Kapitel 34

Regen hämmerte gegen die Windschutzscheibe, als Simon den Zündschlüssel abzog und vom Parkplatz zum Eingang des Krankenhauses spurten wollte. Direkt vor seinem Auto stand ein blonder Mann in einer Art Frack. Der Regen spritzte von der Motorhaube hoch, so dass Simon ihn nicht richtig erkennen konnte. Dann wurde die Tür auf der Fahrerseite geöffnet, und ein anderer, ein dunkelhaariger Mann bat ihn mitzukommen. Simon sah auf die Uhr des Armaturenbretts. Vier. Zwei Stunden vor Ablauf der Frist.

Die beiden Männer fuhren ihn nach Aker Brygge, einem Geschäftsviertel mit Läden und Büros, mit einigen der teuersten Wohnungen Oslos und gut fünfzig Restaurants, Bars und Cafés. Sie liefen über die Uferpromenade, als die Fähre aus Nesodden anlegte, bogen dann in eine kleine Gasse ein und verschwanden über eine schmale Treppe nach unten. Vor ihnen befand sich eine Tür mit einem Bullauge, das man vermutlich mit Fisch und Meeresfrüchten assoziieren sollte. Neben der Tür hing ein kleines Schild mit der ungewöhnlich diskreten Aufschrift »Restaurant Nautilus«. Einer der Männer hielt Simon die Tür auf, und sie betraten einen schmalen Eingangsbereich, wo sie den Regen von den Kleidern schüttelten und ihre Mäntel an eine unbewachte Garderobe hängten. Es war niemand zu sehen, und Simons erster Gedanke war, dass dieses Restaurant ein Ort war, an dem man perfekt Geld waschen konnte. Nicht zu groß, aber gut und teuer gelegen, so dass gewisse Einnahmen realistisch waren. Außerdem stellte ohnehin niemand Fragen, wenn Gewinne versteuert wurden.

Simon war nass. Wenn er die Zehen in den Schuhen bewegte, gluckste es leise. Aber er fror nicht.

Der Speisesaal wurde durch ein großes längliches Aquarium zweigeteilt, das die einzige Lichtquelle im Raum war. An einem Tisch ganz vorne saß jemand mit dem Rücken zum Aquarium. Er war ungewöhnlich groß.

Simon fror beim Anblick dieses Mannes.

Er hatte ihn noch nie gesehen, zweifelte aber keine Sekunde daran, wer es war.

Der Zwilling.

Der Mann schien den ganzen Raum auszufüllen. Simon wusste nicht, was den Mann in die Lage versetzte, über so viele Schicksale zu bestimmen. War es die schiere Größe, die ungeheure Präsenz oder die Macht und der Reichtum, die er verkörperte? Oder ließen ihn all die Geschichten, die sich um ihn rankten, überlebensgroß wirken? Das Gepäck aus Tod, sinnloser Gewalt und Zerstörung?

Der Mann deutete kaum sichtbar auf den Stuhl, der bereits etwas zurückgezogen worden war. Simon setzte sich.

»Simon Kefas«, sagte der Mann und strich sich mit dem Zeigefinger über die Unterseite des Kinns.

Große Männer hatten oft überraschend helle Stimmen.

Nicht so der Zwilling.

Sein Bass war so tief und laut, dass sich auf dem Wasserglas, das vor Simon stand, Ringe bildeten.

»Ich weiß, was Sie wollen, Kefas.« Er ließ die Muskeln spielen, und die Nähte des Anzugs drohten zu platzen.

»Und das wäre?«

»Geld für Elses Augenoperation.«

Simon schluckte, als er den Namen seiner geliebten Frau aus dem Mund dieses Mannes hörte.

»Die Frage ist nur, was Sie zu verkaufen haben.«

Simon nahm sein Telefon heraus, schaltete den Lautsprecher ein und aktivierte die Mailbox, bevor er das Handy auf den Tisch legte. Die Stimme der Tondatei, die er empfangen hatte, klang metallisch: »… die Frage ist nur, welches Konto und auf welchen Namen Nestor Sie bezahlt hat. Wenn ich Sie wäre, würde ich gut nachdenken, bevor ich antworte.« Pause. Dann war eine andere Stimme zu hören: »Das war ein Firmenkonto. Dennis Limited, registriert auf den Cayman Islands.« »Und die Kontonummer?« Erneute Pause. »Acht, drei, null.« »Langsamer. Und deutlicher.« »Acht, drei, null, acht …«

Simon drückte auf Stop. »Ich gehe davon aus, dass Sie erkannt haben, wer auf diese Fragen geantwortet hat.«

Die Geste, mit der der Große antwortete, konnte alles Mögliche bedeuten. »Und das wollen Sie verkaufen?«

»Mir ist diese Aufnahme über ein Hotmail-Konto zugeschickt worden, das ich noch nicht aufspüren konnte. Allerdings habe ich es auch noch nicht versucht. Vorläufig weiß nämlich nur ich von dieser Aufnahme. Wenn publik wird, dass der Gefängnisleiter …«

»Stellvertretender Gefängnisleiter.«

»… des Staten ein geheimes Konto hat, über das er Geld von Hugo Nestor bekommt … Ich habe die Kontonummer überprüft, die Informationen stimmen.«

»Und wieso sollte das für mich wichtig sein?«

»Für Sie ist wichtig, dass ich damit nicht zur Polizei gehe und Sie einen wichtigen Mitarbeiter verlieren.« Simon räusperte sich. »Noch einen wichtigen Mitarbeiter.«

Der Große zuckte mit den Schultern. »Ein stellvertretender Gefängnisleiter kann ersetzt werden. Es hat ohnehin den Anschein, als wäre Franck langsam am Ende. Was haben Sie sonst noch, Kefas?«

Simon schob die Unterlippe vor. »Ich habe Beweise, dass Sie mit Hilfe von Iversen Immobilien Geld gewaschen haben. Und ich habe DNA-Beweise, die Iver Iversen senior in Verbindung mit einem vietnamesischen Mädchen bringen. Sie haben das Mädchen importiert und ermordet, die Schuld an diesem Mord hat dann Sonny Lofthus auf sich genommen.«

Der Große strich sich mit zwei Fingern unter dem Kinn entlang. »Ich habe davon gehört. Reden Sie weiter.«

»Ich kann dafür sorgen, dass in keinem dieser Fälle ermittelt wird, wenn ich das Geld für die Augenoperation bekomme.«

»Von wie viel reden wir?«

»Zwei Millionen Kronen.«

»Diese Summe hätten Sie doch auch direkt von Iversen erpressen können. Warum kommen Sie deshalb zu mir?«

»Weil ich mehr als Geld will.«

»Was?«

»Ich will, dass Sie Ihre Jagd auf den Jungen einstellen.«

»Auf den Lofthus-Sohn? Warum?«

»Weil Ab Lofthus ein Freund war.«

Der Große sah Simon eine Weile an. Dann lehnte er sich zurück und klopfte mit dem Finger gegen das Glas des Aquariums.

»Sieht aus wie ein gewöhnliches Aquarium, nicht wahr? Aber wissen Sie, was der graue sprottenähnliche Fisch kostet, Kefas? Nein, das wissen Sie nicht. Es wäre auch gar nicht gut, wenn das Dezernat für Wirtschaftskriminalität darüber Bescheid wüsste, dass bestimmte Sammler bereit sind, Millionen von Kronen für einen solchen Fisch zu zahlen. Er ist weder besonders beeindruckend noch hübsch, dafür aber ungeheuer selten. Deshalb richtet sich der Preis immer nach dem Wert, den der Fisch für eine ganz bestimmte Person hat – für den Meistbietenden.«

Simon rutschte auf seinem Stuhl herum.

»Der Punkt ist«, sagte der Große, »ich will diesen Lofthus-Jungen. Er ist ein seltener Fisch, und er hat für mich einen größeren Wert als für alle anderen. Weil er meine Leute umgebracht und mir mein Geld gestohlen hat. Glauben Sie, ich würde diese Stadt seit zwanzig Jahren regieren, wenn ich den Leuten so etwas hätte durchgehen lassen? Er hat sich selbst zu dem Fisch gemacht, den ich haben muss. Tut mir leid, Kefas. Das Geld können wir Ihnen geben, aber der Junge gehört mir.«

»Der Junge will nur den Maulwurf, der seinen Vater verraten hat, dann verschwindet er.«

»Den kann er von mir aus gerne haben, für mich hat er oder sie ohnehin keine Bedeutung mehr. Dieser Maulwurf hat nämlich vor zwölf Jahren seine Tätigkeit eingestellt. Aber nicht einmal ich habe jemals herausgefunden, wer der Maulwurf war. Geld und Informationen wurden anonym ausgetauscht, und mir war das nur recht, ich habe bekommen, wofür ich gezahlt habe. Und das kriegen Sie auch, Kefas. Das Augenlicht Ihrer Frau, okay?«

»Wie Sie wollen«, sagte Simon und stand auf. »Wenn Sie weiter hinter dem Jungen herjagen, beschaffe ich mir das Geld anderweitig.«

Der Große seufzte tief. »Sie haben Ihre Verhandlungsposition wohl falsch eingeschätzt, Kefas.«

Simon sah, dass auch der Blonde sich erhoben hatte.

»Als erfahrener Spieler sollten Sie doch wissen, dass man seine Karten genau bewerten muss, bevor man seinen Einsatz macht«, sagte der Große. »Denn hinterher ist es zu spät, habe ich recht?«

Simon spürte die Hand des Blonden auf der Schulter und widerstand dem Impuls, sie wegzuschlagen. Er setzte sich wieder. Der Große beugte sich zu ihm vor. Er roch nach Lavendel.

»Iversen hat mir von den DNA-Proben erzählt, mit denen Sie ihm gekommen sind. Und dann gibt es da noch diese Tonaufzeichnung. Und das heißt ja wohl, Sie haben Kontakt zu dem Jungen. Und das bedeutet wiederum, dass Sie uns diesen Mann liefern werden. Und das Geld, das er uns gestohlen hat.«

»Und wenn ich nein sage?«

Der Große seufzte wieder: »Wovor haben wir alle Angst, wenn wir alt werden, Kefas? Allein zu sterben, nicht wahr? Das ist doch wohl der eigentliche Grund, weshalb Sie verhindern wollen, dass Ihre Frau erblindet. Sie wollen, dass Sie gesehen werden, wenn Sie sterben. Weil Sie glauben, dass Sie dann nicht so einsam sind. Nun stellen Sie sich doch mal ein Totenbett vor, das noch ein­samer ist, ohne eine blinde, aber immerhin lebendige Frau daneben …«

»Was?«

»Bo, zeig es ihm.«

Der Blonde hielt Simon ein Handy hin. Das Display zeigte ein Foto. Er erkannte das Krankenhauszimmer wieder. Das Bett. Die schlafende Frau in den Kissen.

»Das Interessante daran ist nicht, dass wir wissen, wo sie jetzt ist«, sagte der Große, »sondern dass wir sie gefunden haben. Nur Stunden, nachdem Iversen Kontakt zu uns aufgenommen hatte. Sie können daraus ableiten, dass wir sie finden werden, wo auch immer Sie sie verstecken.«

Simon sprang von seinem Stuhl auf, die rechte Hand schoss nach vorn zur Kehle des Mannes, landete aber in einer Faust, die sie leicht wie einen Schmetterling gefangen hatte und jetzt mehr und mehr zusammendrückte.

»Sie sollten sich gut überlegen, wer Ihnen wichtiger ist, Kefas. Die Frau, mit der Sie sich das Haus teilen, oder dieser verwilderte Hund, den Sie adoptiert haben.«

Simon schluckte. Versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, das Knirschen seiner Fingerknochen und Gelenke. Er wusste aber, dass seine Tränen ihn entlarvten. Er blinzelte einmal. Zweimal. Und spürte den warmen Tropfen auf seiner Wange.

»Sie muss innerhalb von zwei Tagen in die USA überführt werden«, flüsterte Simon. »Ich brauche das Geld bei der Übergabe in bar.«

Der Zwilling ließ ihn los, und Simon wurde schwarz vor Augen, denn als das Blut wieder in seine Finger floss, steigerten sich die Schmerzen.

»Sie sitzt im Flugzeug, sobald Sie den Jungen und das Diebesgut abgeliefert haben«, sagte der Große.

Der Blonde führte Simon nach draußen. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war noch immer feucht und schwer.

»Was machen Sie mit ihm?«, fragte Simon.

»Das möchten Sie nicht wissen«, sagte der Blonde lächelnd. »Aber danke für den Handel.«

Die Tür wurde hinter Simon geschlossen und verriegelt.

Draußen wurde es dunkel. Simon ließ die Gasse schnell hinter sich und rannte los.

Martha hockte vor ihrem Rindersteak und starrte über die hohen Weingläser, die Köpfe auf der anderen Seite des Tisches, die Familienbilder auf dem Fensterbrett und die regenschweren Apfelbäume im Garten in den Himmel und die beginnende Dunkelheit.

Anders’ Rede war schön. Daran gab es keinen Zweifel, eine der Tanten hatte sich sogar eine Träne weggewischt.

»Martha und ich haben uns für eine Heirat im Winter entschieden«, sagte er. »Weil wir wissen, dass unsere Liebe alles Eis zum Schmelzen bringt, weil die Herzen unserer Freunde jedes Fest­lokal erwärmen und weil die Fürsorge, die Klugheit und der Halt, den uns unsere Familien geben, uns genug Licht schenken, um auch auf dunklen Winterpfaden zurechtzukommen. Aber natürlich gibt es auch einen ganz konkreten Grund …« Anders nahm das Weinglas und wandte sich zu Martha, der es erst im letzten Moment gelang, sich vom Abendhimmel loszureißen und sein Lächeln zu erwidern: »Wir schaffen es ganz einfach nicht, bis zum Sommer zu warten!«

Freudiges Lachen und Applaus erfüllten den Raum.

Anders nahm ihre Hand. Drückte sie fest, und als er sie lächelnd ansah, blitzte in seinen Augen etwas auf. Sie wusste, dass er Bescheid wusste. Dann beugte er sich nach unten, als hätte ihn die Situation ganz und gar mitgerissen, und küsste sie rasch auf den Mund. Jubel am Tisch. Er erhob sein Glas:

»Prost!«

Er setzte sich. Fing ihren Blick auf und lächelte das ach so private Lächeln, um den zwölf Gästen am Tisch zu sagen, dass es da noch etwas ganz Besonderes zwischen ihnen gab, das nur sie beide anging. Dass Anders Theater spielte, bedeutete nicht, dass er log, denn es gab wirklich etwas Schönes zwischen ihnen. Aber sie waren jetzt schon so lange zusammen, dass die Gefahr bestand, all die guten gemeinsamen Tage und Erlebnisse zu vergessen. Und die schweren Zeiten, die bereits hinter ihnen lagen, die ihre Beziehung im Nachhinein aber nur gefestigt hatten. Sie hatte Anders gern, sie liebte ihn, das stand außer Frage, sonst hätte sie ja niemals in die Hochzeit eingewilligt.

Sein Lächeln wirkte etwas aufgesetzt, als er sagte, dass sie ruhig etwas mehr Enthusiasmus zeigen und ihm helfen könne, wenn sie schon einmal die Familien versammelt hätten, um sie in ihre Hochzeitspläne einzuweihen. Das Ganze fand auf Wunsch ihrer Schwiegermutter statt. Martha hatte einfach nicht die Kraft gehabt, dagegen zu protestieren. Jetzt erhob sich Anders’ Mutter und klopfte an ihr Glas. Wie auf Knopfdruck war es plötzlich still. Nicht nur, weil die Gäste gespannt waren, was sie zu sagen hatte, sondern weil niemand von ihrem drakonischen Blick durchbohrt werden wollte.

»Es freut uns wirklich sehr, dass Martha den Wunsch geäußert hat, in der Sankt-Pauls-Kirche zu heiraten.«

Martha konnte ihr Husten kaum zurückhalten. Den Wunsch geäußert?

»Wie ihr ja alle wisst, bekennt unsere Seite der Familie sich zum katholischen Glauben. In vielen Ländern ist das Bildungsniveau und das Einkommen bei Protestanten durchschnittlich höher als bei Katholiken. Nicht so in Norwegen. Hier bilden die Katholiken eine Art Elite. Martha, ich heiße dich damit herzlich im A-Team willkommen.«

Martha lächelte über den Spaß, von dem sie ganz genau wusste, dass es kein Spaß war. Sie hörte immer noch die Stimme ihrer Schwiegermutter, war selbst aber schon wieder weit weg. Sie musste hier raus. Musste fliehen, musste an einen anderen Ort.

»An was denkst du, Martha?«

Sie spürte Anders’ Lippen an ihrem Haar und an ihrem Ohrläppchen, und es gelang ihr zu lächeln. Ihr war wirklich nach ­Lachen zumute, denn insgeheim spielte sie mit dem Gedanken, aufzustehen und ihm und allen anderen ins Gesicht zu sagen, dass sie in diesem Moment davon träumte, auf den sonnenbeschienenen Schären in den Armen eines Mörders zu liegen, während über den Fjord ein Regenschauer auf sie zuzog. Trotzdem bedeutete das nicht, dass sie Anders nicht liebte. Sie hatte ja gesagt. Sie hatte ja gesagt, weil sie ihn liebte.


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