Kapitel 5

Der Verhörraum war in hellen Farben gehalten und mit Kiefernmöbeln ausgestattet. Eine rote Gardine verdeckte das Fenster zum Kontrollraum. Kommissar Henrik Westad vom Polizeidis­trikt Buskerud fand den Raum richtig angenehm. Er war schon öfter von Drammen nach Oslo gekommen, unter anderem, um Kinder zu einer Reihe von sexuellen Übergriffen zu befragen. Bei diesen Anlässen hatten sie den Raum sogar mit Puppen ausgestattet. Jetzt ging es um Mord. Er studierte den Mann mit dem wilden Bart und den langen Haaren, der ihm gegenüber auf dem Stuhl saß. Sonny Lofthus sah jünger aus, als er war, falls das Alter in den Unterlagen korrekt war. Und er wirkte clean, seine Pupillen hatten die normale Größe. Aber das war bei Menschen mit hoher Drogentoleranz oft so.

Westad räusperte sich:

»Sie haben sie also festgebunden, eine normale Metallsäge benutzt und sind dann einfach gegangen?«

»Ja«, sagte der Mann. Er hatte keinen Anwalt gewollt und beantwortete alle Fragen ziemlich einsilbig. Irgendwann war Westad dazu übergegangen, ihm Fragen zu stellen, die man ­einfach mit Ja oder Nein beantworten konnte. Und das funk­tionierte. Natürlich funktionierte es, schließlich wollte dieser Mann ja ein Geständnis ablegen. Aber trotzdem. Westad warf noch einmal einen Blick auf die Bilder, die vor ihm lagen. Der obere Teil des Schädels war abgesägt und zur Seite geklappt worden. Er hing nur noch an einem Stück Haut. Westad musste bei diesem Foto an ein geköpftes Frühstücksei denken, obwohl die Struktur des Gehirns deutlich zu erkennen war. Er glaubte zwar schon lange nicht mehr daran, den Menschen ansehen zu können, zu welchen Grausamkeiten sie fähig waren, aber dieser Mann … er strahlte nicht annähernd die Kälte, Aggressivität und, ja, Idiotie aus, die er bei anderen grausamen Mördern gespürt hatte.

Westad lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Warum gestehen Sie?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »DNA am Tatort.«

»Woher wissen Sie, dass wir die haben?«

Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die langen, dicken Haare. Aus Hygienegründen hätte die Gefängnisleitung ihn zwingen können, sie zu schneiden. »Ich verliere Haare. Eine Folge der Drogen. Kann ich jetzt gehen?«

Westad seufzte. Ein Geständnis. Klare biologische Spuren am Tatort. Was ließ ihn hier eigentlich noch zweifeln?

Er beugte sich zum Mikrofon vor, das zwischen ihnen stand. »Das Verhör des Verdächtigen Sonny Lofthus wurde um 13.04 Uhr beendet.«

Er sah das rote Lämpchen verlöschen, wusste, dass der Techniker draußen die Aufnahme gestoppt hatte, stand auf und öffnete die Tür, so dass die Beamten hereinkommen und dem Mann wieder die Handschellen anlegen konnten, bevor sie ihn zurück ins Staten brachten.

»Was glauben Sie?«, fragte der Techniker, als Westad in den Kontrollraum kam.

»Glauben?« Westad schlüpfte in seine Jacke und zog den Reißverschluss mit einer harten, fast ärgerlichen Bewegung zu. »Er lässt einem nicht gerade viel Spielraum.«

»Ich meine das erste Verhör heute.«

Westad zuckte mit den Schultern. Eine Freundin des Opfers. Sie hatte erzählt, die Ermordete habe ihr erst kurz vor dem Mord anvertraut, dass ihr Mann sie der Untreue bezichtigt und ihr mit dem Tod gedroht habe. Eva Morsand sollte Angst gehabt haben. Berechtigte Angst, denn sie hatte tatsächlich jemanden getroffen und überlegte, ihren Mann zu verlassen. Ein klassischeres Motiv gab es kaum. Der junge Mann hingegen hatte eigentlich überhaupt kein Motiv! Die Frau war nicht vergewaltigt worden, und gestohlen worden war auch nichts. Lediglich der Apothekenschrank war aufgebrochen worden, und laut Ehemann fehlten ein paar Schlaftabletten. Aber wieso sollte jemand, der den Einstichen nach regelmäßig harte Drogen nahm, sich für Schlaftabletten interessieren?

Aber auch eine andere Frage meldete sich sofort: Warum sollte ein Ermittler, der ein Geständnis bekommen hatte, sich mit derartigen Kleinigkeiten abgeben?

Johannes Halden wischte den Boden vor den Zellen des A-Trakts, als zwei Beamte mit dem Jungen zwischen sich auf ihn zukamen. Sonny lächelte. Ohne die Handschellen hätte man meinen können, er ginge gemeinsam mit zwei Freunden zu irgendetwas Nettem.

Johannes hob den rechten Arm. »Guck mal, Sonny. Die Schulter ist wieder vollkommen in Ordnung! Nochmals danke für die Hilfe.«

Der Junge musste beide Hände heben, um dem Alten den nach oben gestreckten Daumen zu zeigen.

Die Wachleute hielten vor einer Zellentür und schlossen Sonnys Handschellen auf. Die Tür brauchten sie nicht aufzuschließen, da sich alle Zellen morgens um acht automatisch öffneten und erst abends um zehn wieder schlossen. Die Leute oben im Kontrollraum hatten Johannes gezeigt, wie sie alle Türen durch einen einfachen Tastendruck entriegeln konnten. Er mochte den Kontrollraum und wischte deshalb dort immer besonders gründlich. Es war ein bisschen so wie auf der Brücke eines Supertankers. Der Ort, an dem er eigentlich sein sollte. Vor dem »Vorfall« hatte er als Matrose gearbeitet und gerade begonnen, Nautik zu studieren. Decksoffizier hatte er werden wollen. Steuermann, Obersteuermann und dann Kapitän. Nach ein paar Jahren hätte er dann zurück zu seiner Frau und Tochter nach Farsund ziehen und als Lotse arbeiten können. Warum war das schiefgegangen? Warum hatte er all das kaputtgemacht? Was hatte ihn bewogen, die zwei großen Säcke aus dem Hafen Songkhla in Thailand mitzunehmen? Schließlich hatte er ganz genau gewusst, dass sie Heroin enthielten. Und auch der Strafrahmen und die hysterische norwegische Rechtspraxis, die zur dama­ligen Zeit Drogenschmuggel ähnlich schwer bestrafte wie vorsätzlichen Mord, war ihm bekannt gewesen. Er hatte nicht einmal die Unsummen an Geld gebraucht, die ihm versprochen worden waren, wenn er die beiden Säcke an eine Adresse in Oslo lieferte. Was also hatte ihn bewogen, das alles zu tun? War es der Kick gewesen? Oder der Traum, das bezaubernde Thaimädchen im seidenen Kleid wiederzusehen? Die glänzenden schwarzen Haare, die Mandelaugen, die Himbeerlippen und die weiche Stimme, die schwierige englische Worte geflüstert und ihn angefleht hatte, dass er das für sie und ihre Familie in Chang Rai tun müsse. Dass es die einzige Möglichkeit sei, sie zu retten. Er hatte ihr die Geschichte schon damals nicht abgenommen, wohl aber ihren Kuss. Und diesen Kuss hatte er über all die Seemeilen mit sich genommen. Sogar durch den Zoll, die Untersuchungshaft, den Gerichtssaal, die Scheidung, ja bis in den Besucherraum, in dem seine bald erwachsene Tochter ihm gesagt hatte, dass die Familie nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Bis in seine Zelle. Der Kuss und das mit ihm verbundene Versprechen war alles, was er hatte haben wollen und was ihm geblieben war.

Nach seiner Freilassung war er vollkommen allein gewesen. Die Familie hatte ihn verstoßen, die Freunde hatten sich entfernt, und auf See bekam er auch keinen Job mehr. Also hatte er sich den Leuten angeschlossen, die ihn noch haben wollten, und dort weitergemacht, wo er aufgehört hatte. Als Kurier. Rekrutiert von dem Ukrainer Nestor. Das Heroin aus Nordthailand wurde inzwischen per Lastwagen über die alte Drogenroute durch die Türkei und den Balkan transportiert. In Deutschland wurde der Stoff für die skandinavischen Länder aufgeteilt, und von dort hatte Johannes den Transport übernommen. Irgendwann hatte er dann als Spitzel angefangen.

Auch dafür hatte es eigentlich keinen konkreten Grund gegeben.

Vielleicht hatte der Polizist etwas in ihm angesprochen, von dessen Existenz er selbst nicht einmal gewusst hatte.

Auch wenn ihm die Aussicht auf ein ruhiges Gewissen nicht ganz so viel bedeutete wie der Kuss jener schönen Frau, hatte er diesem Polizisten vertraut. Seinen Augen. Vielleicht wäre Johannes tatsächlich umgekehrt, hätte aus seinem Leben etwas gemacht, wer wusste das schon. Doch dann hatte dieser Herbstabend alles zerstört. Der Polizist war getötet worden, und Johannes hatte zum ersten Mal seinen Namen gehört. Geflüstert mit einer Mischung aus Angst und Respekt: Zwilling.

Von diesem Moment an war es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis Johannes wieder im Knast landete. Er war immer größere Risiken eingegangen und hatte immer größere Mengen transportiert. Ja, er hatte es richtiggehend darauf angelegt, gefasst zu werden. Wollte büßen für das, was er getan hatte. Es war für ihn schließlich die reinste Erleichterung gewesen, als sie ihn an der schwedischen Grenze hochnahmen. Die Möbel auf der Ladefläche waren mit Heroin vollgestopft. Der Richter hatte argumentiert, dass sich die Menge der Drogen und sein wiederholtes Fehlverhalten im Strafmaß niederschlagen müsse. Das war vor zehn Jahren gewesen. Er war gleich nach der Eröffnung vor vier Jahren ins Staten gekommen. Hatte Häftlinge kommen und gehen sehen, Wachmänner, und sie alle mit dem Respekt behandelt, den sie verdienten. Und mit der Zeit war auch ihm der Respekt entgegengebracht worden, den die Älteren verdienten. Die Ungefährlichen. Schließlich wusste niemand, dass er ein Geheimnis hatte. Dass er einen Verrat begangen und sich selbst diese Strafe aufgebürdet hatte. Die Hoffnung auf das, was ihm wirklich etwas bedeutete, hatte er längst aufgegeben. Der Kuss, der ihm von einer längst vergessenen Frau versprochen worden war. Das ruhige Gewissen, das ihm ein toter Polizist in Aussicht gestellt hatte. Bis Johannes dann irgendwann in den Zellentrakt A umgezogen war und den Jungen getroffen hatte, der heilende Kräfte haben sollte. Johannes war zusammengezuckt, als er seinen Namen gehört hatte.

Aber Johannes Halden hatte nichts gesagt. Er hatte gewischt, den Blick zu Boden gesenkt, gelächelt und die kleinen Dienste erbracht und entgegengenommen, die das Leben an einem solchen Ort erträglicher machten. So waren Tage, Wochen, Monate und Jahre vergangen, sie hatten sich zu einem Leben summiert, das nun bald zu Ende gehen sollte. Krebs. Lungenkrebs. Die kleinzellige Variante, hatte der Doktor gesagt. Der aggressive Typ, der beinahe unheilbar ist, falls er nicht früh erkannt wird.

Er war nicht früh erkannt worden.

Er konnte nichts tun. Und Sonny auch nicht. Der Junge war nicht einmal ansatzweise auf seine Krankheit gekommen, als Johannes ihn danach gefragt hatte. Er hatte auf etwas in der Leistengegend getippt. Und die Schulter war bestimmt von ganz allein wieder geheilt und nicht durch Sonnys Hand, schließlich war die auch nicht wärmer gewesen als die allgemein üblichen 37 Grad. Aber der Junge war gut, das musste man ihm lassen. Und wenn er wirklich daran glaubte, diese besonderen Fähig­keiten zu haben, wollte Johannes seinen Ruf auch nicht schä­digen.

So hatte Johannes die Krankheit und alles andere für sich behalten. Aber es eilte, das wusste er. Er durfte sein Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Nicht wenn er in Frieden ruhen wollte. Er wollte nicht als lebender Toter aufwachen, von Würmern zerfressen, eingesperrt, vor sich die nicht enden wollenden Qualen. Dabei war er nicht religiös, wusste nicht, wer warum in die Hölle musste, er hatte schon so oft danebengelegen.

»Schon so oft …«, sagte Johannes Halden halblaut zu sich selbst.

Deshalb stellte er den Wischmopp ab, ging zur Tür von Sonnys Zelle und klopfte an.

Keine Antwort. Er klopfte noch einmal.

Wartete.

Dann öffnete er die Tür. Sonny hatte den Gummiriemen um seinen Oberarm geschlungen, direkt über dem Ellenbogen. Das Ende hielt er mit den Zähnen fest. Er legte die Nadel auf eine dick hervortretende Ader. Der Winkel betrug die empfohlenen 30 Grad, um eine größtmögliche Trefferquote zu haben.

Er sah ruhig auf und lächelte. »Ja?«

»Tut mir leid … das … ich kann warten.«

»Sicher?«

»Ja … es eilt nicht.« Johannes lachte. »Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es jedenfalls nicht an. In vier Stunden?«

»Vier Stunden ist gut.«

Der Alte beobachtete, wie die Spitze der Kanüle in die Ader rutschte. Dann drückte der Junge den Stempel nach unten. Stille, Dunkelheit flutete durch den Raum wie schwarzes Wasser, und Johannes wich langsam zurück und schloss die Tür.


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