Kapitel 22

Simon schob den Mundschutz zurecht und studierte den Toten. Er erinnerte ihn an etwas.

»Dieser Komplex hier gehört der Stadt und wird auch direkt von ihr verwaltet«, sagte Kari. »Die Übungsräume werden beinahe gratis an junge Bands vermietet. Sie wollen die Jugend­lichen von der Straße haben. Sie sollen lieber darüber singen, Gangster zu sein, als wirklich da draußen ihr Unwesen zu treiben.«

Simon erinnerte sich plötzlich. Der erfrorene Jack Nicholson in The Shining. Diesen Film hatte er allein gesehen. Nach ihr – und vor Else. Vielleicht war es auch bloß wegen des Schnees. Der Tote sah aus, als säße er in einer Schneewehe. Das Heroin hatte sich in einer feinen Schicht auf ihn gelegt und im ganzen Raum verteilt. Um Mund, Nase und Augen herum war das Pulver feucht geworden und verklumpt.

»Eine Band, die weiter hinten ihren Übungsraum hat, hat ihn gefunden, als sie gehen wollten«, sagte Kari.

Der Tote war bereits in der vergangenen Nacht gefunden worden, aber Simon hatte erst morgens, als er zur Arbeit kam, davon erfahren. Drei Leichen, und Kripos hatte auch diesen Fall übernommen. Der Polizeipräsident hatte, wie es so schön hieß, das Kriminalamt um Unterstützung gebeten, den Fall also abgetreten, ohne sich vorher auch nur mit dem ihm unterstellten Morddezernat zu beraten. Vermutlich wäre das Ergebnis dasselbe gewesen, aber trotzdem.

»Sein Name lautet Kalle Farrisen«, sagte Kari.

Sie zitierte aus dem vorläufigen Bericht. Simon hatte den Polizeipräsidenten angerufen und ihn um den Bericht und Zugang zum Tatort gebeten. Schließlich war die Tat ja in ihrem Distrikt passiert.

»Simon«, hatte der Polizeipräsident gesagt. »Du darfst dir das gerne anschauen, aber misch dich da nicht ein. Du und ich, wir sind zu alt für dieses blöde Kompetenzgerangel.«

»Du bist vielleicht zu alt dafür«, hatte Simon gesagt.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe, Simon.«

Simon hatte schon manchmal darüber nachgedacht. Es stand außer Frage, wer von ihnen das größere Potential gehabt hatte. Nur wann waren die Karten neu gemischt worden? Wann war die Entscheidung gefallen, wer welchen Stuhl zugesprochen bekam? Wer auf dem Chefsessel im Büro des Polizeipräsidenten Platz nehmen sollte und wer auf dem abgewetzten Stuhl im Morddezernat, degradiert und kastriert? Und wie hatte der Beste von ihnen auf einem Stuhl in seinem eigenen Arbeitszimmer enden können, mit einer Kugel aus seiner eigenen Waffe im Kopf?

»Bei den Gitarrensaiten, die man ihm um den Kopf gelegt hat, handelt es sich um eine tiefe E-Saite und eine G-Saite der Marke Ernie Ball. Und das Jack-Kabel ist für eine Fender«, zitierte Kari aus dem Bericht.

»Und der Ventilator und die Heizung?«

»Hä?«

»Vergessen Sie es, reden Sie weiter!«

»Der Ventilator lief. Die vorläufige Schlussfolgerung der Rechtsmedizin ist, dass Kalle Farrisen erdrosselt wurde.«

Simon studierte den Knoten im Jack-Kabel. »Für mich sieht das so aus, als wäre er gezwungen worden, das Dope einzuatmen. Der Ventilator hat es ihm direkt ins Gesicht gepustet. Meinen Sie nicht auch?«

»Doch«, sagte Kari. »Eine Zeitlang hat er vermutlich die Luft anhalten können, aber irgendwann musste er atmen. Durch die Gitarrensaiten konnte er den Kopf nicht wegdrehen. Versucht hat er es aber trotzdem, deshalb die Wunde von der dünnen Saite. Irgendwann landete das Dope aber in Nase, Magen und Lunge und wurde vom Blut aufgenommen. Er verlor das Bewusstsein, atmete aber weiter, wenn auch etwas schwächer, weil das Heroin auch die Atmung schwächte. Und irgendwann setzte die Atmung dann ganz aus.«

»Klassischer Überdosistod«, sagte Simon. »Genau wie bei vielen, die seinen Stoff gekauft haben.« Er zeigte auf das Jack-Kabel. »Das wurde von einem Linkshänder verknotet.«

»So geht es nicht weiter. Schon wieder Sie.«

Sie drehten sich um. Åsmund Bjørnstad hatte sich in der Tür aufgebaut und grinste schief. Hinter ihm standen zwei Männer mit einer Bahre.

»Die Leiche wird jetzt abtransportiert, wenn Sie also zum Schluss kommen könnten …«

»Wir haben gesehen, was wir sehen mussten«, sagte Simon und erhob sich mühsam. »Dürfen wir uns auch noch den Rest anschauen?«

»Aber sicher«, sagte der Kripos-Beamte noch immer grinsend und wies ihnen galant den Weg.

Simon sah überrascht zu Kari, die die Augenbrauen hochgezogen hatte: nicht schlecht.

»Zeugen?«, fragte Simon im Fahrstuhl und betrachtete die Glassplitter auf dem Boden.

»Nein«, sagte Bjørnstad. »Aber der Gitarrist der Band, die den Toten gefunden hat, hat zu Protokoll gegeben, dass im Laufe des Abends jemand hier war. Der Mann soll behauptet haben, in einer Band namens The Young Hopeless zu spielen. Wir haben das überprüft, aber die Band gibt es schon lange nicht mehr.«

»Wie sah er aus?«

»Laut Aussage des Zeugen hat er einen Kapuzenpulli getragen, die Kapuze aber nicht abgesetzt. Die jungen Leuten machen das heute ja so.«

»Dann war die Person jung?«

»Der Zeuge meinte das. Vermutlich zwischen zwanzig und fünfundzwanzig.«

»Welche Farbe hatte der Kapuzenpulli?«

Bjørnstad klappte sein Notizbuch auf. »Grau, vermutlich.«

Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, und sie stiegen vorsichtig über das Absperrband und die Wimpel der Spurensicherung. Auf dem Boden vor ihnen waren vier Personen. Zwei lebende und zwei tote. Simon nickte einem der Lebenden kurz zu. Er hatte einen roten Bart und beugte sich, auf allen vieren, mit einer kleinen Taschenlampe über einen Toten, der eine große Wunde unter einem Auge hatte. Sein Kopf lag in einer tropfenförmigen Blutlache, die am oberen Rand in Flecken und Spritzer überging. Simon hatte einmal versucht, Else zu erklären, warum ein Tatort schön sein konnte, diesen Versuch dann aber nie wieder unternommen.

Der andere, deutlich umfangreichere Tote lag über einer Türschwelle, den Oberkörper in einem angrenzenden Raum.

Simons Blick glitt automatisch über die Wände und fand die Einschusslöcher. Er registrierte die Luke in der Tür und den Spiegel auf der anderen Seite an der Wand. Dann ging er rückwärts zurück in den Fahrstuhl, hob den rechten Arm und streckte ihn aus. Korrigierte sich selbst und nahm den linken Arm. Er musste einen Schritt nach rechts treten, damit der Winkel mit der Schussbahn durch den Kopf und – sollte die Flugbahn der Kugel durch den Aufprall im Schädel nicht abgelenkt worden sein – in die Wand stimmte. Er schloss die Augen. Vor gar nicht langer Zeit hatte er schon einmal so dagestanden. Vor dem Haus der Iversens. Da hatte er mit rechts gezielt und war etwas zur Seite getreten – einen Fuß neben den Weg in die weiche Erde gesetzt –, damit der Winkel stimmte. Die gleiche weiche Erde wie um die Büsche herum. Nur dass er dort keinen Fußabdruck gefunden hatte.

»Wollen wir hier drinnen mit der Führung fortfahren, meine Damen und Herren?« Bjørnstad hielt ihnen die Tür auf und wartete, bis Kari und Simon über die Leiche in den Raum gestiegen waren.

»Die Stadtverwaltung hat diesen Raum an ein Büro vermietet, das angeblich junge Bands managt und Auftritte bucht.«

Simon bemerkte den leeren Safe. »Was, glauben Sie, ist hier passiert?«

»Eine Art Bandenkrieg«, sagte Bjørnstad. »Sie müssen gegen Ladenschluss zugeschlagen haben. Der Erste wurde erschossen, als er schon am Boden lag, wir haben die Kugel aus dem Fußboden geholt. Der andere hier auf der Türschwelle, auch da steckte die Kugel im Fußboden. Der Dritte musste den Safe öffnen. Sie haben das Geld und das Dope mitgenommen und den Dritten dann unten umgebracht, um ein Zeichen zu setzen, wer von jetzt an den Markt bestimmt.«

»Verstehe«, sagte Simon. »Und die leeren Hülsen?«

Bjørnstad lachte kurz. »Ach, wittert Sherlock Holmes etwa einen Zusammenhang mit dem Iversen-Mord?«

»Keine leeren Hülsen?«

Åsmund Bjørnstad sah von Simon zu Kari und wider zu Simon. Dann zog er mit einem breiten, triumphierenden Grinsen wie ein Zauberkünstler eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche und hielt sie Simon vor die Nase. Sie enthielt zwei leere Geschosshülsen.

»Tut mir leid, wenn das Ihre Theorie zum Einsturz bringt, Opa«, sagte er. »Außerdem deuten die großen Einschusslöcher in den Leichen auf ein gröberes Kaliber hin als das, was bei Agnete Iversen zum Einsatz kam. Führung beendet. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht.«

»Noch drei abschließende Fragen.«

»Nur zu, Kommissar Kefas.«

»Wo haben Sie die leeren Hülsen gefunden?«

»Neben den Leichen.«

»Wo sind die Waffen der Toten?«

»Sie hatten keine. Letzte Frage.«

»Hat der Polizeipräsident Sie gebeten, mit uns zusammenzuarbeiten und uns herumzuführen?«

Åsmund Bjørnstad lachte. »Über meinen Chef im Kriminalamt, vielleicht. Wir tun, was wir von unseren Chefs gesagt bekommen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Simon. »Wenn wir nach oben wollen, tun wir das. Danke für die Führung.«

Simon und Kari ließen Bjørnstad zurück. Im Flur fragte Simon den Kriminaltechniker mit den roten Haaren, ob er ihm kurz seine Taschenlampe borgen könnte. Er ging zum Einschussloch in der Wand und leuchtete hinein.

»Habt ihr die Kugel rausgenommen, Nils?«

»Das muss ein altes Loch sein, da war keine Kugel mehr«, sagte der bärtige Mann, während er den Boden um den Toten herum mit einem einfachen Vergrößerungsglas absuchte.

Simon hockte sich hin, befeuchtete seine Fingerkuppen und drückte sie unter dem Loch auf den Boden. Er hob die Hand hoch und zeigte Kari seine Fingerkuppen. An der Haut klebten kleine Putzpartikel.

»Danke«, sagte Simon zu Nils, der kurz aufblickte, und nickend die Taschenlampe entgegennahm.

»Was war denn das?«, fragte Kari, als die Fahrstuhltüren sich hinter ihnen geschlossen hatten.

»Ich muss noch kurz nachdenken, gleich«, sagte Simon.

Kari war irritiert. Nicht weil sie das Gefühl hatte, dass ihr Chef sich vor ihr aufspielte, sondern weil sie ihm nicht folgen konnte. Und zurückzubleiben war etwas, das sie nicht gewohnt war.

Die Türen öffneten sich, und sie verließ den Aufzug, drehte sich aber gleich wieder um, weil Simon sich nicht gerührt hatte.

»Kann ich mir mal Ihre Murmel leihen?«, fragte er.

Sie seufzte und steckte die Hand in die Manteltasche. Er legte die kleine gelbe Murmel mitten auf den Fahrstuhlboden. Sie rollte erst langsam, dann immer schneller zum vorderen Rand und verschwand im Spalt zwischen Innen- und Außentür.

»Oh«, sagte Simon. »Da müssen wir wohl in den Keller und suchen.«

»Ist nicht so schlimm«, sagte Kari. »Ich habe zu Hause noch mehr.«

»Ich rede nicht von der Murmel.«

Kari folgte ihm, tappte aber noch immer im Dunkeln.

Dann drängte sich ihr eine Frage auf, ein Gedanke. Konnte sie in diesem Moment nicht auch einen ganz anderen Job machen? Besser bezahlt, selbständiger. Ohne seltsame Chefs und stinkende Leichen. Aber die Zeit würde kommen, sie musste einfach noch ein bisschen Geduld haben.

Sie fanden die Treppe, die Kellertür und den Zugang zum Fahrstuhlschacht. An der einfachen Stahltür mit einem Milchglasfenster hing ein Schild: AUFZUGKONTROLLE. ZUTRITT VER­BOTEN. Simon rüttelte an dem Türgriff.

»Laufen Sie nach oben in den Übungsraum und schauen Sie nach, ob Sie irgendein Kabel finden«, sagte Simon.

»Was für ein …?«

»Egal«, sagte er und lehnte sich an die Wand.

Sie schluckte ihren Ärger runter und ging über die Treppe nach oben.

Zwei Minuten später war sie mit einem Jack-Kabel zurück und sah zu, wie Simon die Stecker abriss und die Plastikummantelung von dem Metall zog. Dann bog er das Kabel zu einem U und schob es in Höhe des Griffs zwischen Fahrstuhltür und Rahmen. Ein lautes Knacken war zu hören, dann sprühten Funken. Er öffnete die Tür.

»Och«, sagte Kari. »Wo haben Sie denn das gelernt?«

»Als kleiner Junge habe ich so einiges aufgeschnappt«, sagte Simon und sprang nach unten auf das Fundament des Aufzugs, das einen halben Meter tiefer lag als der Kellerboden. Er sah im Fahrstuhlschacht nach oben. »Wäre ich nicht zur Polizei gegangen …«

»Ist das nicht ein bisschen riskant?«, fragte Kari und spürte, dass ihre Kopfhaut kribbelte. »Was, wenn der Fahrstuhl kommt?«

Aber Simon war bereits auf den Knien und suchte den Boden mit den Händen ab.

»Brauchen Sie Licht?«, fragte sie und hoffte, dass er die Nervosität in ihrer Stimme nicht bemerkte.

»Immer«, lachte er.

Ein spitzer Schrei entfuhr Kari, als es laut klickte und die ge­ölten Winden sich in Bewegung setzten. Aber Simon war schnell auf den Beinen und kletterte wieder in den Keller zurück. »Kommen Sie«, sagte er.

Sie hastete hinter ihm her nach oben und durch die Fabrik­türen nach draußen auf den gekiesten Vorplatz.

»Moment!«, sagte sie, bevor sie sich ins Auto setzte, das sie zwischen den aufgebockten Lastwagen abgestellt hatten. Simon blieb stehen und sah sie über das Wagendach hinweg an.

»Ich weiß«, sagte er.

»Was wissen Sie?«

»Dass es verdammt nervig ist, wenn der Partner ständig Alleingänge macht und einen nicht informiert.«

»Genau! Und deshalb sagen Sie mir jetzt …«

»Aber ich bin nicht Ihr Partner, Kari Adel«, sagte Simon. »Ich bin Ihr Chef und Ausbilder. Das kommt, wenn es so weit ist. Einverstanden?«

Sie sah ihn an. Der Wind blies seine dünnen Haare hin und her, und seine sonst so freundlichen Augen funkelten.

»Verstanden«, sagte sie.

»Fangen Sie.« Er öffnete eine Hand und warf ihr etwas über das Autodach zu. Sie legte die Hände zusammen und fing beide Gegenstände auf. Ihre gelbe Murmel und eine leere Hülse.

»Man kann Neues entdecken, wenn man Standort und Per­spektive verändert«, sagte er. »Blindheit kompensieren. Also, fahren wir.«

Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. Er ließ den Motor an und fuhr über den Kies auf das Tor zu. Sie sagte nichts. Wartete. Er hielt an, sah lange und gründlich nach rechts und links und fuhr dann auf die Straße. Wie es ältere Männer gerne machten. Kari hatte immer angenommen, das habe mit der geringeren Testosteronproduktion zu tun. Aber jetzt wurde ihr plötzlich bewusst, dass Vernunft möglicherweise auf Erfahrung beruhte – eine ganz neue Erkenntnis.

»Mindestens ein Schuss wurde schon im Fahrstuhl abgegeben«, sagte er und schob sich hinter einen Volvo.

Sie sagte noch immer nichts.

»Und Ihr Einwand lautet?«

»Dass das nicht zu den Funden am Tatort passt«, sagte Kari. »Dort haben wir nur die Kugeln gefunden, die die Opfer getötet haben, und die lagen direkt unter ihnen. Sie müssen am Boden gelegen haben, als die Schüsse abgegeben wurden, und das passt vom Winkel her nicht zu einem Schuss aus dem Fahrstuhl.«

»Nein, außerdem haben Sie gesehen, dass der Typ mit dem Kopfschuss Schmauchspuren auf der Haut hatte und dass an dem Hemd des anderen verbrannte Baumwollfäden waren. Was sagt uns das?«

»Dass sie aus nächster Nähe erschossen wurden, als sie lagen. Und das passt zu den Hülsen, die neben ihnen gefunden wurden, und zu den Kugeln im Boden.«

»Stimmt. Aber finden Sie es nicht merkwürdig, dass beide erst umfallen und dann erschossen werden?«

»Vielleicht sind sie aus Panik über die Waffe ins Stolpern ge­raten. Oder sie wurden gezwungen, sich hinzulegen, und dann richtiggehend hingerichtet.«

»Ein guter Gedanke. Aber noch eine andere Frage: Ist Ihnen bei dem, der näher am Fahrstuhl lag, etwas an der Blutlache aufgefallen?«

»Dass es viel war?«

»Ja.« Er zog das a in die Länge. Das war also noch nicht alles.

»Das Blut ist unter dem Kopf in einer Lache zusammengelaufen«, sagte sie. »Das heißt, er wurde nach dem Schuss nicht mehr bewegt.«

»Ja, aber am Rand der Lache sind Blutspritzer. Das ausgelaufene Blut hat sich also auch in einem Bereich ausgebreitet, in dem vorher Blutspritzer waren, die nur vom Kopf stammen können. Und bei der Länge und Verteilung dieser Spritzer muss das Opfer aufrecht gestanden haben, als es erschossen wurde. Deshalb hockt Nils auch mit der Lupe über ihm, die Blutspuren stimmen nämlich nicht.«

»Für Sie aber schon?«

»Ja«, sagte Simon nüchtern. »Der Mörder hat den ersten Schuss im Fahrstuhl abgegeben. Er traf den Kopf seines Opfers, und die Kugel schlug in die Wand. Die Stelle, die Sie gesehen haben. Die Hülse ist im Fahrstuhl auf den Boden gefallen und …«

»… über den schiefen Boden in den Spalt gerollt und in den Schacht gefallen.«

»Genau.«

»Aber … die Kugel im Boden?«

»Der Mörder hat noch einmal auf ihn geschossen, aus nächster Nähe.«

»Die Eingangswunde …«

»Unser Freund vom Kriminalamt meint, es ist ein grobes Ka­liber verwendet worden, aber wüsste er mehr über Waffen, wäre ihm nicht entgangen, dass die leeren Hülsen von feinkalibrigen Kugeln stammen. Die große Eintrittswunde stammt in Wahrheit von zwei Kugeln. Die Schüsse überlappen sich. Der Täter hat bewusst versucht, es wie einen Schuss aussehen zu lassen. Deshalb hat er auch die erste Kugel mitgenommen, die in die Wand geschlagen ist.«

»Dann war das kein altes Einschussloch, wie der Techniker vermutet hat«, sagte Kari. »Deshalb auch der frische Putz auf dem Boden.«

Simon lächelte. Sie konnte sehen, dass er mit ihr zufrieden war, und merkte zu ihrer Überraschung, dass sie das freute.

»Schauen Sie mal nach der Typbezeichnung und der Seriennummer auf der Hülse. Das ist eine andere Munition als die, die wir oben gefunden haben. Also hat er den Schuss aus dem Fahrstuhl mit einer anderen Waffe abgegeben als denen, mit denen er später auf die Opfer geschossen hat. Ich denke, die Ballistiker werden herausfinden, dass diese Schüsse mit den Waffen der Opfer abgegeben wurden.«

»Waffen der Opfer?«

»Eigentlich ist das ja Ihr Ressort, Adel. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass drei Leute unbewaffnet in einer Drogenzentrale sitzen. Er hat ihre Waffen mitgenommen, damit wir nicht gleich herausfinden, dass er sie benutzt hat.«

»Sie haben recht.«

»Die Frage ist nur«, sagte Simon und schob sich hinter eine Straßenbahn, »warum es ihm so wichtig war, dass wir die jeweils erste Kugel und die dazugehörige Hülse nicht finden.«

»Ist das nicht einleuchtend? Der Abdruck des Schlagbolzens würde uns die Seriennummer verraten, die uns über das Waffenregister dann zu …«

»Falsch. Sehen Sie sich mal die Rückseite der Hülse an. Kein Abdruck. Die Pistole, die er benutzt hat, muss also älter sein.«

»Okay«, sagte Kari und gab sich selbst das Versprechen, nie wieder das Wort »einleuchtend« zu benutzen. »Ich habe keine Ahnung, aber Sie werden es mir sicher gleich sagen …«

»Und ob. Die leere Hülse, die Sie da in der Hand halten, tja, das ist die gleiche Munition, mit der auch Agnete Iversen getötet wurde«, sagte Simon und bremste bei Gelb, weshalb der Autofahrer hinter ihnen hupte. »Er hat die Hülsen bei Iversens nicht wegen des Abdrucks auf dem Schlagbolzen mitgenommen. Da habe ich falsch gelegen. Sondern weil er bereits einen weiteren Mord plante und deshalb so wenig Spuren wie möglich hinterlassen wollte. Wir sollen keinen Zusammenhang herstellen können. Ich tippe also mal, dass die leeren Hülsen, die er bei Iversens mitgenommen hat, die gleichen wie die hier sind.«

»Die gleiche Munition, aber eine durchaus weitverbreitete, oder?«

»Ja.«

»Was lässt Sie dann an einen Zusammenhang glauben?«

»Sicher bin ich mir nicht«, sagte Simon und starrte auf die Ampel, als wäre sie eine Zeitbombe. »Aber immerhin sind nur zehn Prozent aller Menschen Linkshänder.«

Sie nickte. Versuchte, selbst zu einem Schluss zu kommen. Gab auf und seufzte. »Ich muss wieder passen.«

»Kalle Farrisen ist von einem Linkshänder an die Heizung gefesselt worden. Agnete Iversen wurde von einem Linkshänder erschossen.«

»Das Erste habe ich verstanden, aber das Zweite …«

»Ich hätte früher darauf kommen müssen. Der Winkel der Schussbahn durch die Türöffnung bis in die Küchenwand. Wäre der Schuss, der Agnete Iversen getötet hat, von dort, wo ich gestanden habe, mit rechts abgegeben worden, hätte der Täter neben den gepflasterten Weg treten müssen und wir hätten Spuren in der lockeren Erde gefunden. Richtig ist natürlich, dass er mit beiden Füßen auf dem Weg stand und mit der linken Hand geschossen hat. Schlechte Ermittlungsarbeit von mir.«

»Lassen Sie mich sehen, ob ich das richtig verstanden habe.« Kari schloss die Augen und stützte Kinn und Nase in die zusammengelegten Handflächen. »Es gibt einen Zusammenhang zwischen Agnete Iversen und den drei Opfern heute. Und da der Täter alles getan hat, damit wir diesen Zusammenhang nicht bemerken, muss er fürchten, dass uns dieser Zusammenhang zu ihm führen kann.«

»Gut, Kommissar Adel. Sie verändern Perspektive und Standort und sehen plötzlich wieder etwas.«

Kari hörte ein wütendes Hupen und öffnete die Augen.

»Es ist Grün«, sagte sie.


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