NEUNZEHNTES KAPITEL

Claude Lebel verbrachte eine schlechte Nacht. Gegen halb zwei — er war gerade eingeschlafen — rüttelte Caron ihn wach.

«Entschuldigen Sie, Chef, aber mir kommt gerade eine Idee. Dieser Schakal — also der hat doch einen dänischen Paß, nicht wahr?«

Lebel nickte.

«Nun, den muß er schließlich von irgendwoher bekommen haben. Entweder ist er gefälscht, oder er hat ihn gestohlen. Und da der Gebrauch dieses Passes für ihn mit einem Wechsel der Haarfarbe verbunden war, scheint er ihn gestohlen zu haben.«

«Läßt sich hören. Weiter.«

«Abgesehen von der im Juli unternommenen Erkundungsreise nach Paris war er die ganze Zeit in London. Die Wahrscheinlichkeit spricht demnach dafür, daß er ihn in einer der beiden Städte gestohlen hat. Und was macht eine Däne, wenn ihm sein Paß abhanden gekommen oder gestohlen worden ist? Ganz klar — er geht auf sein Konsulat.«

Lebel schlug die Decke zurück und stand vom Feldbett auf.

«Manchmal, mein lieber Lucien, habe ich das Gefühl, daß Sie es noch weit bringen werden. Verbinden Sie mich mit Superintendent Thomas in seiner Privatwohnung und dann mit dem dänischen Generalkonsul in Paris. In dieser Reihenfolge.«

Die nächste Stunde verbrachte er damit, beide Herren telephonisch dazu zu überreden, aufzustehen und sich in ihre diesbezüglichen Büros zu begeben. Er selbst legte sich gegen 3 Uhr morgens wieder aufs Feldbett. Um vier weckte ihn ein Anruf der Polizeipräfektur, der ihn davon unterrichtete, daß mehr als neunhundert-achtzig von dänischen Besuchern ausgefüllte Meldeformulare um Mitternacht und um 2 Uhr morgens eingesammelt worden waren und gegenwärtig nach den Gesichtspunkten» dringend verdächtig«,»verdächtig «und» sonstige «sortiert wurden.

Um sechs — er war noch immer wach und trank gerade Kaffee, um es auch zu bleiben — riefen die Fernmeldeingenieure von der DST an, denen er kurz nach Mitternacht seine Weisungen erteilt hatte. Ein aufschlußreiches Gespräch war von ihnen abgehört worden. Er nahm einen Wagen und fuhr mit Caron durch die frühmorgendlichen Straßen ins Hauptquartier der DST. In einem im Keller des Gebäudes untergebrachten Fernmeldelabor hörten sie sich eine Bandaufnahme an.

Sie begann mit einem lauten Klicken, dem eine Anzahl schwirrender Geräusche, die klangen, als wähle jemand eine siebenstellige Nummer, dann der Summton der Telephonklingel und schließlich das Klicken, mit dem der Hörer abgenommen wurde, folgten.

Eine heisere Stimme sagte:»Allo?«Eine weibliche Stimme sagte: »Ici Jacqueline.« Die Männerstimme antwortete: »Ici Valmy.« Die Frau sagte:»Sie wissen, daß er als dänischer Geistlicher getarnt ist. Sie überprüfen im Lauf der Nacht die Meldeformulare aller Dänen und sammeln die Anmeldungen um 12, 2 und 4 Uhr in den Hotels ein. Anschließend werden sie jeden einzelnen Dänen vernehmen.«

Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann sagte der Mann: »Merci«. Er hängte ein und die Frau ebenfalls. Lebel starrte auf die langsam rotierende Bandspule.»Sie wissen die Nummer, die sie angerufen hat?«fragte er den Ingenieur.

«Ja. Wir können es aufgrund der Zeit errechnen, welche die Wählscheibe braucht, um sich auf Null zurückzudrehen. Die Nummer war MOLITOR 5901.«»Haben Sie die Adresse?«

Der Mann reichte ihm einen Zettel. Lebel warf einen Blick darauf.

«Kommen Sie, Lucien. Wir wollen Monsieur Valmy einen Besuch abstatten.«

Um 7 Uhr pochte es an die Wohnungstür. Der Schulmeister kochte sich gerade einen Kaffee. Er runzelte die Stirn, drehte die Gasflamme kleiner und ging quer durchs Wohnzimmer zur Tür, um zu öffnen. Vier Männer standen ihm gegenüber. Er wußte, wer sie waren und was sie wollten, ohne daß man es ihm hätte sagen müssen. Die beiden Polizisten in Uniform sahen aus, als würden sie sich gleich auf ihn stürzen, aber der freundlich dreinblickende kleine Mann bedeutete ihnen mit einem Wink, sich nicht einzumischen.»Wir haben Ihr Telephon abgehört«, sagte er.»Sie sind Valmy.«

Dem Schulmeister war keinerlei Gefühlsregung anzumerken. Er wich einen Schritt zurück und ließ die vier eintreten.

«Darf ich mich anziehen?«fragte er.

«Ja, selbstverständlich.«

Er brauchte nur wenige Minuten, um sich unter den Augen der beiden uniformierten Polizeibeamten Hemd und Hose überzuziehen; den Pyjama hatte er darunter anbehalten.

Der junge Beamte in Zivil war im Türrahmen stehengeblieben, während der ältere in der Wohnung umherging und die überall aufgeschichteten Stöße von Büchern und Zeitschriften in Augenschein nahm.

«Es wird eine Ewigkeit dauern, bis alles dies hier durchgesehen und aufgenommen ist, Lucien«, sagte er. Der junge Mann im Türrahmen nickte.

«Ist, Gott sei Dank, nicht Sache unserer Abteilung.«

«Sind Sie soweit?«fragte der kleine Mann den Schulmeister.

«Ja.«

«Dann bringen Sie ihn zum Wagen hinunter.«

Der Kommissar blieb allein in der Wohnung zurück, nachdem Valmy abgeführt worden war, und blätterte in den Papieren, an denen der Schulmeister offenbar am Abend zuvor gearbeitet hatte. Es waren jedoch alles korrigierte Schulaufgaben. Der Mann schien vorwiegend von zu Hause aus operiert zu haben; er würde den ganzen Tag in der Wohnung verbleiben müssen, um das Telephon zu bedienen, falls der Schakal sich meldete. Es war zehn Minuten nach sieben, als es klingelte. Lebel starrte den Apparat ein paar Sekunden lang unschlüssig an.

Dann streckte er die Hand aus und nahm den Hörer ab.

«Allo?«

«Ici Chacal.«

Lebel überlegte verzweifelt.

«Ici Valmy«, sagte er. Es entstand eine Pause. Ihm fiel nichts ein, was er sonst noch hätte sagen können.

«Was gibt es Neues?«fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

«Nichts. Sie haben die Spur in Correze verloren.«

Seine Stirn hatte sich mit feinem Schweiß bedeckt. Alles hing davon ab, daß der Mann noch ein paar Stunden länger dort blieb, wo er jetzt war. Es klickte in der Leitung, und dann war nichts mehr zu hören. Lebel legte den Hörer auf und rannte die Treppe hinunter zum Wagen, der vor dem Haus auf ihn wartete.»Zurück in mein Büro«, rief er dem Fahrer zu.

Der Schakal stand in der Telephonzelle im Foyer eines kleinen Hotels am Seineufer und starrte konsterniert durchs Glasfenster hinaus. Nichts? Sie mußten den Taxifahrer in Egletons vernommen und die Spur von dort nach Haute Chalonniere verfolgt haben. Sie mußten die Leiche im Schloß entdeckt und den verschwundenen Renault aufgefunden haben. Sie mußten…

Er verließ die Telephonzelle und durchquerte mit langen Schritten das Foyer.

«Meine Rechnung, bitte«, rief er dem Empfangschef im Vorbeigehen zu.»Ich bin in fünf Minuten wieder unten.«

Der Anruf von Superintendent Thomas kam um 7 Uhr 30, als Lebel gerade sein Büro betrat.»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, sagte der britische Detektiv.»Ich habe Stunden gebraucht, um die dänischen Konsularbeamten wach zu kriegen und dazu zu bewegen, in ihr Büro zurückzukehren. Sie hatten vollkommen recht. Am 14. Juli hat ein dänischer Pastor den Verlust seines Passes gemeldet. Er vermutete, daß er ihm aus seinem Hotelzimmer im Londoner Westend gestohlen wurde, konnte es aber nicht beweisen. Zur Erleichterung des Hotelmanagers hat er keine Beschwerde eingelegt. Name: Pastor Per Jensen, wohnhaft in Kopenhagen. Personenbeschreibung: einsachtzig groß, Augen blau, Haar grau.«

«Das ist er. Danke, Superintendent. «Lebel hängte ein.»Verbinden Sie mich mit der Präfektur«, rief er Caron zu.

Um 8 Uhr 30 hielten vier geschlossene Mannschaftswagen vor dem Hotel am Quai des Grands Augustins. Die Polizeibeamten durchstöberten Zimmer 37, bis es aussah, als sei es von einem Taifun verwüstet worden.

«Tut mir leid, Monsieur le Commissaire«, erklärte der Besitzer dem übernächtigt aussehenden Detektiv, der die Razzia leitete.»Pastor Jensen ist vor einer Stunde abgereist.«

Der Schakal hatte ein Taxi angehalten und sich zur Gare d'Austerlitz, an der er gestern angekommen war, zurückfahren lassen, weil sich die Suche nach ihm inzwischen auf einen anderen Stadtteil konzentriert haben würde. Er gab den Koffer, in dem sich das Gewehr, der Militärmantel und die anderen Bekleidungsstücke des fiktiven Franzosen Andre Martin befanden, in der Gepäckaufbewahrung ab und behielt lediglich den Koffer mit der Kleidung und den Papieren des amerikanischen Studenten Marty Schulberg sowie die Reisetasche, in die er die zum Make-up benötigten Artikel gesteckt hatte, bei sich.

Mit diesen beiden Gepäckstücken und noch immer im schwarzen Anzug — unter dem er jedoch einen Rollkragenpullover trug, der den steifen weißen Kragen und das schwarze Plastron verdeckte —, betrat er ein schäbiges kleines Hotel gleich um die Ecke vom Bahnhof. Der Portier ließ ihn das Meldeformular selbst ausfüllen und war zu träge, die Eintragungen, wie es die Vorschrift bestimmte, mit den Angaben im Paß zu vergleichen.

Oben in seinem Zimmer begann der Schakal sofort, sich Gesicht und Haar herzurichten. Der graue Farbton wurde mit Hilfe eines Lösemittels herausgewaschen und das jetzt wieder blonde Haar kastanienbraun gefärbt. Die blauen Kontaktlinsen brauchten nicht entfernt zu werden, aber die goldgeränderte Brille wurde durch eine schwere Hornbrille ersetzt. Die schwarzen Schuhe, die Socken, das Hemd, das Plastron und der Anzug des Geistlichen wanderten zusammen mit dem Paß von Pastor Jensen aus Kopenhagen in den Koffer. Statt dessen zog er die Socken, die Jeans, das T-Shirt, die Sneakers und die Windjacke des amerikanischen College-Boys aus Syracuse im Staat New York an.

Gegen 11 Uhr war er zum Aufbruch bereit. In der linken Brusttasche seiner Windjacke steckte der Paß des Amerikaners, in der rechten ein Packen französischer Banknoten. Den Koffer mit den Sachen Pastor Jensens stellte er in den Garderobenschrank, den Schrankschlüssel warf er in den Abfluß des Bidets. Er verließ das Hotel über die Feuerleiter und gab die Reisetasche wenige Minuten später in der Gepäckaufbewahrung der Gare d'Austerlitz ab. Den Gepäckschein steckte er zu dem des Koffers in seine Gesäßtasche und machte sich auf den Weg. Er nahm ein Taxi, ließ sich zur Ecke des Boulevard Saint-Michel und der rue de la Huchette fahren und tauchte in den engen Gassen des vorwiegend von Studenten und anderen jungen Leuten bewohnten Quartier Latin unter.

Als er in einer verrauchten Gastwirtschaft an einem der hinteren Tische Platz gefunden hatte, um ein billiges Mittagessen einzunehmen, begann er sich zu fragen, wo er die Nacht verbringen würde. Er bezweifelte nicht, daß seine Rolle als Pastor Jensen von Lebel inzwischen aufgedeckt worden war, und gab Marty Schulberg nicht mehr als vierundzwanzig Stunden.

Verfluchter Hund, dieser Lebel, dachte er wütend, lächelte jedoch sofort, als die Kellnerin ihm strahlend die Karte reichte.

«Danke, Honey.«

Um 10 Uhr setzte sich Lebel nochmals mit Thomas in Verbindung. Seine Bitte entlockte diesem ein leises Stöhnen, aber er gab die Zusage, daß er alles tun würde, was in seiner Macht stünde.

Als das Gespräch beendet war, bestellte Thomas den dienstältesten Inspektor, der in der vergangenen Woche in die Fahndung eingeschaltet gewesen war, zu sich.

«Setzen Sie sich«, sagte er.»Die Franzmänner haben sich nochmals gemeldet. Er scheint ihnen wiederum entwischt zu sein. Jetzt ist er irgendwo in Paris, und sie befürchten, daß er eine weitere falsche Identität parat hat. Wir beide werden der Reihe nach alle hiesigen Konsulate anrufen und um eine Liste sämtlicher Pässe bitten, die seit dem 1.Juli von Ausländern als verloren oder gestohlen gemeldet wurden. Die Konsulate afrikanischer und asiatischer Staaten können Sie auslassen. Beschränken Sie sich auf die europäischen und amerikanischen Länder und nehmen Sie noch Australien und Südafrika hinzu. In jedem einzelnen Fall muß die Körpergröße des Paßinhabers aufgenommen werden. Alle Männer über einssiebzig sind verdächtig. Los geht's!«Die tägliche Besprechung im Ministerium war auf 14 Uhr vorverlegt worden.

Lebel erstattete wie immer in seiner nüchtern-monotonen Weise Bericht. Die Reaktion der Konferenzteilnehmer war alles andere als freundlich.

«Verflucht!«rief der Minister mitten im Vortrag aus.»Der Hund hat aber auch wirklich teuflisches Glück!«

«Nein, Monsieur le Ministre, das hat nichts mit Glück zu tun. Oder doch nur sehr wenig. Er ist laufend über unsere Maßnahmen informiert worden — in jeder Phase. Das ist auch der Grund, weshalb er Gap in solcher Eile verlassen hat und sich nach dem Mord an der Frau in La Haute Chalonniere gerade noch rechtzeitig, bevor das Netz sich um ihn zusammenzog, aus dem Staub machen konnte.Abend für Abend habe ich in diesem Kreis über den jeweiligen Stand der Ermittlungen referiert. Dreimal standen wir kurz davor, ihn zu fassen. Heute morgen war es die Verhaftung Valmys und meine Unfähigkeit, Valmys Stimme am Telephon zu imitieren, die ihn veranlaß te, das Hotel überstürzt zu verlassen und eine andere Identität anzunehmen. Aber in den beiden anderen Fällen ist er am frühen Morgen, nachdem ich dieser Versammlung Bericht erstattet hatte, gewarnt worden.«

Eisiges Schweigen herrschte in dem Konferenzzimmer.

«Ich glaube mich zu erinnern«, bemerkte der Minister schließlich in spürbar befremdeten Tonfall,»daß Sie schon einmal etwas Derartiges erwähnten. Ich hoffe, Sie können das begründen, Kommissar.«

Statt zu antworten, stellte Lebel ein batteriebetriebenes Tonbandgerät auf den Tisch und betätigte den Startknopf. In dem Schweigen, das im Konferenzraum herrschte, klangen die Stimmen der mitgeschnittenen telephonischen Unterhaltung metallisch und harsch. Als das Gespräch beendet war, starrten alle Konferenzteilnehmer das auf dem Tisch stehende Gerät an. Oberst Saint Clair war aschgrau geworden, und seine Hände zitterten leicht, als er seine Papiere zusammenraffte.

«Wessen Stimme war das?«fragte der Minister schließlich.

Lebel schwieg. Saint Clair erhob sich zögernd, und aller Blicke richteten sich auf ihn.

«Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, Monsieur le Ministre, daß es die Stimme einer — einer Freundin von mir war. Sie wohnt gegenwärtig bei mir… Verzeihen Sie.«

Er verließ das Konferenzzimmer, um in den Elysee-Palast zurückzukehren und seinen Abschied einzureichen. Rings um den Tisch starrten die Zurückgebliebenen auf ihre Hände.»Alsdann, Kommissar«, ließ sich die jetzt wieder ganz ruhige Stimme des Ministers vernehmen,»fahren Sie bitte fort.«

Lebel berichtete weiter und erwähnte seine an Superintendent Thomas in London gerichtete Bitte, jeden dort in den letzten fünfzig Tagen gemeldeten Paßdiebstahl oder — verlust zu überprüfen.

«Ich hoffe«, schloß er,»noch heute abend eine kurze Liste mit vermutlich nicht mehr als zwei, drei Fällen zu erhalten, die auf die Beschreibung passen, welche wir vom Schakal haben. Sobald ich sie in Händen halte, werde ich die Behörden der Heimatländer dieser Touristen, denen in London der Paß abhanden gekommen ist, um Photos der Betreffenden bitten. Denn wir können sicher sein, daß der Schakal inzwischen nicht mehr wie Calthrop oder Duggan oder Jensen aussieht, sondern so, wie es seine neue Identität erfordert. Wenn alles klappt, habe ich morgen mittag die Photos.«

«Ich meinerseits«, sagte der Minister,»kann Ihnen von der Unterredung berichten, die ich mit Präsident de Gaulle hatte. Er hat sich rundheraus geweigert, von seinem Programm für die nächsten Tage auch nur im geringsten abzugehen und sich auf diese Weise der Gefahr, die ihm droht, zu entziehen. Das war, ehrlich gesagt, kaum anders zu erwarten. In einem Punkt habe ich den Staatspräsidenten jedoch zu einer Konzession bewegen können. Das strikte Gebot der Geheimhaltung wurde, zumindest in dieser Hinsicht, aufgehoben.

Der Schakal ist jetzt ein regulärer Mörder. Er hat die Baronin de la Chalonniere bei einem Einbruch, der ihrem Schmuck galt, auf ihrem Schloß umgebracht. Es wird vermutet, daß er nach Paris geflohen ist und sich dort verborgen hält. Haben wir uns verstanden, meine Herren? meine Herren"/

Das ist es, was wir der Presse gegenüber rechtzeitig zur Veröffentlichung in den Nachmittagsblättern, zumindest aber den Spätausgaben, verlautbaren werden. Sie,

Kommissar, sind ermächtigt, die Presse, sobald Sie sich, was seine neue Identität oder die Wahl zwischen zwei, drei möglichen Identitäten betrifft, mit denen er sich jetzt tarnt, ganz sicher sind, diesen Namen oder diese Namen zu nennen. Das ermöglicht es den Morgenblättern, die Story mit einem neuen Aufhänger zu aktualisieren.

Wenn das Photo von dem bedauernswerten Touristen, der in London seinen Paß verloren hat, morgen vormittag eintrifft, können Sie es den Abendzeitungen, dem Rundfunk und dem Fernsehen für die zweite Folge der Mörderjagd-Story freigeben. Unabhängig davon wird jeder Polizeibeamte und jeder CRS-Mann in Paris, sobald wir einen Namen wissen, auf der Straße patrouillieren und sich von jedem Passanten, der ihm in den Weg kommt, die Ausweispapiere zeigen lassen.«

Der Polizeipräfekt, der Chef des CRS und der Direktor der PJ machten sich eifrig Notizen. Der Minister faßte zusammen:

«Die DST wird, unterstützt von den RG, jeden ihr als Sympathisanten der OAS bekannten Staatsbürger eingehend überprüfen.

Ist das klar?«Die Chefs der DST und der RG nickten lebhaft.»Die Police Judiciaire wird jeden ihr verfügbaren Detektiv von der Aufgabe, mit der er gegenwärtig befaßt ist, abziehen und auf die Mörderjagd ansetzen.«

Max Fernet, Leiter der PJ, nickte.

«Was den Elysee-Palast selbst betrifft, so werde ich eine vollständige Liste aller Reisen, Exkursionen und öffentlichen Veranstaltungen anfordern, die der Präsident in nächster Zeit plant, selbst wenn er seinerseits über die zu seinem Schutz getroffenen zusätzlichen Maßnahmen im einzelnen nicht unterrichtet sein sollte. Kommissar Ducret, ich kann mich doch darauf verlassen, daß die präsidiale Sicherungsgruppe die Person des Präsidenten hermetischer denn je abriegelt?«

Jean Ducret, Chef der persönlichen Sicherungsgruppe de Gaulles, neigte den Kopf.

«Soviel mir bekannt ist, unterhält die Brigade Criminelle«- der Minister sah zu Kommissar Bouvier hinüber —»zahlreiche Kontakte mit der Unterwelt. Sie muß sie allesamt aktivieren und ihre Verbindungsleute anweisen, die Augen nach diesem Mann offenzuhalten, dessen Name und Personenbeschreibung ihnen noch bekanntgegeben werden. In Ordnung?«

Maurice Bouvier nickte mißvergnügt. Insgeheim war er beunruhigt. Er hatte im Lauf der Jahre nicht wenige Verbrecherjagden miterlebt, aber diese nahm gigantische Ausmaße an. In dem Augenblick, wo Lebel einen Namen und eine Paßnummer bekanntgab, würden nahezu hunderttausend Mann, von den Sicherheitskräften bis zu den Mitgliedern der Unterwelt, die Straßen, Hotels, Bars und Restaurants von Paris nach einem einzigen Mann absuchen.

«Gibt es noch irgendeine Informationsquelle, die ich übersehen habe?«fragte der Minister. Oberst Rolland warf erst General Guibaud und dann Kommissar Bouvier einen raschen Blick zu. Er hüstelte.»Nun, da ist natürlich noch die Union Corse.« General Guibaud betrachtete angelegentlich seine Fingerspitzen. Bouvier sah Rolland entsetzt an. Die Mehrzahl der anderen Konferenzteilnehmer blickte betreten drein. Die Korsische Union, welche die Nachfahren der» Brüder von Ajaccio «und» Söhne der Vendetta «in der Bruderschaft der Korsen vereinigte, war und ist auch heute noch das größte Syndikat des organisierten Verbrechens in Frankreich. Schon damals kontrollierte sie Marseiile und die Cöte d'Azur. Von nicht wenigen Kennern wurde die Union für älter und gefährlicher gehalten als die Mafia. Da sie nicht wie diese zu Beginn unseres Jahrhunderts nach Amerika hatte emigrieren müssen, war es ihr gelungen, die Publizität zu vermeiden, die das Wort» Mafia «seither in der ganzen Welt zu einem Begriff werden ließ.

Zweimal bereits hatte sich der Gaullismus mit der Union verbündet und die Partnerschaft beide Male als nützlich, aber auch ungemein lästig empfunden. Denn die Union pflegte stets ein Entgelt zu fordern, zumeist in Form einer Lockerung der polizeilichen Kontrolle ihrer illegalen geschäftlichen Unternehmungen. Die Union hatte den Alliierten 1944 bei der Landung in Südfrankreich geholfen und seither Marseiile und Toulon vollständig kontrolliert. Sie hatte den Gaullisten im Kampf gegen die algerischen Siedler und nach dem April 1961 gegen die OAS Beistand geleistet und als Gegenleistung ihre Fühler weit nach Norden und bis nach Paris hinein ausgestreckt.

Maurice Bouvier hatte ihre kriminelle Energie als Polizeibeamter hassen gelernt, aber es war ihm bekannt, daß Rollands Aktionsdienst die Korsen in beträchtlichem Ausmaß für seine Zwecke einspannte.

«Meinen Sie, daß sie uns weiterhelfen können?«fragte der Minister.

«Wenn der Schakal so ausgekocht ist, wie er uns geschildert wird«, entgegnete Rolland,»würde ich annehmen, daß, wenn es überhaupt jemand fertigbekommt, ihn in Paris aufzuspüren, dies nur die Union schaffen kann.«

«Wie viele Mitglieder hat sie in Paris?«fragte der Minister zweifelnd.

«Etwa achtzigtausend. Einige sind bei der Polizei, andere beim Zoll, beim CRS oder beim Geheimdienst — und wieder andere gehören natürlich zur Unterwelt. Und die sind organisiert.«»Schalten Sie sie ein«, sagte der Minister.

Weitere Vorschläge wurden nicht gemacht.

«Also, das wäre es dann für heute. Kommissar Lebel, alles, was wir von Ihnen wollen, ist ein Name, eine Personenbeschreibung und eine Photographie. Danach gebe ich ihm höchstens noch sechs Stunden, die er auf freiem Fuß ist.«

«Genaugenommen haben wir noch drei Tage«, sagte Lebel, der längere Zeit gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt hatte. Seine Zuhörer schauten ihn perplex an.»Woher wollen Sie das wissen?«fragte Max Fernet.

Lebel blinzelte mehrmals ganz rasch.

«Ich muß um Entschuldigung bitten. Es war schon sehr dumm von mir, das nicht eher zu erkennen. Seit einer Woche ist mir klar, daß der Schakal einen Plan besitzt und den Tag für die Ermordung des Präsidenten längst bestimmt hat. Warum hat er sich, als er Gap verließ, nicht sofort als Pastor Jensen verkleidet? Warum ist er nicht nach Valence gefahren und hat gleich den Expreßzug nach Paris genommen? Warum hat er sich, nachdem er nach Frankreich eingereist war, noch eine ganze Woche lang die Zeit vertrieben? «

«Nun, warum?«fragte jemand.

«Weil er sich für einen bestimmten Tag entschieden hat«, sagte Lebel.»Er weiß, wann er losschlagen wird. Kommissar Ducret, hat der Präsident heute, morgen oder am Samstag irgendwelche Verpflichtungen außerhalb des Palastes?«

Ducret schüttelte den Kopf.

«Und was ist für Sonntag, den 25. August, vorgesehen?«fragte Lebel.

Rund um den langen Tissch war ein Seufzen vernehmbar, das klang, als sei ein Windstoß in ein Getreidefeld gefahren.

«Der Befreiungstag natürlich«, rief der Minister aus.»Und das Verrückte an der Sache ist, daß die meisten von uns jenen Tag, den Tag der Befreiung von Paris, 1944 mit ihm zusammen erlebt haben.«

«Genau«, sagte Lebel.»Er ist wahrhaftig kein schlechter Psychologe, unser Schakal. Er weiß, daß es einen Tag im Jahr gibt, den General de Gaulle niemals irgendwo anders als in Paris verbringen wird. Es ist sozusagen sein großer Tag. Und dieser Tag ist es, auf den der Mörder gewartet hat.«

«In dem Fall«, erklärte der Minister zuversichtlich,»haben wir ihn. Ohne seine Informationsquelle findet er keinen Winkel in ganz Paris, wo er sich verstecken könnte, keine Gemeinschaft von Parisern, die ihm, und sei es unwissentlich, Unterschlupf und Schutz gewähren würde. Wir haben ihn. Kommissar Lebel, nennen Sie uns den Namen dieses Mannes.«

Claude Lebel stand auf und ging zur Tür. Die anderen erhoben sich ebenfalls und waren im Begriff, sich zum Essen zu begeben.

«Oh, sagen Sie mir doch eines«, rief der Minister Lebel nach.

«Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, das Telephon in Oberst Saint Clairs Privatwohnung abzuhören?«

«Ich bin nicht darauf gekommen«, sagte er,»und habe deswegen gestern nacht bei Ihnen allen das Telephon anzapfen lassen. Guten Tag, meine Herren.«

Am gleichen Nachmittag um 5 Uhr kam dem Schakal, als er, eine dunkle Brille, wie sie hier jedermann trug, vor den Augen, bei einem Glas Bier auf einer Cafeterrasse an der Place de l'Odeon saß, die rettende Idee. Er verdankte sie dem Anblick zweier Männer, die auf dem Bürgersteig vorüberschlenderten. Er zahlte sein Bier, stand auf und ging. Hundert Meter weiter fand er, was er suchte — einen Schönheitssalon für Damen. Er betrat den Laden und tätigte ein paar Einkäufe.

Um sechs änderten die Abendzeitungen ihre Schlagzeilen. Die Spätausgaben trugen in fetten Balken die Überschrift: »Assassin de la Belle Baronne se refugie a Paris«. Darunter prangte ein vor fünf Jahren auf einer Party in Paris aufgenommenes Photo der Baronin de la Chalonniere. Es war im Archiv einer Bildagentur ausgegraben worden, und alle Blätter brachten das gleiche Photo.

Mit einem Exemplar des» France-Soir «unter dem Arm betrat Oberst Rolland um 18 Uhr 30 ein kleines Cafe nahe der rue Washington. Der Barmann mit dem blauschwarzen Schimmer auf Kinnlade und Wangen sah ihn scharf an und nickte dann einem anderen Mann im hinteren Teil des Cafes zu.

Der zweite Mann kam herangeschlendert und trat auf Rolland zu.

«Oberst Rolland?«

Der Chef des Aktionsdienstes nickte.

«Bitte folgen Sie mir.«

Er führte den Oberst durch die Hintertür des Cafes und über eine Treppe in ein kleines Wohnzimmer im ersten Stock hinauf, das vermutlich zu den Privaträumen des Cafebesitzers zählte. Er klopfte, und eine Stimme rief: »Entrez.«

Als sich die Tür hinter ihm schloß, drückte Rolland die ausgestreckte Hand des Mannes, der sich aus einem Sessel erhoben hatte.

«Oberst Rolland? Enchante. Ich bin der Capu der Union Corse. Ich höre, daß Sie einen bestimmten Mann suchen… «Es war 20 Uhr, als Lebel der Anruf aus London durchgestellt wurde. Superintendent Thomas' Stimme klang müde.

Es war kein leichter Tag für ihn gewesen. Einige Konsulate hatten sich entgegenkommend gezeigt, andere in der Zusammenarbeit als ungemein schwierig erwiesen.

Von Frauen, Negern, Asiaten und Männern unter einssiebzig abgesehen, waren in den letzten fünfzig Tagen insgesamt acht ausländischen Touristen die Pässe in London abhanden gekommen oder gestohlen worden, berichtete er. Sorgfältig hatte er sich die Namen, die Paßnummern und Personenbeschreibungen der Betreffenden notiert.

«Lassen Sie uns zunächst diejenigen eliminieren, die nicht in Frage kommen«, schlug er Lebel vor.»Drei haben ihren Paß zu einem Zeitpunkt verloren, zu dem der Schakal, alias Duggan, nachweislich nicht in London war. Wir haben Flugbuchungen und Schiffspassagen ebenfalls bis zum 1.Juli einschließlich überprüft. Offenbar ist er am 18. Juli mit der Abendmaschine nach Kopenhagen geflogen. Laut BEA hat er in Brüssel an ihrem Schalter für ein Ticket bar gezahlt und am 6. August abends die Maschine zurück nach England genommen.«

«Ja, das dürfte stimmen«, sagte Lebel.»Wir haben festgestellt, daß er auf dieser Reise auch in Paris gewesen ist. Vom 22. bis zum 31.Juli.«

«Als er weg war«, sagte Thomas,»sind also drei Pässe gestohlen oder verloren worden. Die können wir ausschließen, ja?«»Ja«, sagte Lebel.

«Von den übrigen fünf Paßinhabern ist einer extrem groß — mehr als sechs Fuß sechs Zoll, das heißt also in Ihrer Sprache über zwei Meter. Abgesehen davon ist er Italiener und seine Größe daher im Paß in Zentimetern angegeben. Jeder französische Zollbeamte würde es lesen können und den Unterschied sofort bemerken, es sei denn, der Schakal ginge auf Stelzen.«»Sie haben recht, das muß ja ein Riese gewesen sein. Der Mann kommt nicht in Frage. Was ist mit den anderen vier?«

«Tja, der eine ist enorm dick, wiegt zweihundertzweiundvierzig Pfund, fast zweieinhalb Zentner also. Der Schakal müßte seinen Anzug so auswattieren, daß er kaum noch darin gehen könnte.«

«Kann also ebenfalls ausgeschlossen werden«, sagte Lebel.

«Wer sonst noch?«

«Einer ist Norweger, der andere Amerikaner«, sagte Thomas.

«Auf beide paßt die Beschreibung. Hochgewachsen, breitschultrig, zwischen zwanzig und fünfzig. Zwei Dinge sprechen dagegen, daß der Norweger Ihr Mann sein könnte. Zum einen ist er blond, und ich glaube nicht, daß der Schakal, nachdem er als Duggan aufgeflogen ist, zu seiner eigenen Haarfarbe zurückkehren würde. Damit sähe er Duggan allzu ähnlich. Zum anderen hat der Norweger seinem Konsul gemeldet, der Paß müsse ihm abhanden gekommen sein, als er bei einer Bootsfahrt mit seiner Freundin auf dem Serpentine-Teich im Hyde Park in voller Kleidung ins Wasser gefallen sei. Er schwört, daß der Paß in seiner Brusttasche gesteckt habe, als er hineinfiel, und nicht mehr drin war, als er fünfzehn Minuten später an Land kletterte. Der Amerikaner dagegen hat gegenüber der Polizei im Londoner Flughafen unter Eid erklärt, daß ihm seine Reisetasche mit dem darin befindlichen Paß gestohlen wurde, als er in der Haupthalle nur einmal kurz in eine andere Richtung schaute. Was meinen Sie?«»Schicken Sie mir rasch alle Angaben über den Amerikaner. Ich lasse mir sein Photo vom Paßamt in Washington kommen. Und seien Sie nochmals für Ihre Unterstützung bedankt.«

Am gleichen Tag fand abends um 10 Uhr eine zweite Sitzung statt. Es war die bisher kürzeste. Eine Stunde zuvor hatten alle Abteilungen des Staatssicherheitsapparats bereits Photokopien mit der genauen Personenbeschreibung des wegen Mordes gesuchten Amerikaners Marty Schulberg erhalten. Eine Photographie hoffte man noch vor dem nächsten Morgen zu erhalten, rechtzeitig für die ersten Ausgaben der Abendblätter, die um 10 Uhr vormittags an den Kiosken erschienen. Der Minister erhob sich.

«Meine Herren, als wir uns das erstemal hier zusammensetzten, schlössen wir uns Kommissar Bouviers Auffasssung an, daß die Identifizierung des unter dem Decknamen >Der Schakal< bekannten Mörders im wesentlichen die Aufgabe eines Detektivs sei. In der Rückschau erweist sich nun, wie richtig diese Einschätzung gewesen war. Wir können von Glück sagen, daß wir in den vergangenen zehn Tagen über die Dienste Kommissar Lebels verfügten. Ungeachtet des dreimaligen Wechsels der Identität des Mörders, von Calthrop zu Duggan, von Duggan zu Jensen und von Jensen zu Schulberg, und trotz des fortgesetzten Geheimnisverrats, der in diesem Raum seinen Ausgang nahm, ist es gelungen, den gesuchten Mann zu identifizieren und ihn innerhalb der Stadtgrenzen von Paris zu lokalisieren. Wir schulden ihm Dank. «Er verneigte sich leicht vor Lebel, der verlegen dreinblickte.

«Jetzt aber«, fuhr der Minister fort,»ist die Reihe an uns. Wir wissen seinen Namen, haben seine Personenbeschreibung, und seine Paßnummer sowie seine Nationalität sind uns ebenfalls bekannt. In wenigen Stunden werden wir auch sein Photo haben. Ich bin zuversichtlich, daß wir den Mann mit Hilfe der Ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Kräfte rasch fassen. Schon jetzt ist jeder Polizeibeamte in Paris, jeder CRS-Mann und jeder Detektiv unterrichtet. Noch vor dem Morgengrauen, spätestens aber ab morgen mittag wird der Gesuchte sich nirgendwo mehr verborgen halten können.

Und nun lassen Sie mich Ihnen nochmals danken, Kommissar Lebel, und Sie von der schweren Bürde befreien, die Ihnen mit dieser Ermittlung auferlegt war. In den kommenden Stunden werden wir nicht mehr auf Ihre unschätzbare Hilfe angewiesen sein. Ihre Arbeit ist getan, und gut getan. Ich danke Ihnen.«

Erwartete geduldig. Lebel blinzelte rasch ein paarmal und stand auf. Er nickte der Versammlung mächtiger Männer, die über Tausende von Untergebenen und Millionen Francs zu bestimmen hatten, kurz zu. Sie erwiderten seinen Gruß mit einem freundlichen Lächeln. Er wandte sich um und verließ den Raum.

Zum erstenmal seit zehn Tagen ging Kommissar Lebel zum Schlafen nach Hause. Als er den Schlüssel ins Schloß steckte und von seiner Frau die ersten Vorwürfe zu hören bekam, schlug es Mitternacht, und der 23. August war gekommen.

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