Kapitel 33

Simon und Kari liefen über den weiten, sommerlich verwaisten Rathausplatz, der in der Sonne förmlich briet.

»Durch Fidel Laes Beschreibung haben wir auch den Leih­wa­gen gefunden«, sagte Kari. »Er war zurückgebracht, zum Glück aber noch nicht gewaschen worden. Die Kriminaltechnik hat Lehm gefunden, der mit dem Lehm oben am Hundezwinger übereinstimmt. Bis jetzt war ich immer davon ausgegangen, dass Lehm Lehm ist.«

»Nee, da gibt es ganz spezifische Zusammensetzungen aus verschiedenen Mineralien«, sagte Simon. »Auf welchen Namen ist der Wagen gemietet worden?«

»Sylvester Trondsen.«

»Wer ist denn das?«

»Ein dreiunddreißig Jahre alter Sozialhilfeempfänger. Das Einwohnermeldeamt hat aktuell aber keine Adresse von ihm. Trondsen hat zweimal wegen irgendwelcher Gewaltdelikte eingesessen. Die Fahnder bringen ihn mit Hugo Nestor in Verbindung.«

»Okay.« Simon blieb vor einem Hauseingang zwischen zwei Boutiquen stehen. Die Tür war hoch und breit und sah nach So­lidität und Seriosität aus. Er drückte auf einen Klingelknopf in der vierten Etage. »Sonst noch was?«

»Einer der Leute im Ila hat ausgesagt, dass der Neue in Zimmer 323 guten Kontakt zur Leiterin gehabt haben soll.«

»Zu Martha Lian?«

»Er hat beobachtet, wie sie vor kurzem gemeinsam in einem Auto vom Hospiz weggefahren sind.«

»Iversen Immobilien«, tönte es plötzlich durch die Löcher in der Messingplatte über den Klingelknöpfen.

»Ich möchte, dass Sie am Empfang warten, während ich mit Iversen rede«, sagte Simon im Fahrstuhl.

»Warum?«

»Weil ich mich nicht ganz ans Regelwerk halten werde und Sie da lieber nicht mit reinziehen will.«

»Aber …«

»Tut mir leid, fassen Sie das ruhig als Befehl auf.«

Kari verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts.

»Iver Iversen junior«, stellte sich der junge Mann vor, der sie am Empfang abholte. Er begrüßte erst Simon und dann Kari mit einem festen Händedruck. »Sie haben einen Termin mit meinem Vater.«

Der junge Mann mit der kecken Frisur wirkte auf Simon, als würde er gerne lachen und wäre jederzeit zu einem Spaß bereit. Ganz offensichtlich waren der Schmerz und die Trauer, die jetzt in seinem Blick lagen, vollkommen neu für ihn. Er wirkte in dem großen Büro deplatziert und verloren.

»Hier entlang, bitte.« Er schien von seinem Vater über den Besuch der Polizei informiert worden zu sein und nahm wie sein alter Herr an, dass es um die Ermittlungen im Mordfall seiner Mutter ging.

Vom Büro aus sah man über den alten Westbahnhof und den Fjord. Neben der Tür stand eine Glasvitrine mit dem detailgetreuen Modell eines Wolkenkratzers in Form einer Colaflasche.

Der Vater sah wie eine ältere Ausgabe seines Sohns aus. Der gleiche ordentliche Pony, glatte, gesunde Haut und helle, etwas trübe Augen. Großgewachsen, gerade Haltung, ein festes Kinn und ein direkter Blick. Er wirkte freundlich und sah Simon mit fast jugendlicher Herausforderung an. Wie selbstsicher diese ­Typen aus dem Osloer Westen wirkten, dachte der Kommissar, als wären sie alle in derselben Form gegossen worden, egal ob Widerstandskämpfer, Polarforscher, Kontiki-Besatzung oder Polizeipräsidenten.

Iver senior bat Simon, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch. Hinter ihm hing ein altes Schwarz-weißfoto von einem herrschaftlichen Stadthaus. Eindeutig Kristiania im 19. Jahrhundert, aber Simon konnte das Bild nicht wirklich zuordnen.

Simon wartete, bis der Sohn das Büro verlassen hatte, und kam dann gleich zur Sache.

»Vor zwölf Jahren wurde dieses Mädchen hier tot in einem Hinterhof im Osloer Viertel Kvadraturen gefunden. So sah sie aus, als wir sie fanden.«

Simon legte das Foto vor Iversen auf den Tisch und beobachtete genau das Gesicht des Maklers, als dieser das Bild studierte. Keine größere Reaktion.

»Ein junger Mann namens Sonny Lofthus hat damals den Mord gestanden«, sagte Simon.

»Ja und?« Noch immer keine Reaktion.

»Das Mädchen war schwanger.«

Reaktion. Er blähte die Nasenlöcher, und seine Pupillen weiteten sich.

Simon wartete ein paar Sekunden, eher er die zweite Stufe der Rakete zündete.

»Die Ergebnisse der DNA-Proben, die wir von den Zahnbürsten in Ihrem Haus genommen haben, zeigen, dass jemand aus Ihrem Hausstand der Vater des ungeborenen Kindes ist.«

Die Halsschlagader schwoll an, die Gesichtsfarbe änderte sich, und seine Augen blinzelten nun unkontrolliert.

»Sie benutzen die rote Zahnbürste, nicht wahr, Herr Iversen?«

»W… woher wissen …?«

Simon lächelte kurz und warf einen Blick auf seine Hände. »Ich habe eine junge Kollegin, sie wartet vorne am Empfang. Ihr Kopf ist ein bisschen flinker als meiner. Sie ist zu der einfachen, aber logischen Schlussfolgerung gelangt, dass bei einer Ähnlichkeit der DNA zu dem Fötus auf nur zwei von drei Zahnbürsten nicht der Sohn des Hauses der Vater sein kann. Dann gäbe es nämlich eine Ähnlichkeit mit allen in der Familie. Es kommt also nur das andere männliche Mitglied der Familie in Frage. Sie.«

Iver Iversen wurde blass, und seine gesunde Hautfarbe verschwand schließlich ganz.

»Sie werden bestimmt das Gleiche erleben, wenn Sie erst in meinem Alter sind«, sagte Simon tröstend. »Die Jungen überholen uns beim Denken.«

»Aber …«

»Nun, das ist das Problem mit dieser DNA. Da gibt es kaum Spielraum für ein Aber …«

Iversen öffnete den Mund und versuchte sich gewohnheitsgemäß an einem aufgesetzten Lächeln. Normalerweise machte er, wenn ein Gespräch an einen derart schwierigen Punkt kam, einen erlösenden, entwaffnenden Scherz, um dem Ganzen die Spitze zu nehmen, das Bedrohliche, aber jetzt gelang ihm das nicht. Sein Kopf war leer.

»Jetzt, nachdem dieser Bummelzug …«, der Polizist tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, »… etwas mehr Zeit zum Nachdenken hatte, bin auch ich ein Stück weitergekommen. Als Erstes war da natürlich der Gedanke, dass ein verheirateter Mann wie Sie selbstverständlich das beste Motiv der Welt gehabt hätte, eine schwangere Frau aus dem Weg zu räumen, die ihm nur Schwierigkeiten machen konnte. Nicht wahr?«

Iversen antwortete nicht, spürte aber, dass sein Adamsapfel für ihn das Wort ergriffen hatte.

»Damals haben natürlich auch die Zeitungen das Bild der jungen Frau abgedruckt. Die Polizei wollte wissen, ob jemand die Tote identifizieren konnte. Und wenn ihr Liebhaber und Vater ihres Kindes in einer solchen Situation schweigt und der Polizei nicht einmal einen anonymen Tipp gibt, bestätigt das natürlich einen gewissen Verdacht. Meinen Sie nicht auch?«

»Ich wusste nicht …«, begann Iversen, hielt dann aber inne. Bereute es. Und bereute wiederum, dass seine Reue so deutlich zu erkennen war.

»Sie wussten nicht, dass sie schwanger war?«, fragte der Polizist.

»Nein!«, sagte Iversen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich meine, ich wusste … ich weiß nichts davon. Ich würde jetzt gerne meinen Anwalt anrufen.«

»Sie müssen etwas darüber wissen. Aber ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Sie nicht alles wissen. Ich glaube, Ihre Frau Agnete wusste alles. Nicht wahr?«

Kefas. Hauptkommissar, hatte er sich nicht so vorgestellt? Iver Iversen griff zum Hörer seines Telefons. »Ich glaube, Sie haben nicht einen einzigen Beweis, und ich denke, dass dieses Treffen jetzt beendet ist, Herr Kefas.«

»Was Ersteres angeht, haben Sie recht. Beim zweiten Punkt irren Sie sich hingegen. Dieses Treffen ist nicht beendet. Sie wissen nämlich ganz genau, welche Brücken Sie einreißen, wenn Sie jetzt dieses Telefonat führen. Die Polizei hat keine Beweise gegen Ihre Frau, wohl aber derjenige, der sie erschossen hat.«

»Und woher soll er die haben?«

»Weil er damals der Sündenbock war, und weil er überdies seit zwölf Jahren als Beichtvater aller Kriminellen hier in der Stadt arbeitet. Er weiß alles.« Kefas beugte sich auf seinem Stuhl vor und klopfte mit dem Zeigefinger bei jeder Silbe auf die Tischplatte: »Er weiß, dass Kalle Farrisen dieses Mädchen getötet hat und dass dieser Mord im Auftrag von Agnete Iversen geschah. Er weiß das, weil er selbst für diesen Mord gebüßt hat. Die Tatsache, dass er nichts gegen Sie unternommen hat, ist der Grund, weshalb ich an Ihre Unschuld glaube. Der einzige Grund. Aber greifen Sie ruhig zum Telefon, dann machen wir alles streng nach Vorschrift. Dann verhaften wir Sie unter dem Verdacht der Beihilfe zum Mord, sagen der Presse alles, was wir über Sie und das Mädchen wissen, und unterrichten Ihre Geschäftskontakte darüber, dass Sie wohl eine Weile unabkömmlich sind. Natürlich werden wir auch Ihrem Sohn sagen müssen, dass … ja, was sollen wir Ihrem Sohn sagen?«

Was dem Sohn sagen? Simon wartete. Ließ die Frage einsinken, sich festsetzen. Sie war wichtig für das, was folgen sollte. Er musste Iversen Zeit geben, die ganze Dimension zu erkennen, die Konsequenzen, damit er für Alternativen offen sein konnte, die ihm noch vor zwei Minuten vollkommen abwegig erschienen waren. Genau wie Simon, deshalb war er schließlich hier.

Simon sah Iversens Hand fallen und hörte seine unsichere, heisere Stimme: »Was wollen Sie?«

Simon richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Sie sagen mir jetzt alles, was Sie wissen. Wenn ich Ihnen glaube, muss nicht unbedingt etwas geschehen. Agnete hat ihre Strafe ja bereits bekommen.«

»Ihre Strafe …!« Die Augen des Witwers blitzten auf, erloschen aber wieder, als sie Simons kühlem Blick begegneten.

»Okay. Agnete und ich … unsere Ehe war nicht so gut. Nicht in dieser Hinsicht. Ein Kontaktmann von mir hatte Mädchen. Asia­tische Mädchen. So bin ich Mai begegnet. Sie … sie hatte etwas, das ich brauchte. Es war nicht ihre Jugend, nicht ihre Unschuld, das alles war mir egal … sie strahlte eine Einsamkeit aus, wie ich sie von mir selber kannte.«

»Sie war eine Gefangene, Iversen, von zu Hause entführt.«

Der Immobilienmakler zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, aber ich habe sie freigekauft und ihr eine Wohnung besorgt, in der wir uns treffen konnten. Nur sie und ich. Irgendwann hat sie mir gesagt, dass sie seit Monaten ihre Menstruation nicht mehr hatte und möglicherweise schwanger war. Ich habe ihr gesagt, sie müsse das Kind wegmachen lassen, aber sie wollte nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb habe ich dann irgendwann Agnete gefragt …«

»Sie haben Ihre Frau gefragt?«

Iversen hob abwehrend die Hand. »Ja, ja. Agnete war eine erwachsene Frau. Sie hatte nichts dagegen, dass sich andere um das kümmerten, wozu sie keine Lust hatte. Sie selbst inter­essierte sich ja mehr für Frauen als für Männer, um es mal so zu ­sagen.«

»Aber sie hat Ihnen einen Sohn geschenkt?«

»In Ihrer Familie nimmt man Pflichten ernst. Und sie war eine liebevolle Mutter.«

»Eine Familie, die in Oslo mehr Immobilien besitzt als alle anderen und deren Fassade und Name derart perfekt und hochglanzpoliert ist, dass ein asiatischer Bastard natürlich nicht in Frage kam.«

»Agnete war altmodisch, ja. Ich habe sie gefragt, weil letztlich ja sie entscheiden musste, was passieren sollte.«

»Weil ihr Geld das Fundament der Firma bildet«, sagte Simon. »Und dann hat sie die Entscheidung getroffen, das Problem zu beseitigen. Ein für alle Mal.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Iversen.

»Nein, weil Sie nicht gefragt haben. Sie haben es ihr überlassen, die entsprechenden Leute zu kontaktieren. Und diese Leute brauchten schließlich einen Sündenbock, weil ein Zeuge ausgesagt hatte, jemand habe dem Mädchen in einem Hinterhof eine Spritze gesetzt. Die Spuren mussten verwischt werden, und Sie haben bezahlt.«

Iversen zuckte mit den Schultern. »Ich habe niemanden ermordet, ich halte mich bloß an meinen Teil des Deals und sage Ihnen alles, was ich weiß. Die Frage ist, ob Sie sich an Ihren ­halten.«

»Die Frage«, sagte Simon, »lautet: Wieso hatte eine Frau wie Ihre Gattin Kontakt zu jemandem wie Kalle Farrisen? Der ist wirklich Abschaum.«

»Ich habe keine Ahnung, wer Kalle Farrisen ist.«

»Nein«, sagte Simon und faltete die Hände. »Aber Sie wissen, wer der Zwilling ist.«

Für einen Augenblick breitete sich absolute Stille im Raum aus. Selbst der Verkehr draußen auf der Straße schien den Atem anzuhalten.

»Entschuldigung?«, sagte Iversen schließlich.

»Ich habe einige Jahre im Dezernat für Wirtschaftskriminalität gearbeitet«, sagte Simon. »Iversen Immobilien hat Geschäfte mit dem Zwilling unternommen. Sie haben ihm geholfen, Drogen- und Traffickinggelder zu waschen, er hat Ihnen dafür mit fiktiven, steuersparenden Geschäften Defizite in Hundert-Millionenhöhe beschafft.«

Iver Iversen schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kenne keinen Zwilling.«

»Dass Sie sich fürchten, glaube ich Ihnen aufs Wort, den Rest aber nicht«, sagte Simon. »Ich habe Beweise für Ihre Zusammenarbeit.«

»Ach ja?«, sagte Iversen und legte die Fingerkuppen aneinander. »Und warum wurde nie Anklage erhoben, wenn Sie angeblich Beweise haben?«

»Weil ich intern blockiert worden bin«, sagte Simon. »Ich weiß aber, dass der Zwilling sein Blutgeld genutzt hat, um von Ihnen Geschäftsimmobilien zu erwerben, die er Ihnen dann später zu einem viel höheren Preis wieder verkauft hat. Auf jeden Fall auf dem Papier. Den Gewinn, den er damit allem Anschein nach gemacht hatte, zahlte er anschließend auf ein Konto ein, ohne dass die Steuerbehörden dumme Frage stellten. Und Sie hatten dadurch satte Defizite, die Sie von den gemachten Gewinnen abziehen konnten, um so Steuern zu sparen. Eine Win-win-Situation.«

»Interessante Theorie«, sagte Iversen und breitete die Arme aus. »Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Gibt es sonst noch etwas?«

»Ja, ich will den Zwilling treffen.«

Iversen seufzte tief. »Aber ich kenne keinen Zwilling.«

Simon nickte bedächtig. »Wissen Sie was? Wir haben das im Dezernat für Wirtschaftskriminalität so oft gehört, dass einige schon daran gezweifelt haben, dass der Zwilling überhaupt existiert. Sie hielten ihn bloß für einen Mythos.«

»Was meiner Meinung nach durchaus zutreffen kann, Kefas.«

Simon stand auf. »Gut. Nur dass ein Mythos nicht über Jahre hinweg den Drogen- und Sexmarkt in einer ganzen Stadt dominiert, Iversen. Mythen liquidieren keine schwangeren Frauen im Auftrag ihrer Geschäftspartner.« Er beugte sich vor, presste beide Hände auf die Tischplatte und atmete aus, so dass Iversen seinen Atem roch: »Niemand ist so lebensmüde, dass er wegen eines Mythos in den Abgrund springt. Ich weiß, dass er existiert.«

Simon stemmte sich hoch und ging zur Tür, er wedelte dabei mit seinem Handy herum. »Ich berufe eine Pressekonferenz ein, sobald ich im Aufzug bin. Sie können ja inzwischen das Vater-Sohn-Gespräch führen.«

»Warten Sie!«

Simon blieb vor der Tür stehen, ohne sich umzudrehen.

»Ich werde … werde sehen, was ich tun kann.«

Simon nahm eine Visitenkarte heraus und legte sie auf die Glasvitrine. »Er und Sie haben eine Frist bis heute Abend um sechs.«

»Im Staten!«, wiederholte Simon entgeistert, als er im Aufzug stand. »Lofthus hat Franck in dessen eigenem Büro angegriffen?«

Kari nickte. »Mehr weiß ich im Moment auch noch nicht. Was hat Iversen gesagt?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Nichts. Bevor er den Mund aufmacht, will er natürlich erst seinen Anwalt anrufen. Wir müssen morgen mit ihnen reden.«

Arild Franck saß auf der Bettkante und wartete darauf, in den OP gebracht zu werden. Er trug ein hellblaues Krankenhaushemd und hatte ein Namensschild am Handgelenk. In der ersten Stunde hatte er keine Schmerzen gehabt, doch jetzt überfielen sie ihn, und die kleine Spritze, die er vom Anästhesisten bekommen hatte, war keine große Hilfe gewesen. Ihm war für die OP aber eine dicke Spritze versprochen worden, damit sein ganzer Arm betäubt war. Ein Chirurg, er hatte sich als Handchirurg vorgestellt, hatte ihm lang und breit erläutert, zu was die Mikrochir­urgie heutzutage fähig war. Außerdem sei der Finger bereits eingetroffen und die Schnittfläche so glatt, dass die Nerven schon wachsen würden, wenn der Finger erst wieder mit seinem rechtmäßigen Besitzer vereint war. In ein paar Monaten würde er ihn wieder »für alles Mögliche« benutzen können. Der Humor war bestimmt gut gemeint gewesen, war an Franck aber trotzdem abgeprallt. Irgendwann hatte er den Chirurgen unterbrochen und ihn gefragt, wie lange er denn brauche, um den Finger wieder anzunähen. Schließlich wollte Franck zurück zu seiner Arbeit. Als der Chirurg erwiderte, dass allein die OP Stunden dauern würde, hatte er zu dessen Überraschung auf die Uhr gesehen und leise, aber gut hörbar geflucht.

Die Tür ging auf, und Franck hob den Kopf. Er hoffte, dass es der Anästhesist war, denn jetzt pochten die Schmerzen nicht nur in seinem Finger, sondern im ganzen Körper, den Kopf eingeschlossen.

Aber es war niemand in Weiß oder Grün, sondern ein großgewachsener Mann in einem grauen Anzug.

»Pontius?«, sagte Franck.

»Hallo, Arild! Ich wollte nur kurz sehen, wie es dir geht.«

Franck kniff ein Auge zu. Als könnte er so besser erkennen, was der Polizeipräsident im Schilde führte. Parr setzte sich neben ihm aufs Bett. Er sah auf die bandagierte Hand und nickte.

»Tut’s weh?«

»Die wird schon wieder. Seid ihr auf der Jagd?«

Der Polizeipräsident zuckte mit den Schultern. »Lofthus ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber wir werden ihn schon finden. Was wollte er denn?«

»Was er wollte?«, schnaubte Franck. »Woher soll ich das denn wissen. Der ist auf irgendeinem seltsamen Kreuzzug.«

»Genau«, sagte Parr. »Und deshalb lautet die Frage wohl, wann und wo er zum nächsten Mal zuschlägt. Hat er dir dafür irgendeinen Hinweis gegeben?«

»Hinweis?« Franck stöhnte und winkelte den Arm etwas an. »Ich wüsste nicht, was das sein könnte.«

»Aber ihr müsst doch über irgendetwas geredet haben.«

»Er hat geredet. Ich war geknebelt. Er wollte wissen, wer der Maulwurf ist.«

»Ja, das habe ich gesehen.«

»Wie? Du hast das gesehen

»Na ja, ich weiß das durch die Zettel in deinem Büro. Die, die nicht blutgetränkt waren.«

»Du warst in meinem Büro?«

»Du, der Fall hat höchste Priorität. Der Kerl ist ein Serienmörder. Die Presse sitzt uns schon länger im Nacken, aber jetzt hat sich auch noch der Senat eingeschaltet. Da will ich selbst beteiligt sein.«

Franck zuckte mit den Schultern. »Na dann.«

»Ich habe eine Frage …«

»Ich werde gleich operiert und habe verdammte Schmerzen, Pontius. Kann das nicht warten?«

»Nein. Sonny Lofthus wurde wegen des Mordes an Eva Morsand verhört, hat die Tat aber geleugnet. Hat ihm jemand gesagt, dass Morsands Ehemann unter Verdacht stand, bis wir Lofthus’ Haare am Tatort gefunden haben? Ja dass wir sogar Beweise dafür hatten, dass Yngve Morsand der Täter ist?«

»Keine Ahnung. Warum?«

»Wäre einfach gut zu wissen.« Parr legte eine Hand auf Francks Schulter, der unter Schmerzen zusammenzuckte. »Aber konzentrier du dich jetzt mal auf deine Operation.«

»Danke, aber eigentlich ist das ja keine große Sache.«

»Nein«, sagte Parr und nahm seine rechteckige Brille ab. »Vermutlich nicht.« Dann putzte er mit etwas abwesender Miene die Brillengläser. »Du musst ja nur daliegen und alles mit dir geschehen lassen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Franck.

»Dann lass dich mal zusammenflicken.«

Franck schluckte.

»Und«, sagte Parr und setzte die Brille wieder auf, »hast du ihm gesagt, wer der Maulwurf war?«

»Dass es sein eigener Vater war, meinst du? Dass Ab Lofthus gestanden hat. Hätte ich dem Jungen das auf den Zettel geschrieben, dann hätte er mir den Kopf abgeschnitten.«

»Was hast du ihm erzählt, Franck?«

»Nichts! Was hätte ich ihm denn sagen sollen?«

»Genau das frage ich mich ja, Arild. Ich wüsste verdammt gern, warum der Junge sich so sicher war, dass du es weißt. Immerhin war er deshalb sogar bereit, in dein Gefängnis einzubrechen.«

»Der Kerl ist total verrückt, Pontius. Ein Drogenabhängiger. Die werden alle früher oder später psychotisch, das weißt du doch auch. Außerdem, der Maulwurf? Mein Gott, diese Geschichte ist doch mit Ab Lofthus untergegangen.«

»Also, was hast du ihm gesagt?«

»Wie meinst du das?«

»Er hat dir nur einen Finger abgeschnitten. Alle anderen sind ermordet worden. Du bist verschont worden, du musst ihm also was gegeben haben. Denk dran, ich kenne dich, Arild.«

Die Tür ging auf, und zwei grüngekleidete Männer kamen lächelnd herein. »Und freuen Sie sich schon?«, fragte der eine.

Parr rückte sich die Brille zurecht. »Du hast kein Rückgrat, Arild.«

Simon ging die Straße hinunter in Richtung Fjord, hielt die Nase in den Wind, lief quer durch Aker Brygge, überquerte den Munkedamsveien und kam schließlich auf den Ruseløkkveien. Vor der Kirche, die eingeklemmt zwischen den Wohnhäusern lag, blieb er stehen. Die Sankt-Pauls-Kirche war deutlich weniger auffällig als ihre Namensvettern in anderen Städten. Eine katho­lische Kirche in einem protestantischen Land. In die falsche Richtung gewandt, nach Westen, und nur mit der Andeutung eines Turms oben auf der Fassade. Drei Treppenstufen, mehr gab es nicht. Aber diese Kirche war immer auf. Er hatte hier schon einmal gestanden, an einem späten Abend, mitten in seiner schlimmsten Krisenzeit, und war dann reingegangen. Damals hatte er gerade erst alles verloren, und Else hatte ihn zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht erlöst.

Simon ging die Treppe hoch, drückte die Messingklinke nach unten, schob die schwere Tür auf und ging hinein. Er wollte die Tür schnell wieder hinter sich schließen, aber die steifen Scharniere setzten sich zur Wehr. War die Tür damals auch schon so schwergängig? Er erinnerte sich nicht daran, dafür war er seinerzeit aber auch viel zu betrunken gewesen. Er ließ die Tür los, die sich langsam, Zentimeter für Zentimeter, von allein schloss. Aber der Geruch war ihm noch vertraut. So fremd. So exotisch. Und die Atmosphäre. So voller Spiritualität. Magie und Mystik, Wahrsagerei und Tivoli. Else mochte den ­Katholizismus. Nicht wegen der Ethik, sondern wegen der Ästhetik. Sie hatte ihm erklärt, dass alles in der Kirche, die Mauersteine, der Mörtel und die Glasfenster einer religiösen Symbolik unterliegen, die schon ans Komische grenzt. Und trotzdem hatte diese einfältige Symbolik Gewicht, unterschwellige Bedeutung und war in der Geschichte verankert. Viele denkende Menschen waren davon überzeugt, dass man diese Symbolik nicht einfach von der Hand weisen konnte. Die Bankreihen füllten den schmalen, weiß gestrichenen und sparsam geschmückten Raum bis zum Altar, über dem Jesus am Kreuz hing. Die Niederlage als Symbol des Sieges. Linker Hand lag etwas erhöht der Beichtstuhl. Die eine Seite des Vorhangs war wie bei einer Fotokabine ­zugezogen. Als er damals hierhergekommen war, hatte er nicht gewusst, welche Seite des Beichtstuhls für den reuigen Sünder war. Irgendwann war er mit seinem vom Alkohol benebelten Kopf dann auf den Gedanken gekommen, dass der Pfarrer die Sünder ja nicht sehen sollte, also in der Kabine mit dem Vorhang sitzen musste. Simon hatte sich auf den Hocker der offenen Kabine gesetzt und dann auf das perforierte Holzbrett eingeredet, das die beiden Kabinen trennte. Hatte seine Sünden bekannt. Mit unnötig lauter Stimme. Irgendwie hoffte er, fürchtete aber auch, dass nebenan jemand saß und ihn hörte. Oder irgend­jemand sonst, egal wer. Hauptsache, er bekam, was er brauchte. Vergebung. Oder ein Urteil. Auf jeden Fall etwas anderes als die quälende Leere, in der er mit seinen Taten vollkommen allein war. Nichts von beidem war geschehen. Am nächsten Tag war er ­allerdings seltsam kopfschmerzlos aufgewacht. Das Leben ging einfach weiter, als wäre nichts geschehen, ja, als kümmerte sich niemand darum. Seit damals war er nie wieder im Innern einer Kirche gewesen.

Vorn am Altar stand Martha Lian zusammen mit einer resolut gestikulierenden Frau in einem eleganten Kostüm. Die moderne Kurzhaarfrisur, die sie trug, war typisch für Frauen über fünfzig, die jünger wirken wollten. Die Frau zeigte hierhin und dorthin, und Simon fing Wörter wie »Blumen«, »Zeremonie«, »Anders« und »Gäste« auf. Er war fast bei ihnen, als Martha Lian sich zu ihm umdrehte. Als Erstes fiel ihm auf, wie verändert sie wirkte. Wie leer. Wie allein. Wie unglücklich.

»Hallo«, sagte sie tonlos.

Die andere Frau verstummte.

»Entschuldigen Sie, dass ich hier einfach so auftauche«, sagte Simon. »Im Ila wurde mir gesagt, dass ich Sie hier finde. Ich hoffe, ich störe nicht bei etwas Wichtigem?«

»Nein, nein, das geht schon …«

»Doch, das tun Sie, wir planen hier gerade die Hochzeit meines Sohns mit Martha. Wenn das also warten könnte, Herr …«

»Kefas«, sagte Simon. »Und nein, das kann nicht warten. Ich bin von der Polizei.«

Die Frau sah Martha mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Siehst du, das ist wieder ein Beweis für das, was ich immer sage. Du lebst in einer seltsamen Welt, Liebes.«

»An der Sie keinen Anteil haben, Frau …?«

»Entschuldigen Sie?«

»Die Polizei und das Ila regeln das intern. Schweigepflicht und so weiter.«

Die Frau marschierte auf hart klackernden Absätzen davon, und Simon und Martha setzten sich in die erste Bank.

»Sie wurden gesehen, wie Sie gemeinsam mit Sonny Lofthus weggefahren sind«, sagte Simon. »Warum haben Sie mir das nicht erzählt?«

»Er hatte Lust, Autofahren zu lernen«, sagte Martha. »Ich habe ihn zu einem Parkplatz mitgenommen, wo wir ein bisschen geübt haben.«

»Er wird im ganzen Land gesucht.«

»Das habe ich im Fernsehen gesehen.«

»Hat er etwas gesagt oder haben Sie etwas beobachtet, das uns einen Hinweis auf seinen aktuellen Aufenthaltsort geben könnte? Denken Sie gut nach, bevor Sie diese Frage beantworten.«

Martha schien wirklich in sich zu gehen, ehe sie den Kopf schüttelte.

»Hm. Wissen Sie etwas über seine weiteren Pläne?«

»Er wollte wirklich Autofahren lernen.«

Simon seufzte und strich sich das Haar glatt. »Es ist Ihnen doch bewusst, dass Sie mit einer Anklage rechnen müssen, wenn Sie ihm helfen oder uns etwas vorenthalten?«

»Warum sollte ich das tun?«

Simon sah sie schweigend an. Sie wollte also bald heiraten. Warum sah sie dann so unglücklich aus?

»Na dann«, sagte er und stand auf.

Sie blieb sitzen und starrte auf ihren Schoß.

»Nur eins«, sagte sie.

»Ja?«

»Glauben auch Sie, dass er der kranke Mörder ist, für den ihn alle halten?«

Simon verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. »Nein«, sagte er.

»Nein?«

»Er ist nicht krank. Er bestraft Menschen. Er ist auf einer Art Rachefeldzug.«

»Aber Rache wofür?«

»Vermutlich geht es darum, dass sein Vater ein Polizist war, dem nachgesagt wurde, korrupt zu sein.«

»Er bestraft die Leute, sagen Sie …« Sie senkte die Stimme. »Ist die Strafe gerecht?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber er nimmt auf jeden Fall Rücksicht.«

»Rücksicht?«

»Er ist beim Gefängnisleiter am Arbeitsplatz, in seinem Büro aufgekreuzt. Das war verdammt dreist, und er hätte viel weniger Probleme gehabt, wenn er bei Franck zu Hause aufgekreuzt wäre.«

»Aber?«

»Aber dann wären auch Francks Frau und die Kinder in die Schusslinie geraten.«

»Unschuldige. Er will keine Unschuldigen treffen.«

Simon nickte langsam. Sah, dass in ihren Augen etwas vor­gegangen war. Wieder ein Funken glühte. Hoffnung. War das so einfach? War sie verliebt? Simon streckte sich. Sah zu der Altartafel auf, die den Erlöser am Kreuz zeigte. Dann schloss er die Augen und öffnete sie wieder. Verdammt. Das alles war eine verdammte Scheiße.

»Wissen Sie, was sein Vater, Ab, immer gesagt hat?«, fragte er und zog sich die Hose etwas hoch. »Er meinte, die Zeit der Gnade sei vorbei und der Tag des Jüngsten Gerichts längst angebrochen. Nur müssten wir diese Arbeit machen, da der Messias sich allem Anschein nach verspätet. Es gibt außer Sonny niemanden, der sie bestrafen kann, Martha. Die Osloer Polizei ist durch und durch korrupt, die schützt die Banditen. Ich glaube, Sonny tut das, weil er glaubt, es seinem Vater schuldig zu sein. Weil sein Vater für die Gerechtigkeit gestorben ist. Eine Gerechtigkeit, die über dem Gesetz steht.«

Er sah die andere Frau vor dem Beichtstuhl leise mit einem Pfarrer diskutieren.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Martha.

»Ich? Ich verkörpere das Gesetz. Und deshalb muss ich Sonny dingfest machen. So einfach ist das.«

»Und diese Frau, Agnete Iversen, was hat die für ein Verbrechen begangen?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Ich habe gelesen, dass ihr Schmuck gestohlen wurde.«

»Ja?«

»Waren dabei auch Perlenohrringe?«

»Das weiß ich nicht. Ist das wichtig?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ist es nicht. Ich denk noch mal darüber nach, ob mir was einfällt, was für Sie hilfreich sein könnte.«

»Gut«, sagte Simon und knöpfte sich die Jacke zu. Die harten Absätze näherten sich. »Wie ich sehe, gibt es bei Ihnen so einiges, worüber Sie nachdenken müssen.«

Martha sah rasch zu ihm auf.

»Bis zum nächsten Mal, Martha.«

Als Simon aus der Kirche trat, klingelte sein Handy. Er sah aufs Display. Es war eine Nummer aus Drammen.

»Kefas.«

»Hier ist Henrik Westad.«

Der Polizist, der den Mord an der Reedersfrau untersuchte.

»Ich bin in der Kardiologie des Buskeruder Zentralkrankenhauses.«

Simon kannte die Fortsetzung bereits.

»Leif Krognæss, der Zeuge mit dem Herzfehler. Sie dachten, er wäre außer Gefahr, aber …«

»Er ist ganz plötzlich gestorben«, sagte Simon, seufzte und drückte Zeigefinger und Daumen auf den Nasenrücken. »Er war allein im Zimmer, als es passierte. Und die Obduktion wird nichts Auffälliges ergeben. Und Sie rufen mich an, weil Sie nicht der Einzige sein wollen, der heute Nacht nicht schlafen kann.«

Keine Antwort von Westad.

Simon steckte das Telefon in seine Tasche. Der Wind hatte ­zugenommen, und er sah zu dem Himmel zwischen den Häuser­dächern auf. Er konnte es noch nicht sehen, spürte es aber deutlich an seinen zunehmenden Kopfschmerzen. Ein Tiefdruck­gebiet war im Anmarsch.

Das Motorrad, das vor Rover stand, sollte bald schon von den ­Toten wiederauferstehen. Es war eine Harley-Davidson Heritage Softtail, Baujahr 1989, mit einem großen Vorderrad, wie Rover es liebte. Als Rover das Motorrad bekommen hatte, war die 1340-ccm-Maschine in einem bedauernswerten Zustand gewesen, da sein Besitzer sie nicht mit der Geduld und Sorgfalt behandelt hatte, die eine H-D im Gegensatz zu ihren etwas robusteren ­japanischen Vettern brauchte. Rover hatte die Kurbelwelle, die Radlager und die Kolbenringe ersetzt und die Ventile geschliffen. Aus dem trägen 43-PS-Motorrad war so eine 1700-ccm-­Maschine mit 119 PS geworden. Rover wischte sich gerade die ­öligen Finger an der Kathedrale ab, die auf seinen Unterarm ­tätowiert war, als er merkte, dass sich das Licht veränderte. Sein erster Gedanke galt dem Wetter. Es sollten im Laufe des ­Tages Wolken aufziehen. Doch als er aufblickte, sah er den Schatten und die sich im offenen Garagentor abzeichnende Silhouette.

»Ja?«, rief Rover und wischte sich die Hände weiter ab.

Der Mann kam lautlos wie ein Raubtier auf ihn zu. Rover kalkulierte kurz, wie weit es bis zur nächsten Waffe war. Zu weit. Aber dann sollte das eben so sein. Mit diesem Leben war er fertig. Es war Bullshit, dass es schier unmöglich war, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in sein altes Leben zurückzukehren. Man musste es nur wollen. Ganz einfach. Was man wirklich wollte, schaffte man auch. War dieser Wille aber nur eine Art Selbstbetrug, um sich in ein besseres Licht zu rücken, steckte man im Handumdrehen wieder in der Scheiße.

Der Mann war jetzt so nah, dass Rover sein Gesicht erkennen konnte. War das nicht …?

»Hallo, Rover.«

Er war es.

Er streckte ihm eine vergilbte Visitenkarte von Rovers Motorradwerkstatt entgegen.

»Die Adresse stimmte. Du hast gesagt, du könntest mir eine Uzi besorgen?«

Rover starrte ihn an und wischte sich weiter die Hände ab. Er hatte Zeitung gelesen. Die Bilder im Fernsehen gesehen. Und jetzt starrte er nicht den jungen Mann aus der Zelle im Staten an, sondern seine eigene Zukunft. Die Zukunft, die er sich ausgemalt hatte.

»Du hast Nestor ausgeschaltet«, sagte Rover und zog einen Lappen zwischen seinen Fingern durch.

Der junge Mann antwortete nicht.

Rover schüttelte den Kopf. »Das bedeutet, dass jetzt nicht nur die Polizei hinter dir her ist, sondern auch der Zwilling.«

»Ich weiß, dass ich in Schwierigkeiten stecke«, sagte der Mann. »Ich kann gleich wieder gehen, wenn dir das lieber ist.«

Vergebung. Hoffnung. Eine weiße Weste. Ein neuer Start. Die meisten machten das kaputt, leisteten sich immer wieder die gleichen Fehler und fanden ständig einen Vorwand, alles an die Wand zu fahren. Sie wussten es selbst nicht, gaben sich Mühe, hatten aber verloren, bevor sie überhaupt aus den Startlöchern gekommen waren. Weil sie nicht wirklich wollten. Aber Rover wollte. Daran sollte es nicht scheitern. Er war jetzt stärker. Klüger. Aber wer aufrecht ging, riskierte natürlich auch, auf die Schnauze zu fliegen.

»Lass uns das Garagentor zumachen«, sagte Rover. »Ich glaube, es gibt Regen.«


Загрузка...