Kapitel 26

»Genau so sollte ein Sonntagmorgen sein«, sagte Else und sah aus dem Seitenfenster.

»Stimmt«, erwiderte Simon, schaltete herunter und sah sie an. Er fragte sich, wie viel sie wirklich mitbekam. Sah sie, wie grün der Schlosspark nach dem Regen war, oder hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie am Schloss vorbeigefahren waren?

Es war Elses Idee gewesen, die Chagall-Ausstellung in Høvikodden anzusehen, aber Simon hatte gleich zugestimmt. Er musste nur kurz bei einem früheren Kollegen in Skillebekk vorbei.

Auf dem Gamle Drammensveien gab es reichlich freie Parkplätze. Die altehrwürdigen Villen und noblen Apartmenthäuser waren in der Ferienzeit verwaist. Vor einigen Häusern flatterten Botschaftsflaggen im lauen Wind.

»Ich bleibe nicht lange«, sagte Simon, stieg aus und ging zu der Nummer, die er sich im Internet herausgesucht hatte. Der Name stand ganz oben neben den Klingelknöpfen.

Nach zweimaligem Klingeln wollte Simon schon aufgeben, als er plötzlich eine Frauenstimme hörte.

»Ja?«

»Ist Fredrik zu Hause?«

»Äh … wer fragt?«

»Simon Kefas.«

Es war ein paar Sekunden still, aber Simon hörte deutlich, dass eine Hand auf dem Mikro der Gegensprechanlage lag. Dann war die Stimme wieder da. »Er kommt runter.«

»Okay.«

Simon wartete. Es war noch früh, die normalen Menschen schliefen noch, nur ein Paar in seinem Alter war auf der Straße. Vermutlich machten sie ihren Sonntagsspaziergang. Der Mann trug eine Schiebermütze und khakifarbene Hosen unbekannter Herkunft. Typische Alte-Leute-Kleider. Simon sah sein Spiegelbild in der Scheibe der geschnitzten Eichentür. Schiebermütze und Sonnenbrille. Khakihosen. Sonntagsverkleidung.

Es dauerte, er musste Fredrik geweckt haben. Oder seine Frau. Oder wer auch immer sie war. Simon sah zum Auto, Else blickte gerade zu ihm herüber. Er winkte. Keine Reaktion. Die Tür ging auf.

Fredrik in Jeans und T-Shirt. Er hatte scheinbar noch geduscht. Die dichten, nassen Haare waren nach hinten gekämmt.

»Welch Überraschung«, sagte er. »Was …?«

»Machen wir einen kleinen Spaziergang?«

Fredrik sah auf seine schwere Armbanduhr. »Du, ich habe …«

»Nestor und seine Drogenbanditen haben mich besucht«, sagte Simon so laut, dass das alte Paar, das an ihnen vorbeiging, ihn hörte. »Aber wir können das auch oben in deiner Wohnung besprechen. Zusammen mit deiner … Frau?«

Fredrik musterte Simon. Dann schloss er die Tür hinter sich.

Sie gingen über den Bürgersteig. Das Klatschen von Fredriks Flip-Flops hallte zwischen den Häusern wider.

»Er hat mir den Kredit angeboten, über den ich mit dir gesprochen habe, Fredrik. Nur mit dir.«

»Ich habe mit keinem Nestor gesprochen.«

»Du musst gar nicht so tun, als würdest du den Namen nicht kennen. Was du sonst noch mit ihm zu tun hast, darfst du gerne für dich behalten.«

Fredrik blieb auf der Fußgängerbrücke stehen. »Jetzt hör mir mal zu, Simon. Dir intern diesen Kredit zu beschaffen ist vollkommen unmöglich. Also habe ich mit ein paar Leuten über dein Problem gesprochen. Das wolltest du doch? Oder?«

Simon antwortete nicht.

Fredrik seufzte. »Simon, ich habe das nur gemacht, um dir zu helfen. Du kannst ja noch immer nein sagen, wenn dir was an­geboten wird. Das ist doch wohl das Schlimmste, was passieren kann.«

»Das Schlimmste ist«, sagte Simon, »dass dieser Abschaum nun glaubt, einen Weg gefunden zu haben, mich in die Hand zu bekommen. Nach all den Jahren. Denn bisher ist ihnen das nicht gelungen, Fredrik. Dich haben sie ja schon lange, mich aber nicht.«

Fredrik beugte sich über das Geländer. »Vielleicht ist gerade das dein Problem, Simon. Vielleicht hast du deshalb nie Karriere gemacht.«

»Weil ich mich nicht habe kaufen lassen?«

Fredrik lächelte. »Wegen deines Temperaments. Du hast keinerlei diplomatische Fähigkeiten und stößt sogar Menschen zurück, die dir helfen wollen.«

Simon sah nach unten auf die alte stillgelegte Eisenbahntrasse. Sie stammte aus der Zeit, als noch der Westbahnhof angefahren wurde. Er wusste nicht, warum, aber irgendwie machte es ihn melancholisch, aber auch froh, dass die alte Trasse noch zu erkennen war. »Du hast in der Zeitung bestimmt von diesem Dreifachmord in Gamlebyen gelesen?«

»Natürlich«, sagte Fredrik. »Die Zeitungen schreiben ja über nichts anderes. So wie es aussieht, ist das ganze Kriminalamt auf den Beinen. Lassen die euch mitspielen?«

»Die lassen sich nicht gerne in die Karten schauen. Nein, da hat sich nichts geändert. Aber einer der Toten war Kalle Farrisen. Kommt dir der Name bekannt vor?«

»Nein, ich glaube nicht. Aber wenn das Morddezernat nicht ermittelt, warum willst du …?«

»Weil Farrisen seinerzeit verdächtigt worden ist, dieses Mädchen getötet zu haben.« Simon gab Fredrik die Kopie des Fotos aus dem Polizeibericht und beobachtete, wie sein Gegenüber die blassen asiatischen Züge des Mädchens studierte. Man musste den Rest des Körpers nicht sehen, um zu erkennen, dass sie tot war.

»In einem Hinterhof gefunden, es sollte nach einer Überdosis aussehen. Fünfzehn Jahre, maximal sechzehn. Es gab keine ­Papiere, so dass wir nie ermitteln konnten, wer sie war oder woher sie kam. Geschweige denn, über welche Wege sie ins Land ­gekommen ist. Vielleicht in einem Container auf einem Schiff aus Vietnam. Rausgefunden haben sie nur, dass sie schwanger war.«

»Doch, warte, an den Fall erinnere ich mich. Gab es da nicht ein Geständnis?«

»Ja, ziemlich spät und für alle komplett überraschend. Von dir will ich wissen, ob es eine Verbindung gibt zwischen Kalle und deinem guten Kunden Iversen?«

Fredrik zuckte mit den Schultern. Sah über den Fjord. Schüttelte den Kopf. Simon folgte seinem Blick zu dem Gewirr der Masten im Yachthafen.

»Weißt du eigentlich, dass der Mann, der damals gestanden hat und für den Mord verurteilt wurde, aus dem Gefängnis ausgebrochen ist?«

Fredrik schüttelte erneut den Kopf.

»Genieß dein Frühstück«, sagte Simon.

Simon lehnte am geschwungenen Garderobentresen der Kunstgalerie in Høvikodden. Alles war hier geschwungen, alles war hier modern. Sogar die Glaswände, die die einzelnen Räume trennten, waren leicht gebogen und vermutlich hip. Er musterte Else, die einen Chagall studierte. Sie wirkte so klein. Kleiner als Chagalls Figuren. Aber vielleicht lag das auch an den geschwungenen Bögen, vielleicht schufen sie einen Ames-Raum und waren der Grund für die optische Täuschung.

»Sie sind zu diesem Fredrik gegangen, bloß um ihm diese eine Frage zu stellen?«, fragte Kari, die neben ihm stand. Sie war innerhalb von zwanzig Minuten da gewesen. »Und Sie wollen ­sagen, dass …«

»Mir war vorher schon klar, dass er nein sagen würde«, antwortete Simon. »Aber ich musste ihn sehen, um zu wissen, ob er lügt.«

»Sie wissen doch, dass es verdammt schwer ist, jemandem anzusehen, ob er lügt – auch wenn einige Fernsehsendungen das Gegenteil behaupten?«

»Schon, aber Fredrik ist für mich nicht irgendjemand. Ich weiß, wie es sich anhört, wenn er lügt. Ich bin darauf trainiert, ich kenne sein Muster.«

»Dann ist Fredrik Ansgar ein notorischer Lügner?«

»Nein, Lügen ist für ihn eine Notwendigkeit, kein Vergnügen.«

»Ach? Und woher wissen Sie das?«

»Ich habe das erst erkannt, als wir in einem richtig dicken Immobilienfall ermittelten. Damals im Dezernat für Wirtschaftskriminalität.« Er sah, wie Else sich etwas verloren umsah, und räusperte sich laut, damit sie sich orientieren konnte und wusste, wo er war. »Es war schwer zu beweisen, dass Fredrik log«, fuhr Simon fort. »Er war unser einziger Buchhaltungsexperte in dem Fall, und wir konnten unmöglich alles überprüfen, was er sagte. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten und Zufälle, in der Summe fiel es dann aber doch auf. Er hat uns über bestimmte Dinge ­einfach nicht informiert und manchmal auch richtiggehend in die Irre geführt. Ich war der Einzige, der damals misstrauisch wurde. Und irgendwann konnte ich sehen, wann er uns die nächste Lüge auftischte.«

»Wie das?«

»Im Grunde sehr einfach. Seine Stimme verändert sich.«

»Seine Stimme?«

»Lügen löst bestimmte Gefühle aus. Fredrik war perfekt, was Wortwahl, Logik und Körpersprache anging, aber seine Stimme als Gefühlsbarometer hatte er nicht unter Kontrolle. Der Tonfall stimmte nicht, er unterstrich die Lüge. Fredrik hörte das selbst und wusste, dass ihn das zu Fall bringen konnte. Deshalb traute er seiner Stimme nicht einmal, wenn man ihm eine direkte Frage stellte, die er bloß mit Ja oder Nein beantworten musste, sondern nickte oder schüttelte den Kopf.«

»Und Sie haben ihn nach einer Verbindung zwischen Kalle Farrisen und Iversen gefragt?«

»Ja, und er hat mit den Schultern gezuckt, als wüsste er nichts.«

»Eine Lüge also.«

»Ja, und als ich ihn gefragt habe, ob er wisse, dass Sonny Lofthus ausgebrochen ist, schüttelte er den Kopf.«

»Ist das nicht ein bisschen zu einfach?«

»Ja, aber Fredrik ist ein einfacher Mann, nur beherrscht er sein Einmaleins etwas besser als die meisten anderen. Hören Sie, überprüfen Sie alle Urteile gegen Sonny Lofthus und versuchen Sie herauszufinden, ob es in den einzelnen Fällen andere Verdächtige gegeben hat.«

Kari Adel nickte. »Gut, ich hatte dieses Wochenende ohnehin noch nichts vor.«

Simon lächelte.

»Dieser Fall im Wirtschaftsdezernat. Worum ging es da genau?«

»Betrug«, sagte Simon. »Steuerhinterziehung im großen Stil. Richtig viel Geld und prominente Namen. So wie die Angelegenheit stand, hätten dadurch einige profilierte Wirtschaftsgrößen und Politiker zu Fall gebracht und wir tatsächlich auf die Spur des großen Hintermannes geführt werden können.«

»Der wäre?«

»Der Zwilling.«

Kari schien ein Schauer über den Rücken zu laufen. »Wirklich ein seltsamer Spitzname.«

»Nicht so seltsam wie die Geschichte dahinter.«

»Kennen Sie seinen richtigen Namen?«

Simon schüttelte den Kopf. »Es kursieren mehrere Namen. So viele, dass er eigentlich schon wieder anonym ist. Als ich im Wirtschaftsdezernat anfing, glaubte ich in meiner Naivität, dass die dicksten Fische diejenigen sind, die man am besten sieht. In Wahrheit ist Sichtbarkeit aber umgekehrt proportional zur Größe und Bedeutung der jeweiligen Person. Deshalb ist uns der Zwilling auch damals entwischt. Wegen Fredriks Lügen.«

Kari nickte langsam. »Glauben Sie, dass Fredrik Ansgar der Maulwurf war?«

Simon schüttelte entschieden den Kopf. »Damals war Fredrik noch gar nicht bei der Polizei. Er war wohl nur ein kleines Rädchen im Getriebe, hätte aber wirklich großen Schaden anrichten können, wäre er in der gleichen Position geblieben. Aber ich habe ihn gestoppt.«

Kari sah ihn überrascht an. »Sie haben Fredrik Ansgar bei der Polizei angezeigt?«

»Nein, ich habe ihm das Angebot gemacht, unbehelligt und in Ruhe zu kündigen. Andernfalls wäre ich mit dem wenigen, das ich hatte, weitergegangen. Für eine Verhandlung oder gar einen Rausschmiss hätte das sicher nicht gereicht, aber es hätte ihm die Flügel gestutzt und seine Karriere auf Eis gelegt. Er hat eingewilligt.«

Auf Karis Stirn trat eine Ader hervor. »Sie … Sie haben ihn gehen lassen?«

»Wir konnten einen faulen Apfel loswerden, ohne die Polizei selbst in den Dreck ziehen zu müssen. Ja, ich habe ihn gehen lassen.«

»Man kann solche Leute doch nicht einfach so laufenlassen!«

Sie klang verärgert. Aber wenn schon. »Fredrik ist ein kleiner Fisch, und er wäre uns so oder so durch die Maschen geschlüpft. Er hat nicht mal verheimlicht, einen guten Deal gemacht zu haben. Er hat tatsächlich das Gefühl, dass er mir einen Gefallen schuldig ist.«

Simon sah sie an. Natürlich war das als Provokation gemeint gewesen, und sie hatte darauf reagiert. Aber ihr Engagement schien bereits wieder zu verpuffen. Vermutlich war das für sie jetzt nur noch ein Argument mehr, dieser Branche schnellstmöglich den Rücken zu kehren.

»Und was für eine Geschichte ist das mit dem Zwilling?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Es heißt, er habe tatsächlich einen eineiigen Zwilling gehabt. Mit elf Jahren soll er zweimal hintereinander geträumt haben, seinen Bruder zu töten. Und da sie ja eineiige Zwillinge waren, ging er davon aus, dass auch sein Bruder diese Träume gehabt hatte. Deshalb war es aus seiner Sicht nur noch eine Frage der Zeit, wer dem anderen zuvorkam.«

Karis sah Simon an. »Wer dem anderen zuvorkam«, wiederholte sie.

»Entschuldigung«, sagte Simon und lief hinter Else her, die auf eine Glaswand zusteuerte.

Fidel Lae sah den Wagen, bevor er ihn hörte. Das war das Besondere an den neuen Autos, sie machten kaum Geräusche. Wehte der Wind von der Straße über das Moor zum Hof, hörte er manchmal das Knirschen der Räder auf dem Kies, das Schalten oder die etwas höheren Umdrehungen an der Steigung. Ansonsten musste Fidel auf seine Augen vertrauen. Bei Autos. Bei Fußgängern und Tieren hingegen hatte er das beste Alarmsystem der Welt. Einen Zwinger mit neun Dobermännern. Sieben Hündinnen, die jedes Jahr Welpen warfen, die er das Stück für zwölftausend Kronen verkaufen konnte. Das war der offizielle Teil der Zucht: für den Käufer chipmarkierte Rassehunde mit Stammbaum und Papieren.

Der andere Teil der Zucht lag weiter im Inneren des Waldes.

Zwei Hündinnen und ein Rüde. Nirgends registriert. Argentinische Doggen, vor denen die Dobermann-Pinscher eine Heidenangst hatten. Fünfundsechzig Kilo Aggression und Loyalität pur, mit einem albinoartig weißen Fell. Deshalb trugen Fidels Hunde alle den Beinamen Ghost: Die Hündinnen hießen Ghost Machine und Holy Ghost, der Rüde Ghost Buster. Die neuen Besitzer konnten die Welpen nennen, wie sie wollten, wichtig war nur, dass sie bezahlten. Hundertundzwanzigtausend. Der Preis spiegelte die Seltenheit der Hunde ebenso wider wie den ausgeprägten Mordinstinkt und die Tatsache, dass die Rasse in Norwegen und einer Reihe anderer Länder verboten war. Da seine Kunden in der Regel aber weder auf das Geld schauten noch sich für die norwegischen Gesetze interessierten, gab es keinen Grund, die Preise zu senken – eher im Gegenteil. Deshalb hatte er die Zwinger in diesem Jahr noch etwas weiter in den Wald hineinverlegt, damit das Bellen mit Sicherheit nicht bis zum Hof drang.

Der Wagen wollte zum Hof, der Weg führte nur dorthin, so dass Fidel langsam nach unten ging. Das Tor war immer verschlossen, nicht damit die Hunde nicht wegliefen, sondern damit kein Unbefugter hereinkam. Und da jeder außer einem Kunden unbefugt und nicht willkommen war, hatte Fidel eine umgebaute Mauser M98 in dem Waffenschrank an der Wand des Schuppens neben dem Tor. Er hatte noch raffiniertere Waffen, aber bei der Mauser konnte er immer vorgeben, sie für die Jagd von Elchen zu benutzen, denn schließlich gab es davon einige hier draußen in den Mooren. Vorausgesetzt, das Wild nahm nicht die Witterung der weißen Gespenster im Wald auf.

Fidel erreichte das Tor gleichzeitig mit dem Auto, das auf dem Seitenfenster das Logo einer Autovermietung hatte. Der Fahrer schien mit dem Wagentyp nicht vertraut zu sein, das hatte Fidel schon am Schalten erkannt. Jetzt brauchte der Typ lange, um das Licht und die Scheibenwischer auszuschalten und den Motor abzustellen.

»Was wollen Sie?«, fragte Fidel und sah sich den Mann, der ausstieg, genau an. Kapuzenpulli und schwarze Schuhe. Ein Kerl aus der Stadt. Nur selten fand jemand den Weg zu ihm, ohne vorher einen Termin zu vereinbaren. Fidel machte keine Reklame wie die anderen Züchter und hatte auch keinen Internetauftritt. Der Kerl kam zum Tor, das Fidel aber nicht öffnen wollte.

»Ich interessiere mich für einen Hund.«

Fidel schob seine Mütze ein Stück weit nach hinten. »Tut mir leid, aber dann haben Sie den Weg umsonst gemacht. Ich rede nicht mit potentiellen Käufern, ehe ich nicht ihre Referenzen gesehen habe. So ist das nun mal. Dobermänner sind keine Schoßhunde, die brauchen einen Besitzer, der sich auskennt. Rufen Sie mich am Montag an.«

»Ich bin nicht auf der Suche nach einem Dobermann«, sagte der Mann und sah an Fidel vorbei in Richtung Wald. »Und meine Referenz heißt Gustav Rover.« Er hielt ihm eine Visitenkarte hin. Fidel warf einen flüchtigen Blick darauf. Rovers Motorradwerkstatt. Rover. Fidel erinnerte sich an den Motorradfreak mit dem Goldzahn. Schließlich sah er nur wenige Menschen. Der Mann war mit Nestor hier gewesen und hatte einen Argentino gekauft.

»Er meinte, deine Hunde eignen sich dazu, ein paar weißrus­sische Haushaltshilfen in Schach zu halten, damit sie nicht abhauen.«

Einen Moment kratzte sich Fidel die Warze auf seinem Handgelenk. Dann öffnete er das Tor. Das war kein Polizist, denn die durften keine kriminellen Handlungen – wie den Verkauf illegaler Hunde – provozieren, sonst war die ganze Sache vor Gericht nicht mehr verwendbar. Das hatte ihm jedenfalls mal sein Anwalt gesagt.

»Hast du …?«

Der Kerl nickte, griff in die Tasche seines Pullovers und zog ein paar dicke Geldbündel heraus. Tausender.

Fidel öffnete den Waffenschrank und nahm die Mauser heraus.

»Ohne die gehe ich nie zu ihnen hoch«, erklärte er. »Sollte einer mal ausbrechen …«

Sie brauchten zehn Minuten bis zu dem Zaun im Wald. In den letzten fünf Minuten hörten sie zunehmend das lauter werdende Kratzen der Krallen und das Winseln der Tiere.

»Die glauben, dass sie Futter kriegen«, sagte Fidel und verkniff sich den Zusatz »dich!«.

Die Hunde warfen sich wütend gegen das Zwingergitter, als sie in Sichtweite waren. Fidel spürte es unter sich vibrieren, wenn die Tiere vom Gitter zurück auf den Boden sprangen. Er wusste genau, wie tief die Pfosten eingegraben waren, fürchtete aber trotzdem, es könne nicht tief genug sein. Die aus Deutschland importierten Zwinger hatten eine metallene Bodenplatte, so dass grabende Hunde wie Terrier, Dachs- und Bluthunde nicht ausbrechen konnten. Blechdächer hielten die Nässe fern und sorgten dafür, dass die Viecher auch nicht oben aus dem Zwinger springen konnten.

»Im Rudel sind sie am gefährlichsten«, sagte Fidel. »Dann folgen sie ihrem Anführer, Ghost Buster. Das ist der Größte.«

Der Kunde nickte nur und musterte die Hunde. Fidel wusste, dass der junge Mann das Herz in der Hose haben musste. Die aufgerissenen Schnauzen mit dem Kranz speichelnasser, blitzender Zähne in blassrotem Zahnfleisch jagten selbst ihm immer wieder Angst ein. Nur wenn er mit einem, am besten einer der Hündinnen, allein war, konnte er sich sicher sein, dass er der Chef war.

»Bei den Welpen ist es wichtig, dass man ihnen gleich zeigt, wer der Anführer ist, und das muss auch so bleiben. Denk immer dran, dass Entgegenkommen und Nachsicht grundsätzlich als Schwäche aufgefasst werden. Ungehöriges Verhalten muss unbedingt bestraft werden, und das ist dein Job. Verstanden?«

Der Kunde drehte sich zu Fidel um. Er hatte etwas seltsam Abwesendes, als er mit lächelndem Blick wiederholte: »Ungehöriges Verhalten zu bestrafen ist mein Job.«

»Gut.«

»Warum ist der Käfig leer?« Der Kunde zeigte auf den Zwinger neben dem der Hunde.

»Ich hatte zwei Rüden. Wenn sie in einem Zwinger sind, bringen sie sich gegenseitig um.« Fidel nahm einen Schlüsselbund. »Komm und guck dir die Welpen an, die haben da drüben einen eigenen Zwing…«

»Sag mir erst …«

»Ja?«

»Ist es denn gehöriges Verhalten, wenn ein Hund einem Mädchen das Gesicht zerfetzt?«

Fidel blieb stehen. »Hä?«

»Sollen Hunde dafür eingesetzt werden, einem Menschen das Gesicht zu zerfetzen, der aus der Sklaverei fliehen will? Gehört sich das, oder soll das bestraft werden?«

»Jetzt mach mal halblang, die Hunde folgen bloß ihren In­stinkten. Sie können nicht dafür bestraft werden, dass …«

»Ich rede nicht von den Hunden. Ich rede von ihren Haltern. Was meinst du, sollten die bestraft werden oder nicht?«

Fidel sah sich den Kunden genauer an. War der doch von der Polizei? »Natürlich, wenn es so einen Unfall gegeben hat …«

»Das war ganz sicher kein Unfall. Der Hundehalter hat dem Mädchen anschließend die Kehle durchgeschnitten und sie irgendwo im Wald entsorgt.«

Fidel umklammerte seine Mauser noch fester. »Davon weiß ich nichts.«

»Ich aber. Der Hundehalter heißt Hugo Nestor.«

»Also, was ist jetzt, willst du einen Hund oder nicht?« Fidel hob den Lauf des Gewehrs ein paar Zentimeter an.

»Der Hund war von dir. Und einige davor auch schon. Weil deine Hunde sich für so etwas eignen.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Weil ich zwölf Jahre in einem Käfig gesessen und zugehört habe, wenn Leute solche Geschichten erzählt haben. Hast du dich irgendwann mal gefragt, wie es ist, wenn man in einem Käfig sitzt?«

»Also …«

»Du darfst es jetzt mal ausprobieren.«

Der Hundezüchter schaffte es nicht, sein Gewehr in Stellung zu bringen, bevor der andere seine Arme und seinen Körper so fest umklammerte, dass Fidel die Luft wegblieb. Er registrierte aber noch das frenetische Bellen der Tiere, als er hochgehoben wurde, während der andere sich nach hinten fallen ließ und ihn im Bogen über sich warf. Als Fidel mit Nacken und Schulter zuerst auf dem Boden aufschlug, hatte der Kerl sich bereits umgedreht und setzte sich rittlings auf ihn. Fidel rang nach Atem und versuchte, sich zu befreien, als er plötzlich die Pistole entdeckte und erstarrte.

Vier Minuten später sah Fidel hinter dem Mann her, der wie auf dem Wasser zu gehen schien, als er im Nebel durch das Moor verschwand. Fidel hatte die Finger neben dem dicken Vorhängeschloss ins Gitter geschoben. Er war eingesperrt. Im Nachbarkäfig hatte Ghost Buster sich ruhig auf den Boden gelegt und die Augen auf ihn gerichtet. Der Mann hatte Fidel Wasser in eine Schale gegossen und ihm vier Dosen Hundefutter in den Zwinger geworfen. Handy, Schlüssel und seine Geldbörse hatte er ihm abgenommen.

Fidel schrie. Und die weißen Teufel antworteten sogleich mit Heulen und Kläffen. Aber die Zwingeranlage war so weit von jeder menschlichen Behausung entfernt, dass niemand ihn hörte oder sah.

Verdammt!

Als der Mann weg war, legte sich eine seltsame Stille über sie. Ein Vogel schrie. Dann hörte Fidel den ersten Regentropfen auf dem Blechdach.


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