EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Kommissar Claude Lebel fühlte sich, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie ein Glas Wasser zu trinken bekommen. Sein Mund war trocken, und seine Zunge klebte ihm am Gaumen, als ob sie dort angeschweißt sei. Aber es war keineswegs nur die Hitze, die ihm dieses Gefühl verursachte. Zum erstenmal seit vielen Jahren bekam er es wirklich mit der Angst zu tun. Heute nachmittag, dessen war er ganz sicher, würde etwas passieren, aber auf das Wie und Wann hatte er noch immer keinen Hinweis entdecken können. Er war an diesem Morgen sowohl beim Arc de Triomphe als auch in der Kathedrale von Notre-Dame und in Montvalerien gewesen. Nicht der geringste Zwischenfall hatte sich ereignet. Beim gemeinsamen Mittagessen mit einigen der Mitglieder des Sonderkomitees, das bei Morgengrauen zum letztenmal im Innenministerium getagt hatte, war er Zeuge des Stimmungswandels geworden, in dessen Verlauf angstvolle Spannung und ohnmächtiger Zorn unversehens in fast so etwas wie Euphorie umschlugen. Nur eine einzige Feierlichkeit stand jetzt noch aus, und wie man ihm versichert hatte, war die unmittelbare Umgebung der

Place du 18 Juin mit beispielloser Gründlichkeit durchkämmt und hermetisch abgeriegelt worden.

«Er ist weg«, sagte Rolland, als er in Begleitung der Männer, mit denen er unweit des Elysee-Palastes, wo der Präsident sein Mittagsmahl einnahm, in einer Brasserie gegessen hatte, auf die sonnenbeschienene Straße hinaustrat.»Und das war zweifellos das Klügste, was er machen konnte. Irgendwann und irgendwo wird er sicher wieder auftauchen, und dann werden ihn meine Männer fassen.«

Jetzt streifte Lebel mutlos am Saum der Menschenmenge entlang, die auf dem Boulevard du Montparnasse zweihundert Meter von der Place du 18 Juin entfernt gehalten wurde — so weit vom Ort der Feierlichkeiten weg, daß niemand etwas von dem zu sehen bekommen würde, was sich dort abspielte. Alle an den Straßensperren postierten Polizeibeamten und CRS-Männer meldeten das gleiche: Keiner hatte auch nur einen Passanten durchgelassen, seit die Abriegelung um 12 Uhr mittags in Kraft getreten war.

Die Hauptstraßen waren gesperrt, die Nebenstraßen waren gesperrt und alle engen Gassen, Durchgänge und Passagen ebenfalls. Die Hausdächer wurden, sofern sie nicht von Wachen besetzt waren, ständig beobachtet, und das Bahnhofsgebäude mit seinen zahllosen bahnamtlichen Büros, deren Fenster auf den Vorplatz hinausgingen, wimmelte von Sicherheitsbeamten. Sie hockten auf den Lokomotivschuppen und hoch über den Bahnsteigen, auf deren Gleisen kein Zug einlief; für die Dauer des Nachmittags war der Eisenbahnverkehr zur Gare St-Lazare umgeleitet worden.

Die Polizei hatte jedes Haus im Umkreis vom Keller bis unters Dach durchsucht. Die Mieter waren zum großen Teil verreist, in die Sommerferien an die See oder ins Gebirge gefahren. Kurz, der Sperrkreis um die Place du 18 Juin war, um mit Valentins Worten zu reden,»so fest geschlossen wie das Arschloch einer Maus«. Bei dem Gedanken an die Ausdrucksweise des Kommissars aus der Auvergne mußte Lebel unwillkürlich lächeln. Dann war das Lächeln auf seinem Gesicht urplötzlich wie weggewischt. Auch Valentin hatte den Schakal nicht fassen können.

Lebel wandte sich nach rechts, ging die rue de Vaugirard bis zur ersten Straßenecke hinauf, wandte sich abermals nach rechts und stieß, nachdem er mehrfach seinen Polizeiausweis hatte vorzeigen müssen, am Ende der kurzen rue Littre auf die rue de Rennes. Auch hier bot sich ihm das gleiche Bild: Zweihundert Meter vor dem Platz war die Straße blockiert, die Menschenmenge hinter die Absperrung zurückgedrängt und die Straße bis auf patrouillierende CRS-Männer leer. Er begann erneut die Posten abzugehen.

Irgendwas Besonderes gewesen? Nein, Monsieur le Commissaire. Niemanden durchgelassen, überhaupt niemanden? Nein, Monsieur. Auf dem Bahnhofsvorplatz begann die Musikkapelle der Garde Republicaine ihre Instrumente zu stimmen. Lebel sah auf seine Armbanduhr. Der General mußte jetzt jeden Augenblick eintreffen. Keinen passieren lassen? Überhaupt keinen? Nein, Monsieur, niemanden. Gut so, machen Sie weiter.

Vom Vorplatz her drang ein lauter Kommandoruf herüber, und aus dem Boulevard du Montparnasse donnerte eine Motorradkolonne über die Place du 18 Juin. Lebel sah sie in den Bahnhofsvorplatz einschwenken, während die Polizisten straff salutierten. Aller Augen folgten den glänzenden schwarzen Limousinen. Die nur wenige Meter von ihm entfernte Menschenmenge drängte gegen die Absperrung. Lebel sah zu den Hausdächern hinauf. Verläßliche Burschen, diese Posten da oben. Ohne dem Schauspiel hier unten auch nur einen Blick zu schenken, hockten sie dort auf den Balustraden und behielten die Fenster und Dächer der gegenüberliegenden Häuser im Auge.

Lebel hatte die Westseite der rue de Rennes erreicht. Ein junger CRS-Mann stand breitbeinig in dem engen Durchgang, der zwischen dem letzten der quer über die Fahrbahn errichteten Sperrgatter und dem Haus Nr. 132 verblieben war. Lebel wies ihm seine Karte vor. Der CRS-Mann salutierte.

«Haben Sie irgend jemanden passieren lassen?«

«Nein, Monsieur le Commissaire.«

«Wie lange stehen Sie schon hier?«

«Seit zwölf Uhr, Monsieur. Seit die Straße gesperrt wurde.«

«Und durch diese Lücke hier ist niemand durchgelassen worden?«

«Nein, Monsieur. Das heißt, nur der alte Krüppel, der da hinten wohnt.«

«Welcher Krüppel?«

«Älterer Mann, Monsieur. Kriegsversehrter. Sah hundeelend aus. Hat seine Identitätskarte und den Versehrtenausweis vorgezeigt und seine Adresse mit 154 rue de Rennes angegeben. Also den mußte ich ganz einfach durchlassen, Monsieur le Commissaire. Sah wirklich hundsmiserabel aus, richtig krank. Kein Wunder bei dieser Hitze und in dem schweren Wachmantel. Eigentlich verrückt, so was.«»Wachmantel? «

«Jawohl, Monsieur. Langer, schwerer Mantel. Militärmantel, wie ihn früher mal die alten Soldaten getragen haben. Viel zu heiß für dieses Wetter.«

«Was war los mit ihm?«

«Na ja, dem wird's wohl zu warm gewesen sein, nehme ich an. «»Sie sagten, er sei kriegsversehrt. Was fehlte ihm denn?«»Ein Bein, Monsieur. Kam von ganz da hinten angehumpelt, auf einer Krücke.«

Vom Bahnhofsvorplatz klangen die ersten schmetternden Trompetenstöße herüber. »Allons, enfants de lapatrie, le jour de gloire est arrive…« Einige Zuschauer stimmten die Marseillaise an.»Krücke?«Lebel selbst meinte die eigene Stimme in diesem Augenblick wie aus weiter Ferne zu hören. Der CRS-Mann sah ihn besorgt an.

«Ja, Monsieur, eine Krücke, wie sie jeder Beinamputierte hat. So eine aus Aluminium, glaube ich…«

Lebel drehte sich abrupt um, befahl dem CRS-Mann, ihm zu folgen, und rannte die Straße hinunter.

Sie hatten an der Stirnseite des Bahnhofs im strahlenden Sonnenschein Aufstellung genommen. Längs der Bahnhofsfassade waren die Wagen Stoßstange an Stoßstange vorgefahren. Ihnen gegenüber, vor dem schmiedeeisernen Gitter, das den Vorplatz von der Place du 18 Juin trennte, standen die zehn Veteranen, um ihre Medaillen aus der Hand des Staatsoberhauptes zu empfangen. Auf der Ostseite des Bahnhofsvorplatzes waren die Mitglieder der Regierung und des Diplomatischen Corps versammelt. In ihren dunklen Anzügen bildeten sie einen massiven schwarzen Block, in dem nur da und dort das Band der Ehrenlegion als roter Tupfen aufleuchtete.

Die Garde Republicaine mit den dichten roten Federbüschen auf ihren blitzblanken Helmen war auf der Westseite des Bahnhofsvorplatzes angetreten. Die Musikkapelle stand einen Schritt vor der Front.

Eine Anzahl Protokollbeamter und leitender Funktionäre der Präsidialkanzlei umdrängte eine der am Bahnhofseingang vorgefahrenen Limousinen. Die Musikkapelle intonierte die Marseillaise.

Der Schakal hob das Gewehr und spähte durch das Zielfernrohr auf den Vorplatz hinunter. Er visierte den linken Flügelmann der Kriegsveteranen an, der als erster seine Medaille bekommen würde. Er war klein und untersetzt und hielt sich sehr gerade. Sein Gesicht erschien, nahezu im Vollprofil, scharf durchgezeichnet im Fadenkreuz. In wenigen Minuten würde sich ihm ein anderes hinzugesellen, ein stolzes Gesicht, welches das des Veteranen um dreißig Zentimeter überragte und vom Schirm eines vorn mit zwei goldenen Sternen geschmückten Khaki-Kepis beschattet wurde.

«Marchons, marchons a la victoire…« Wumm-ba-wumm. Die letzten Takte der Nationalhymne waren verklungen, und in die eingetretene Stille hinein gellte das Kommando» Präsentiert das Gewehr!«über den Bahnhofsvorplatz. Ein schlagartiges, dreifach klatschendes Geräusch folgte, als weißbehandschuhte Finger den befohlenen Präsentiergriff im gleichen Takt ausführten. Die um die Limousine versammelte Gruppe teilte sich, und in ihrer Mitte erschien eine einzelne hochgewachsene Gestalt, die jetzt auf die angetretenen Kriegsveteranen zuschritt. Etwa fünfzig Meter vor ihnen blieb die Gruppe stehen. Nur der Minister für die Angelegenheiten ehemaliger Kriegsteilnehmer, der die Veteranen ihrem Präsidenten vorstellen würde, und ein zweiter Mann, der ein Samtkissen trug, auf dem zehn Medaillen und eine gleiche Anzahl farbiger Bänder lagen, folgten Charles de Gaulle.

«Hier?«fragte Lebel. Er war stehengeblieben und deutete keuchend auf einen Hauseingang.»Ich glaube ja, Monsieur. Ja, hier war es. Der vorletzte Eingang.

Hier ist er 'rein.«

Der kleine Detektiv stürzte in den Hauseingang, und Valremy rannte ihm nach. Er war ganz froh, nicht mehr auf der Straße zu sein, wo ihr absonderliches Verhalten Aufsehen erregt und bei einigen der höheren Offiziere auf dem Bahnhofsvorplatz, die jetzt straffe Haltung annahmen, mißbilligendes Stirnrunzeln hervorgerufen hatte. Nun ja, wenn er sich deswegen zum Rapport würde melden müssen, könnte er immer noch sagen, daß der komische kleine Mann sich als Polizeikommissar ausgegeben und er, Valremy, ihn zurückzuhalten versucht habe.

Als er in die Halle stürmte, rüttelte der Detektiv an der Tür zum Zimmer der Concierge.

«Wo ist die Concierge?«schrie er.»Keine Ahnung, Monsieur.«

Bevor er ihn noch daran hätte hindern können, hatte der kleine Mann die Milchglasscheibe mit dem Ellenbogen eingeschlagen, hindurchgelangt und die Tür geöffnet.»Kommen Sie!«rief er und rannte hinein. Und ob ich dir nachkomme! dachte Valremy. Du scheinst mir ja völlig durchzudrehen.

Er fand den kleinen Detektiv in der Waschküche auf dem Fußboden kniend vor. Als er ihm über die Schulter blickte, sah er die Concierge gefesselt am Boden liegen. Sie war noch immer bewußtlos.

«Donnerwetter. «Plötzlich dämmerte ihm, daß der kleine Mann doch kein Spinner, sondern tatsächlich ein Kriminalkommissar war und daß sie beide einen Verbrecher jagten. Dies war der große Augenblick, auf den er gewartet hatte. Er wünschte jetzt nur, er wäre schon wieder heil und wohlbehalten in der Kaserne zurück.

«Oberstes Stockwerk«, rief der Detektiv und begann die Treppen in einem Tempo hinaufzuhetzen, das ihm Valremy, der seinen umgehängten Schnellfeuerkarabiner spannte und entsicherte, während er Lebel nachstürzte, nicht zugetraut hätte.

Der französische Staatspräsident blieb vor dem ersten der angetretenen Veteranen stehen und beugte sich ein wenig zu dem Minister hinab, der ihm erklärte, wer der Mann war und welche Verdienste er sich auf den Tag genau vor neunzehn Jahren erworben hatte. Als der Minister seine Ausführungen beendet hatte, wandte sich der Staatspräsident dem Mann mit dem Kissen zu und nahm eine der darauf liegenden Medaillen zur Hand. Während die Kapelle leise» La Marjolaine «zu intonieren begann, heftete der hochgewachsene General dem vor ihm stehenden älteren Mann die Medaille auf die stolzgeschwellte Brust. Dann trat er einen Schritt zurück und salutierte.

Sechs Stockwerke hoch und hundertdreißig Meter entfernt, hielt der Schakal das Gewehr sehr ruhig im Anschlag und visierte durchs Zielfernrohr. Ganz deutlich konnte er die Gesichtszüge erkennen, die vom Schirm des Kepis beschatteten Brauen, den ernsten Blick, die bugartig vorspringende gewaltige Nase. Er sah ihn die salutierende Hand vom Mützenschirm nehmen, und jetzt befand sich die dargebotene Schläfe haargenau im Fadenkreuz des Zielfernrohrs. Sachte nahm er Druckpunkt und drückte dann ganz ruhig durch…

Bruchteile von Sekunden später starrte er auf den Bahnhofsvorplatz hinunter, als könne er seinen Augen nicht trauen. Noch bevor das Geschoß den Lauf verließ, hatte der französische Staatspräsident unvermittelt den Kopf vorgebeugt. Während der Killer ihn in ungläubigem Staunen beobachtete, küßte er den Mann, der in straffer Haltung vor ihm stand, feierlich auf beide Wangen. Da er einen Kopf größer war als der Veteran, hatte er sich zu ihm vor-und hinabbeugen müssen, um diese bei solchen Anlässen in Frankreich und manchen anderen Ländern übliche, für Angelsachsen jedoch immer wieder verblüffende Geste zu vollführen. Man errechnete später, daß das Geschoß den Kopf des Präsidenten nur um Millimeter verfehlte. Ob er den Peitschenknall hörte, mit dem es auf seiner Flugbahn die Schallmauer durchschlug, ist nicht bekannt. Anzumerken war ihm jedenfalls nichts. Der Minister und der Mann mit dem Ordenskissen hatten nichts gehört, und diejenigen, die fünfzig Meter entfernt standen, ebensowenig.

Das Geschoß bohrte sich in den von der Sonne aufgeweichten Asphaltboden des Bahnhofsvorplatzes und explodierte, ohne Schaden anzurichten, als es gute zwei Zentimeter tief in die Teerschicht eingedrungen war.»La Marjolaine «wurde weitergespielt. Der Präsident richtete sich wieder auf, nachdem er den zweiten Kuß gegeben hatte, und trat gemessenen Schritts auf den nächsten Veteranen zu.

Hinter seinem Gewehr hockend, begann der Schakal leise haßerfüllt zu fluchen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er aus einer Entfernung von hundertdreißig Meter ein unbewegtes Ziel verfehlt. Aber dann fing er sich wieder; es war noch immer Zeit. Er riß den Verschluß des Gewehrs auf, aus dem die leere Patronenhülse auf den Teppich fiel, griff nach dem zweiten Geschoß, legte es in die Kammer ein und verriegelte den Verschluß.

Keuchend erreichte Claude Lebel den sechsten Stock. Er glaubte, gleich müsse ihm das Herz aus der Brust springen und auf dem ganzen Treppenflur umherhüpfen. Es gab zwei Türen zu Wohnungen, die auf die Straßenfront hinausgingen. Er sah unschlüssig von der einen zur anderen, und der CRS-Mann trat mit dem entsicherten Schnellfeuerkarabiner im Arm hinter ihn. Während Lebel noch zögerte, drang aus der Wohnung zur Rechten ein leises, aber unverkennbares Geräusch, das wie» Fff opp! «klang. Lebel deutete mit dem Zeigefinger auf das Türschloß.

«Aufschießen!«befahl er und trat zur Seite. Der CRS-Mann verlagerte sein Gewicht auf beide Beine, senkte das Kinn und gab einen Feuerstoß ab. Holzsplitter, Metall und plattgeschlagene Patronenhülsen flogen in alle Richtungen. Die Tür bog sich und sprang mit einem Ruck auf und schwang nach innen. Valremy drang als erster in die Wohnung ein, Lebel folgte dicht hinter ihm.

Die kurzen grauen Haarbüschel konnte Valremy wiedererkennen, aber das war auch alles. Dieser Mann hier hatte zwei Beine, trug keinen Wachmantel mehr, und die Arme, die das Gewehr hielten, waren die eines noch jungen, kraftvollen Mannes. Der Killer ließ ihm keine Chance; er erhob sich halb vom Stuhl hinter dem Tisch und feuerte mit einer geschmeidigen Drehung zur Tür hin in leichtgebückter Haltung aus der Hüfte.

Der Schuß fiel lautlos. Der Widerhall der eigenen Salve dröhnte Valremy noch immer in den Ohren. Das Geschoß zerschmetterte ihm das Brustbein und explodierte. Er fühlte, wie es ihn von innen heraus zerriß und zerfetzte, und spürte das wütende Zustechen von schneidendem Schmerz; und dann spürte er es nicht mehr. Das Licht schwand, als sei es mitten im Sommer Winter geworden. Der Teppich kam auf ihn zu und schlug gegen sein Gesicht — oder war er es, der mit dem Gesicht auf den Teppich schlug? Fühllosigkeit schwemmte über Oberschenkel und Leib nach oben und erreichte Brust und Hals. Das letzte, was er wahrnahm, war ein salziger Geschmack im Mund, wie er ihn vom Baden im Meer bei Kermadec her kannte, und eine einbeinige Seemöwe, die auf einem Pfahl hockte. Dann wurde alles dunkel. Claude Lebel hob den Blick von Valremys Leiche und sah dem anderen Mann in die Augen. Sein Herz machte ihm jetzt keinerlei Schwierigkeiten; es schien gar nicht mehr pumpen zu wollen.

«Schakal«, sagte er. Der andere Mann sagte nur:»Lebel. «Er machte sich an dem Gewehr zu schaffen, dessen Riegel er zurückriß. Lebel sah Metall aufblinken, als die leere Patronenhülse zu Boden fiel. Der Mann griff blitzschnell nach etwas auf der Tischplatte und steckte es in die Gewehrkammer. Noch immer waren seine grauen Augen unverwandt auf Lebel gerichtet.

Er will mich kaltmachen, dachte Lebel, und ein merkwürdiges Gefühl der Unwirklichkeit überkam ihn. Gleich wird er schießen. Er wird mich umbringen.

Er zwang sich, zu Boden zu blicken. Der Junge vom CRS war seitlich hingeschlagen, und der seinen Händen entglittene Karabiner lag Lebel vor den Füßen. Ohne zu überlegen, ließ er sich auf die Knie fallen, packte die MAT 49 und riß sie mit einer Hand hoch, während er mit der anderen nach dem Abzug tastete. Er hörte, wie der Schakal den Verschluß seines Gewehrs zuschnappen ließ, und hatte selbst schon den Abzug gefunden. Er zog ihn durch.

Das ohrenbetäubende Krachen der explodierenden Munition, das den kleinen Raum widerhallend erfüllte, war bis hinaus auf den Bahnhofsvorplatz zu hören. Den noch am gleichen Tag erfolgten Anfragen der Presse wurde entgegnet, es müsse sich um ein Motorrad mit schadhaftem Auspuff gehandelt haben, das irgendein Kerl nur wenige Straßen vom Schauplatz der Gedenkfeier entfernt angelassen habe. Eine halbe Magazinladung von 9-mm-Geschossen zerfetzte dem Schakal die Brust, warf ihn empor, drehte ihn in der Luft einmal um sich selbst und schmetterte seinen durchsiebten Körper in die gegenüberliegende Zimmerecke, wo er als blutgetränktes, unordentliches Kleiderbündel nahe dem Sofa liegenblieb. Im Fallen hatte er noch die Stehlampe umgerissen. Unten auf dem Bahnhofsvorplatz begann die Kapelle» Mon regiment est ma patrie «zu spielen.

Am gleichen Tag erhielt Superintendent Thomas um 18 Uhr einen Anruf aus Paris. Als er aufgelegt hatte, rief er den dienstältesten Inspektor seines engeren Mitarbeiterstabs zu sich.»Sie haben ihn erwischt«, sagte er.»In Paris. Das hat sich also erledigt. Aber es wäre gut, wenn Sie rasch in seine Wohnung gingen und die dort verbliebenen Sachen nochmals sichteten.«

Es war gegen 20 Uhr. Der Inspektor schickte sich gerade an, Calthrops persönliche Habe einer letzten Prüfung zu unterziehen, als er jemanden durch die offene Wohnungstür kommen hörte.

Ein großer, breitschultriger Mann war eingetreten und betrachtete ihn mit finsterer Miene.»Was wollen Sie?«fragte der Inspektor.

«Genau das darf ich Sie wohl fragen. Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?«

«Jetzt reicht's aber«, sagte der Inspektor.»Wie heißen Sie?«

«Calthrop«, sagte der Mann.»Charles Calthrop. Und das hier ist meine Wohnung. Also, was tun Sie hier? 'raus mit der Sprache! «

Der Inspektor wünschte, er hätte eine Waffe bei sich.

«Schon gut«, sagte er leise, ohne den Mann aus den Augen zu lassen.»Am besten, Sie kommen gleich mit mir auf einen Plausch zu Scotland Yard.«

«Mit Vergnügen«, sagte Calthrop.»Sie sind mir eine Erklärung schuldig.«

Tatsächlich war es dann aber Calthrop, der Erklärungen abgab. Man ließ ihn erst nach vierundzwanzig Stunden frei, nachdem nicht weniger als insgesamt drei voneinander unabhängige Bestätigungen aus Frankreich gekommen waren, daß der Schakal tot sei, und die Inhaber fünf abgelegener schottischer Gasthöfe bezeugt hatten, daß Charles Calthrop in den letzten drei Wochen seiner Anglerleidenschaft gefrönt und sich in dieser Zeit als Gast bei ihnen eingemietet hatte.»Wenn der Schakal nicht Calthrop war«, bemerkte Thomas zu seinem Inspektor, nachdem er Calthrop schließlich hatte gehen lassen,»wer, zum Teufel, war er dann?«

«Es kommt überhaupt nicht in Frage«, erklärte der Commissioner der städtischen Polizeibehörde in London am nächsten Tag gegenüber Assistent Commissioner Dixon und Superintendent Thomas mit allem Nachdruck,»daß die Regierung Ihrer Majestät jemals einräumt, dieses Schakal-Subjekt könne die britische Staatsangehörigkeit gehabt haben. Soweit sich das von hier aus überblicken läßt, wurde in der Tat zeitweilig ein gewisser Engländer verdächtigt. Das hat sich aber jetzt aufgeklärt. Uns ist auch bekannt, daß dieser Bursche, dieser Schakal, sich auf seiner — ähem — Mission in Frankreich vorübergehend als

Engländer ausgegeben und einen ihm aufgrund falscher Angaben ausgestellten Paß besessen hat. Aber er gab sich auch als Däne, als Amerikaner und als Franzose aus, und zwar mit Hilfe zweier gestohlener Pässe und gefälschter französischer Ausweispapiere. Was uns betrifft, so ist festzuhalten, daß es unsere Ermittlungen waren, die es den Franzosen möglich machten, den unter dem falschen Namen Duggan in Frankreich umherreisenden Schakal in diesem Nest da… in… äh… Gap aufzuspüren. Das wäre alles, meine Herren. Der Fall ist damit abgeschlossen.«

Am Tag darauf wurde auf dem Friedhof eines Pariser Vororts in einem nicht näher bezeichneten Grab die Leiche eines Mannes beerdigt. Dem Totenschein zufolge handelte es sich um einen namenlosen ausländischen Touristen unbekannter Nationalität, der am Sonntag, dem 25. August 1963, auf einer Schnellstraße außerhalb der Stadt von einem Automobil, dessen Fahrer flüchtig war, überfahren und getötet wurde. Bei dem Begräbnis waren ein Priester, ein Polizeibeamter, ein Angestellter der Friedhofsverwaltung, zwei Totengräber sowie ein weiterer Mann zugegen, der es ablehnte, seinen Namen zu nennen. Mit Ausnahme des letzteren zeigte keiner der Anwesenden auch nur eine Spur von Teilnahme, als der schlichte Fichtensarg in das ausgehobene Grab gesenkt wurde. Als alles vorüber war, drehte sich der Mann um und ging, eine einsame kleine Gestalt, die lange Friedhofsallee zum Ausgang zurück, nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern.

Der Weg des Schakals war zu Ende.

ENDE

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