Kapitel 35
»Erinnerst du dich daran, wie wir uns das erste Mal begegnet sind?«, fragte Simon und streichelte Elses Hand, die auf der Decke lag. Die zwei anderen Patienten im Raum schliefen hinter ihren Wandschirmen.
»Nein«, sagte sie lächelnd, und er wusste in diesem Moment genau, wie die seltsam leuchtenden, klaren blauen Augen hinter der Binde funkelten. »Aber du tust das ja. Und das ist okay, du kannst es mir dann erzählen.«
Statt zu lächeln, lachte Simon leise, damit sie es hören konnte.
»Du hast damals in einem Blumenladen in Grønland gearbeitet. Und ich bin zu euch in den Laden gekommen, um Blumen zu kaufen.«
»Einen Kranz«, sagte sie. »Du wolltest einen Kranz.«
»Du warst so schön, deshalb habe ich dafür gesorgt, dass unser Gespräch länger dauerte als eigentlich nötig. Obwohl du viel zu jung warst. Aber im Laufe dieses Gesprächs wurde ich selbst wieder jung. Und am nächsten Tag bin ich noch einmal gekommen, um Rosen zu kaufen.«
»Du wolltest Lilien.«
»Natürlich. Ich wollte ja, dass du dachtest, die wären für einen Freund. Aber beim dritten Mal habe ich Rosen gekauft.«
»Und beim vierten.«
»Meine Wohnung war so voll, dass ich kaum noch atmen konnte.«
»Die waren alle für dich.«
»Die waren alle für dich. Ich habe sie bloß aufbewahrt. Und dann habe ich dich eingeladen. Eine solche Angst hatte ich mein ganzes Leben noch nicht.«
»Du hast damals so traurig ausgesehen, dass ich einfach nicht nein sagen konnte.«
»Der Trick wirkt jedes Mal.«
»Nein«, sagte sie lachend. »Du warst traurig. Ich habe aber nicht nur traurige Augen gesehen. Sondern auch ein gelebtes Leben. Die Melancholie der reifen Jahre. Eine junge Frau findet das unwiderstehlich, weißt du.«
»Du hast immer gesagt, es hätte an meinem durchtrainierten Körper gelegen und an meinem Talent zuzuhören.«
»Nein, das habe ich nicht!« Else lachte noch lauter, und Simon lachte mit. Er war so froh, dass sie ihn jetzt nicht sehen konnte.
»Erinnerst du dich noch an den Kranz, den du beim ersten Mal gekauft hast?«, fragte sie leise. »Du hast lange auf die erste Karte gestarrt, die du geschrieben hast, und sie dann weggeworfen, um gleich darauf eine neue zu schreiben. Nachdem du weg warst, habe ich die Karte aus dem Mülleimer genommen und sie gelesen. Darauf stand ›Für die Liebe meines Lebens‹. Ich glaube, das hat mich neugierig gemacht.«
»Echt? Wäre dir nicht ein Mann lieber gewesen, der die Liebe seines Lebens noch vor sich hatte?«
»Ich wollte einen Mann, der in der Lage ist wirklich zu lieben.«
Er nickte. Sie hatten sich diese Geschichte in all den Jahren so oft erzählt, dass die Antworten zu einem Ritual geworden waren, wie auch die Reaktionen und die gespielte Überraschung. Sie hatten sich einmal geschworen, einander alles zu erzählen, absolut alles, und nachdem sie geprüft hatten, wie viel Wahrheit der andere ertrug, war diese Geschichte zur seelischen Heimat ihrer Beziehung geworden. Zu den Wänden und dem Dach, die ihr Heim zusammenhielten.
Sie drückte seine Hand. »Und das konntest du, Simon. Du konntest lieben.«
»Weil du mich wieder zusammengeflickt hast.«
»Du hast dich selbst repariert. Du hast aufgehört zu spielen, nicht ich.«
»Du warst meine Medizin, Else. Ohne dich …« Simon hielt die Luft an und hoffte, dass sie sein Zittern nicht merkte. Denn er wollte nicht in diesen Teil der Geschichte einsteigen, nicht heute Abend. Nichts von den Schulden hören, durch die er sie schließlich mit in die Sache hineingezogen hatte. Er hatte das Unverzeihliche getan und ihr Haus hinter ihrem Rücken beliehen und verloren. Und sie verzieh ihm. Sie wurde nicht wütend, zog nicht aus, ließ ihn nicht im eigenen Saft schmoren und stellte ihm kein Ultimatum. Sie streichelte ihm bloß über die Wange und verzieh ihm. Er weinte wie ein Kind, und seine Scham hatte ihn innerlich verbrannt und den Hunger nach dem Kick im Schnittpunkt zwischen Hoffnung und Furcht ausgelöscht, wenn alles auf dem Spiel stand, alles gewonnen oder verloren werden konnte und der Gedanke an die katastrophale, alles entscheidende Niederlage fast ebenso verlockend war wie das Hoffen auf den Gewinn. Es stimmte, genau in dem Moment hatte er aufgehört. Er spielte nie wieder, wettete nicht einmal um ein Bier. Das hatte ihn gerettet. Rettete sie. Das und die Tatsache, dass sie sich absolut alles erzählten. Das Wissen, dass er die Fähigkeit hatte, sich selbst zu beherrschen, kombiniert mit dem Mut, einem anderen Menschen vollständige Ehrlichkeit entgegenzubringen, hatte etwas bei ihm bewirkt, ihn als Mann, als Mensch wiederauferstehen und vielleicht sogar wachsen lassen, als hätte er nie irgendwelche Laster gehabt. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er als Polizist heute nicht mehr die Einstellung vertrat, jeder Kriminelle sei unverbesserlich, und stattdessen bereit war, allen eine zweite Chance zu geben, auch wenn das seiner Erfahrung widersprach.
»Wir sind wie Charlie Chaplin und das Blumenmädchen«, sagte Else. »Rückwärts abgespielt.«
Simon schluckte. Das blinde Blumenmädchen. Das den Bettler für einen reichen Gentleman hielt. Simon wusste nicht mehr, wie der Bettler dafür gesorgt hatte, dass sie ihr Augenlicht wiederbekam. Nur dass er es anschließend nicht gewagt hatte, sich zu erkennen zu geben, weil er sich sicher war, dass sie ihn nicht haben wollte, wenn sie sah, wer er wirklich war. Und dann, als sie es erfahren hatte, liebte sie ihn trotzdem.
»Ich vertrete mir nur kurz die Beine«, sagte er und stand auf.
Es waren keine anderen Menschen auf dem Flur. Er blickte einen Moment lang auf ein Schild an der Wand, auf dem ein durchgestrichenes Handy zu sehen war. Dann nahm er sein Telefon heraus und tippte auf eine gespeicherte Nummer. Es war ein weitverbreiteter Irrglaube, dass die Polizei nicht dazu in der Lage war, eine Telefonnummer zu ermitteln, wenn man über einen Hotmail-Account eine E-Mail per Handy verschickte. Die Nummer war im Gegenteil sogar leicht zu finden gewesen.
Er spürte sein Herz so deutlich, als schlüge es direkt unter dem Schlüsselbein. Aber warum sollte der andere das Gespräch annehmen? Es gab keinen Grund dafür.
»Ja?«
Die Stimme. Fremd, aber dennoch seltsam vertraut, wie ein Echo aus einer fernen, nein, einer nahen Vergangenheit. Der Sohn. Simon musste sich zweimal räuspern, ehe es ihm gelang, seine Stimmbänder so in Schwingung zu bringen, dass Töne entstanden:
»Ich muss dich treffen, Sonny.«
»Das wäre wirklich nett …«
Nett? Aber da war keine Ironie in der Stimme.
»… ich werde aber nicht mehr lange hier sein.«
Hier? In Oslo, im Land, auf der Erde?
»Was hast du vor?«, fragte Simon.
»Ich glaube, Sie wissen das.«
»Du willst die Schuldigen finden und bestrafen. Die Leute, für die du gesessen hast. Die deinen Vater auf dem Gewissen haben. Und du willst den Maulwurf finden.«
»Mir bleibt nicht viel Zeit.«
»Aber ich kann dir helfen.«
»Danke, Simon, aber das Beste, was Sie für mich tun können, ist das, was Sie bis jetzt getan haben.«
»Aha. Und das wäre?«
»Sie haben mich nicht gestoppt.«
Eine Pause entstand. Simon horchte auf Hintergrundgeräusche, die eventuell verraten konnten, wo der Junge sich befand. Er hörte ein leises, rhythmisches Klopfen und sporadische Ausrufe oder Schreie.
»Ich glaube, Sie wollen das Gleiche wie ich, Simon.«
Simon schluckte. »Erinnerst du dich an mich?«
»Ich muss jetzt gehen.«
»Dein Vater und ich …«
Aber die Verbindung war bereits beendet.
»Danke, dass Sie kommen konnten.«
»Ist doch kein Problem, Kumpel«, sagte Pelle und musterte den jungen Mann im Rückspiegel. »Das Taxameter eines Taxifahrers läuft nur etwa während 30 Prozent seiner Arbeitszeit, es ist also nur gut für mich und meine Finanzen, dass Sie angerufen haben. Wohin darf ich Sie fahren?«
»Ullern.«
Der Mann hatte beim letzten Mal um Pelles Visitenkarte gebeten. Fahrgäste machten das manchmal, wenn sie zufrieden waren, aber es passierte nur selten, dass jemand auch wirklich anrief. Es war einfach zu leicht, über die Zentrale oder auf offener Straße ein Taxi zu finden. Warum der Mann ausgerechnet Pelle wollte und ihn extra aus Gamlebyen hierher nach Kvadraturen vor das zwielichtige Hotel Bismarck bestellt hatte, verstand er nicht.
Der junge Mann trug einen feinen Anzug, so dass Pelle ihn zuerst gar nicht erkannt hatte. Etwas war anders. Er hatte noch immer dieselbe rote Tasche, außerdem aber noch einen Aktenkoffer. In der Tasche hatte etwas aus Metall geklappert, als er sie auf den Sitz fallen ließ.
»Sie sehen glücklich aus auf dem Bild«, sagte der junge Mann. »Ist das Ihre Frau?«
»Oh ja, das«, sagte Pelle und spürte, wie er rot wurde. Niemand hatte dieses Bild je kommentiert. Es hing aber auch links unter dem Lenkrad, damit die Fahrgäste es nicht sahen. Es freute ihn aber, dass der Mann bemerkt hatte, dass sie glücklich waren. Dass sie glücklich war. Er hatte nicht das beste Bild von ihnen beiden ausgewählt, sondern das, auf dem sie am glücklichsten aussah.
»Sie macht heute Abend bestimmt Hackbällchen«, sagte er. »Und anschließend gehen wir vielleicht noch in den Kampenpark. Da geht immer so ein angenehmes Lüftchen, wenn es so warm ist wie heute.«
»Hört sich toll an«, sagte der Mann. »Es ist echt ein Segen, wenn man eine Frau getroffen hat, mit der man sein Leben teilen kann, nicht wahr?«
»Stimmt«, sagte Pelle und sah in den Rückspiegel. »Da haben Sie wirklich recht.«
In der Regel sorgte er dafür, dass die Kunden redeten. Er mochte es, wenn er während der kurzen Fahrt an ihrem Leben teilhaben konnte. Am Familienleben mit Frau und Kindern. Arbeit und Hauskredit. Sich die großen und kleinen Freuden und Sorgen einer Familie für einen Moment auszuborgen und nicht über sich selbst reden zu müssen, wie es so viele Taxifahrer taten. Irgendwie war auf seltsame Weise eine Art Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, ja, er mochte es richtiggehend, mit diesem jungen Mann zu reden.
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Pelle. »Haben Sie die Richtige schon gefunden?«
Der junge Mann schüttelte lächelnd den Kopf.
»Oh? Niemanden, bei dem Ihr Herz schneller schlägt?«
Der Junge nickte.
»Doch! Wie schön, das ist sicher gut für Sie beide.«
Der Kopf des Jungen bewegte sich wieder in die andere Richtung.
»Nein? Sagen Sie nicht, dass die Frau Sie nicht will? Sie haben nicht gerade einen guten Eindruck gemacht, als Sie damals an die Hauswand gekotzt haben, aber jetzt … in diesem Anzug …«
»Danke«, sagte der Mann. »Aber ich fürchte, ich muss sie mir aus dem Kopf schlagen.«
»Warum? Haben Sie ihr gesagt, dass Sie sie lieben?«
»Nein, sollte man das tun?«
»Immer, am besten mehrmals täglich. Stellen Sie sich das wie Sauerstoff vor, der verliert auch nicht seinen guten Geschmack. Ich liebe dich, ich liebe dich, versuchen Sie es mal, dann verstehen Sie, was ich meine.«
Auf dem Rücksitz blieb es für eine Weile still, dann erklang ein Räuspern.
»Woher … weiß man, ob jemand einen liebt, Pelle?«
»Man weiß es einfach. Es ist die Summe all der kleinen Dinge, die man nicht greifen kann. Die Liebe umschließt einen wie eine Dampfdusche. Sie sehen die einzelnen Tropfen nicht, aber Ihnen wird warm. Und Sie werden nass und sauber.« Pelle lachte, überrascht und fast ein bisschen stolz auf die eigenen Worte.
»Und Sie duschen noch immer in ihrer Liebe und sagen ihr jeden Tag, dass Sie sie lieben?«
Pelle hatte das Gefühl, dass diese Fragen nicht spontan waren, sie klangen, als hätte dieser Mann sich vorgenommen, ihn das alles zu fragen. Vielleicht hatte es mit dem Bild von ihm und seiner Frau zu tun, das er ja auch schon auf einer der früheren Fahrten gesehen haben konnte.
»Oh ja«, sagte Pelle und spürte, dass er etwas im Hals hatte, irgendetwas saß quer. Er hustete hart und schaltete das Radio ein.
Die Fahrt nach Ullern dauerte eine Viertelstunde. Der junge Mann nannte Pelle eine Adresse in einer der Straßen, die in Kurven nach oben in Richtung Ullernåsen führten. Die Holzvillen dort erinnerten eher an Forts als an Einfamilienhäuser. Der Asphalt war nach dem Regen bereits wieder getrocknet.
»Halten Sie hier bitte an.«
»Aber die Einfahrt ist da vorne.«
»Ist schon gut hier.«
Pelle fuhr an den Straßenrand. Das Haus war von einer hohen weißen Mauer umgeben, auf der Glassplitter glänzten. Die riesige zweigeschossige Villa thronte oben in einem weitläufigen Garten. Von der Terrasse vor dem Haus war Musik zu hören, und in allen Fenstern brannte Licht. Auch der Garten war hell erleuchtet. Vor der Einfahrt standen zwei kräftige, breitschultrige Männer in schwarzen Anzügen, der eine hielt einen großen weißen Hund an der Leine.
»Wollen Sie zu einem Fest?«, fragte Pelle und rieb sich den schmerzenden Fuß. Manchmal meldeten sich diese Schmerzen ganz unvermittelt.
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Hier würde mich wohl niemand einladen.«
»Kennen Sie die Leute, die hier wohnen?«
»Nein, aber ich habe die Adresse erfahren, als ich im Gefängnis saß. Der Zwilling. Haben Sie schon mal von ihm gehört?«
»Nein«, sagte Pelle. »Aber da Sie ihn nicht kennen, kann ich ja sagen, dass ich es nicht richtig finde, wenn manche Menschen so viel Geld haben. Sehen Sie sich mal dieses Haus an! Mann, wir sind in Norwegen und nicht in den USA oder in Saudi-Arabien. Wir hier oben auf den kargen Felsen im Norden hatten immer etwas, was uns von den anderen Ländern unterschieden hat. Eine Art Gleichheit. Eine Art Gerechtigkeit. Und jetzt sind wir im Begriff, uns all das selbst zu nehmen.«
Aus dem Garten war Hundegebell zu hören.
»Ich glaube, Sie sind ein kluger Mann, Pelle.«
»Ach, ich weiß nicht. Warum waren Sie im Gefängnis?«
»Um Frieden zu finden.«
Pelle betrachtete das Gesicht des Mannes im Spiegel. Irgendwie kam es ihm so vor, als hätte er dieses Gesicht schon einmal woanders gesehen, nicht nur hier in diesem Taxi.
»Lassen Sie uns hier wegfahren«, sagte der Mann.
Als Pelle wieder nach vorne sah, bemerkte er, dass der Mann mit dem Hund auf sie zukam. Beide hatten den Blick auf das Auto gerichtet und waren so mit Muskeln bepackt, dass sie kaum geradeaus laufen konnten.
»Okay«, sagte Pelle und setzte den Blinker. »Wohin?«
»Haben Sie sich von ihr verabschiedet?«
»Was?«
»Von Ihrer Frau.«
Pelle blinzelte. Er sah, dass sich der Mann und der Hund näherten. Die Frage hatte ihn wie ein Faustschlag in den Magen getroffen. Er warf noch einmal einen Blick auf den Mann auf dem Rücksitz. Wo hatte er ihn schon einmal gesehen? Dann hörte er das Knurren. Der Hund hatte sich bereits zum Sprung zusammengekauert. Er hatte den Mann schon einmal gefahren, wahrscheinlich war es das. Die Erinnerung an eine Erinnerung. Zu der auch sie geworden war.
»Nein«, sagte Pelle und schüttelte den Kopf.
»Dann war es keine Krankheit?«
»Nein.«
»Ein Unfall?«
Pelle schluckte. »Ja. Ein Autounfall.«
»Wusste sie, dass Sie sie lieben?«
Pelle öffnete den Mund, merkte aber, dass er nichts über die Lippen bringen würde, und nickte nur.
»Es tut mir leid, dass sie Ihnen genommen wurde, Pelle.«
Er spürte die Hand des Mannes auf seiner Schulter. Und plötzlich war es so, als strahlte sie eine Wärme aus, die sich in Pelles Brust, in seinem Bauch und in den Armen und Beinen ausbreitete.
»Wir sollten fahren, Pelle.«
Pelle wurde sich erst jetzt bewusst, dass er die Augen geschlossen hatte, und als er sie wieder öffnete, kam der Mann mit dem Hund gerade um das Auto herum. Pelle gab Gas, ließ die Kupplung kommen und hörte das wütende Bellen des Hundes hinter ihnen.
»Wohin fahren wir?«
»Wir besuchen einen Mann, der sich des Mordes schuldig gemacht hat«, sagte der Mann und zog die rote Tasche zu sich herüber. »Aber erst müssen wir etwas abliefern.«
»Zu wem also?«
Der junge Mann lächelte seltsam traurig. »Zu jemandem, von dem ich mir vorstellen könnte, ein Bild am Armaturenbrett zu haben.«
Martha stand an der Arbeitsplatte und goss Kaffee in die Thermoskanne. Sie versuchte, die Stimme ihrer Schwiegermutter auszusperren und stattdessen zu hören, worüber die anderen Gäste im Wohnzimmer redeten. Aber es war unmöglich, ihre Stimme war zu fordernd, zu eindringlich:
»Anders ist ein sensibler Mann, weißt du. Viel gefühlvoller als du. Du bist die Starke von euch beiden. Deshalb musst du auch die Initiative ergreifen und …«
Ein Auto blieb vor dem Haus stehen. Ein Taxi. Ein Mann in einem eleganten Anzug stieg aus, in der Hand eine Aktentasche.
Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde stehenbleiben. Es war er.
Er öffnete das Gartentor und ging über den kurzen gekiesten Weg zur Haustür.
»Entschuldige mich«, sagte Martha, stellte die Thermoskanne mit einem Knall ins Spülbecken und versuchte, möglichst unauffällig die Küche zu verlassen.
Es waren nur wenige Meter, trotzdem rang sie nach Atem, als sie die Tür aufriss, bevor er klingeln konnte.
»Wir haben Gäste«, flüsterte sie mit einer Hand auf der Brust. »Und du wirst gesucht. Was willst du?«
Er sah sie mit seinen so verdammt klaren grünen Augen an. Er hatte sich die Augenbrauen abrasiert.
»Ich will dich um Verzeihung bitten«, sagte er. Leise und ruhig. »Und ich will dir den geben. Für das Hospiz.«
»Was ist das?«, fragte sie und starrte auf den Aktenkoffer, den er in der Hand hielt.
»Für die Renovierung, die ihr euch nicht leisten könnt. Jedenfalls für einen Teil.«
»Nein!« Sie warf einen Blick über ihre Schulter und senkte die Stimme: »Was fehlt dir eigentlich? Glaubst du wirklich, dass ich dein Blutgeld annehme? Du hast gemordet. Die Ohrringe, die du mir geschenkt hast …« Martha schluckte, schüttelte fest den Kopf und spürte die kleinen, wütenden Tränen, die ihr auf die Wangen tropften. »Sie haben … haben einer Frau gehört, die du ermordet hast!«
»Aber …«
»Verschwinde!«
Er nickte. Ging eine Stufe nach unten. »Warum hast du der Polizei nichts von mir gesagt?«
»Wer sagt, dass ich das nicht getan habe?«
»Warum hast du es nicht getan, Martha?«
Sie verlagerte ihr Gewicht. Hörte, dass hinter ihr ein Stuhl gerückt wurde. »Vielleicht, weil ich aus deinem Mund hören wollte, warum du all diese Menschen umgebracht hast.«
»Würde es einen Unterschied machen, wenn du es wüsstest?«
»Ich weiß es nicht. Was meinst du?«
Er zuckte mit den Schultern: »Wenn du mich bei der Polizei melden willst: Ich bin heute Nacht im Haus meines Vaters. Danach verschwinde ich.«
»Warum sagst du mir das?«
»Weil ich will, dass du mitkommst. Weil ich dich liebe.«
Sie blinzelte. Was sagte er da?
»Ich liebe dich«, wiederholte er langsam und sah aus, als überraschten ihn die eigenen Worte.
»Mein Gott!«, stöhnte sie verzweifelt. »Du bist doch verrückt!«
»Ich gehe jetzt.« Er drehte sich zum Taxi um, das mit laufendem Motor wartete.
»Warte! Wohin gehst du?«
Er drehte sich halb zu ihr um und lächelte schief. »Jemand hat mir von einer schönen Stadt unten im Süden erzählt. Ein weiter Weg, aber …« Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, und sie wartete. Wartete und hoffte darauf, dass er es sagte. Was es war, wusste sie nicht, nur dass dieses Wort, wenn es das richtige war, sie erlösen würde. Aber nur er konnte dieses Wort sagen, konnte wissen, welches Wort es war.
Stattdessen deutete er eine Verbeugung an, drehte sich um und ging zum Gartentor.
Martha wollte ihm etwas hinterherrufen, aber was? Es war verrückt. Eine idiotische Schwärmerei. Etwas, das nicht wirklich existierte, das in ihrem realen Leben nicht existieren durfte. Die Wirklichkeit war da drinnen, auf der anderen Seite, im Wohnzimmer hinter ihr. Sie schloss die Tür, drehte sich um und sah direkt in das wutverzerrte Gesicht von Anders.
»Weg!«
»Anders, nicht …«
Er stieß sie zur Seite, riss die Tür auf und stürmte nach draußen.
Martha rappelte sich hoch und kam gerade noch so rechtzeitig vors Haus, dass sie sah, wie Anders ihn einholte und ihm auf den Hinterkopf schlagen wollte. Aber Stig musste Anders kommen gehört haben, denn er tauchte ab, drehte sich wie in einer Pirouette um und schlang die Arme um Anders. Anders schrie wutentbrannt: »Ich werde dich umbringen!«, versuchte loszukommen, aber seine Arme steckten wie in einem Schraubstock fest. Er war hilflos. Dann ließ Stig Anders ebenso plötzlich wieder los und blieb mit passiv herabhängenden Armen vor ihm stehen. Anders sah ihn zuerst nur verdutzt an. Dann holte er zum Schlag aus. Und schlug. Er hob die Hand erneut und schlug wieder zu. Es war kaum etwas zu hören. Nur das dumpfe Klatschen von Knöcheln auf Fleisch und Knochen.
»Anders!«, schrie Martha. »Anders, hör auf!«
Beim vierten Schlag platzte die Haut über dem Wangenknochen des jungen Mannes. Beim fünften Schlag ging er in die Knie.
Die Tür auf der linken Seite des Taxis öffnete sich, und der Fahrer wollte aussteigen, aber der junge Mann hob den Arm, um ihm zu signalisieren, dass er sich heraushalten sollte.
»Verdammter Feigling!«, schrie Anders. »Verdammter Ehebrecher!«
Der junge Mann hob den Kopf, als wollte er Anders einen besseren Winkel bieten, und drehte ihm die noch unverletzte Wange zu. Anders trat. Sonnys Kopf schnellte zurück, und er sackte mit ausgebreiteten Armen nach hinten, wie ein Fußballspieler, der im Triumph auf den Knien über den Rasen rutscht. Anders musste mit seiner scharfen Schuhsohle die Stirn getroffen haben, denn das Blut strömte aus einem langen Riss unter dem Haaransatz. Als die Schultern des Mannes den Kies berührten und seine Jacke zur Seite rutschte, sah Martha, wie Anders mitten im Anlauf zu einem weiteren Tritt innehielt. Er starrte auf den Gürtel des Mannes wie sie auch. Dort steckte eine silberglänzende Waffe. Sie musste die ganze Zeit dort gewesen sein, doch der junge Mann hatte nicht nach ihr gegriffen.
Martha legte eine Hand auf Anders’ Schulter, und er zuckte zusammen, als wachte er aus einem Traum auf.
»Geh rein!«, sagte sie. »Jetzt!«
Er blinzelte sie verwirrt an. Dann gehorchte er. Ging an ihr vorbei und lief die Treppe hoch, auf der sich die anderen Gäste versammelt hatten.
»Rein!«, schrie Martha. »Das ist einer aus dem Ila. Ich kümmere mich um ihn. Los, geht schon rein!«
Martha hockte sich neben Sonny. Das Blut rann aus dem Cut auf der Stirn bis über den Nasenrücken. Er atmete mit offenem Mund.
Eine schneidende, fordernde Stimme kam von der Treppe: »Aber Liebes, ist das denn nötig? Du hörst doch ohnehin auf, wenn Anders und du …«
Martha schloss die Augen und spannte die Bauchmuskeln an: »Halt die Fresse und geh rein!«
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er lächelte. Und dann flüsterte er mit blutigen Lippen, so leise, dass sie sich tief über ihn beugen musste:
»Er hat recht, Martha. Man kann wirklich spüren, wie die Liebe einen reinwäscht.«
Dann stand er auf. Blieb noch einen Moment schwankend stehen und taumelte durch das Gartentor zum Taxi.
»Warte!«, rief sie und packte den Aktenkoffer, der noch auf dem Kies lag.
Aber das Taxi war bereits angefahren und verschwand weiter unten hinter den letzten Villen im Dunkeln.