ZWANZIGSTES KAPITEL

Eine Stunde vor Mitternacht betrat der Schakal die Bar. Sie war so dunkel, daß er ein paar Sekunden lang weder die Ausmaße noch die Form des Raums abzuschätzen vermochte. Linkerhand erstreckte sich die Theke vor einer erleuchteten Reihe von Spiegeln und Flaschen. Als die Tür sich hinter ihm schloß, starrte ihn der Barmixer mit unverhohlener Neugier an. Der Raum war schlauchartig eng und entlang der rechten Wand mit kleinen Tischen ausgestattet. Jenseits der Bar erweiterte er sich zu einem Salon, und dort gab es größere Tische, an denen vier oder sechs Personen Platz finden konnten. Längs der Theke stand eine Anzahl Barhocker. Die meisten Stühle und Barhocker waren von der Stammkundschaft besetzt.

Die Unterhaltung an den Tischen nahe der Tür war verstummt, während die Gäste den Schakal musterten, und die plötzliche Stille dehnte sich rasch bis in die Tiefe des Raums aus, als den etwas weiter entfernt sitzenden Kunden die Blicke ihrer Begleiter auffielen und sie sich ihrerseits umdrehten, um die athletische Gestalt an der Tür in Augenschein zu nehmen. Ein paar geflüsterte Bemerkungen wurden ausgetauscht, hier und dort war kokettes Kichern und leises Lachen vernehmbar. Der Schakal erspähte einen freien Barhocker und drängte sich zwischen der Theke zur Linken und der Reihe kleiner Tische zur Rechten hindurch, um darauf Platz zu nehmen. Das erregte Getuschel in seinem Rücken entging ihm nicht.

«Oh, regarde-moi gal Diese Muskeln! Darüber könnte ich glatt den Verstand verlieren.«

Der Barmixer eilte vom anderen Ende der Theke herbei, um seine Order entgegenzunehmen und ihn näher betrachten zu können. Seine karminroten Lippen verzogen sich zu einem koketten Lächeln. »Bon soir- monsieur.«

Hinter dem Schakal wurde mehrstimmiges Prusten und Kichern laut.

«Donnez-moi un Scotch.«

Der Barmixer tänzelte entzückt davon. Ein Mann, ein Mann, ein echter Mann! Oh, was für ein tolles Gerangel das heute abend noch geben würde! Er konnte die petitesfolles im hinteren Raum der Bar bereits ihre Krallen schärfen sehen. Die meisten warteten auf ihre» festen «Freier, aber einige waren nicht verabredet und daher» noch zu haben«. Dieser neue Junge würde gewiß Furore machen, dachte der Barmixer.

Der Gast, der unmittelbar neben dem Schakal an der Bar saß, wandte sich ihm zu und betrachtete ihn mit offenkundiger Neugierde. Sein Haar war metallischgolden getönt und wie bei jungen griechischen Göttern auf einem antiken Fries in sorgfältig gedrehten Löckchen in die Stirn gekämmt. Damit jedoch endete die Ähnlichkeit auch schon. Die Augen waren blau untermalt, die Lippen korallenfarben und die Wangen gepudert. Aber das Make-up konnte die scharfen Gesichtsfalten des alternden Lüstlings nicht überdecken, und den Ausdruck nackter Gier in seinen Augen milderte auch die Wimperntusche nicht.

«Tu m'invites?« fragte er kokett lispelnd.

Der Schakal schüttelte den Kopf. Achselzuckend wandte sich der Transvestit wieder seinem Gefährten zu. Unter Piepslauten vorgetäuschten Erschreckens setzten sie mit vielem Getuschel ihre Unterhaltung fort. Der Schakal hatte seine Windjacke ausgezogen, und als er jetzt nach dem Drink griff, den ihm der Barmixer servierte, spielte seine Schulter- und Rückenmuskulatur unter dem engen T-Shirt.

Kurz vor Mitternacht begannen die Freier aufzukreuzen. Sie nahmen an den hinteren Tischen Platz, musterten die Umsitzenden und winkten wiederholt den Barmixer zu sich heran, um sich flüsternd mit ihm zu beraten. Dann kehrte er hinter die Theke zurück und gab einer der» Damen «einen Wink.

«Monsieur Pierre möchte sich mit dir unterhalten, Liebste. Sei ein bißchen nett zu ihm und heule, um Gottes willen, nicht gleich los wie das letztemal.«

Der Schakal traf seine Wahl kurz nach Mitternacht. Zwei der Männer im hinteren Teil der Bar schauten seit einiger Zeit zu ihm herüber. Sie saßen an verschiedenen Tischen und warfen einander zwischendurch giftige Blicke zu. Beide waren sie mittleren Alters; der eine war feist und hatte winzig kleine, in konzentrische Fettpolster gebettete Augen und Speckfalten im Nacken, die ihm über den Kragen quollen. Der andere war dürr, wirkte elegant, hatte den Hals eines Geiers und eine ausgedehnte Glatze unter den quer über den Schädel geklebten spärlichen Haarsträhnen. Er trug einen vorzüglich geschneiderten Anzug mit engen Hosenbeinen und einer Jacke, aus deren Ärmel spitzenbesetzte Manschetten hervorschauten. Um den Geierhals hatte er ein locker geknotetes Foulardtuch geschlungen. Wird sicher was mit Kunst, mit Mode oder Haarmode zu tun haben, schätzte der Schakal.

Der Feiste gab dem Barmixer einen Wink und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Barmixer ließ den ihm zugesteckten Geldschein in der Gesäßtasche seiner engsitzenden Hose verschwinden und kehrte zur Theke zurück.

«Der Monsieur möchte fragen, ob du ein Glas Champagner mit ihm trinken würdest«, flüsterte er dem Schakal schelmisch lächelnd zu.

Der Schakal setzte sein Whiskyglas ab.

«Bestellen Sie dem Monsieur«, sagte er laut genug, um es alle Umsitzenden hören zu lassen,»daß ich ihn abstoßend finde.«

Entsetzt schnappten die in der Nähe befindlichen» Damen «nach Luft, und einige der zierlichen jungen Männer stiegen von ihren Barhockern und traten näher herzu, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen. Der Barmixer riß erschrocken die Augen auf.»Er lädt dich zum Champagner ein, Süßer. Wir kennen ihn, er ist steinreich. Du hast einen Haupttreffer erzielt. «Statt zu antworten, nahm der Schakal sein Glas, verließ seinen Platz an der Bar und schlenderte zu dem alten Beau hinüber.

«Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze?«fragte er.»Man belästigt mich.«

Der kunstvoll Hergerichtete fühlte sich so geschmeichelt, daß ihm fast die Sinne zu schwinden drohten. Ein paar Minuten später brach der Feiste auf und verließ beleidigt das Lokal, während sein Rivale, die magere alte Hand lässig auf die des jungen Amerikaners an seinem Tisch gelegt, seinem neuen Freund bestätigte, wie unmöglich die Manieren gewisser Leute seien.

Der Schakal und sein Begleiter verließen die Bar nach l Uhr. Ein paar Minuten zuvor hatte der besorgte väterliche Freund, dessen Name Jules Bernard war, seinen Schützling gefragt, wo er wohne, und dieser ihm verschämt gestanden, daß er keine Unterkunft habe und überdies völlig pleite sei. Was Bernard betraf, so wagte er seinem Glück kaum zu trauen. Das träfe sich gut, erklärte er seinem jungen Freund. Er nämlich besäße eine schöne Wohnung, hübsch eingerichtet und wundervoll ruhig gelegen. Er lebe allein, niemand störe seinen Frieden, und mit den Nachbarn im Haus vermeide er jeden Kontakt, denn er habe in dieser Beziehung schlechte Erfahrungen gemacht. Er wäre entzückt, wenn Jung Martin für die Dauer seines Pariser Aufenthaltes bei ihm wohnen würde. Unter eindringlichen Beteuerungen überschwenglicher Dankbarkeit hatte der Schakal die Einladung angenommen. Unmittelbar bevor sie aufbrachen, war er rasch auf die Toilette (es gab nur eine) gegangen und wenige Minuten später mit dick untermalten Augen, gepuderten Wangen und karminrotgefärbten Lippen zurückgekehrt. Bernard hatte ganz entsetzt dreingeblickt, aber nichts gesagt, solange sie sich in der Bar befanden.

«In dieser Aufmachung solltest du nicht herumlaufen«, protestierte er, als sie auf die Straße hinaustraten.»Du siehst damit aus wie all die anderen gräßlichen Puppen da drinnen. Du bist ein sehr gut aussehender Junge und hast es nicht nötig, dir das Zeug ins Gesicht zu schmieren.«

«Tut mir leid, Jules. Ich dachte, du fändest mich hübscher so. Wenn wir nach Hause kommen, wische ich es mir gleich ab.«

Wieder versöhnt, führte Bernard den Schakal zu seinem Wagen. Er erklärte sich bereit, seinen neuen Freund zunächst zur Gare d'Austerlitz zu fahren, damit er sein Gepäck abholte, bevor sie in Bernards Wohnung gingen. An der ersten Kreuzung wurden sie von einem Polizisten gestoppt. Als der Beamte sich zum linken Vorderfenster hinunterbeugte, knipste der Schakal die Innenbeleuchtung an. Der Polizist starrte sechzig Sekunden lang entgeistert in den Wagen und zog dann angewidert den Kopf zurück.

«Allez«, befahl er, ohne die Insassen eines weiteren Blicks zu würdigen, und murmelte:

«Salespedes«, als der Wagen anfuhr. Kurz vor dem Bahnhof wurden sie nochmals angehalten und zum Vorweisen ihrer Papiere aufgefordert. Der Schakal kicherte verführerisch.

«Ist das alles, was ihr wollt?«fragte er schelmisch.

«Macht, daß ihr weiterkommt«, sagte der Polizist und trat zur Seite.

«Provoziere sie doch nicht so«, warnte ihn Bernard sotto voce.»Du bringst uns noch ins Gefängnis.«

Der Schakal löste seinen Koffer und die Reisetasche am Gepäckschalter aus, ohne dabei Schlimmerem als dem verächtlichen Blick des diensttuenden Beamten zu begegnen, und verstaute beide Gepäckstücke im Kofferraum des Wagens.

Auf der Fahrt zu Bernards Wohnung wurden sie wiederum angehalten. Diesmal waren es zwei CRS-Männer, ein Sergeant und ein Gemeiner, die wenige hundert Meter vor dem Haus, in dem Bernard wohnte, auf einer Straßenkreuzung standen und die Ausweise aller Fahrzeuginhaber kontrollierten. Der Gemeine trat an das rechte Fenster, blickte dem Schakal ins Gesicht und zuckte zurück.

«Oh, mein Gott. Wohin wollt denn ihr zwei beiden?«

«Na, was glaubst du wohl, Süßer?«

Der CRS-Mann verzog angewidert das Gesicht.

«Schiebt ab, ihr geilen Puppen! Los, weiterfahren.«

«Sie hätten sie nach ihren Ausweispapieren fragen sollen«, hielt ihm der Sergeant vor, als der Wagen sich entfernte.

«Aber Sergeant«, winkte der Gemeine ab,»wir suchen nach einem Burschen, der eine Baronin erst um und dumm gevögelt und dann totgeschlagen hat — und nicht nach zwei schwulen Tunten. «Um 2 Uhr morgens betraten Bernard und der Schakal die Wohnung. Der Schakal bestand darauf, im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen, und Bernard erhob keine Einwände, wenngleich er es nicht lassen konnte, durch die Schlafzimmertür zu spähen, als der junge Amerikaner sich auszog. Es würde offenkundig einer geduldigen, aber konsequenten Taktik bedürfen, um den durchtrainierten Studenten aus dem Staat New York zu verführen. In der Nacht sah sich der Schakal in der mit weibischbetulichem Geschmack dekorierten, im übrigen aber hochmodern eingerichteten Küche um und inspizierte die Lebensmittelvorräte im Kühlschrank. Er kam zu dem Schluß, daß sich eine Person mit den vorhandenen Lebensmitteln drei Tage lang ernähren konnte; für zwei reichten sie jedoch nicht. Am Morgen wollte Bernard frische Milch holen, aber der Schakal beharrte darauf, daß er es vorziehe, seinen Kaffee mit Dosenmilch zu trinken. So verbrachten sie den Vormittag in der Wohnung. Der Schakal schaltete den Fernseher ein, um die Mittagssendung des Nachrichtendienstes zu sehen.

Die erste Meldung betraf die Jagd nach dem Mörder der Baronin de la Chalonniere, deren Leiche vor achtundvierzig Stunden aufgefunden worden war. Jules Bernard schrie entsetzt auf.»Uuuh, Brutalität kann ich nicht ertragen«, erklärte er. Im nächsten Augenblick erschien in Großaufnahme ein Gesicht auf dem Bildschirm: ein gutgeschnittenes junges Gesicht mit kastanienbraunem Haar und Hornbrille. Wie der Nachrichtensprecher sagte, handelte es sich um das des Mörders, eines amerikanischen Studenten namens Marty Schulberg. Hatte irgend jemand diesen Mann gesehen oder Kenntnis von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort erlangt? Sachdienliche Hinweise nahm jedes Polizeikommissariat entgegen…

Bernard, der auf dem Sofa saß, drehte sich um und blickte auf. Sein letzter Gedanke war, daß der Sprecher sich geirrt haben mußte, denn er hatte gesagt, Schulbergs Augen seien blau.

Aber die auf ihn hinunterstarrenden Augen über den stählernen Fingern, die ihm die Kehle zudrückten, waren grau…

Wenige Minuten später schloß der Schakal den eingebauten Garderobenschrank in der Diele, hinter dessen Tür Jules Bernard mit gebrochenen Augen, verzerrten Gesichtszügen und heraushängender Zunge ins Dunkel starrte. Der Schakal richtete sich aufeine zweitägige Wartezeit ein, nahm ein Magazin aus dem Zeitschriftenständer im Wohnzimmer und machte es sich bequem.

In diesen zwei Tagen wurde ganz Paris gründlicher durchkämmt als je zuvor in seiner Geschichte. Jedes Hotel, vom elegantesten und teuersten bis hinunter zur schäbigsten

Absteige, wurde von Polizeibeamten aufgesucht; jede Gästeliste wurde überprüft; jede Pension, jedes Boardinghouse, jede Herberge Zimmer für Zimmer durchsucht. Bars, Restaurants, Nachtklubs, Kabaretts und Cafes wurden von Razzien heimgesucht, bei denen Detektive Kellnern, Barmixern und Rausschmeißern das Photo des Gesuchten vorhielten. Die Häuser und Wohnungen aller polizeinotorischen OAS-Sympathisanten wurden durchsucht. Man sistierte mehr als siebzig junge Männer, die unleugbar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mörder aufwiesen, um sie nach langwierigen Verhören mit den in solchen Fällen üblichen Entschuldigungen wieder freizulassen — und das auch nur, weil sie allesamt Ausländer waren und Ausländer höflicher behandelt werden mußten als Einheimische. Auf den Straßen, in Taxis und Bussen wurden Hunderttausende zum Vorweisen ihrer Papiere aufgefordert, auf allen Ausfallstraßen Sperren errichtet und Nachtvögel alle fünfhundert Meter angehalten und nach dem Ausweis befragt.

In der Unterwelt waren die Korsen auf ihre Weise tätig. Sie tauchten in den Schlupfwinkeln der Zuhälter, Prostituierten, Taschendiebe, Strolche, Schwindler und Hehler auf und ließen keinen Zweifel daran, daß jeder, der Informationen verschwieg, mit unnachsichtigen Strafmaßnahmen von Seiten der Union zu rechnen hatte.

Vom ranghöchsten Kriminaldirektor über den altgedienten Landgendarmen bis zum einfachsten Soldaten hatte der Staat insgesamt hunderttausend Mann aufgeboten. Die auf fünfzigtausend Mitglieder geschätzte Unterwelt behielt alle in ihren Gefilden auftauchenden neuen Gesichter im Auge. Wer nächtens oder bei Tag in der Fremdenverkehrsindustrie tätig war, wurde zur Wachsamkeit angehalten. Jugendlich aussehende Detektive unterwanderten Debattierklubs, studentische Vereinigungen und Gruppen aller Schattierungen. Agenturen, die Adressen für Austauschstudenten vermittelten, wurden aufgesucht und zur Mitarbeit vergattert.

Am 24. August bekam Claude Lebel, der in seiner alten Strickjacke und geflickten Hosen in seinem Garten gewerkelt hatte, spätnachmittags einen Anruf aus dem Innenministerium. Der Minister bestellte ihn zu einer Unterredung in sein privates Arbeitszimmer. Um 18 Uhr holte ihn ein Wagen ab.

Lebel bekam einen Schreck, als er den Minister sah. Der dynamische Chef des gesamten französischen Sicherheitsapparats wirkte müde und abgespannt. Er schien innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden merklich gealtert zu sein, und um die Augen hatte der Mangel an Schlaf viele feine Linien eingezeichnet. Er forderte Lebel auf, in dem Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, und setzte sich seinerseits auf den Drehstuhl, von dem er sonst gern mit einer halben Wendung nach links auf die Place Beauvau hinausblickte. Heute freilich schaute er kein einziges Mal aus dem Fenster.

«Wir können ihn nicht finden«, sagte er unvermittelt.»Er ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Wir sind überzeugt, daß die OAS-Leute ebensowenig wie wir wissen, wo er ist. In der Unterwelt hat man ihn auch nicht gesichtet. Die Union Corse hält es für ausgeschlossen, daß er noch in der Stadt ist.«

Er schwieg, seufzte und richtete den Blick auf den ihm gegenübersitzenden kleinen Detektiv, der mehrmals blinzelte, aber nichts sagte.

«Ich glaube, wir haben uns nie richtig klargemacht, was für ein Mann das ist, den Sie da die letzten beiden Wochen hindurch verfolgt haben. Was meinen Sie?«

«Er ist hier, irgendwo«, sagte Lebel.»Was ist für morgen vorgesehen?«

Der Minister sah aus, als leide er körperliche Schmerzen.»Der Präsident weigert sich, das vorgesehene Programm für die nächsten Tage auch nur im geringsten abzuändern. Ich habe heute morgen mit ihm gesprochen. Er war höchst ungehalten. Also bleibt es morgen bei dem bereits veröffentlichten Veranstaltungsprogramm. Um 10 Uhr wird er die Ewige Flamme unter dem Are de Triomphe neu entfachen, um elf die Heilige Messe in Notre-Dame besuchen, um 12 Uhr 30 in Montvalerien vor dem Schrein der Märtyrer der Resistance stille

Einkehr halten und anschließend zum Lunch in den Elysee-Palast zurückfahren. Nach dem Mittagsschlaf folgt am Nachmittag noch eine weitere Veranstaltung — die Überreichung der Medailles de la Liberation an zehn Veteranender Widerstandsbewegung, deren Verdienste um die Sache der Resistance damit eine späte Anerkennung erfahren sollen.

Das wird sich um 16 Uhr auf dem Platz vor der Gare Montparnasse abspielen. Er hat den Ort selbst ausgesucht. Wie Sie wissen, haben die Ausschachtungsarbeiten für den neuen Bahnhof, der fünfhundert Meter vom alten entfernt gebaut wird, bereits begonnen. Wo jetzt noch die Bahnhofsgebäude stehen, soll ein Geschäftshochhaus nebst Shopping-Center errichtet werden. Wenn die Bauarbeiten nach Plan verlaufen, dürfte dies der letzte Befreiungstag sein, an dem die Fassade des alten Bahnhofs noch steht.«

«Welche Sicherungs- und Absperrungsmaßnahmen sind vorgesehen?«fragte Lebel.

«Nun, mit dieser Frage haben wir uns alle gemeinsam ausgiebig befaßt. Die Menge soll bei sämtlichen Kundgebungen sehr viel weiter als bisher üblich vom Schauplatz der jeweiligen Zeremonie entfernt bleiben. Einige Stunden vor Beginn jeder Veranstaltung werden zunächst die Sperrgitter errichtet und dann innerhalb des abgeriegelten Gebiets alle Häuser und Hinterhäuser von oben bis unten durchsucht, Torwege und Innenhöfe inspiziert und selbst die Gullys in Augenschein genommen. Vor und während der Feierlichkeiten postieren wir auf jedem benachbarten Dach bewaffnete Beobachter, die die gegenüberliegenden Dächer und Fenster ständig im Auge behalten. Außer den Kabinettsmitgliedern, den Mitgliedern des Senats und der Depurtiertenkammer sowie natürlich den unmittelbaren Teilnehmern an den Feierlichkeiten darf niemand die Absperrung passieren.

Wir haben diesmal außerordentlich weitgehende Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Selbst die Gesimse sowohl im Kirchenschiff als auch an der Außenfront von Notre-Dame werden bis unters Dach und zwischen den Türmen mit Polizeibeamten besetzt sein.

Sämtliche Priester, die an der Messe teilnehmen, sollen auf Waffen durchsucht werden, desgleichen die Meßdiener und Chorknaben. Für den Fall, daß er sich als Sicherheitsbeamter tarnen sollte, werden bei Morgengrauen besondere Abzeichen an alle Polizei- und CRS-Kräfte ausgegeben.

In den letzten vierundzwanzig Stunden ist der Citroen, in dem der Präsident fahren wird, heimlich mit kugelsicheren Scheiben ausgerüstet worden. Ich muß Sie übrigens bitten, hierüber kein

Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Der Präsident darf davon nichts wissen. Er wäre außer sich, wenn es ihm zu Ohren käme. Wie immer wird Marroux ihn fahren, und er ist angewiesen, ein rascheres Tempo als sonst zu nehmen, für den Fall, daß unser Freund versuchen sollte, auf den fahrenden Wagen zu schießen. Ducret hat ein Aufgebot besonders hochgewachsener Offiziere und Beamter mobilisiert, die sich, ohne daß es dem General auffällt, möglichst eng um ihn scharen werden.

Unabhängig davon soll ausnahmslos jeder, der sich ihm auf zweihundert Meter nähert, durchsucht werden. Das wird uns todsicher Ärger mit dem Diplomatischen Corps einbringen, und die Presse droht bereits mit einem Aufstand. Sämtliche Presse- und Diplomatenausweise werden morgen in aller Frühe überraschend gegen neue ausgetauscht, damit sich der Schakal nicht unter diese Leute schmuggeln kann. Überflüssig zu sagen, daß die Polizei angewiesen ist, jeden, der mit einem Paket oder einem länglichen Gegenstand unter dem Arm angetroffen wird, sofort abzuführen. Nun, Kommissar, haben Sie darüber hinaus irgendwelche Vorschläge zu machen?«

Lebel überlegte einen Augenblick, wobei er wie ein Schuljunge, der sich seinem Direktor gegenüber zu rechtfertigen sucht, seine Hände abwechselnd rieb und zwischen die Knie steckte. In der Tat empfand er als Polizeibeamter, der sich von unten heraufgedient und sein Leben damit verbracht hatte, Gesetzesbrecher zur Strecke zu bringen, indem er seine Augen ein bißchen weiter aufsperrte als andere Leute, manche Errungenschaften der Fünften Republik durchaus eindrucksvoll.

«Ich glaube nicht«, sagte er schließlich,»daß er das Risiko eingehen wird, eventuell selbst bei der Sache draufzugehen. Er ist ein Söldner, er tötet für Geld. Er will mit heiler Haut davonkommen und sein Geld genießen. Und er hat seinen Plan bis ins einzelne ausgearbeitet, als er in der letzten Juliwoche auf seiner Erkundungsreise hier war. Wenn er die Erfolgschancen seines Vorhabens oder die Fluchtmöglichkeiten auch nur im geringsten bezweifelte, wäre er längst aus der Sache ausgestiegen.

Er muß also noch irgend etwas in petto haben. Er konnte von selbst darauf kommen, daß es einen Tag im Jahr gibt — den Tag der Befreiung —, an welchem es dem General der eigene Stolz, gleichgültig, welche Gefahr für sein Leben damit verbunden sein mag, strikt verbietet, zu Hause zu bleiben.Er dürfte sich auch darüber im klaren sein, daß die Sicherungsmaßnahmen, besonders seit uns seine Anwesenheit zur Kenntnis gelangt ist, so sehr verstärkt worden sind, wie Sie, Monsieur le Ministre, es soeben geschildert haben. Und doch hat er nicht aufgegeben.«

Lebel stand auf und begann höchst protokollwidrig im Arbeitszimmer des Ministers auf und ab zu gehen, während er in seinen Überlegungen fortfuhr:

«Er hat nicht aufgegeben. Und er wird auch nicht aufgeben. Warum? Weil er überzeugt ist, daß er seinen Auftrag erledigen und mit heiler Haut davonkommen kann. Folglich muß er auf irgendeine Möglichkeit verfallen sein, an die noch niemand gedacht hat. Vielleicht eine Bombe, die durch Fernzündung zur Explosion gebracht wird, oder ein entsprechendes Gewehr. Aber eine Bombe kann zu leicht entdeckt werden, und damit wäre das Vorhaben gescheitert. Also ist es eine Schußwaffe. Deswegen mußte er im Wagen nach Frankreich einreisen. Das Gewehr war im Wagen, vermutlich ans Chassis geschweißt oder irgendwie in der Auskleidung der Karosserie versteckt.«

«Aber mit einem Gewehr kommt er doch nie an de Gaulle heran!«rief der Minister aus.»Niemand wird in seine Nähe gelassen, außer einigen wenigen ausgesuchten Leuten, und die werden vorher auf Waffen durchsucht. Wie sollte ein Mann mit einem Gewehr jemals durch die Absperrung kommen?«

Lebel unterbrach seine Wanderung durchs Zimmer und blieb vor dem Schreibtisch des Ministers stehen. Er zuckte mit den Achseln.

«Ich weiß es nicht. Aber er ist überzeugt, daß er es kann, und bislang hat er recht behalten, obwohl er einiges Pech gehabt hat — aber auch einiges Glück. Obwohl er von zwei der besten Polizeiapparate der Welt ausgemacht und gejagt wurde, ist er hier. Mit einem Gewehr, in einem Schlupfwinkel, womöglich mit einem wieder anderen Gesicht und mit einer weiteren Identitätskarte. Eines ist sicher, Monsieur le Ministre. Wo immer er auch ist, morgen muß er auftauchen. Und sobald er das tut, muß er als das erkannt werden, was er ist. Da gibt's nur noch eins — die alte Detektivregel, daß man die Augen offenhalten muß. Mehr, Monsieur le Ministre, habe ich, was die Sicherheitsvorkehrungen betrifft, nicht vorzuschlagen. Sie scheinen mir in der Tat umfassend, ja überwältigend zu sein. Ich kann Sie nur bitten, mich bei jeder der Veranstaltungen umherstreifen und versuchen zu lassen, ob ich ihn entdecke. Das ist alles, was jetzt noch übrigbleibt.«

Der Minister war enttäuscht. Er hatte auf irgendeine Eingebung, eine brillante Idee des Detektivs gehofft, der von Bouvier noch vor vierzehn Tagen als der beste in ganz Frankreich bezeichnet worden war. Und dieser Mann wußte ihm nichts anderes zu sagen, als daß er die Augen aufhalten müsse. Der Minister erhob sich.

«Aber selbstverständlich«, sagte er kalt.»Bitte tun Sie das,

Monsieur le Commissaire. «

Später am gleichen Abend begann der Schakal in Jules Bernards Schlafzimmer mit seinen Vorbereitungen. Neben die ausgetretenen schwarzen Schuhe hatte er die grauen Wollsocken, die Hose und das kragenlose Hemd, den langen Militärmantel mit einer Reihe angehefteter

Orden und Medaillen sowie das schwarze beret des Kriegsveteranen Andre Martin auf das Bett gelegt. Die in Brüssel gefälschten Papiere, die dem Träger der ausgebreiteten Kleidungsstücke eine neue Identität verschafften, warf er dazu. Auch den leichten Gurt aus dichtgewebtem Material, den er sich in London hatte anfertigen lassen, sowie die fünf Stahlröhren, die wie aus Aluminium aussahen und den Kolben, das Schloß, den Lauf, das Zielfernrohr und den Schalldämpfer des Gewehrs enthielten, legte er auf das Bett, desgleichen den schwarzen Gummipfropf, in welchem die fünf Explosivgeschosse steckten. Er entnahm dem Propf en zwei der Geschosse und knipste ihnen mit der Kneifzange aus dem Handwerkskasten unter dem Küchenausguß vorsichtig die Spitze ab. Dann holte er die beiden in den Geschossen befindlichen Korditstäbchen heraus und legte sie sorgsam zur Seite, während er die entleerten Patronenhülsen in den Aschenkasten warf. Ihm verblieben noch drei Geschosse, und das genügte.

Er hatte sich zwei Tage lang nicht rasiert, und ein leichter goldener Stoppelbart wuchs ihm auf Kinn und Wangen. Er würde ihn mit dem Klapprasiermesser, das er bei seiner Ankunft in Paris erstanden hatte, in absichtlich unbeholfener Weise entfernen. Die After-shave-lotion-Flaschen, in denen sich das Haarfärbemittel befand, das er bereits für Pastor Jensen benutzt hatte, wie auch das Lösungsmittel standen ebenfalls auf dem Regal im Badezimmer. Marty Schulbergs Kastanienbraun hatte er sich bereits aus seinem jetzt wieder blonden Haar herausgespült, das er vor dem Badezimmerspiegel kürzer und kürzer schnitt, bis es in bürstenartigen Büscheln zu Berge stand.

Er überprüfte nochmals seine Vorbereitungen für den kommenden Tag, um sicherzugehen, daß er an alles gedacht hatte. Dann machte er sich ein Omelett, ließ sich vor dem Fernseher bequem nieder und betrachtete eine Varieteschau, bis es Zeit wurde, schlafen zu gehen.

Der 25. August 1963 war ein glühendheißer Sonntag. Wie ein Jahr und drei Tage zuvor, als Oberstleutnant Bastien-Thiry und seine Männer bei dem Überfall in Petit-Clamart versucht hatten, Charles de Gaulle ums Leben zu bringen, bescherte er Paris den Höhepunkt der sommerlichen Hitzewelle. Daß ihre Tat eine Kette folgenschwerer Ereignisse auslöste, die erst am Nachmittag dieses Sommersonntags abreißen sollte, hatte keiner der damaligen Verschwörer ahnen können.

Aber wenn auch Paris seine an diesem Tag neunzehn Jahre zurückliegende Befreiung von den Deutschen feierte, so gab es doch fünfundsiebzigtausend Pariser, die nicht mitfeierten, sondern in blauen Sergehemden und zweiteiligen Uniformen schwitzten und ihre Mitbürger zu Ruhe und Ordnung anhielten. Die von ekstatischen Presseartikeln angekündigten Feierlichkeiten zu Ehren des Tags der Befreiung hatten massenhaften Zulauf. Die Mehrzahl derjenigen, die ihnen beiwohnten, erhielt freilich kaum Gelegenheit, das Staatsoberhaupt auch nur flüchtig zu sehen, das zwischen dichten Reihen von Polizisten und Sicherheitsbeamten dahinschritt, um die Gedächtnisfeierlichkeiten zu zelebrieren.

Zusätzlich zur Kohorte ausgesuchter Offiziere und Zivilbeamter, die, hoch erfreut ob der überraschenden Ehre, dem unmittelbaren Gefolge des Präsidenten anzugehören, nicht begriffen hatten, daß die einzige ihnen gemeinsame Qualifikation hierzu in ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße bestand und jeder von ihnen dem Präsidenten als lebender Schild diente, wurde General de Gaulle von seinen vier Leibwächtern vor den Blicken der Menge abgeschirmt.

Glücklicherweise verhinderte seine Kurzsichtigkeit im Verein mit seiner beharrlichen Weigerung, sich der Öffentlichkeit mit Brille zu präsentieren, daß er die bulligen Gestalten Roger Tessiers, Paul Comitis, Raymond Sasias und Henry d'Jouders zur Kenntnis nahm, die ihn beiderseits auf Tuchfühlung flankierten.

Für die Presseleute waren sie» Gorillas«, und viele glaubten, der Ausdruck bezöge sich lediglich auf das Aussehen dieser Männer. Tatsächlich aber meinte er auch ihre Gangart, für die es übrigens einen konkreten Grund gab. Jeder von ihnen war ein Experte in allen Kampf arten und hatte ungemein muskulöse Schultern und einen entsprechenden Brustkasten. Bei der geringsten Muskelanspannung wurden ihre Arme durch den seitlichen Zug der Rückenmuskulatur vom Körper weggedrängt, so daß sie — in deutlichem Abstand zu ihm — zwangsläufig in die typische Pendelbewegung gerieten. Zudem trugen die vier ihre bevorzugte Automatic unter der linken Achsel, was den gorillahaften Gang noch betonte. Sie gingen mit halbgeöffneten Händen, die blitzschnell zum Halfter greifen und die Waffe hervorziehen konnten, um beim ersten Anzeichen akuter Gefahr das Feuer zu eröffnen.

Aber es gab keinerlei Anlaß für derlei Reflexbewegungen. Die Zeremonie unter dem Triumphbogen verlief genau nach Plan, während rundum auf den Dächern der die Place de l'Etoile umgebenden Häuser Männer mit Feldstechern und Karabinern hinter Schornsteingruppen hockten und die Szenerie wachsam beobachteten. Als die Automobilkolonne des Präsidenten schließlich die Champs Elysees hinunter in Richtung Notre-Dame davonbrauste, atmeten sie allesamt erleichtert auf und kamen wieder herunter. Vor und in der Kathedrale war es das gleiche. Der Kardinalerzbischof von Paris zelebrierte, flankiert von Prälaten und anderen Geistlichen, die beim Anlegen ihrer Gewänder ausnahmslos überwacht worden waren, die heilige Messe. Auf der Orgelempore hockten zwei mit geladenen Karabinern bewaffnete Männer, von deren Anwesenheit selbst der Erzbischof nichts wußte, und behielten die unten im Kirchenschiff versammelte Menge im Auge. Unter die Andächtigen hatten sich zahllose Polizeibeamte in Zivil gemischt, die zwar nicht knieten und die Augen schlössen, aber ebenso inständig wie die Gläubigen ihre Gebete das alte Polizistengebet beteten:»O Herr, gib, daß es nicht geschieht, wenn ich Dienst habe.«

Draußen wurden mehrere Zuschauer, obwohl sie zweihundert Meter vom Portal der Kathedrale entfernt standen, kurzerhand abgeführt, weil sie in ihre Taschen gegriffen hatten. Einer hatte sich unter dem Arm gekratzt, ein anderer seine Zigarettenpackung hervorholen wollen.

Und noch immer geschah nichts. Von keinem Hausdach knallte ein Gewehrschuß, auch krachte keine Bombe. Die Polizisten kontrollierten sich sogar gegenseitig und vergewisserten sich ständig, ob ihre Kollegen auch das Abzeichen auf dem Revers ihrer Uniformjacken trugen, das jeder von ihnen erst an diesem Morgen erhalten hatte, damit der Schakal es sich nicht noch beschaffen oder anfertigen lassen und sich als Polizist kostümieren konnte. Ein CRS-Mann, der sein Abzeichen verloren hatte, wurde auf der Stelle festgenommen und in einen wartenden Polizeiwagen verfrachtet. Man nahm ihm die Maschinenpistole ab, und es wurde Abend, ehe man ihn wieder freiließ — und das auch nur, nachdem insgesamt zwanzig seiner Kollegen ihn persönlich identifiziert und sich für ihn verbürgt hatten.

In Montvalerien erreichte die Spannung dann ihren Höhepunkt. Ob der Präsident sie überhaupt zur Kenntnis nahm, muß dahingestellt bleiben; falls ihm etwas auffiel, ließ er sich doch nichts anmerken. Die Sicherheitsbeamten schätzten, daß dem General, solange er sich in dem zur Gedenkstätte umgewandelten Beinhaus aufhielt, keine Gefahr drohe, daß dagegen die durch die engen Straßen dieses Arbeiterviertels führende Anfahrt zu dem alten Gefängnisbau, bei der die Wagenkolonne vor jeder Straßenecke die Fahrt verlangsamen mußte, dem Mörder sehr wohl Gelegenheit zu dem geplanten Attentatsversuch bieten würde.

Der Schakal befand sich zu jenem Zeitpunkt ganz woanders.

Pierre Valremy hatte die Nase voll. Ihm war heiß, die verschwitzte Uniformbluse klebte ihm am Rücken, an der Schulter scheuerte ihm der Gurt des umgehängten Schnellfeuerkarabiners durch den groben Stoff der Bluse hindurch die Haut wund, er hatte Durst, und auf das Mittagessen mußte er zu all dem auch noch verzichten. Er begann es zu bereuen, dem CRS jemals beigetreten zu sein.

Dabei hatte alles so rosig ausgesehen, als er unter Hinweis auf die Notwendigkeit zu personellen Einsparungsmaßnahmen aus der Fabrik entlassen worden war und ihn der Mann auf dem Arbeitsamt auf das Plakat an der Wand hinwies, das einen strahlenden jungen Mann in der Uniform des CRS zeigte, der aller Welt beteuerte, einen interessanten Job mit

Aufstiegsmöglichkeiten und der Aussicht auf ein abenteuerliches Leben gefunden zu haben. Die Uniform auf dem Bild sah aus, als sei sie von Balenciaga persönlich maßgeschneidert. Kurz entschlossen hatte Valremy unterschrieben.

Vom Leben in der Kaserne, die wie ein Gefängnis aussah und in der Tat einst genau das gewesen war, hatte ihm keiner etwas erzählt. Auch nicht vom ewigen Drill oder von den häufigen Nachtübungen und ebensowenig von dem kratzenden Serge der Uniformbluse und dem stundenlangen Herumstehen an Straßenecken, wo er bei bitterer Kälte wie bei sengender Hitze auf den» großen Fang «gewartet hatte, der niemals kam. Die Papiere der Leute waren immer in Ordnung, und das genügte, um einen in den Suff zu treiben.

Und jetzt diese Reise nach Paris — das erste Mal in seinem Leben, daß er aus Rouen herausgekommen war. Er hatte gedacht, er bekäme etwas von der Stadt des Lichts zu sehen — aber weit gefehlt. Das war nicht drin, nicht mit Sergeant Barbichet als Zugführer. Statt dessen nur das übliche, und davon sogar mehr als üblich.

«Die Absperrung da drüben, Valremy. Da stellen Sie sich jetzt hin und passen auf. Achten Sie darauf, daß die Leute die Barriere nicht wegschieben, und lassen Sie niemanden durch, der nicht dazu befugt ist, klar? Sie haben eine verantwortungsvolle Aufgabe.«»Verantwortungsvoll «war gut. Mann, die drehten aber wirklich schon ganz schön durch wegen ihrer Pariser Befreiungsfeier. Schafften da Tausende von Soldaten aus der Provinz in die Stadt, um die Pariser Truppen zu verstärken. Männer aus zehn verschiedenen Städten waren letzte Nacht in seinem Quartier untergebracht gewesen, und die aus Paris hatten da so was von einem Gerücht läuten hören, daß irgeneiner von denen da oben glaubte, irgendwas würde noch passieren heute — weswegen denn auch sonst die ganze Aufregung? Na ja, waren ja alles bloß Gerüchte. Es passierte ja doch nie was.

Valremy drehte sich um und blickte die rue de Rennes hinauf. Die Barriere, die er bewachte, gehörte zu einer Reihe gleichartiger Sperrgatter, die sich etwa zweihundertfünfzig Meter vor dem Place du 18 Juin von Haus zu Haus quer über die Straße erstreckten. In seinem Rücken erhob sich das zweihundertfünfzig Meter jenseits des Platzes befindliche Bahnhofsgebäude, auf dessen Vorplatz die Feierstunde abgehalten werden sollte. Zum Bahnhof zurückblickend, konnte er dort eine Anzahl Männer die Plätze markieren sehen, auf denen die Kriegsveteranen, die in- und ausländischen Würdenträger und die Musikkapelle der Garde Republicaine Aufstellung nehmen würden. Noch drei Stunden. Herrgott, wollte die Zeit denn gar nicht verstreichen?An den Sperrgattern begannen sich die ersten Zuschauer einzufinden. Es gab eben Menschen, die eine sagenhafte Geduld hatten, dachte er. Das mußte man sich mal vorstellen — freiwillig bei dieser Hitze stundenlang zu warten, bloß um dreihundert Meter weit weg eine Menge Köpfe zu sehen und zu wissen, daß irgendwo mitten darunter Charles de Gaulle sein mußte. Und doch waren sie immer zur Stelle, wenn es hieß, er käme.

Es mochten inzwischen etwa hundert bis zweihundert Personen geworden sein, die einzeln und in Gruppen hinter der Absperrung standen, als er den alten Mann sah. Er kam die Straße hinuntergehumpelt, als würde er keine fünfhundert Meter mehr hinter sich bringen. Das schwarze beret war voller Schweißflecken, und der lange Militärmantel hing ihm lappig bis unter das Knie. Von seiner Brust baumelte eine Reihe leise klimpernder Medaillen. Tiefes Mitleid lag in den Blicken, mit denen einige der Leute hinter der Absperrung die jammervolle Gestalt bedachten.

Diese kauzigen Opas bewahrten doch immer noch ihre uralten Medaillen auf, als seien sie das einzige, was das Leben ihnen je beschert hatte, dachte Valremy. Na ja, vielleicht waren sie wirklich das einzige, was einige von ihnen noch besaßen. Besonders, wenn einem ein Bein abgeschossen worden war. Vielleicht hat er sich ja ein bißchen umgetan, als er noch jung war und zwei Beine hatte, auf denen er den Weibern nachlaufen konnte, sagte sich Valremy, während er den langsam heranhumpelnden alten Mann nicht aus den Augen ließ. Jetzt sah er aus wie die am Felsen zerschmetterte alte Seemöwe, die der CRS-Mann einmal am Strand von Kermadec gesehen hatte.

Menschenskind noch mal, das mußte man sich bloß mal vorstellen, wie das wäre, wenn man für den Rest seines Lebens auf einem Bein umherhumpelte und wie der da ohne seine Aluminiumkrücke keinen Schritt mehr vom Fleck käme.

Der Mann humpelte auf ihn zu.

«Jepeuxpasser?« fragte er ängstlich.

«Na, dann zeigen Sie mir erst mal Ihren Ausweis, Opa.«

Der Veteran griff fahrig in die Brusttasche seines Hemdes, das dringend der Reinigung bedurft hätte. Er zog zwei Ausweiskarten hervor, die Valremy eingehend in Augenschein nahm. Andre Martin, französischer Staatsbürger, dreiundfünfzig Jahre alt, geboren in Colmar im Elsaß, wohnhaft in Paris. Die andere Karte war auf denselben Namen ausgestellt und

«Mutile de Guerre«-

Kriegsversehrter — überschrieben. Allerdings, dachte Valremy, erwischt hat's dich, und das nicht zu knapp.

Er betrachtete die Photos auf den beiden Ausweisen. Sie zeigten den gleichen Mann, waren aber zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen. Er blickte auf.»Nehmen Sie das beret ab. «Der alte Mann nahm die Mütze ab und knäuelte sie in der Hand zusammen. Valremy verglich das Gesicht vor ihm mit dem auf den Photos abgebildeten. Es war dasselbe. Der Mann, der vor ihm stand, sah krank aus. Er hatte sich beim Rasieren mehrfach geschnitten und das Blut mit kleinen Fetzen von Toilettenpapier, die auf den Schnittwunden klebten, zu stillen versucht. Sein Gesicht war grau und von einer fettigen Schweißschicht bedeckt. Über der Stirn stand das vom Abnehmen der Mütze durcheinandergebrachte graue Haar büschelweise in alle Himmelsrichtungen vom Schädel ab. Valremy reichte ihm die Ausweise zurück.

«Wozu wollen Sie denn hier durchgehen?«»Ich wohne da«, sagte der alte Mann.»Ich lebe von meiner Rente. Ich habe eine Mansarde.«

Valremy entriß dem Alten nochmals die Ausweise, um die darauf angegebene Adresse zu überprüfen. Die Identitätskarte gab sie mit 154 rue de Rennes, Paris 6ieme, an. Der CRS-Mann sah zu dem Haus hinauf, vor dem er stand. Das Schild über dem Eingang trug die Nummer 132.154 mußte sich demnach ein Stück weiter die Straße hinunter befinden. Einen alten Mann passieren zu lassen, der nach Hause wollte, konnte schließlich nicht verboten sein.»Also gut, gehen Sie. Aber machen Sie mir keinen Ärger. In einer Stunde kommt Charlemagne.«

Der alte Mann lächelte, steckte seine Ausweise ein und wäre auf seinem einen Bein und seiner Krücke womöglich noch ins Stolpern geraten, wenn ihn Valremy nicht hilfreich gestützt hätte.

«Ich weiß. Einer von meinen alten Kameraden bekommt heute seine Medaille. Ich habe meine vor zwei Jahren gekriegt«, er tippte auf die Medaille de la Liberation auf seiner Brust,»aber nur vom Verteidigungsminister. «

Valremy warf einen Blick auf die Auszeichnung. Also das war die Befreiungsmedaille. Verdammt kleines Ding, was sie einem dafür gaben, daß man sich ein Bein abschießen ließ.

Er erinnerte sich plötzlich seiner amtlichen Würde und entließ den Veteran mit einem flüchtigen Nicken. Der alte Mann humpelte mühsam davon.Valremy drehte sich um und drängte einen Passanten zurück, der ebenfalls durch die Absperrung zu schlüpfen versuchte.»Nichts da, treten Sie hinter die Barriere zurück.«

Das letzte, was er von dem alten Soldaten sah, der ganz am Ende der Straße unmittelbar vor dem Platz in einem Hauseingang verschwand, waren die langen Schöße des Militärmantels. Madame Berthe sah überrascht auf, als der Schatten auf sie fiel. Es war ein anstrengender Tag gewesen, mit all den Polizisten in sämtlichen Wohnungen, und sie wagte sich nicht auszumalen, was die Mieter wohl dazu gesagt hätten, wenn sie dagewesen wären. Zum Glück waren sie alle bis auf drei in den Sommerferien.

Als die Polizei abzog, hatte sie sich endlich auf ihrem gewohnten Platz im Hauseingang niederlassen und in Ruhe noch ein wenig stricken können. Die offiziellen Feierlichkeiten, die in zwei Stunden auf dem hundert Meter entfernten Bahnhofsvorplatz beginnen sollten, interessierten sie nicht im mindesten.

«Excusez-moi, madame, ich dachte — dürfte ich Sie vielleicht um ein Glas Wasser bitten? Es ist so heiß draußen, und wenn man bei der feierlichen Ordensverleihung zuschauen möchte…«Sie sah das Gesicht und die Gestalt eines alten Mannes vor sich, der in einem Militärmantel steckte, wie ihr verstorbener Mann ihn einst getragen hatte, mit Medaillen, die knapp unterhalb des Kragenaufschlags auf der linken Brustseite hin und herschwangen. Er stützte sich schwer auf seine Krücke, und unter dem Mantelsaum sah nur ein Bein hervor. Sein Gesicht war mager und verschwitzt. Madame Berthe legte ihr Strickzeug zusammen und steckte es in die Schürzentasche.

«Oh, monpauv'monsieur. So herumzulaufen- und bei der Hitze. Die Feier fängt erst in zwei Stunden an. Sie haben noch viel, viel Zeit. Kommen Sie, kommen Sie doch herein.«

Sie eilte ihm in ihre durch eine Glastür von der Halle abgetrennte Wohnung voraus. Der Kriegsveteran humpelte ihr nach.

Das Rauschen des Wasserstrahls aus dem Zapfhahn in der Küche ließ sie nicht hören, wie die Tür geschlossen wurde; sie spürte kaum, daß sich die Finger der Linken des Mannes um ihren Unterkiefer legten. Und das Knirschen der unmittelbar hinter ihrem rechten Ohr eingedrückten Knöchelchen am Warzenfortsatz ihres Schläfenbeins kam völlig überraschend. Das Bild des laufenden Wasserhahns mit dem Glas darunter zerplatzte in tausend rote und schwarze Flecken, und ihr Körper glitt schlaff zu Boden.

Der Schakal knöpfte seinen Mantel auf und löste den Gurt, mit dem er sich den rechten Unterschenkel unter das Gesäß gebunden hatte. Als er das verkrampfte Bein abwechselnd streckte und beugte, um die Durchblutung anzuregen, verzog sich sein Gesicht vor Schmerz. Es dauerte einige Minuten, bevor er wieder mit dem Bein auftreten und es mit seinem Gewicht belasten konnte.

Fünf Minuten später war Madame Berthe mit der Wäscheleine, die er unter dem Ausguß fand, an Händen und Füßen gefesselt und ihr Mund mit einem großen Heftpflaster zugeklebt. Er schleifte sie in die Waschküche und schloß die Tür. Eine rasche Durchsuchung des Wohnzimmers förderte die in der Tischschublade liegenden Wohnungsschlüssel zutage. Er knöpfte sich den Mantel zu, nahm die Krücke wieder auf — dieselbe, mit der er zwölf Tage zuvor auf den Flughäfen von Brüssel und Mailand durch die Zollkontrolle gehumpelt war — und schaute vorsichtig hinaus. Die Halle war leer. Er verließ das Wohnzimmer der Concierge, schloß hinter sich ab und rannte die Treppen hinauf.

Im sechsten Stock klopfte er an die Wohnungstür von Mlle. Beranger. Nichts. Er wartete ein paar Sekunden und klopfte dann nochmals. Weder aus dieser noch aus der benachbarten Wohnung von M. und Mme. Charrier drang ein Laut. Er holte die Schlüssel aus der Tasche, suchte nach dem Schildchen mit dem Namen Beranger, fand es und betrat die Wohnung. Rasch zog er die Tür hinter sich zu und schloß ab. Er durchquerte den Raum und sah aus dem Fenster. Männer in blauen Uniformen bezogen auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser Posten. Er war gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Mit ausgestrecktem Arm entriegelte er leise das Fenster und zog die Flügel so weit auf, daß sie die Wohnzimmerwand berührten. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Ein breiter Lichtstrahl fiel schräg durchs Fenster auf den Teppich und ließ das Zimmer dunkler erscheinen. Solange er nicht in den Bereich dieses Lichtstrahls trat, würden ihn die Beobachter vom gegenüberliegenden Hausdach aus nicht sehen können.

Im Schatten der zurückgezogenen Gardine schlich er sich dicht neben das Fenster und stellte fest, daß er nach unten auf den hundertdreißig Meter entfernten Bahnhofsvorplatz sehen konnte.

Er rückte den Wohnzimmertisch von der Seite her bis auf zweieinhalb Meter an das Fenster heran, nahm die Decke und die Vase mit den künstlichen Blumen herunter und legte ein paar Kissen von den Sesseln darauf. Sie sollten ihm als Schießauflage dienen.Dann zog er den

Militärmantel aus und krempelte sich die Ärmel hoch. Die Krücke wurde Stück für Stück auseinandergenommen und der an ihrem unteren Ende befestigte Gummipfropf, in welchem die restlichen drei Explosivgeschosse steckten, abgeschraubt. Die von der Einnahme des Schießpulvers aus den anderen beiden Geschossen herrührende Übelkeit, der er sein so überzeugend elendes, schweißfeuchtes Aussehen verdankte, begann erst jetzt abzuklingen.

Er schraubte ein weiteres Teilstück der Krücke auf und ließ den Schalldämpfer herausgleiten. Dem nächsten entnahm er das Zielfernrohr. Dort, wo sich die beiden oberen Streben der Krücke vereinigten, war der Durchmesser der Stahlröhren am größten. Dieser Teil enthielt den Verschluß und den Lauf des Gewehrs. Aus dem ypsilonförmig gegabelten Rahmen holte er die beiden Stahlröhren heraus, die, zusammengesetzt, den Gewehrkolben bildeten. Zuletzt kam die mit einer Lederpolsterung für die Achsel versehene obere Querstrebe der Krücke an die Reihe, in welcher lediglich der Abzug des Gewehrs versteckt war. Über den Gewehrkolben gestülpt, wurde die ausgepolsterte Strebe zur Schulterstütze.

Liebevoll setzte er das Gewehr zusammen — Verschluß und Lauf, obere und untere Kolbenstrebe, Schulterstütze, Schalldämpfer und Abzugszunge. Zu guter Letzt streifte er das Zielfernrohr über den Lauf und drehte es fest.

Er stellte einen Stuhl hinter den Tisch, setzte sich und spähte, leicht über das auf den Kissen aufliegende Gewehr gebeugt, durchs Zielfernrohr. Der sonnenbeschienene Bahnhofsvorplatz jenseits der Place du 18 Juin sprang ihm entgegen. Der Kopf eines der Männer, die noch immer damit beschäftigt waren, die Aufstellungsplätze für die bevorstehenden Feierlichkeiten zu markieren, erschien in gestochener Schärfe im Blickfeld. Er war ebenso groß, wie die Melone auf der Lichtung im Ardenner Wald aussah.

Zufrieden stellte er die drei Patronen, wie Soldaten ausgerichtet, am Rand der Tischplatte auf. Mit Daumen und Zeigefinger zog er den Gewehrriegel zurück und führte das erste Geschoß in die Kammer ein. Eines würde genügen, aber er hatte noch zwei weitere in Reserve. Er schob den Riegel wieder vor und schloß ihn mit einer halben Drehung. Dann legte er das Gewehr sorgsam auf die Kissen zurück und suchte in seinen Taschen nach Zigaretten und Streichhölzern.

Er zog gierig an der ersten Zigarette und lehnte sich zurück, um eindreiviertel Stunden zu warten.

Загрузка...