FÜNFZEHNTES KAPITEL

Das dritte Treffen im Innenministerium begann erst kurz nach 22 Uhr, weil der Wagen des Ministers auf der Rückfahrt von einem diplomatischen Empfang durch den Verkehr aufgehalten worden war. Sobald der Minister Platz genommen hatte, bedeutete er den Anwesenden mit einer Geste, daß die Sitzung beginnen könne. Als erster berichtete General Guibaud vom SDECE. Kassel, der als Killer hervorgetretene ehemalige NaziKriegsverbrecher, war von Agenten der Madrider Residentur des SDECE aufgespürt worden. Er lebte zurückgezogen in seiner Penthouse-Wohnung in der spanischen Hauptstadt, war als Partner in das florierende Geschäft eines anderen ehemaligen SS-Führers eingetreten und stand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit der OAS in Verbindung. Das Madrider Büro, das dessenungeachtet bereits ein umfängliches Dossier über den Mann angelegt hatte, als die Anweisung aus Paris kam, den Fall Kassel nochmals zu überprüfen, war darüber hinaus der Ansicht, daß er nie etwas mit der OAS zu tun gehabt hatte.

In Anbetracht seines Alters, der zunehmenden Häufigkeit seiner rheumatischen Anfälle, die auch seine Beine in Mitleidenschaft zu ziehen begannen, wie auch seines beträchtlichen Alkoholkonsums wegen konnte Kassel als mutmaßlicher Attentäter so gut wie ausgeschlossen werden.

Als der General geendet hatte, richteten sich aller Augen auf Kommissar Lebel. Sein Bericht klang entmutigend. Im Lauf des Tages waren bei der PJ die Auskünfte von den Polizeibehörden der drei Länder eingegangen, die bereits vierundzwanzig Stunden zuvor die Namen einer Reihe möglicher Verdächtiger übermittelt hatten.

Aus den USA war gemeldet worden, daß Chuck Arnold, der Waffenhändler, sich in Kolumbien aufhielt, wo er dem dortigen Stabschef namens seines amerikanischen Auftraggebers einen Posten aus ehemaligen US-Armeebeständen stammender AR-10-Karabiner zu verkaufen suchte. In Bogota wurde er ohnehin ständig von der CIA beschattet, und es lagen keinerlei Anzeichen dafür vor, daß er irgend etwas anderes im Sinn hatte, als sein Waffengeschäft, ungeachtet der offiziellen Mißbilligung von Seiten der amerikanischen Behörden, unter Dach und Fach zu bringen.

Dennoch war das Dossier dieses Mannes per Fernschreiben nach Paris übermittelt worden — wie übrigens auch das Vitellinos. Aus letzterem ging hervor, daß der ehemalige Cosa-Nostra-Gorilla zwar noch nicht aufgespürt worden war, seine Statur und seine ganze Erscheinung — er war ungemein breitschultrig und untersetzt — sich jedoch vom Aussehen des Schakals, wie es der Hotelangestellte in Wien beschrieben hatte, so sehr unterschieden, daß auch er nach Ansicht Lebels von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden konnte. Die Südafrikaner hatten in Erfahrung gebracht, daß Piet Schuyper jetzt als Chef einer Privatarmee fungierte, die von einer Diamanten-Bergwerksgesellschaft in einem der westafrikanischen Staaten des Britischen Commonwealth unterhalten wurde. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Grenzen der ausgedehnten Gebiete, die der Gesellschaft gehörten, zu sichern und ständig für eine wirksame Abschreckung der Diamantendiebe zu sorgen. Die Gesellschaft, die sich einzig und allein für den Erfolg, nicht aber für die Art der von ihm praktizierten

Abschreckungsmethoden interessierte, hatte auf Rückfrage aus Johannesburg bestätigt, daß er sich in Westafrika befinde und dort seinen Dienst versehe.

Die belgische Polizei hatte Erkundigungen über ihren Ex-Söldner eingeholt. Im Archiv einer der belgischen Botschaften in Westindien war ein Dossier ausgegraben worden, demzufolge der ehedem in katangesischen Diensten stehende Söldner vor drei Monaten bei einer Schlägerei in einer Hafenbar in Guatemala ums Leben gekommen sei.

Als Lebel den letzten Bericht verlesen hatte und von den vor ihm liegenden Dossiers aufblickte, waren vierzehn Augenpaare auf ihn gerichtet, deren Mehrzahl ihn kalt und herausfordernd ansah.

«Alors, rien?« fragte Oberst Rolland.

«Nein, nichts«, räumte Lebel ein.»Keiner der uns gegebenen Hinweise scheint irgendwelche Resultate zu erbringen.«

«Ist das alles, was bei Ihrer >reinen Detektivarbeit< herausgekommen ist?«fragte Saint Clair sarkastisch und musterte Bouvier und Lebel mit kalter Verachtung.

«Meine Herren«, sagte der Innenminister, mit Bedacht die Pluralform gebrauchend, damit beide Polizeikommissare sich angesprochen fühlten,»das sieht ja ganz danach aus, als seien wir wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen.«

«Das fürchte ich in der Tat«, entgegnete Lebel. Bouvier warf sich für ihn in die Bresche.»Mein Kollege fahndet praktisch ohne jeglichen Hinweis und ohne auch nur einen einzigen Anhaltspunkt zu haben, nach einem Verbrecher, der vom Typ her kaum zu greifen ist. Diese Sorte pflegt für ihr Geschäft keine Werbung zu betreiben und auch ihre Adresse nicht zu hinterlassen.«

«Darüber sind wir uns durchaus im klaren, mein lieber Kommissar«, bemerkte der Minister eisig,»die Frage ist nur…«

Es klopfte an der Tür. Der Minister runzelte die Stirn; er hatte Anweisung gegeben, die Sitzung nur im dringenden Ausnahmefall zu stören.

«Herein.«

Mit verlegenem Gesicht erschien einer der Portiers des Ministeriums im Türrahmen.

«Mes excuses, Monsieur le Ministre. Telephon für Kommissar Lebel. Aus London. «Er spürte den schweigenden Unwillen der Sitzungsteilnehmer und versuchte sich zu rechtfertigen.»Es ist dringend, wurde gesagt. «Lebel stand auf.

«Wollen Sie mich bitte entschuldigen, meine Herren?«Nach einer Viertelstunde kam er zurück. Die Atmosphäre in dem Konferenzzimmer war noch so feindselig wie zuvor und die Auseinandersetzung darüber, was als nächstes zu tun sei, in seiner Abwesenheit offenbar fortgesetzt worden. Oberst Saint Clair hatte sich in bitteren Anklagen ergangen und war durch Lebels Rückkehr unterbrochen worden. Als der Kommissar seinen Platz wieder einnahm, schwieg auch er.

Der kleine Kommissar hielt einen Umschlag in der Hand, auf dessen Rückseite er sich etwas notiert hatte.

«Meine Herren, ich glaube, wir haben den Namen des gesuchten Mannes«, sagte er.

Eine halbe Stunde später verließen die Teilnehmer das Konferenzzimmer in geradezu euphorischer Stimmung. Als Lebel ihnen berichtet hatte, was ihm aus London gemeldet worden war, hatten sie einen kollektiven Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, der sich wie eine Lokomotive anhörte, die nach langer Fahrt ihre Endstation erreicht hat. Jeder der Männer wußte, daß er von jetzt ab zumindest etwas würde tun können. Innerhalb einer halben Stunde hatte man sich darüber geeinigt, wie man, ohne der Presse gegenüber auch nur ein Wort verlauten zu lassen, ganz Frankreich nach einem Mann namens Calthrop durchkämmen, ihn aufspüren und, wenn nötig, unschädlich machen konnte. Daß mit einer genauen Personenbeschreibung Calthrops erst anderntags in der Frühe zu rechnen war, wenn sie aus London per Fernschreiber übermittelt wurde, wußten sie. Aber bis dahin konnten die Renseignements Generaux ihre kilometerlangen Archivregale nach einer auf den Namen dieses Mannes ausgestellten Landekarte oder einem Meldeformular durchforschen, das ihn als Gast eines Hotels irgendwo in Frankreich registrierte. Die Polizeipräfektur konnte ihre eigenen Akten überprüfen und feststellen, ob er sich in einem Hotel im Bereich von Paris aufhielt. Die Direction de la Surveillance du Territoire konnte seinen Namen allen Grenzposten, Hafen- und Flughafenverwaltungen Frankreichs mit der Maßgabe übermitteln, den Mann beim Betreten französischen Bodens umgehend festzunehmen.Falls er noch nicht in Frankreich eingetroffen war, so spielte das keine Rolle. Bis zu seiner Ankunft würde absolutes Stillschweigen gewahrt werden: Um so sicherer konnte man ihn, wenn er kam, sofort fassen.

«Diese erbärmliche Kreatur, der Bursche, der sich Calthrop nennt, ist praktisch schon ein toter Mann«, berichtete Oberst Raoul Saint Clair de Villauban seiner Geliebten, die mit ihm im Bett lag, in der gleichen Nacht.

Als es Jacqueline endlich gelungen war, ihm zu einem verspäteten Höhepunkt zu verhelfen, damit er einschlief, schlug die Uhr unter dem Glassturz Mitternacht, und der 14. August war angebrochen.

Superintendent Thomas lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und musterte die sechs Kriminalinspektoren, die er nach Beendigung seines Gesprächs mit Paris von ihren bisherigen Aufgaben entbunden und auf neue angesetzt hatte. Die Turmuhr vom nahen Big Ben schlug Mitternacht.

Die Ausgabe der Orders dauerte eine Stunde. Ein Mann wurde angewiesen, Calthrops Jugend zu recherchieren und festzustellen, wo seine Eltern — sofern sie noch lebten — wohnhaft waren; welche Schulen er besucht hatte und ob er bereits als Schüler ein guter Schütze gewesen war; ob und durch welche sonstigen Leistungen er sich ausgezeichnet hatte usw. Einem zweiten Mann oblag es, Calthrops nächsten Lebensabschnitt von der Schulentlassung über die Ableistung des Militärdienstes (Ausbildung zum Scharfschützen? Charakterliche Beurteilung?) und alle nach der Entlassung in das Zivilleben eingegangenen Arbeitsverhältnisse bis zu dem Zeitpunkt zu durchleuchten, wo er von dem Waffenhändler wegen mangelnder Loyalität gefeuert worden war.

Der dritte und der vierte Kriminalinspektor waren beauftragt, Calthrops Tätigkeit seit der im Oktober 1961 erfolgten Trennung von seinem letzten der Polizei inzwischen bekannten Arbeitgeber zu ermitteln und in Erfahrung zu bringen, wo er sich seither aufgehalten, wen er getroffen, welche Einkünfte er gehabt hatte und aus welchen Quellen sie stammten; da es keine Kriminalakte über ihn gab und man folglich auch nie Fingerabdrücke von ihm genommen hatte, brauchte Thomas unbedingt Photos des Mannes, vorzugsweise solche, die in jüngster Zeit aufgenommen worden waren. Die letzten beiden Inspektoren sollten feststellen, wo sich Calthrop gegenwärtig aufhielt. Sie waren angewiesen, die Möbel und Gebrauchsgegenstände in seiner Wohnung eingehend auf Fingerabdrücke zu untersuchen und darüber hinaus zu eruieren, wo er den Wagen gekauft hatte. Zu diesem Zweck sollten sie sich bei der Londoner County Hall erkundigen, ob dort Unterlagen über die Ausstellung eines Führerscheins vorhanden waren, und sich, wenn das nicht der Fall sein sollte, an die entsprechenden Ämter in den Landkreisen und Grafschaften wenden. Es war ihnen aufgetragen, Fabrikat und Baujahr, Farbe und polizeiliche Kennzeichen des Wagens festzustellen, seine Garage in Augenschein zu nehmen und die von ihm frequentierte Werkstatt aufzusuchen, um herauszufinden, ob er eine längere Autoreise geplant hatte; falls dies zutraf, bei der Reederei der Kanalfähren nachzufragen; und schließlich der Reihe nach alle Luftverkehrsgesellschaften abzuklappern, um zu erfahren, ob er bei einer von ihnen — mit welchem Reiseziel auch immer — einen Flug gebucht hatte.

Alle sechs Männer machten sich ausführliche Notizen. Als Thomas geendet hatte, standen sie auf und verließen das Büro. Auf dem Korridor sahen die beiden letzten einander von der Seite an.»Ist doch merkwürdig«, meinte der eine,»daß der Alte uns nicht sagen will, was der Bursche angestellt haben soll oder womöglich noch vorhat.«

«Eines ist sicher«, entgegnete der andere,»eine Aktion von diesem Ausmaß kann nur auf Anweisung von ganz oben gestartet werden. Man möchte fast glauben, der Kerl hätte die Absicht, den König von Siam umzulegen.«

Es dauerte eine Weile, bis ein Richter geweckt und der Haussuchungsbefehl unterschrieben war. In den ersten Morgenstunden, als Thomas in seinem Schreibtischsessel eingenickt war und Claude Lebel in seinem Büro starken schwarzen Kaffee schlürfte, durchsuchten zwei Agenten von Scotland Yards Special Branch Calthrops Wohnung.

Beide waren Experten. Sie begannen mit den Schubladen, deren Inhalt sie auf ein Bettuch leerten und eingehend untersuchten. Als alle Schubladen ausgeräumt waren, nahmen sie sich den Schreibtisch vor, um festzustellen, ob er Geheimfächer enthielt. Anschließend kamen die gepolsterten Möbelstücke an die Reihe, und sehr bald sah die Wohnung aus wie eine Geflügelfarm nach dem Weihnachtsgeschäft. Der eine Agent durchsuchte das Wohnzimmer, der andere das Schlafzimmer. Danach setzten sie ihre Tätigkeit in der Küche und im Bad fort. Als sie sämtliche Möbel, Kissen, Polster und Matratzen sowie die Mäntel und Anzüge in den Schränken Stück für Stück untersucht hatten, konzentrierten sie sich auf die Fußböden,

Wände und Zimmerdecken. Um 6 Uhr morgens war die Wohnung wieder tadellos aufgeräumt. Die Nachbarn standen im Hausflur, beratschlagten flüsternd und blickten argwöhnisch auf die geschlossene Tür der Calthropschen Wohnung. Als sie sich öffnete und die beiden Kriminalinspektoren erschienen, verstummten sie.

Einer der beiden Beamten trug einen Koffer, in dem sich Calthrops Privatkorrespondenz sowie seine persönlichen Dokumente und Papiere befanden. Er verließ das Haus, setzte sich in den vor der Tür wartenden Polizeiwagen und ließ sich zu Thomas in den Yard fahren. Der andere begann umgehend mit der Befragung der Nachbarn, die innerhalb der nächsten beiden Stunden zur Arbeit fahren mußten. Sobald die umliegenden Geschäfte öffneten, würde er die Ladeninhaber interviewen.

Thomas hatte ein paar Minuten mit der Sichtung der aus Calthrops Wohnung mitgenommenen Papiere und Unterlagen verbracht, als der Kriminalinspektor aus der auf dem Fußboden des Büros ausgebreiteten Dokumentensammlung ein kleines blaues Buch herausgriff, zum Fenster ging und die Seiten im Licht der eben aufgehenden Sonne überflog.»Sehen Sie sich das an, Super«, sagte er und deutete auf einen Stempel, der die aufgeschlagene Seite des Passes in seiner Hand schmückte.»Hier… >Republica de Dominica, Aeropuerto Ciudad Trujillo, Diciembre 1960, Entrada...< Er war also da. Das ist unser Mann.«

Thomas ließ sich den Paß geben, warf einen Blick auf das darin befindliche dominikanische Visum und starrte dann aus dem Fenster.

«Allerdings, das ist er«, sagte er schließlich.»Aber macht es Sie nicht stutzig, daß wir seinen Paß haben?«

«Oh, dieser Hund…!«fluchte der Inspektor, als er begriffen hatte.

«Sie sagen es«, bemerkte Thomas, der seinerseits nur äußerst selten Kraftausdrücke zu gebrauchen pflegte.»Wenn er nicht auf seinem eigenen Paß reist, unter welchem Namen reist er dann? Reichen Sie mir das Telephon herüber und verbinden Sie mich mit Paris.«

Zur gleichen Stunde hatte der Schakal Mailand bereits ein gutes Stück weit hinter sich gelassen. Das Verdeck des Alfa war heruntergeklappt, und auf der Autostrada 7 nach Genua spiegelte sich schon der Glanz der Morgensonne. Auf der breiten, geraden Straße drehte der Schakal den Motor voll auf und ließ die Tachonadel unmittelbar unter dem roten Strich tanzen. Der kühle Wind wühlte in seinem langen hellblonden Haar, das seine Stirn wild umflatterte, aber die dunkle Brille schützte seine Augen.

Auf der Straßenkarte war die Entfernung bis zur französischen Grenze bei Ventimiglia mit rund 210 Kilometer angegeben, und er hatte bereits ein gut Teil der von ihm auf eine Fahrzeit von zwei Stunden geschätzten Strecke zurückgelegt. Kurz nach sieben wurde er vorübergehend durch den in Richtung Hafen rollenden Lastwagenverkehr von Genua aufgehalten, aber schon fünfzehn Minuten später befand er sich auf der A 10 nach San Remo und zur französischen Grenze.

Der Straßenverkehr und die Hitze hatten beträchtlich zugenommen, als er um zehn Minuten vor acht die verschlafenste aller Grenzstationen Frankreichs erreichte. Nach einer halbstündigen Wartezeit in der Fahrzeugschlange wurde er aufgefordert, vor der Zollbaracke vorzufahren. Der Polizeibeamte, der ihm den Paß abgenommen und eine Weile darin herumgeblättert hatte, murmelte »Un moment, monsieur« und ging in die Baracke.

Nach ein paar Minuten kehrte er mit einem Mann in Zivilkleidung, der seinen Paß in der Hand hielt, zurück.

«Bonjour, monsieur.«

«Bonjour.«

Ist dies Ihr Paß?«

«Ja.«

Neuerliches Durchblättern des Passes.

«Was ist der Zweck Ihrer Reise nach Frankreich?«

«Ich will an die Cöte d'Azur fahren.«

«Der Wagen gehört Ihnen?«

«Nein. Das ist ein Mietwagen. Ich hatte geschäftlich in Italien zu tun, und es ergab sich überraschend, daß ich erst in einer Woche wieder in Mailand sein muß. Deswegen habe ich mir den Wagen geliehen, um die Zeit zu nutzen und einen Ausflug nach Frankreich zu machen.«

«Ich verstehe. Kann ich die Wagenpapiere sehen?«Der Schakal reichte ihm den internationalen und den britischen Führerschein, den Leihvertrag und die beiden Versicherungspolicen. Der Beamte in Zivil prüfte die Dokumente eingehend.»Haben Sie Gepäck, Monsieur?«»Ja, drei Stück im Kofferraum und eine Reisetasche.«»Bringen Sie bitte alles zur Zollkontrolle in die Baracke. «Der Polizist half dem Schakal beim Ausladen des Gepäcks und faßte auch mit an, als er es in die Zollstation schaffte.

Bevor er von Mailand abgefahren war, hatte er den alten Militärmantel, die abgetragene Hose und die Schnürstiefel von Andre Martin, dem nichtexistenten Franzosen, dessen Papiere in das Futter des dritten Koffers eingenäht waren, zu einem Bündel zusammengerollt und in die hintere Ecke des Kofferraums geschoben. Die Kleidungsstücke aus den beiden anderen Koffern waren auf alle drei verteilt worden. Die Medaillen befanden sich in seiner Jackentasche.

Zwei Zollbeamte untersuchten jedes Gepäckstück, während der Schakal das übliche Formular für englische Touristen, die nach Frankreich einreisen, ausfüllte. Nichts von dem, was sich in den Koffern befand, erregte besondere Aufmerksamkeit. Einen flüchtigen Augenblick lang schien die Situation kritisch zu werden, als die Zollbeamten die Flaschen mit den Haarfärbemitteln zur Hand nahmen. Er hatte die Vorsichtsmaßnahme getroffen, sie in geleerte Rasierwasserflaschen umzufüllen. Zu jener Zeit war Pre-Shave-Lotion in Frankreich noch nicht im heutigen Umfang eingeführt, und die beiden Beamten wechselten fragende Blicke, bevor sie die Flaschen in die Reisetasche zurücklegten.

Aus dem Augenwinkel sah der Schakal, daß draußen vor dem Fenster ein weiterer Beamter den Kofferraum und den Kühler des Alfa untersuchte. Glücklicherweise schaute er nicht unter den Wagen. Er entrollte den Militärmantel und die Hose, die er im Kofferraum verstaut hatte, und betrachtete sie mit deutlichem Abscheu. Offenbar nahm er jedoch an, der Mantel sei zum Bedecken der Kühlerhaube in kalten Winternächten bestimmt, und legte die Kleidungsstücke, die auch bei unterwegs etwa vorzunehmenden Reparaturen von Nutzen sein mochten, in den Kofferraum zurück.

Als der Schakal das Formular ausgefüllt hatte, waren die beiden Zollbeamten dabei, die Kofferdeckel zu schließen. Sie nickten dem Beamten in Zivil zu, der seinerseits die Einreisekarte zur Hand nahm, die darauf vermerkten Eintragungen mit den Angaben im Paß verglich und diesen dem Schakal zurückgab.

«Merci, monsieur. Bon voyage.«

Zehn Minuten später hatte der Alfa den östlichen Stadtrand von Mentone erreicht. Nach einem ausgiebigen Frühstück in einem Cafe mit Aussicht auf die alte Hafenreede und den Jachthafen setzte er die Fahrt auf der Corniche Littorale in Richtung Monaco, Nizza und Cannes fort.

In seinem Londoner Büro rührte Superintendent Thomas in dem starken schwarzen Kaffee, den er sich hatte heraufbringen lassen, und fuhr sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. Ihm gegenüber saßen die beiden Kriminalinspektoren, die beauftragt waren, Calthrops derzeitigen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Die drei Männer warteten auf die zur Unterstützung angeforderten sechs Sergeants des Sicherheitsdienstes, die Thomas von ihren üblichen dienstlichen Obliegenheiten befreit hatte.

Nachdem sie sich bei ihren Abteilungen zum Dienst gemeldet und dort erfahren hatten, daß sie ab sofort zeitweilig Thomas' Sonderkommission zugeteilt waren, fanden sie sich einer nach dem anderen in dessen Büro ein. Kurz nach 9 Uhr waren alle zur Stelle, und Thomas begann, ihnen die nötigen Anweisungen zu geben.

«Wir fahnden nach einem Mann. Es ist nicht erforderlich, daß Sie wissen, warum wir das tun. Erforderlich ist einzig und allein, daß wir ihn fassen, und das so rasch wie möglich. Wir wissen inzwischen oder glauben doch zu wissen, daß er sich gegenwärtig im Ausland aufhält, und zwar unter falschem Namen und mit gefälschten Papieren. Hier — «sagte er und überreichte jedem von ihnen einen vergrößerten Abzug der Reproduktion, die nach dem Photo auf Calthrops Paßantrag angefertigt worden war —,»so sieht er aus. Vermutlich wird er sein Äußeres jedoch durch maskenbildnerische Tricks verändert haben. Sie, meine Herren, werden jetzt zum Paßamt fahren und sich eine vollständige Liste aller kürzlich gestellten Paßanträge geben lassen. Nehmen Sie sich zunächst die letzten hundert Tage vor. Wenn Sie nichts gefunden haben, gehen Sie nochmals um hundert Tage zurück. Es wird, weiß Gott, kein Vergnügen für Sie sein, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen. «Er schilderte ihnen kurz die üblichste Methode, wie man sich falsche Papiere beschafft — es war in der Tat diejenige, deren sich der Schakal bedient hatte —, und schloß:

«Wichtig ist vor allem, daß Sie sich nicht mit Geburtsurkunden zufriedengeben. Überprüfen Sie die Totenscheine. Sobald Sie die vollständige Liste vom Paßamt erhalten haben, verlegen Sie die gesamte Aktion ins Somerset House. Verteilen Sie die Namenlisten unter sich und machen Sie sich über die Totenscheine her. Wenn Sie einen Paßantrag finden, den ein Mann gestellt hat, der nicht mehr am Leben ist, dürfte es sich bei dem Betrüger vermutlich um den Gesuchten handeln. Und jetzt vorwärts, meine Herren. An die Arbeit!«

Während die acht Männer den Raum verließen, griff Thomas zum Telephon, um sich mit dem Paßamt und anschließend mit der Zentralregistratur für Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle verbinden und von beiden Ämtern zusichern zu lassen, daß seiner anrückenden Sonderkommission bei deren Arbeit jede Hilfe gewährt werden würde.

Zwei Stunden später, als er sich gerade mit einem geborgten Apparat rasierte, meldete sich der dienstältere der beiden Kriminalinspektoren, der als Leiter der Sonderkommission fungierte, telephonisch. Im Zeitraum der letzten hundert Tage seien insgesamt 841 Paßanträge gestellt worden, sagte er. Die hohe Zahl der Anträge sei jahreszeitlich bedingt; im Sommer, wenn die Leute verreisen wollten, pflege sie immer zu steigen.

Bryn Thomas hängte ein und schneuzte sich in sein Taschentuch.

«Verdammter Sommer«, sagte er.

Kurz nach elf erreichte der Schakal das Stadtzentrum von Cannes. Er hielt nach einem ihm zusagenden Luxushotel Ausschau, und nachdem er ein paar Minuten lang herumgefahren war, steuerte er in den Vorhof des Majestic. Er kämmte sich rasch das windzerzauste Haar und betrat das Foyer.

Zu dieser Tageszeit lagen die meisten Hotelgäste am Strand, und die Halle war menschenleer. Sein eleganter leichter Anzug und sein selbstbewußtes Auftreten machten ihn auf den ersten Blick als englischen Gentleman kenntlich, und dem Hotelpagen, den erfragte, wo die Telephonzellen seien, kam es gar nicht in den Sinn, die Brauen hochzuziehen.

Die Telephonzentrale vom Eingang zur Garderobe trennte, blickte auf, als er auf sie zutrat.»Bitte verbinden Sie mich mit Paris, Molitor 5901«, sagte er. Wenige Minuten später wies sie ihm eine Telephonzelle zu, deren schalldichte Tür er hinter sich schloß. »Allo, ici Chacal.«»Ici Valmy. Gott sei Dank, daß Sie anrufen. Seit zwei Tagen haben wir versucht, Sie zu erreichen.«

Wer den Engländer durch das Fenster der Telephonzelle beobachtet hätte, würde ihn erstarren und die Stirn runzeln gesehen haben. Während des etwa zehn Minuten dauernden Gesprächs blieb er zumeist stumm. Nur gelegentlich, wenn er eine knappe Zwischenfrage stellte, bewegten sich seine Lippen. Aber es beobachtete ihn niemand. Die Telephondame war in die Lektüre eines Liebesromans vertieft und sah erst wieder auf, als der hochgewachsene Engländer vor ihr stand und durch seine dunkle Brille auf sie hinabstarrte. Sie las die Gebühren für das Gespräch von dem am Klappenschrank angebrachten Zähler ab und nahm den geforderten Betrag entgegen.

Der Schakal trank ein Kännchen Kaffee auf der Terrasse, von der aus man auf die Croisette und das in der Sonne glitzernde Meer hinausblickte, an dessen Strand sich braungebrannte Sommerfrischler tummelten und balgten. Nachdenklich zog er an seiner Zigarette.

Wie man Kowalsky nach Frankreich gelockt hatte, konnte er sich zusammenreimen; er erinnerte sich an den bulligen Polen in der Wiener Pension. Was ihm nicht in den Kopf wollte, war dagegen, wie der Leibwächter, der vor der Tür gestanden hatte, seinen Decknamen erfahren haben mochte und woher er wußte, zu welchem Zweck er, der Schakal, engagiert worden war. Vielleicht hatte die französische Polizei das selbst herausbekommen. Vielleicht auch hatte Kowalsky seinerseits geahnt, was er war, denn er war selbst ein Killer gewesen, wenn auch nur einer von der tumben, stümperhaften Sorte.

Der Schakal zog Bilanz. Zwar hatte ihm Valmy dringend geraten, auszusteigen und so rasch wie möglich heimzufahren; aber er hatte auch zugeben müssen, daß er von Rodin nicht ermächtigt worden war, die Aktion abzublasen. Was er dem Schakal zu berichten gewußt hatte, bestätigte dessen Vermutungen über die Laxheit der OAS in Sicherheitsfragen. Aber er wußte etwas, wassie nicht wußten und auch die französische Polizei nicht ahnen konnte: daß er unter falschem Namen reiste, einen auf den falschen Namen ausgestellten echten Paß in der Tasche trug und darüber hinaus noch drei weitere gefälschte ausländische Personalausweise mitsamt den dazu passenden Verkleidungen in Reserve hatte.

Eine ungefähre Personenbeschreibung war alles, wovon die französische Polizei ausgehen konnte. Hochgewachsen, blond, ausländischer Nationalität — mehr wußte dieser Kommissar, den Valmy erwähnt hatte, Lebel hieß er, nicht von ihm. Es mußte Tausende und aber Tausende von Ausländern geben, die sich im August in Frankreich aufhielten und dieser Beschreibung entsprachen. Sie konnten sie unmöglich alle verhaften.

Ein weiterer Vorteil für ihn lag in der Tatsache, daß die französische Polizei nach einem Mann fahndete, der den Paß Charles Calthrops trug. Sollte sie nur! Er war Alexander Duggan, und das konnte er jederzeit nachweisen.

Jetzt, wo Kowalsky tot war, wußte niemand mehr — auch Rodin nicht —, wer er war und wo er sich aufhielt. Er war endlich ausschließlich und ganz allein auf sich selbst gestellt, und genau das war es, was er von Anfang an gewollt hatte.

Dessenungeachtet hatten die Risiken zweifellos zugenommen. Da die Tatsache, daß ein Anschlag bevorstand, aufgedeckt worden war, würde er es jetzt mit einem ganzen System zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen aufnehmen müssen. Die Frage war, ob sein bis ins einzelne festgelegter Mordplan sich unter diesen Umständen noch als ausführbar erwies. Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß dies der Fall sei.

Aufgeben oder Weitermachen: das blieb dennoch die Frage — und sie mußte beantwortet werden. Aufgeben hieße, sich mit Rodin und seinen Kumpanen auf eine Auseinandersetzung über den Verbleib der auf seinem schweizerischen Konto befindlichen Viertelmillion Dollar einzulassen. Wenn er sich weigerte, ihnen das Geld — oder doch den größten Teil davon — zurückzugeben, würden sie ihn, wo immer er sich vor ihnen verbergen mochte, aufspüren und so lange foltern, bis er die Anweisung zur Rückerstattung der Summe unterschrieb. Und anschließend würden sie ihn dann umbringen. Ihnen zu entkommen würde viel, viel Geld kosten — ja, vermutlich die Viertelmillion, die er jetzt besaß, gänzlich verschlingen.

Weiterzumachen bedeutete dagegen, erhöhte Gefahren in Kauf zu nehmen, bis der Job erledigt war. Je näher das Datum heranrückte, desto schwieriger würde es werden, auszusteigen.

Als die Rechnung kam, warf er einen Blick darauf und zuckte zusammen. Mein Gott, die Preise, die diese Leute verlangten? Um sich ein menschenwürdiges Leben leisten zu können, mußte ein Mann reich sein, Dollars haben, Dollars und nochmals Dollars. Er blickte aufs Meer hinaus und zu den geschmeidigen, braungebrannten Mädchen hinüber, die den Strand bevölkerten, sah die Cadillacs und Jaguars, gesteuert von sonnengebräunten, ständig nach attraktiver Weiblichkeit Ausschau haltenden jungen Herren, über die Croisette rollen. Dies war das Leben, das er sich seit der Zeit, als er seine Nase noch an den Schaufenstern der Reisebüros platt drückte, immer schon gewünscht hatte. Sehnsüchtig hatte er die Plakate angestarrt, die ihm ein anderes Leben zeigten, eine andere Welt als die überfüllter Vorortszüge, dreifach ausgefertigter Konnossemente und aus Pappbechern geschlürften lauwarmen Tees. In den letzten drei Jahren schien er es fast geschafft zu haben; maßgeschneiderte Anzüge, kostspielige Mahlzeiten und elegante Frauen waren ihm zur Gewohnheit geworden. Er hatte sich ein modernes Apartment gemietet und einen Sportwagen gekauft. Aufzugeben hieße, auf alles das verzichten.

Der Schakal beglich die Rechnung und hinterließ ein generöses Trinkgeld. Er setzte sich in den Alfa und steuerte ihn durch den lebhaften Verkehr in nördlicher Richtung aus der Stadt hinaus.

Kommissar Lebel saß an seinem Schreibtisch und fühlte sich, als habe er in seinem ganzen Leben noch nie geschlafen und auch keine Aussicht mehr, es jemals zu tun. Auf dem Feldbett in der Ecke schnarchte Lucien Caron, der die ganze Nacht hindurch die mit der Überprüfung der eingegangenen Einreise- und Meldeformulare angelaufene Fahndung nach Charles Calthrop geleitet hatte. Bei Anbruch der Dämmerung war er von Lebel abgelöst worden.

Vor ihm auf der Schreibtischplatte stapelten sich jetzt die Berichte der diversen Dienste und Dienststellen, die mit der Registrierung nach Frankreich einreisender Ausländer beauftragt waren. Die Meldungen lauteten allesamt gleich. Seit Beginn des Jahres hatte kein Mann dieses Namens die Grenze an irgendeinem offiziellen Übergang legal passiert. Weder in der Provinz noch in Paris war ein Mann dieses Namens oder unter diesem Namen in einem Hotel abgestiegen. Er stand auf keiner Liste unerwünschter Ausländer und war der französischen Polizei bisher auch nie in irgendeiner Weise unliebsam aufgefallen.

Sobald Lebel der Bericht einer Dienststelle vorlag, wies er sie telephonisch an, den Stichtag für die Überprüfung weiter und weiter zurückzuverlegen, bis man auf irgendeinen früheren Aufenthalt Calthrops in Frankreich stieß. Auf diese Weise würde sich vielleicht feststellen lassen, ob es eine von ihm bevorzugte Unterkunft gab — das Haus eines Freundes oder irgendein Hotel —, wo er sich womöglich auch jetzt unter falschem Namen verborgen hielt. Superintendent Thomas' Anruf vom gleichen Morgen hatte die Hoffnung auf eine rasche Ergreifung des Killers praktisch zunichte gemacht. Die Teilnehmer der abendlichen Lagebesprechung waren noch nicht darüber unterrichtet worden, daß sich die Verfolgung der Spur Calthrops vermutlich als Fehlschlag erweisen dürfte. Das würde er ihnen heute abend um 10 Uhr beibringen müssen. Und wenn er bis dahin keinen anderen Namen als Ersatz für Calthrop nennen konnte, hatte er neuerliche Ausfälle von seilen Saint Clairs und die stummen Vorwürfe der anderen Konferenzteilnehmer zu gewärtigen.

Es gab nur zwei Dinge, die ihm eine gewisse Genugtuung bereiteten: zum einen die Tatsache, daß sie nun Calthrops Personenbeschreibung sowie ein En-face-Photo von ihm besaßen. Zwar dürfte er seine äußere Erscheinung beträchtlich verändert haben, wenn er mit falschen Papieren reiste, aber es war immerhin besser als nichts. Und zum anderen empfand er die Tatsache als tröstlich, daß niemand in der Konferenzrunde etwas vorzuschlagen wußte, was besser gewesen wäre als das, was er tat — alles zu überprüfen und jeder Spur, die sich ergeben mochte, sofort nachzugehen. Caron hatte die Theorie entwickelt, daß Calthrop zu dem Zeitpunkt, als die britische Polizei seine Wohnung durchsuchte, möglicherweise nur deswegen nicht dagewesen sei, weil er etwas in der Stadt zu erledigen gehabt habe; daß er keinen zweiten Paß besäße; daß er untergetaucht sei und sein Vorhaben aufgegeben habe.

«In dem Fall könnten wir in der Tat von Glück reden«, hatte Lebel seufzend bemerkt und hinzugefügt:»Aber ich glaube nicht daran. Special Branch hat gemeldet, daß sich sein Wasch- und

Rasierzeug nicht im Badezimmer befand und er einer Nachbarin gegenüber erwähnte, er ginge zum Angeln nach Schottland. Wenn Calthrop seinen Paß zurückließ, dann nur, weil er ihn nicht mehr benötigte. Rechnen Sie nicht damit, daß dieser Mann allzu viele Fehler macht. Ich fange langsam an, eine Vorstellung vom Schakal zu bekommen.«

Der Mann, nach dem die Polizeibehörden zweier Länder jetzt fahndeten, hatte beschlossen, die Grande Corniche mit ihren ewigen Verkehrsstauungen links liegenzulassen und sich auch das südliche Ende der RN7 zu ersparen. Im August, das wußte er, stellten beide Straßen nur wenig gemilderte Formen der Hölle auf Erden dar.

In dem beruhigenden Bewußtsein der Sicherheit, das ihm der angenommene und in seinem Paß vermerkte Name Duggan verschaffte, entschied er sich dafür, von der Küste aus gemächlich nach Norden durch die Alpes Maritimes und weiter in die hügelige Landschaft Burgunds zu fahren. Er hatte keine sonderliche Eile, denn der für den Anschlag festgesetzte Tag war noch nicht gekommen. Auch war er etwas früher als ursprünglich geplant in Frankreich eingetroffen.

Von Cannes aus fuhr er in nördlicher Richtung nach Grasse, der malerischen Stadt betörender Düfte, und dann auf der RN 85 nach Castellane weiter, von wo aus die turbulenten Wasser des Verdon, von dem nur wenige Kilometer weiter flußaufwärts errichteten Staudamm gebändigt, aus den Savoyer Alpen zu Tal strömten, um sich bei Cadarache mit der Durance zu vereinigen.

Von hier fuhr er nach Barreme und Digne weiter. Der kochenden Hitze in der provenzalischen Ebene entronnen, atmete er die linde, erfrischende Luft der Berge in vollen Zügen. Sobald er das Tempo verlangsamte, spürte er, wie die Sonne auf ihn herabbrannte, aber bei zügigem

Fahren war der Wind wie eine kühle Brise, die den Duft der Pinien und der Holzfeuer in den Gehöften zu ihm herübertrug.

Bei Volonne fuhr er über die Durance-Brücke und aß in einem hübschen kleinen Gasthof mit Blick auf den Fluß zu Mittag. Zweihundert Kilometer stromabwärts wurde die Durance zu einem schleimiggrauen Rinnsal, das sich zwischen Cavaillon und Plan d'Orgon träge im sonnengebleichten Kies seines Bettes dahinschlängelte. Aber hier oben in der sanften Hügellandschaft war sie noch ein richtiger Fluß mit Fischen und schattigen Ufern, deren Gras ihr sein saftiges Grün verdankte.

Am Nachmittag fuhr er auf der noch immer dem Lauf der Durance folgenden RN 85 über Sisteron hinaus, bis sich die Straße gabelte und die RN 85 sich in nördlicher Richtung von der Durance entfernte. Bei Einbruch der Dämmerung erreichte er die kleine Stadt Gap. Er hätte auch nach Grenoble weiterfahren können, aber da kein Grund zur Eile bestand und die Aussichten, im Ferienmonat August ein Hotelzimmer zu bekommen, in einer kleinen Stadt günstiger waren, sah er sich nach einem ländlichen Hotel um. Knapp außerhalb des Städtchens fand er das Hötel du Cerf, welches ehedem einem der Herzöge von Savoyen als Jagdhaus gedient und sich das Air rustikaler Behaglichkeit und ländlicher Tafelfreuden bewahrt hatte.

Es waren noch Zimmer frei. Statt wie gewohnt zu duschen, nahm er zur Abwechslung ein behaglich ausgedehntes Bad und entschied sich dann für den taubengrauen Anzug, zu dem er ein seidenes Hemd und eine gestrickte Krawatte trug. Marie-Louise, das Zimmermädchen, hatte seinen karierten Anzug zum Aufbügeln mitgenommen und zugesagt, ihn anderntags in der Frühe zurückzubringen.

Das Abendessen wurde in einem holzgetäfelten Raum eingenommen, der eine panoramaartige Aussicht auf die bewaldeten Abhänge bot, die vom Schrillen der Zikaden widerhallten. Die, Luft war warm, und erst als der Hauptgang abgetragen wurde,machte eine an einem Einzeltisch speisende Dame, die ein weit j ausgeschnittenes, ärmelloses Kleid trug, den maitre d’hötel darauf aufmerksam, daß es ihr doch ein wenig kühl sei, und bat ihn, die Fenster zu schließen. Der Schakal wandte sich um, als er gefragt wurde, ob er etwas dagegen habe, wenn das Fenster, an dem er saß, zugemacht würde.

Er warf einen Blick auf die Dame. Es war eine ausgesprochen hübsche Frau. Sie mochte in den späten Dreißigern sein und hatte füllige, weiche Arme und einen tief angesetzten, vollen Busen. Mit einem flüchtigen Nicken gab er dem maitre sein Einverständnis kund und neigte dann, den Blick der hinter ihm sitzenden Frau suchend, leicht den Kopf. Sie reagierte mit einem kühlen Lächeln.

Das Essen war hervorragend. Er hatte gefleckte Bachforelle, über dem Holzfeuer gegrillt, und auf dem Kohlenfeuer gebratene, mit Fenchel und Thymian gewürzte Tournedos bestellt. Der Wein war ein vollmundiger Cötes du Rhöne aus der Gegend, der in einer Flasche ohne Etikett serviert wurde. Er war offenkundig aus einem Faß im Keller abgefüllt und vom Wirt persönlich zum vin de la maison bestimmt worden. Die meisten Gäste tranken ihn, und das mit gutem Grund.

Als der Schakal sein Fruchteis löffelte, hörte er, wie die hinter ihm sitzende Dame den maitre, der sie als» Madame la Baronne «titulierte, mit befehlsgewohnt leiser Stimme wissen ließ, daß sie ihren Kaffee in der Halle zu nehmen wünsche. Wenig später bat auch der Schakal, ihm den Kaffee in der Halle zu servieren, und begab sich auf den Weg dorthin.

Der Anruf aus dem Somerset House erreichte Superintendent Thomas um 22 Uhr 15. Er saß bei offenem Fenster in seinem Büro und blickte auf die um diese Zeit stille Straße hinunter, in die kein Restaurant späte Gäste und Autofahrer lockte. Die Bürohäuser zwischen Millbank und Smith Square waren stumme Klötze, dunkel, blind, gleichgültig. Nur in dem unansehnlichen Block, der die Büros von Scotland Yards Special Branch beherbergte, brannte wie immer noch Licht.

Am etwa eine Meile entfernten Strand war das Licht in dem Flügel des Somerset House, in welchem die Totenscheine von Millionen verstorbener britischer Staatsbürger verwahrt wurden, ebenfalls noch nicht erloschen. Hier hockte Thomas' aus sechs Kriminalsergeants und zwei Kriminalinspektoren gebildete Sonderkommission über Stapeln von Dokumenten und Papieren. Alle paar Minuten stand jemand auf und verließ seinen Platz, um einen der ausgesuchten Beamten des Hauses, die heute abend weitaus länger Dienst tun mußten als ihre glücklicheren Kollegen, auf seinem Marsch an den endlosen Aktenregalen entlang zu begleiten und einen weiteren Namen zu überprüfen.

Es war der mit der Leitung der Sonderkommission beauftragte dienstältere Inspektor, der anrief.

Seine Stimme klang müde, aber zuversichtlich — hoffte er sich und seine Kollegen doch mit dem, was er zu melden hatte, von der Mühsal zu erlösen, weitere Hunderte und aber Hunderte Namen von Paßantragstellern auf die Möglichkeit überprüfen zu müssen, daß es auf sie ausgestellte Totenscheine gab.

«Alexander James Quentin Duggan«, verkündete er, als Thomas sich gemeldet hatte.»Was ist mit ihm?«fragte Thomas.

«Geboren am 3.April 1929 in Sambourne Fishley in der St.-Markus-Gemeinde. Beantragte in der üblichen Weise und auf dem üblichen Formular am 14. Juli dieses Jahres einen Paß. Der Paß wurde am darauffolgenden Tag ausgestellt und am 17. Juli an die auf dem Antragsformular angegebene Adresse geschickt. Wird sich vermutlich um eine Deckadresse handeln.«

«Warum?«fragte Thomas. Er liebte es nicht, wenn man ihn warten ließ.

«Weil Alexander James Quentin Duggan am 8. November 1931 bei einem Verkehrsunfall in seinem Heimatdorf im Alter von zweieinhalb Jahren ums Leben kam.«

Thomas dachte einen Augenblick lang nach.

«Wie viele in den letzten hundert Tagen ausgestellte Pässe haben Sie noch zu überprüfen?«fragte er.

«Etwa dreihundert«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

«Lassen Sie auch die, für den Fall, daß sich ein weiterer Betrüger darunter befindet, noch überprüfen«, ordnete Thomas an.»Geben Sie die Leitung der Sonderkommission an Ihren Kollegen ab. Ich möchte, daß Sie die Adresse, an die der Paß geschickt wurde, auskundschaften. Rufen Sie mich an, sobald Sie sie gefunden haben. Wenn es ein bewohntes Gebäude ist, verlangen Sie den Besitzer oder den Hauswart zu sprechen. Holen Sie alles, was er über Calthrop weiß, aus ihm heraus, und bringen Sie mir auch das für die Akten bestimmte Photo Duggans mit, das seinem Antrag beigefügt war. Ich will mir diesen Calthrop in seiner neuen Verkleidung mal ansehen.«

Es war fast 23 Uhr, als der dienstälteste Inspektor zurückrief. Bei der fraglichen Adresse handelte es sich um ein kleines Tabak-und Zeitungsgeschäft in Paddington. Es war eines von der Sorte, in deren Schaufester Karten mit den Adressen Prostituierter aushängen. Der Inhaber, der über dem Laden wohnte, war aus dem Schlaf geklingelt worden. Er bestätigte, daß er häufig Postsendungen für Kunden entgegennahm, die keine feste Adresse hatten, und für derartige Dienste eine Gebühr berechnete. An einen Stammkunden namens Duggan konnte er sich nicht erinnern, aber es war möglich, daß Duggan ihn zweimal auf gesucht hatte

— einmal, um zu vereinbaren, daß seine Post dort empfangen wurde, und das zweitemal, um die erwartete Sendung abzuholen. Auf der

Photographie von Calthrop, die der Inspektor ihm zeigte, hatte der Ladenbesitzer ihn nicht erkannt. Der Inspektor wies ihm auch Duggans Photo vor, das dem Paßantrag beigefügt gewesen war, und diesen Mann glaubte der Ladeninhaber gesehen zu haben. Aber sicher war er sich dessen nicht. Es war gut möglich, daß der Mann eine dunkle Brille getragen hatte. Manche Kunden, die sich für erotische Magazine interessierten, trugen dunkle Brillen.

«Bringen Sie ihn auf die Wache«, befahl Thomas,»und kommen Sie so rasch wie möglich her. «Er drückte auf die Gabel, wählte die Telephonzentrale und ließ sich mit Paris verbinden. Wiederum kam der Anruf mitten in der Konferenz. Kommissar Lebel hatte erklärt, daß sich Calthrop mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht unter eigenem Namen in Frankreich aufhalte, es sei denn, er habe sich in einem Fischerboot an Land geschmuggelt oder die Grenze an einer unbewachten Stelle überschritten. Er persönlich glaube jedoch nicht, daß ein» Mann vom Fach «dergleichen je tun würde, denn bei jeder Razzia oder Ausweiskontrolle könne er festgenommen werden, weil sein Paß keinen Einreisestempel aufwies.

Auch war kein Charles Clathrop unter seinem eigenen Namen in irgendeinem französischen Hotel abgestiegen.

Diese Fakten wurden sowohl von den Chefs der RG und der DST als auch vom Polizeipräfekten von Paris bestätigt und daher nicht in Zweifel gezogen.

Es gab, so argumentierte Lebel, zwei Möglichkeiten. Die eine bestand darin, daß der Mann sich keine falschen Papiere beschafft hatte, weil er davon ausgegangen war, daß man ihn nicht verdächtigen würde. Indem Fall hatte ihn die Haussuchung durch die Londoner Polizei von seinem Vorhaben abgebracht. Lebel fügte hinzu, er persönlich glaube nicht an diese Möglichkeit, weil Superintendent Thomas' Leute die Garderobenschränke in der Wohnung halb leer vorgefunden und zudem festgestellt hatten, daß das Wasch- und Rasierzeug des Mannes fehlte, was darauf hindeutete, daß er seine Londoner Wohnung mit einem ganz bestimmten Reiseziel verlassen hatte. Das wurde auch durch die Aussage einer Nachbarin bestätigt, derzufolge Calthrop gesagt habe, er wolle mit dem Wagen eine Rundreise durch Schottland unternehmen. Weder die britische noch die französische Polizei hatte Anlaß, dies für die Wahrheit zu halten.Die zweite Möglichkeit war, daß Calthrop sich falsche Papiere beschafft hatte, und ihr ging die britische Polizei jetzt nach. In diesem Fall konnte es sein, daß er sich entweder noch gar nicht in Frankreich befand, sondern an irgendeinem anderen Ort aufhielt, wo er seine Vorbereitungen abschloß, oder bereits nach Frankreich eingereist war, ohne Verdacht erregt zu haben. Als Lebel an diesem Punkt seiner Darstellung angelangt war, geschah es, daß einigen Konferenzteilnehmern der Kragen platzte.

«Wollen Sie damit sagen, daß er schon in Frankreich, ja womöglich bereits hier in Paris sein kann?«verlangte Alexandre Sanguinetti zu wissen.

«Der springende Punkt ist, daß er einen Zeitplan hat und daß nur er ihn kennt. Wir ermitteln jetzt seit zweiundsiebzig Stunden. Zu welchem Zeitpunkt seines Terminplans wir uns eingeschaltet haben, können wir nicht wissen. Mit Sicherheit läßt sich nur eines sagen — daß der Killer zwar weiß, wir haben Kenntnis von der Existenz eines Plans zur Ermordung des Präsidenten, daß er aber nicht wissen kann, wie weit unsere Ermittlungen gediehen sind. Deshalb besteht durchaus die Möglichkeit, daß wir einen nichtsahnenden Mann ergreifen, sobald wir ihn unter seinem neuen Namen identifiziert und lokalisiert haben.«

Aber die Versammlung ließ sich mit dieser halbwegs beruhigenden Erklärung nicht abspeisen. Der Gedanke, daß der Killer möglicherweise keinen Kilometer von ihnen entfernt und der Anschlag auf das Leben des Präsidenten auf seinem Zeitplan für morgen vorgesehen war, machte jedem von ihnen heillose Angst.

«Es könnte natürlich auch sein«, gab Oberst Rolland zu bedenken,»daß Calthrop, nachdem er auf Rodins Weisung von dem unbekannten Agenten Valmy über die Aufdeckung der Existenz des Attentatsplans unterrichtet wurde, seine Wohnung verlassen hat, um die Beweise für seine Mordabsichten verschwinden zu lassen. Durchaus denkbar, daß er womöglich in ebendiesem Augenblick seine Waffe und seine Munition in irgendeinem schottischen See versenkt, um sich der Polizei bei seiner Rückkehr unschuldig wie ein neugeborenes Kind zu präsentieren.

In diesem Fall wäre es außerordentlich schwierig, Anklage gegen ihn zu erheben.«

Die Konferenzteilnehmer ließen sich Rollands Ausführungen durch den Kopf gehen, und die Zahl derjenigen, die ihm zustimmten, mehrte sich.

«Dann sagen Sie uns doch, Oberst«, unterbrach der Minister das Schweigen,»ob auch Sie sich so verhalten würden, wenn Sie in der Haut dieses Killers steckten und erfahren hätten, daß die Verschwörung aufgedeckt wurde, aber auch wüßten, daß Ihre Identität der Polizei noch immer nicht bekannt ist.«

«Ganz gewiß würde ich das tun, Monsieur le Ministre«, antwortete Rolland.»Wenn ich ein erfahrener Berufsmörder wäre, wüßte ich, daß ich irgendwo polizeiaktenkundlich geworden sein muß und daß es, nachdem die Verschwörung aufgedeckt ist, nur eine Frage der Zeit sein kann, bis die Polizei bei mir anklopft und eine Haussuchung macht. Ich würde also alle beweiskräftigen Gegenstände loswerden wollen, und welcher Ort wäre dazu geeigneter als ein See in Schottland?«

Das Lächeln, mit dem die Runde auf Rollands Darlegungen reagierte, machte deutlich, daß sich keiner der Versammelten ihrer zwingenden Logik zu verschließen vermochte.

«Das bedeutet jedoch nicht«, fuhr Rolland fort,»daß wir ihn laufenlassen sollen. Ich bin nach wie vor der Ansicht, wir müssen diesem Mister Calthrop das Handwerk legen.«

Die Gesichter waren wieder ernst geworden. Sekundenlang herrschte Schweigen.

«Da kann ich Ihnen nicht folgen, Oberst«, sagte General Guibaud.

«Ich verweise auf unsere Order«, entgegnete Rolland.»Sie lautet dahin, diesen Mann aufzuspüren und unschädlich zu machen. Er mag seinen Plan vorübergehend aufgegeben haben. Aber es ist möglich, daß er seine Ausrüstung nicht zerstört, sondern lediglich versteckt hat, um sie dem Zugriff der britischen Polizeibehörden zu entziehen. Wer hindert ihn, den Versuch zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufzunehmen, und das nach einem neuen Plan, der womöglich noch schwerer zu durchkreuzen ist als der alte?«

«Aber wenn er in England ist und die britische Polizei ihn festnimmt, wird sie ihn doch ohnehin nicht wieder freilassen?«bemerkte jemand.

«Das ist keinesfalls sicher«, sagte Rolland.»Ich halte es sogar für sehr unwahrscheinlich. Sie werden vermutlich keine Beweise haben. Unsere britischen Freunde nehmen es mit der Wahrung der Bürgerrechte bekanntlich sehr genau. Wenn sie ihn gefaßt haben, werden sie ihn verhören und mangels Beweisen wieder laufenlassen.«

«Oberst Rolland hat vollkommen recht«, schaltete sich SaintClair ein.»Die britische Polizei ist durch einen bloßen Zufall auf diesen Mann gestoßen. Die Engländer können in solchen Dingen unglaublich töricht sein. Es ist ihnen glatt zuzutrauen, daß sie einen derart gefährlichen Mann frei herumlaufen lassen. Oberst Rollands Kommando sollte Auftrag erhalten, diesen Mann ein für allemal unschädlich zu machen.«

Dem Minister war nicht entgangen, daß Lebel sich jeder Beteiligung an der Diskussion enthalten und auch nicht gelächelt hatte.»Nun, Kommissar, und was meinen Sie? Sind auch Sie wie Oberst Rolland der Ansicht, daß Calthrop seinen Plan zeitweilig aufgegeben und sein Mordwerkzeug versteckt oder zerstört hat?«Lebel blickte auf und sah, daß sich ihm alle Gesichter erwartungsvoll zugewandt hatten.

«Ich hoffe, daß der Oberst recht hat«, sagte er zögernd.»Aber ich fürchte, er täuscht sich.«»Warum?«fragte der Minister in schneidend scharfem Tonfall.»Weil seine Theorie auf der Voraussetzung basiert, daß Calthrop sich entschlossen hat, die Operation abzubrechen. Wie aber, wenn das nicht der Fall sein sollte? Wenn er entweder Rodins Botschaft nicht erhalten oder aber sich dennoch für die Ausführung seines Vorhabens entschieden hat?«

Die allgemeine Mißbilligung, die Lebels Äußerung in der konsternierten Runde hervorrief, machte sich in halblauten Kommentaren Luft. Nur Oberst Rolland schwieg. Er blickte nachdenklich zu dem am unteren Ende des Tisches sitzenden Kommissar hinüber. Dieser kleine, dickliche Mann, dachte er, war offenbar ein weit klügerer Kopf, als irgendeiner der hier versammelten Männer zu erkennen vermochte. Lebels Beurteilung der Lage, das mußte er einräumen, mochte sich durchaus als die richtige erweisen.

Die Gemüter hatten sich noch nicht wieder beruhigt, als Lebel ans Telephon gerufen wurde. Diesmal blieb er länger als zwanzig Minuten weg. Als er wiederkam, referierte er seinerseits weitere zehn Minuten lang vor einer gespannt lauschenden Runde, was ihm soeben aus London gemeldet worden war.

«Was machen wir jetzt?«fragte ihn der Minister, als er geendet hatte. In seiner bedächtiggelassenen Art gab Lebel seine Anweisungen wie ein General, der seine Truppen aufmarschieren läßt, und keiner der im Raum anwesenden Männer, die ausnahmslos höhere Ränge bekleideten als er, machte auch nur den geringsten Versuch, irgendwelche Einwände zu erheben.

«Das also ist die Situation«, schloß er.»Wir werden eine auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnte, ebenso diskret wie umfassend gehandhabte Fahndung nach Calthrop alias Duggan in seiner neuen Tarnung veranstalten, während die britischen Polizeibehörden die Passagierlisten der Fluggesellschaften, Kanalfähren und so weiter überprüfen. Wenn sie ihn lokalisieren, werden sie ihn, sofern er auf britischem Boden angetroffen wird, festnehmen oder aber, sollte er England bereits verlassen haben, uns sofort benachrichtigen. Lokalisieren wir ihn dagegen, wird er, wenn er sich in Frankreich aufhält, sofort verhaftet. Machen wir ihn in einem dritten Land ausfindig, können wir entweder abwarten, bis er sich nichtsahnend anschickt, die Grenze zu überschreiten, und ihn dabei fassen — oder uns für eine andere Art des Vorgehens entscheiden. Zu dem Zeitpunkt freilich wird meine Aufgabe, den Mann zu finden, bereits abgeschlossen sein. Bis dahin jedoch wäre ich allerdings dankbar, wenn Sie, meine Herren, sich weiterhin an meine Empfehlungen hielten.«

Der Affront war so unerhört, die gelassene Selbstverständlichkeit, mit welcher der kleine Kommissar seinen Anordnungen Nachdruck zu verleihen verstand, so überzeugend, daß niemand etwas zu sagen wagte. Sie nickten nur. Selbst Saint Clair hielt den Mund.

Erst als er kurz nach Mitternacht heimkam, fand er ein aufmerksames Publikum für seinen Wutausbruch über diesen lächerlichen petit bourgeois, diese kümmerliche Polizistenseele, die recht behalten hatte, während sich die qualifiziertesten Experten des Landes ausnahmslos getäuscht hatten.

Seine Geliebte lauschte verständnisinnig und voller Mitgefühl, während sie ihm, der bäuchlings auf dem Bett lag, mit kundiger Hand den Nacken massierte. Es begann schon zu dämmern, als er endlich eingeschlafen war und sie sich in die Halle schleichen konnte, um ein kurzes Telephongespräch zu führen.

Superintendent Thomas blickte auf die beiden Paßanträge und zwei Photographien, die im Lichtkreis der Tischlampe auf der Schreibunterlage ausgebreitet waren.

«Gehen wir alles noch einmal rasch durch«, sagte er.»O. K.?«»Ja, Sir«, erwiderte der neben

ihm sitzende dienstälteste

Inspektor.

«Gut. Calthrop: Größe fünf Fuß elf Zoll. Stimmt's?«»Ja, Sir.«

«Duggan: Größe sechs Fuß.«

«Erhöhte Absätze, Sir. Mit spezial angefertigten Schuhen kann man sich bis zu fünf, sechs Zentimeter größer machen. Im Showgeschäft tun das eine Menge Leute. Im übrigen schaut einem bei der Paßkontrolle niemand auf die Füße.«

«Also gut«, räumte Thomas ein.»Schuhe mit erhöhten Absätzen. Calthrop: Haarfarbe braun. Das besagt nicht viel, denn die kann ebensogut hellbraun wie kastanienbraun sein. Nach dem Photo zu urteilen, hat er dunkelbraunes Haar. Bei Duggan steht auch: Haar braun. Aber es sieht aus, als sei es hellblond.«

«Das stimmt, Sir. Auf Photos sieht Haar jedoch meistens dunkler aus, als es ist. Es hängt davon ab, von wo das Licht kommt und so weiter. Außerdem könnte er es heller getönt haben, um Duggan zu werden.«

«Mag sein. Calthrops Augenfarbe: braun. Duggan: Augenfarbe grau.«

«Kontaktlinsen, Sir. Kein Problem.«

«O.K., Calthrop ist siebenunddreißig, Duggan im April vierunddreißig geworden.«

«Er mußte vierunddreißig werden«, erklärte der Inspektor,»weil der echte Duggan, der kleine Junge, der mit zweieinhalb Jahren ums Leben kam, im April 1929 geboren wurde. Daran konnte nichts geändert werden. Und ein Siebenunddreißigjähriger, dessen Alter im Paß mit vierunddreißig angegeben ist, erregt keinen Verdacht. Man glaubt dem, was im Paß steht. «Thomas betrachtete die beiden Photos. Calthrops Gesicht wirkte schwerer, voller, wie das eines eher untersetzten Mannes. Aber um Duggan zu werden, konnte er sein Äußeres verändert haben. Vermutlich hatte er es bereits verändert, bevor er mit den OAS-Chefs zusammentraf, und es seither bei dem veränderten Äußeren belassen — auch während der Zeit, in der er seinen Paß beantragte. Männer wie er mußten in der Lage sein, monatelang unter der Tarnung einer zweiten Identität zu leben, wenn sie der Identifizierung entgehen wollten. Eben dieser klugen Vorsicht und gewissenhaften Sorgfalt verdankte es Calthrop vermutlich, daß sein Name in keiner Polizeiakte der Welt zu finden war. Hätte es nicht dieses Gerücht gegeben, das vor ein paar Jahren in Westindien kursierte, wäre man nie auf ihn gekommen. Abervon jetzt ab war er Duggan. Gefärbtes Haar, getönte Kontaktlinsen, schlankere Figur und überhöhte Absätze — es war Duggans Personenbeschreibung, die er nebst Paßnummer und — photo zur Übermittlung nach Paris in den Telexraum bringen ließ. Lebel würde das Material — er blickte auf seine Armbanduhr — schätzungsweise gegen 2 Uhr morgens erhalten.

«Und alles weitere ist dann deren Sache«, meinte der Inspektor.

«Irrtum, mein Junge«, klärte Thomas ihn auf,»es gibt noch eine Menge Arbeit für uns. Morgen früh fangen wir als erstes mit der Überprüfung der Fluggesellschaften, Reisebüros und Kartenverkaufsstellen für den Kanalverkehr an. Wir müssen nicht nur herausfinden, wer er jetzt ist, sondern auch, wo er jetzt ist.«

In diesem Augenblick kam der Anruf aus dem Somerset House. Der letzte Paßantrag war überprüft und in Ordnung befunden worden.

«O.K., danken Sie den Beamten des Hauses, und machen Sie Schluß. Morgen früh pünktlich um 8 Uhr 30 erwarte ich Sie alle sieben in meinem Büro«, sagte Thomas.

Ein Sergeant brachte einen Durchschlag der schriftlichen Erklärung, die der Zeitungs- und Zigarettenhändler auf seiner örtlichen Polizeiwache abgegeben hatte. Thomas überflog die beeidete Aussage, die im wesentlichen wiederholte, was der Mann dem Inspektor schon an der Wohnungstür gesagt hatte.

«Es liegt nichts gegen ihn vor, was uns dazu berechtigen könnte, ihn festzuhalten«, sagte er.»Bestellen Sie den Diensthabenden in Paddington, sie sollen ihn laufenlassen.«»Ja, Sir«, sagte der Sergeant und trat ab. Während er mit dem Sergeanten sprach, war es Donnerstag, der

15. August geworden. Thomas lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und versuchte ein wenig zu schlafen.

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