kopenhagen gekauften Hemden heraus und nähte sie in das priesterliche Hemd, an dem runden hohen Kragen und dem schwarzen Plastron an, die er in London gekauft hatte. Zu diesen Kleidungsstücken packte er die Sachen — das Unterzeug, die Schuhe, die Socken sowie den schwarzgrauen leichten Anzug —, mit denen er, wenn nötig, das äußere Bild des dänischen Geistlichen vervollständigen konnte. In den gleichen Koffer wanderten die Kleidungsstücke des amerikanischen Studenten Marty Schulberg — Jeans, Sneakers, Socken, T-Shirts und Windjacke.

Er schnitt das Futter des Koffers auf und versteckte die Pässe der beiden Ausländer, als die er sich eventuell würde ausgeben müssen, zwischen den doppelten Lederschichten, mit denen die Schmalseiten des Koffers verstärkt waren. Das dänische Buch über die französischen Kathedralen, die beiden Brillen — eine für den Dänen, eine für den Amerikaner — und die sorgfältig in Seidenpapier eingewickelten beiden Paare unterschiedlich getönter Kontaktlinsen sowie die Haarfärbemittel vervollständigten den Inhalt des Koffers.

In den zweiten Koffer packte er die Schuhe, die Socken, das Hemd und die Hose, die er zusammen mit dem langen Militärmantel und dem beret auf dem Flohmarkt in Paris erstanden hatte. In das Kofferfutter steckte er die falschen Papiere des älteren französischen Staatsbürgers Andre Martin. Dieser Koffer wurde nicht vollgepackt, sollte er doch in Kürze eine Anzahl schlanker Stahlrohren aufnehmen, die ein vollständiges Scharfschützengewehr nebst Munition enthielten.

Den etwas kleineren dritten Koffer füllten die Kleidungsstücke Alexander Duggans: Schuhe, Socken, Unterzeug, Hemden, Krawatten, Taschentücher und drei elegante Anzüge. Im Futter dieses Koffers deponierte er mehrere Bündel Zehnpfundnoten im Gesamtwert von 1000 Pf und, die er nach seiner Rückkehr aus Brüssel von seinem Privatkonto abgehoben hatte.

Alle drei Koffer wurden vom Schakal sorgfältig abgeschlossen und die Schlüssel an seinem Schlüsselring befestigt. Den taubengrauen Anzug ließ er reinigen und bügeln und hängte ihn dann in den eingebauten Kleiderschrank seiner Wohnung. In der inneren Brusttasche des Anzugs befanden sich sein Paß, sein britischer wie auch sein internationaler Führerschein und seine Brieftasche mit 100 Pf und in bar.

In das letzte Gepäckstück, eine elegante Reisetasche, packte er Rasierzeug, Pyjama, Handtuch und Waschbeutel sowie seine letzten Erwerbungen — einen leichten Gurt aus feingewebtem Material, eine Zweipfundtüte Gips, mehrere Rollen grober baumwollener Binden, ein halbes Dutzend Rollen Leukoplast, drei Päckchen Watte und eine stumpfe, aber kräftige Schere. Die Reisetasche würde er als Handgepäck bei sich führen, denn bei Zollkontrollen auf den verschiedensten Flughäfen hatte er wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Reisetaschen im allgemeinen nicht zu den Gepäckstücken gehören, die sich die Zollbeamten in geöffnetem Zustand vorführen lassen.

Die Tarnungen als Pastor Jensen und Marty Schulberg stellten lediglich Vorsichtsmaßregeln dar, auf die er wahrscheinlich — so hoffte er wenigstens — nicht zurückgreifen brauchte, es sei denn, daß irgend etwas schiefginge und die Identität Alexander Duggans aufgegeben werden mußte. Die Andre Martins dagegen war für das Gelingen seines Plans von entscheidender Bedeutung. Falls die anderen beiden nicht gebraucht wurden, konnte der Koffer, nachdem der Auftrag ausgeführt war, mit dem gesamten Inhalt in einer Gepäckaufbewahrung deponiert und dort zurückgelassen werden. Aber selbst dann, so überlegte er, mochte es sein, daß er sich als eine der beiden Personen würde tarnen müssen, um seine Flucht zu sichern. Andre Martin und das Gewehr konnten ebenfalls aufgegeben werden, sobald der Job erledigt war, da er für sie dann keine Verwendung mehr haben würde.

Mit den letzten Anschaffungen und dem Packen der Koffer war die Planungs- und Vorbereitungsphase abgeschlossen. Jetzt wartete der Schakal nur noch auf das Eintreffen zweier Briefe, die für ihn das Signal zum Aufbruch bedeuteten. Der eine würde ihm die

Pariser Telephonnummer bekanntgeben, unter der er sich ständig über den Bereitschaftszustand der den französischen Staatspräsidenten schützenden Sicherungskräfte informieren konnte, der andere die ihm von Herrn Meier in Zürich übermittelte schriftliche Benachrichtigung enthalten, daß 250000 Dollar auf sein dortiges Bankkonto überwiesen worden seien.

Er verkürzte sich die Wartezeit damit, im Korridor seiner Wohnung einen möglichst glaubwürdig wirkenden hinkenden Gang zu üben. Innerhalb von zwei Tagen lernte er so realistisch zu hinken, daß auch der kritischste Beobachter nicht mehr auf den Gedanken kommen konnte, er habe gar keinen Bein- oder Knöchelbruch.

Der erste der beiden erwarteten Briefe traf am Morgen des 9. August ein. Der in Rom abgestempelte Umschlag enthielt folgende Botschaft:»Ihr Freund kann unter MOLITOR 5901 kontaktiert werden. Melden Sie sich mit den Worten: >Ici Chacal.< Die Antwort wird lauten: >Ici Valmy.< Viel Glück.«

Der Brief aus Zürich kam erst am 11. August. Der Schakal grinste breit, als er die Bestätigung las, daß er, was auch kommen mochte — vorausgesetzt, er ging bei der Sache nicht drauf —, für den Rest seines Lebens ein reicher Mann sein würde. Und ein noch viel reicherer, wenn seine bevorstehende Mission in Frankreich erfolgreich war. Er bezweifelte nicht, daß er Erfolg haben würde. Nichts war dem Zufall überlassen worden.

Er verbrachte den restlichen Vormittag jenes Tages am Telephon, um Flüge zu buchen, und legte das Datum seiner Abreise auf den nächsten Tag, den 12. August, fest.

In dem Kellerraum war nur das schwere, aber kontrollierte Atmen der fünf hinter dem Tisch sitzenden Männer und das rasselnde Keuchen des Gefangenen zu hören, den man auf einen eichenen Stuhl gefesselt hatte. Die einzige Lichtquelle bildete eine einfache Bürotischlampe, aber die Birne war ungewöhnlich stark und hell, was die erstickende Hitze in dem Raum noch steigerte. Die Lampe war am linken Tischrand festgeklemmt und der verstellbare Schirm so gedreht, daß das Licht den keine zwei Meter entfernt sitzenden Gefangenen direkt anstrahlte. Ein Streifen des Lichtkreises fiel auf die fleckige Tischplatte und beleuchtete hier und da Finger, die eine Zigarette hielten, von der blauer Rauch aufstieg, gelegentlich eine ganze Hand oder einen aufgestützten Unterarm. Oberkörper und Schultern der fünf in einer Reihe hinter dem Tisch sitzenden Männer blieben für den Gefangenen unsichtbar. Gepolsterte Lederriemen fesselten seine Fußgelenke eng an die Stuhlbeine. Jedes dieser Stuhlbeine war seinerseits mit einem L-förmigen Winkeleisen aus Stahl an den Fußboden geschraubt. Der Stuhl hatte Armlehnen, an welchen die Handgelenke des Gefangenen, ebenfalls mit gepolsterten Lederriemen, festgebunden waren. Je ein weiterer Riemen umspannte seine Hüften und seinen massigen, behaarten Brustkorb. Die Polsterung der Riemen war schweißdurchnäßt.

Abgesehen von den auf ihr liegenden Händen der fünf Männer war die Tischplatte fast leer. Die einzige sichtbare Besonderheit bildete ein in sie eingelassener Schlitz, dessen messingbeschlagene Ränder eine Anzahl Ziffern aufwiesen. Aus dem Schlitz ragte ein mit einem Bakelitknopf versehener, schmaler Hebel aus Messing heraus, der vorwärts und rückwärts bewegt werden konnte. Daneben befand sich ein simpler Schalter. Die rechte Hand des am Ende des Tisches sitzenden Mannes lag unmittelbar neben dem Schalter. Auf seinem Handrücken sprießten kleine schwarze Haare.

Zwei Kabel verbanden Schalter und Hebel mit einem nahe den Füßen des Gefesselten auf dem Fußboden stehenden Transformator. Von dort führte mit Gummi isolierte, dickere schwarze Leitungsschnur zu einer großen Steckdose, die an der Wand hinter der Gruppe angebracht war.

In der gegenüberliegenden Ecke jenseits des Tisches saß ein Mann mit dem Gesicht zur Wand an einem Holztisch. Ein schwacher grüner Lichtschein verriet, daß das vor ihm stehende Tonbandgerät eingeschaltet war, wenngleich die Spulen stillstanden.

Alle Männer hatten die Ärmel ihrer durchgeschwitzten Hemden aufgekrempelt. Der Gestank nach Schweiß, kaltem Rauch, Metall und Erbrochenem war unerträglich, wurde jedoch von einem noch stärkeren Geruch übertroffen — dem der unverkennbaren Ausdünstung von Angst und Schmerz. Endlich beendete der Mann, der in der Mitte der Gruppe hinter dem Tisch saß, das Schweigen.

«Ecoute, monp'tit Viktor«, sagte er mit sanft überredender Stimme,»du wirst uns schon noch alles erzählen. Vielleicht nicht jetzt gleich, aber irgendwann. Du bist ein tapferer Bursche, das wissen wir. Wirklich, alle Achtung! Aber selbst du kannst nicht mehr lange durchhalten. Warum willst du es uns also nicht sagen? Du meinst, Oberst Rodin würde es dir verbieten, wenn er hier wäre? Aber er kennt sich doch aus in diesen Dingen. Er würde uns sagen, daß wir dir weitere Quälereien ersparen sollen. Du weißt doch selbst ganz genau, zuletzt reden sie immer, n'est-cepas, Viktor? Keiner kann ewig so weitermachen, das hält niemand aus. Also warum nicht gleich reden, kein? Und dann zurück ins Bett.Und schlafen, schlafen, schlafen. Niemand wird dich wecken…«

Der Mann auf dem Stuhl hob das schweißglänzende, zerschlagene Gesicht. Ob es an den blutunterlaufenen, von den Fußtritten der Korsen in Marseille herrührenden Quetschungen im Gesicht oder am grellen Licht lag, daß er die Augen geschlossen hielt, war nicht zu erkennen. Eine Weile wandte er das Gesicht dem Tisch und der Dunkelheit vor ihm zu, während er den Mund öffnete und zu sprechen versuchte. Ein dünnes Rinnsal von blutigem Schleim erschien auf seiner Unterlippe und troff über den behaarten Oberkörper in die Pfütze von Erbrochenem, die sich in seinem Schoß gesammelt hatte. Er schüttelte den Kopf und ließ ihn sinken. Vom Tisch her meldete sich die Stimme neuerlich:

«Viktor, ecoute-moi. Du bist ein harter Mann. Wir alle wissen das. Wir- alle erkennen das auch an. Du hast den Rekord schon längst gebrochen. Jetzt kannst selbst du nicht mehr. Aber wir können noch, Viktor, und ob wir noch können. Wenn es sein muß, halten wir dich noch tagelang am Leben und bei Bewußtsein. Es gibt gewisse Drogen, tu sais. Mit dem dritten Grad ist es vorbei, man ist heute technisch viel weiter. Also rede lieber jetzt als später. Wir verstehen das, mußt du wissen. Wir kennen den Schmerz. Aber die kleinen Elektroden,

Viktor, die verstehen das leider ganz und gar nicht. Und die kennen nichts, die machen nur immer weiter, immer weiter… Wirst du es uns jetzt erzählen, Viktor? Was tun die da in dem Hotel in Rom? Worauf warten sie?«

Der auf die Brust herabgesunkene große Kopf schwankte langsam von einer Seite zur anderen. Es war, als musterten die geschlossenen Augen erst die eine, dann die andere der beiden an seinen Brustwarzen befestigten kleinen kupfernen Elektroden und schließlich die einzelne größere, deren gezackte Zähne sein Glied von beiden Seiten an der Eichel umfaßten. Die Hände des Mannes, der gesprochen hatte, lagen schlank, weiß und friedlich vor ihm in dem Lichtstreifen, der von der Lampe her seitlich auf den Tisch fiel. Der Mann wartete noch ein wenig länger. Die Hände trennten sich voneinander, und nur die Rechte blieb, den Daumen gegen die Handfläche gedrückt, vier Finger gespreizt, auf dem Tisch liegen.

Am äußeren Ende der Tischplatte schob die Hand des am elektrischen Schalter sitzenden Mannes den Messinghebel auf der Skala von Ziffer zwei auf Ziffer vier und nahm den Schalterknopf zwischen Daumen und Zeigefinger.

Jetzt krümmte die weiter zur Mitte der langen Tischplatte verbliebene Hand die vier bislang gespreizten Finger und hob und senkte dann einmal den Zeigefinger. Der elektrische Strom wurde eingeschaltet.

Mit leisem Summen schienen die an dem gefesselten Mann befestigten und durch Drähte mit dem Schalter verbundenen kleinen Elektroden zum Leben zu erwachen. Der riesige Körper auf dem Stuhl bäumte sich wie durch Levitation auf, und die Beine und Handgelenke spannten sich gegen die Riemen, bis es schien, als schneide das Leder ungeachtet der Polsterung durch Fleisch und Knochen. Der Mund öffnete sich wie in fassungslosem Staunen, und es dauerte eine halbe Sekunde, bis der Schrei über die Lippen kam, der dann zu einem Schreien wurde und nicht mehr aufhören wollte…

Um 16 Uhr 10 war Viktor Kowalskys Widerstand gebrochen, und das Tonbandgerät begann zu laufen.

Als er zu sprechen oder vielmehr unzusammenhängend zu stammeln anfing, unterbrach ihn die ruhige Stimme des Mannes hinter dem Tisch mit hartnäckiger Eindringlichkeit:

«Warum sind sie dort in dem Hotel, Viktor — Rodin, Montclair, Casson? Wovor haben sie Angst…? Wo sind sie gewesen? Wen haben sie gesehen? Und warum sehen sie niemanden, Viktor? Sag uns das, Viktor. Warum Rom? Und vor Rom — warum Wien? Wo in Wien? In welchem Hotel? Warum waren sie dort, Viktor…?«

Als Kowalsky nach fünfzig Minuten schließlich verstummte, fuhr die Stimme noch eine kurze Zeitlang fort, ihm Fragen zu stellen, bis es sich erwies, daß keine Antworten mehr kommen würden. Der Mann gab seinen Untergebenen ein Zeichen, und das Verhör war beendet.

Das Band wurde aus der Spule genommen und mit einem schnellen Wagen zum Hauptquartier des Aktionsdienstes nach Paris gebracht.

Der strahlende Nachmittag, der die Pariser Bürgersteige erwärmt hatte, ging in eine goldfarbene Dämmerung über, und um 21 Uhr wurde die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. An den Ufern der Seine schlenderten wie an allen Sommerabenden Hand in Hand die Liebespaare, und von den Cafeterrassen an den Quais klang Stimmengewirr und Gläserklirren herüber. Von dergleichen sommerlichen Unbeschwertheit war in einem engen Büro des Aktionsdienstes nahe der Porte des Lilas nichts zu spüren. Drei Männer saßen dort um ein Tonbandgerät herum, das auf einem Tisch stand. Einer von ihnen stellte das Gerät auf Weisung eines zweiten wieder und wieder auf» playback «oder» Rückspulen «und dann neuerlich auf» playback«. Der zweite Mann hatte sich Kopfhörer aufgesetzt und lauschte mit vor Anstrengung gerunzelten Brauen dem Wirrwarr von Lauten und Geräuschen, das aus dem Kopfhörer drang. Eine Zigarette, deren Rauch seine Augen tränen machte, zwischen den Lippen, gab er dem Mann am Tonbandgerät ein Fingerzeichen, sobald er eine Passage nochmals hören wollte. Zuweilen lauschte er einer Zehntelsekundenpassage ein halbes dutzendmal, bevor er den anderen aufforderte, das Tonband weiterlaufen zu lassen.

Der dritte, ein jüngerer blonder Mann, saß an einer Schreibmaschine und wartete auf das Diktat. Die Fragen, die in dem Keller unter der Festung gestellt worden waren, kamen klar und deutlich über den Kopfhörer. Die Antworten waren zusammenhangloser. Der Schreiber tippte die Aufzeichnung wie ein Interview, wobei die Fragen stets auf eine neue Zeile kamen, die mit dem Buchstaben» F «begann. Die Antworten standen auf der nächsten, jeweils mit einem» A «gekennzeichneten Zeile. Sie waren wirr, teilweise unverständlich und machten überall dort, wo sie keinerlei Sinn ergaben, den ausgiebigen Gebrauch von Gedankenstrichen erforderlich.

Es war fast Mitternacht, als die drei Männer ihre Arbeit beendet hatten. Müde und zerschlagen standen sie auf, und jeder von ihnen reckte sich in der ihm eigenen Weise, um die schmerzenden Muskeln zu entspannen. Einer der drei griff zum Telephon, verlangte eine Amtsleitung und wählte eine Ortsnummer. Ein anderer spulte das Band auf die ursprüngliche Rolle zurück, während der Schreiber die letzten Blätter aus der Maschine nahm, die Durchschläge aussortierte und die angehäuften Papiere in drei nach Seitenzahlen geordnete Exemplare des Geständnisses trennte. Das Original des Protokolls war für Oberst Rolland bestimmt, eine Kopie für die Akten und die zweite zur Anfertigung von zusätzlichen Photokopien für Abteilungsleiter, falls der Oberst anordnete, daß sie von dem Inhalt des Protokolls in Kenntnis gesetzt werden sollten.

Der Anruf erreichte Oberst Rolland in dem Restaurant, in dem er mit Freunden und deren Ehefrauen zu Abend gegessen hatte. Wie stets waren die Komplimente, die der unverheiratete elegante

Staatsbeamte den anwesenden Damen gemacht hatte, wenn schon nicht von ihren Männern, so doch von ihnen selbst ungemein freundlich aufgenommen worden. Als der Kellner ihn ans Telephon rief, entschuldigte er sich und verließ den Tisch. Das Telephon stand auf der Theke. Der Oberst sagte nur» Rolland «und wartete, bis der Anrufer sich identifiziert hatte.

Rolland seinerseits tat dies ebenfalls, indem er in den ersten Satz der Unterhaltung das vereinbarte Kennwort einflocht. Ein Zuhörer würde erfahren haben, daß Oberst Rollands Wagen repariert sei und jederzeit von ihm abgeholt werden könne. Oberst Rolland dankte seinem Informanten und kehrte an den Tisch zurück. Nach fünf Minuten entschuldigte er sich wortreich, daß ihn morgen ein arbeitsreicher Tag erwarte und er daher seinen Schlaf benötige. Er verabschiedete sich aufs liebenswürdigste und saß wenig später in seinem Wagen, um ihn in raschem Tempo durch die noch immer belebten Straßen in das um diese Zeit stillere Quartier der Porte des Lilas zu fahren. Kurz nach l Uhr morgens war er in seinem Büro, zog sich sein untadeliges dunkles Jackett aus, bestellte Kaffee beim Nachtdienst und klingelte nach seinem Assistenten.

Das Original der Niederschrift von Kowalskys Geständnis wurde ihm zugleich mit dem Kaffee gebracht. Zunächst las er das sechsundzwanzigseitige Dossier rasch durch und versuchte dabei, das Wesentliche dessen, was der geistesverwirrte Ex-Legionär gesagt hatte, sogleich zu erfassen. Etwa in der Mitte des Protokolls fiel ihm irgend etwas auf, was ihn die Brauen runzeln ließ, aber er las ohne Unterbrechung weiter bis zum Ende.

Die zweite Durchsicht erfolgte langsamer und sorgfältiger, wobei er jedem einzelnen Satz größere Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Beim drittenmal nahm er einen schwarzen Filzstift zur Hand und zog einen dicken Strich durch alle Passagen, die sich auf Sylvie,

Leuko- oder Leukä-irgendwas, Indochina, Algerien, Jo-Jo, Kovacs, Korsen, Hunde und die Legion bezogen. Sie alle verstand er, und sie interessierten ihn nicht.

Das wirre Gestammel betraf zumeist Sylvie, zum Teil auch eine Frau namens Julie, und beides war für Rolland bedeutungslos. Als er alles das gestrichen hatte, war der Umfang der Aufzeichnung auf etwa sechs Seiten zusammengeschmolzen, und Rolland versuchte, aus den verbleibenden Passagen einen Sinn herauszulesen. Da war Rom. Die drei Führer waren in Rom. Nun, das wußte er ohnehin. Aber warum? Diese Frage war achtmal gestellt worden. Die Antwort hatte immer gleich gelautet. Sie wollten nicht gekidnappt werden wie im Februar Argoud. Einleuchtend genug, dachte Rolland. Hatte er mit der ganzen Kowalsky-Aktion nur seine Zeit verschwendet? Es gab da ein Wort, das der Legionär zweimal erwähnt oder vielmehr undeutlich gemurmelt hatte, als er auf diese acht gleichlautenden Fragen antwortete. Das Wort war» geheim «oder» Geheimnis«. Das Adjektiv? Ihre Anwesenheit in Rom war alles andere als geheim. Oder hatte er das Substantiv gebraucht? Was für ein Geheimnis? Oberst Rolland las die Niederschrift zum zehntenmal durch und begann dann nochmals von vorn. Die drei OAS-Bosse waren in Rom. Sie wollten nicht gekidnappt werden, weil sie ein Geheimnis hatten, von dem niemand etwas erfahren durfte. Rolland lächelte ironisch. Er hatte es besser gewußt als General Guibaud, der glaubte, daß Rodin sich verkroch, weil er Angst hatte.

Sie hatten also ein Geheimnis zu bewahren. Was für ein Geheimnis? Es schien mit irgend etwas zu tun zu haben, was sich in Wien abgespielt hatte. Das Wort» Vienne «tauchte dreimal auf, aber Rolland hatte zunächst angenommen, es müsse sich um die dreißig Kilometer südlich von Lyon gelegene Stadt Vienne handeln. Vielleicht war gar nicht die französische Provinzstadt, sondern die österreichische Hauptstadt gemeint?

Sie hatten in Wien eine Zusammenkunft gehabt. Dann waren sie nach Rom gegangen und hatten Vorkehrungen gegen die Möglichkeit getroffen, gekidnappt und so lange verhört zu werden, bis sie ihr Geheimnis preisgaben. Das Geheimnis mußte von Wien herrühren.

Die Stunden verstrichen, und bald waren die Zigarettenstummel in der als Aschenbecher dienenden Granathülse nicht mehr zu zählen. Bevor der schmale Streifen von hellerem Grau sich über den düsteren Industrievororten abzuzeichnen begann, die östlich des Boulevard Mortier lagen, wußte Oberst Rolland, daß er auf der richtigen Spur war.

Einzelne Stücke fehlten noch. Fehlten sie wirklich, waren sie für immer verloren, seit er gegen 3 Uhr morgens die telephonische Meldung entgegennahm, daß Kowalsky nie mehr würde verhört werden können, weil er tot war? Oder waren sie irgendwo in dem wirren Text dessen verborgen, was in Kowalskys bedrängtem Hirn vorging, als er die letzten Kraftreserven verbraucht hatte?

Rolland begann die Stücke des Puzzlespiels zu notieren, die er noch nicht hatte unterbringen können. Kleist, ein Mann namens Kleist. Der Pole Kowalsky hatte das Wort richtig ausgesprochen, und Rolland, der von der Kriegszeit her noch über einige Deutschkenntnisse verfügte, notierte es sich in der korrekten Schreibweise, obwohl es von dem französischen Schreiber falsch buchstabiert worden war. Handelte es sich überhaupt um eine Person? Oder um eine Örtlichkeit, eine Firma oder.dergleichen? Er rief die Vermittlung an und gab Auftrag, im Wiener Telephonverzeichnis nach einer Person oder einer Örtlichkeit dieses Namens zu suchen. Die Antwort kam nach zehn Minuten. Es gab zwei Spalten mit dem Namen Kleist, allesamt Privatpersonen, ferner die Ewald-von-Kleist-Grundschule für Jungen und die Pension Kleist. Rolland schrieb sich beide auf, unterstrich aber die Pension Kleist. Dann las er weiter.

In dem Text kamen mehrere Hinweise auf einen Fremden vor, dem gegenüber Kowalsky offenbar gemischte Gefühle hegte. Manchmal benutzte er das Wort »bon«, wenn er von ihm sprach, dann wieder nannte er ihn einen »facheur«, einen lästigen, zudringlichen Menschen. Kurz nach 5 Uhr morgens ließ sich Oberst Rolland Tonband und Gerät bringen und verbrachte die nächste Stunde damit, das Band mehrmals abzuhören. Als er das Gerät schließlich abschaltete, stieß er einen stummen Fluch aus. Dann nahm er einen dünnen Kugelschreiber zur Hand und korrigierte in dem transkribierten Text eine Anzahl offenkundig auf Hörfehler zurückgehender Wörter.

Kowalsky hatte den Fremden nicht als »bon«, sondern als »blond« bezeichnet. Und das Wort, das ihm über die blutigen verschwollenen Lippen gekommen war, hieß nicht, wie der französische Schreiber notiert hatte, »facheur«, sondern »faucheur«, was soviel wie» Killer «bedeutet.

Von da ab war es leicht, den Sinn der wirren Aussage Kowalskys zu rekonstruieren. Das Wort» Schakal«, das, wo immer es auftauchte, gestrichen worden war, weil Rolland es für ein Schimpfwort gehalten hatte, mit dem Kowalsky seine Peiniger bedachte, bekam eine neue Bedeutung. Es wurde zum Decknamen des blonden Killers, der Ausländer war und mit den drei OAS-Bossen drei Tage vor ihrer Abreise nach Rom in der Pension Kleist gesprochen hatte.

Rolland konnte sich jetzt selbst zusammenreimen, warum Frankreich in den letzten acht Wochen von einer Welle organisierter Banküberfälle und Juwelendiebstähle heimgesucht worden war. Der Blonde, wer immer er sein mochte, verlangte Geld für den Job, den er im Auftrag der OAS übernommen hatte. Auf der ganzen Welt gab es nur einen einzigen Job, der diese Art der Finanzierung erforderlich machte. Der Blonde war nicht gerufen worden, um durch sein Eingreifen einen Bandenkrieg zu entscheiden.

Um 7 Uhr früh ließ sich Rolland mit seiner Nachrichtenzentrale verbinden und befahl dem diensttuenden Beamten, unter Umgehung des innerbehördlichen Protokolls, demzufolge Wien in der Zuständigkeit der Abteilung R 3/W esteuropa lag, ein Blitzfernschreiben an das Wiener Büro des SDECE zu richten. Dann verlangte er, daß ihm umgehend sämtliche Kopien der Niederschrift des Kowalskyschen Geständnisses ausgehändigt wurden, und schloß sie in seinen Safe ein. Schließlich setzte er sich, um einen Bericht abzufassen, auf dessen Adressatenliste er lediglich den Namen eines einzigen Empfängers aufführte. Er überschrieb den Bericht mit dem Vermerk» Nur für Sie bestimmt «und schilderte zunächst kurz die Aktion, die auf seine eigene Initiative stattgefunden hatte, um Kowalsky festzunehmen. Er erwähnte, wie der Ex-Legionär durch die Vorspiegelung, eine ihm nahestehende Person läge im Krankenhaus, nach Marseille gelockt worden war; berichtete sodann von Kowalskys Gefangennahme durch Agenten des Aktionsdienstes und ließ nicht unerwähnt, daß der Mann verhört worden war und ein wirres Geständnis abgelegt hatte. Er fühlte sich verpflichtet, die gewagte Erklärung einfließen zu lassen, der Ex-Legionär habe bei seiner Verhaftung Widerstand geleistet und dabei zwei Agenten erheblich verletzt, sich selbst aber bei einem anschließend versuchten Suizid so bedenklich zugerichtet, daß er nach seiner Überwältigung in das Gefängnishospital eingeliefert werden mußte. Dort, auf seinem Krankenbett, habe er dann sein Geständnis abgelegt.

Der restliche Bericht betraf das Geständnis selbst und Rollands Interpretation desselben. Als er damit fertig war, pausierte er für einen Augenblick und ließ seinen Blick über die Hausdächer im Osten der Stadt schweifen, die jetzt vom Schein der Morgensonne vergoldet wurden. Rolland war sich seines Rufs, niemals zu übertreiben und grundsätzlich zu einer unterkühlten Darstellung der Dinge zu neigen, durchaus bewußt. Sorgfältig formulierte er den letzten Absatz seines Berichts:

«Ermittlungen mit dem Ziel, beweiskräftiges Material für die Existenz dieser Verschwörung beizubringen, sind zur Stunde noch im Gange. Sollten sie den oben geschilderten Tatbestand als wahrheitsgemäß bestätigen, so handelt es sich bei dem erwähnten verbrecherischen Vorhaben meines Erachtens um den denkbar gefährlichsten Plan, den die Terroristen entwickeln konnten, um das Leben des Präsidenten der Republik Frankreich zu bedrohen.

Falls der im Ausland geborene und nur unter dem Decknamen >Der Schakal< bekannte Killer tatsächlich für diesen Anschlag auf das Leben des Staatspräsidenten gedungen und gegenwärtig bereits mit den zur Ausführung seiner Untat erforderlichen Vorbereitungen befaßt sein sollte, halte ich es für meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß wir meinem Dafürhalten nach einen nationalen Notstand zu gewärtigen haben.«

Ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten tippte Oberst Rolland die Reinschrift seines Berichts selbst, versah den Umschlag mit seinem persönlichen Siegel, adressierte ihn und drückte den Stempel mit der höchsten Sicherheitsklassifikation des Geheimdienstes darauf. Schließlich verbrannte er die Bogen, auf denen er den handschriftlichen Entwurf notiert hatte, und spülte die Asche in das Abflußrohr des Waschbeckens, das sich in einer Ecke seines Büros in einem Verschlag befand. Nachdem das getan war, wusch er sich Hände und Gesicht. Als er sich abtrocknete, fiel sein Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken. Das Gesicht, das ihn daraus anstarrte, war, wie er bekümmert feststellte, nicht mehr das des erfolggewohnten Mannes, den die Frauen in seiner Jugend wie in seinen besten Jahren so anziehend gefunden hatten. Zu viele Erfahrungen, die allzu gründliche Kenntnis der Bestialität, welcher der Mensch seinem Mitmenschen gegenüber fähig war, sobald es für ihn um das nackte Überleben ging, zu viele Intrigen und Gegenintrigen, zu viele Befehle, mit denen er Männer zum Sterben oder zum Töten hinausgeschickt, in Kellern hatte verenden oder andere zu Tode foltern lassen, hatten sein Gesicht gezeichnet. Zwei scharfe Falten liefen von den Nasenflügeln abwärts bis weit über die Mundwinkel hinaus, dunkle Flecken schienen sich für immer unter den Augen abzeichnen zu wollen, und die dekorativen grauen Schläfen und Koteletten hatten begonnen, weiß zu werden.

«Ende des Jahres«, gelobte er sich,»mache ich endgültig Schluß mit diesem mörderischen Beruf. «Hohläugig starrte ihn das Gesicht aus dem Spiegel an. Skepsis oder Resignation? Vielleicht wußte es das Gesicht besser, als er es sich eingestehen wollte. Nach einer gewissen Anzahl von Jahren kam man von all dem nicht mehr los. Man blieb, was man geworden war, für den Rest seines Lebens. Von der Resistance zur Sicherheitspolizei, dann der SDECE und schließlich der Aktionsdienst. Wie viele Männer und wieviel Blut es in all den Jahren gekostet hatte — und alles für Frankreich. Und womit, fragte er das Gesicht im Spiegel, vergalt

Frankreich es ihm? Das Gesicht im Spiegel sah ihn an und blieb stumm. Denn die Antwort darauf wußten sie beide.

Oberst Rolland bestellte einen motorisierten Kurier, der sich persönlich bei ihm melden sollte. Er bestellte auch Spiegeleier, Brötchen und weiteren Kaffee — diesmal eine große Tasse cafe au lait — sowie Aspirintabletten gegen seine Kopfschmerzen. Er gab dem Motorradfahrer seine Anweisungen und händigte ihm den versiegelten Umschlag aus. Nachdem er die Spiegeleier und die Brötchen verzehrt hatte, nahm er seinen Kaffee und trank ihn am offenen Fenster der Westseite seines Büros, von der aus man auf Paris blickte. Über die Dächer des Häusermeers hinweg konnte er in dem warmen Morgendunst, der über der Seine hing, die Türme von Notre-Dame und in noch weiterer Ferne den Eiffelturm sehen. Es war bereits nach 9 Uhr, und die Stadt war an jenem 11. August wie immer um diese Stunde schon von geschäftigem Leben erfüllt. Ob er am Ende des Jahres noch eine Position innehaben würde, von der er sich günstig pensionieren lassen konnte, das, dachte Rolland, hing nicht zuletzt davon ab, ob die Gefahr abgewendet werden konnte, die er in dem Bericht beschrieben hatte, der jetzt in der Meldetasche des Motorradfahrers steckte.

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