Kapitel 36

Iver Iversen wippte auf den Füßen und drehte den Stiel des leeren Martiniglases. Er musterte die Gäste, die in Grüppchen auf der weiß gekalkten Terrasse und drinnen im Salon standen. Der Raum hatte die Größe eines mittleren Ballsaals und war mit dem Geschmack eines Menschen möbliert, der nicht darin wohnen musste. »Innenarchitekten mit unbegrenzten Budgets, aber begrenzten Fähigkeiten«, hatte Agnete immer gesagt. Die Männer trugen, wie in der Einladung vorgegeben, Smoking. Die Frauen waren deutlich in der Unterzahl, aber die wenigen, die anwesend waren, fielen dafür umso mehr auf. Sie waren strahlend schön und aufregend jung. Eine sehr interessante ethnische Mischung. Lange splitternackte Rücken und tiefe Ausschnitte. Elegant, exotisch, importiert. Wahre Schönheit war selten. Iver Iversen wäre nicht überrascht gewesen, wenn jemand einen Schnee­leoparden durch den Raum geführt hätte.

»Hier scheint ja wirklich die Creme de la Creme der Osloer ­Finanzwelt versammelt zu sein.«

»Sieht man mal von denen ab, denen das nicht so wichtig ist«, sagte Fredrik Ansgar, rückte sich die Fliege zurecht und nahm einen Schluck von seinem Gin Tonic. »Und von denen, die in ihrem Ferienhaus sind.«

Falsch, dachte Iver Iversen. Wer auch immer Geschäfte mit dem Zwilling machte, war für dieses Event zurück in die Stadt gekommen. Sich einem solchen Ereignis zu entziehen wagte niemand.

Der Zwilling. Iver musterte den großen Mann, der am Flügel stand. Er sah wirklich aus, als hätte er für die Männer auf den ­sowjetischen Propagandaplakaten oder für die Skulpturen im Vigelandsparken Modell gestanden. Alles an ihm war groß, kompakt, kantig: Kopf, Arme, Hände, Beine. Hohe Stirn, kräftiges Kinn, volle Lippen. Der Mann, mit dem er sprach, war korpulent und sicher größer als ein Meter achtzig, wirkte aber neben dem Zwilling wie ein Zwerg. Iver glaubte ihn von irgendwoher zu kennen. Der Typ trug eine Augenklappe. Bestimmt einer dieser Finanzmanager, die man immer wieder im Fernsehen sah.

Iversen nahm sich ein neues Glas Martini vom Tablett einer der Bedienungen, die ihre Runden durch den Raum drehten. Er wusste, dass er es besser nicht tun sollte, denn er spürte den ­Alkohol bereits. Aber als trauerndem Witwer stand ihm das wohl zu. Obwohl er sich eigentlich gerade deshalb zurückhalten sollte. Schließlich lief er so Gefahr, Dinge zu sagen, die er besser nicht sagen sollte.

»Weißt du eigentlich, woher der Zwilling seinen Namen hat?«

»Ich habe die Geschichte gehört, ja«, sagte Fredrik.

»Mir ist erzählt worden, der Bruder sei ertrunken. Das soll aber ein Unfall gewesen sein.«

Fredrik lachte. »Ein Unfall? In einem Eimer Wasser?« Er blickte sich nach einer dunkelhäutigen Schönheit um, die an ihnen vorbeiglitt.

»Schau mal«, sagte Iver. »Es ist sogar ein Bischof hier. Wo der ihm wohl ins Netz gegangen ist?«

»Eine wirklich beeindruckende Versammlung, ja. Stimmt es eigentlich, dass auch ein Gefängnischef zu seinen Leuten zählt?«

»Das ist aber noch nicht alles.«

»Polizei auch?«

Iver antwortete nicht.

»Weit oben?«

»Du bist ein junger Mann, Fredrik, und auch wenn du zum Kreis gehörst, bist du noch nicht so fest eingebunden, dass du nicht den Rückzug antreten könntest. Aber je mehr du weißt, desto mehr bist du an sie gekettet, das kannst du mir glauben, Fredrik. Könnte ich die Zeit zurückdrehen …«

»Und was ist mit Sonny Lofthus? Oder Simon Kefas? Lösen sich diese Probleme von selbst?«

»Klar doch«, sagte Iver und starrte auf ein junges, zerbrechlich wirkendes Mädchen, das allein an der Bar saß. Thailand? Vietnam? So jung, so hübsch, so dressiert. Voller Angst und ganz ohne Schutz. Genau wie Mai. Der Polizist tat ihm fast leid. Auch er war jetzt gefangen, steckte im gleichen Sumpf fest. Auch er hatte seine Seele für die Liebe einer jüngeren Frau verkauft, und wie Iver sollte er noch zu spüren bekommen, was Demut war. Iver hoffte jedenfalls, dass Simon das spüren würde, ehe der Zwilling tat, was er tun musste. Er musste Simon Kefas zuvorkommen. Ein kleiner See in der Østmarka? Vielleicht würden er und Lofthus auch jeder einen eigenen See bekommen.

Iversen schloss die Augen. Dachte an Agnete. Am liebsten hätte er das Martiniglas an die Wand geschmissen, aber stattdessen leerte er es in einem Zug.

»Telenor, Infostelle Verbindungsdienst.«

»Guten Abend, hier ist Hauptkommissar Simon Kefas.«

»Ich sehe das an Ihrer Nummer. Sie sind irgendwo in der Gegend des Ullevål Krankenhauses.«

»Beeindruckend. Aber ich müsste dringend eine andere Te­lefonnummer aufspüren.«

»Vollmacht?«

»Gefahr im Verzug.«

»Okay. Ich mache morgen einen Bericht, Sie müssen das dann noch mit dem Staatsanwalt klären. Name und Nummer?«

»Ich habe nur die Nummer.«

»Und was wollen Sie genau?«

»Eine Lokalisierung, wo dieses Telefon sich im Moment be­findet.«

»Wir können nur einen ungefähren Umkreis angeben. Und wenn das Telefon nicht aktiv ist, kann es lange dauern, bis unsere Basisstationen ein Signal empfangen. Automatisch passiert das nur einmal in der Stunde.«

»Ich kann die Nummer anrufen, damit Sie ein Signal emp­fangen.«

»Dann darf der Betreffende wissen, dass Sie ihn lokalisieren wollen?«

»Ich habe die Nummer in der letzten Stunde mehrmals angerufen, es geht niemand dran.«

»Okay, geben Sie mir die Nummer und rufen Sie dann an. Ich will sehen, was ich machen kann.«

Pelle hielt auf der verlassenen Schotterstraße. Linker Hand fiel das Gelände zu einem im Mondschein glitzernden Fluss ab. Dort führte eine schmale Brücke von der Schotterstraße hinüber zur Landstraße, über die sie gekommen waren. Rechts lag geduckt ein Kornfeld, das unter den schwarzen Wolken wogte. Der Himmel wirkte wie das Negativ des hellen Sommerhimmels, von dem noch vor wenigen Stunden die Sonne geschienen hatte. Weiter vor ihnen, gut versteckt im Wald, befand sich ihr Bestimmungsort – eine große Villa, die von einem weißen Staketenzaun umgeben war.

»Ich hätte Sie besser zu einem Arzt gefahren. Ihre Wunden sollten wirklich behandelt werden«, sagte Pelle.

»Das wird schon wieder«, sagte der junge Mann und legte einen großen Geldschein auf die Konsole zwischen den Vorder­sitzen. »Und danke für das Taschentuch.«

Pelle sah in den Spiegel. Der Mann hatte sich das Tuch um die Stirn gebunden. Es war blutgetränkt.

»Überlegen Sie sich’s noch einmal. Ich fahre Sie auch gratis hin. Es gibt bestimmt auch in Drammen eine Ambulanz.«

»Vielleicht morgen«, sagte der junge Mann und zog die rote ­Tasche zu sich heran. »Ich muss diesem Mann erst einen Besuch abstatten.«

»Ist das denn nicht zu gefährlich? Sie haben doch gesagt, dass er jemanden umgebracht hat?« Pelle sah zu der Garage hin­über, die in die Villa integriert war. So viel Platz und doch keine se­parate Garage. Sicher jemand, der die amerikanische Bauweise liebte. Pelles Großmutter stammte aus einem Dorf, in dem fast nur Rückkehrer aus Amerika lebten. Da war alles amerikanisch gewesen, Häuser mit Säulen, Sternenbannern und ame­rika­nischen Autos in der Garage. Sie hatten dort sogar einen 110-Volt-Anschluss, damit sie die Jukeboxen, Toaster und Kühlschränke, die sie in Texas gekauft oder von einem Opa in Bay Ridge, Brooklyn, geerbt hatten, direkt an die Steckdose anschließen konnten.

»Heute Abend tötet der niemanden«, sagte der Mann.

»Trotzdem«, sagte Pelle. »Soll ich nicht warten? Es ist eine halbe Stunde zurück nach Oslo, und wenn Sie sich hier von einem Taxi abholen lassen, kostet das ein Vermögen. Ich schalte auch die Uhr aus …«

»Danke, Pelle. Aber es ist wohl das Beste für uns beide, wenn Sie hier nicht Zeuge sind, verstanden?«

»Nein.«

»Gut.«

Der junge Mann stieg aus, blieb stehen und sah Pelle noch einmal an. Pelle zuckte mit den Schultern und rollte langsam davon. Er hörte das Knirschen des Schotters unter den Rädern, während er den jungen Mann im Rückspiegel beobachtete, bis er im dunklen Wald nicht mehr zu sehen war.

Pelle hielt den Wagen an. Er blieb sitzen und starrte in den Spiegel. Verschwunden. Wie sie.

Genau das war so schwer zu verstehen. Wie konnten Menschen, die immer da gewesen waren, Teil deines Lebens gewesen waren, plötzlich verschwinden, so dass man sie nie wiedersah? Außer im Traum. In den guten Träumen. Denn in den schlechten sah er sie nie. Dann sah er nur die Straße und die Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos. Pelle Granerud, früher einmal ein vielversprechender Rallyefahrer, schaffte es in diesen Träumen nicht, zu reagieren und das simple Manöver einzuleiten, durch das er dem Besoffenen auf der falschen Fahrbahn hätte ausweichen können. Statt zu tun, was er jeden Tag im Training übte, erstarrte er. Weil er wusste, er lief Gefahr, das zu verlieren, was er nicht verlieren durfte. Nicht das eigene Leben, nein, sondern die beiden, die sein Leben waren. Die beiden, die er gerade aus dem Krankenhaus abgeholt hatte und die sein neues Leben sein sollten. Das gerade erst begonnen hatte. Als Vater. Ganze drei Tage hatte dieses Leben gedauert. Und als er aufwachte, war er wieder im gleichen Krankenhaus. Zuerst unterrichteten sie ihn über die Verletzungen an seinen Beinen. Ein Missverständnis, denn durch den Schichtwechsel waren sie nicht darüber informiert, dass Pelles Frau und Kind bei dem Unfall getötet worden waren. Es dauerte zwei Stunden, bis er das erfuhr. Er war allergisch gegen Morphium, angeblich war so etwas erblich, und hatte Tag für Tag unerträgliche Schmerzen ausgehalten und immer wieder ihren Namen geschrien. Aber sie kam nicht. Und Stunde für Stunde, Tag für Tag erkannte er allmählich, dass er sie nie, nie wiedersehen würde. Trotzdem hörte er nicht auf, ihren Namen zu rufen. Nur um ihn zu hören. Für das Kind hatten sie noch gar keinen Namen gehabt. Dann erkannte Pelle, dass diese Schmerzen erst an diesem Abend, als der junge Mann ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, ganz von ihm abgefallen waren.

Pelle beobachtete noch immer die Silhouette des Mannes, der hinter dem großen gardinenlosen Panoramafenster in dem weißen Haus saß. Das Wohnzimmer war hell erleuchtet, als säße der Mann in einem Ausstellungsraum. Als wartete er auf etwas.

Der Große kam mit dem Mann, mit dem er am Flügel gesprochen hatte, auf Iver und Fredrik zu.

»Der will mit dir reden, nicht mit mir«, flüsterte Fredrik und entfernte sich. Allem Anschein nach hatte er an der Bar etwas Russisches entdeckt.

Iver schluckte. Wie lange machte er jetzt schon mit diesem Mann Geschäfte? Sie saßen im selben Boot, hatten gute Zeiten und die wenigen schlechten geteilt, als zum Beispiel die Folgen der weltweiten Finanzkrise auch an die norwegische Küste geschwappt waren. Trotzdem war er noch immer angespannt, fast ängstlich, wenn der Große sich näherte. Jemand hatte ihm erzählt, er schaffte sein anderthalbfaches Gewicht beim Bank­drücken. Und das nicht nur einmal, sondern zehnmal. Seine physische Kraft war beeindruckend, aber das war bei weitem nicht alles, denn dieser Mann bekam einfach alles mit, was man sagte, jedes Wort, ja, jede noch so kleine Betonung. Sogar oder gerade das, was man nicht auszusprechen wagte. Ganz zu schweigen von dem, was man durch Körpersprache, Gesichtsfarbe und Pupillenbewegungen verriet.

»Und, Iver?« Die tieffrequente, sonore Stimme. »Wie geht’s? Agnete. Das ist schwer, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Iver und hielt nach einer Bedienung Ausschau.

»Ich wollte dir jemanden vorstellen, mit dem du ein paar Dinge gemeinsam hast. Ihr seid beide vor kurzem Witwer geworden …«

Der Mann mit der Augenklappe reichte ihm die Hand.

»… und das durch denselben Mörder«, sagte der Große.

»Yngve Morsand«, sagte der Mann und drücke Ivers Hand. »Mein Beileid.«

»Gleichfalls«, sagte Iver Iversen. Daher kannte er ihn also. Das war der Reeder, der Witwer der Frau, der der obere Teil des Schädels abgetrennt worden war. Er war eine Zeitlang der Hauptverdächtige der Polizei gewesen, bis sie DNA am Tatort gefunden hatte. DNA von Sonny Lofthus.

»Yngve wohnt am Stadtrand von Drammen«, sagte der Große. »Und heute Abend haben wir sein Haus gemietet.«

»Ach ja?«

»Wir haben dort eine Falle aufgebaut. Wir werden Agnetes Mörder schon kriegen, Iver.«

»Der Zwilling meint, die Chancen stehen gut, dass Sonny Loft­hus es heute Abend auf mich abgesehen hat«, sagte Yngve Morsand lachend und sah sich nach irgendetwas um. »Ich habe dagegen gewettet. Können Sie Ihre Bedienungen nicht bitten, etwas Stärkeres zu servieren als diese Martinis, Zwilling?«

»Es ist der nächste logische Zug von Sonny Lofthus«, sagte der Große. »Glücklicherweise ist er so systematisch und berechenbar, dass ich diese Wette wohl gewinnen werde.« Der große Mann grinste breit. Die Zähne blitzten weiß unter dem Schnurrbart, und seine Augen zogen sich wie zwei Striche durch das fleischige Gesicht. Er legte dem Reeder die gigantische Hand auf den Rücken: »Und es wäre mir lieber, Sie würden meinen Spitznamen nicht verwenden, Yngve.«

Der Reeder sah ihn grinsend an: »Sie meinen Zwill… Ah.« Sein Mund öffnete sich, und sein Gesicht erstarrte in einer ungläubigen Grimasse. Iver sah, wie die Finger den Nacken des Reeders losließen und der Mann sich hustend vorbeugte.

»Verstanden, ja?« Der Große machte mit der Hand ein Zeichen in Richtung Bar und rief: »Drinks!«

Martha steckte den Löffel ziellos in die Moltebeercreme. Die Worte, die aus allen Richtungen auf sie einprasselten, überhörte sie. Ob dieser Mann sie schon einmal belästigt habe? Ob er gefährlich sei? Ob er wirklich im Hospiz wohne und womöglich auf die Idee kommen könnte, Anders wegen seines resoluten Eingreifens anzuzeigen? Diese Drogenabhängigen waren ja schrecklich unberechenbar. Aber vermutlich hatte der ja unter Drogen gestanden und erinnerte sich an nichts. Ein Onkel meinte, er habe dem Mann aus dem Fernsehen ähnlich gesehen, der wegen Mordes gesucht wurde. Wie war noch mal sein Name? Ein Ausländer? Aber Martha, warum willst du denn nicht antworten? Ihr müsst das doch verstehen, sie unterliegt der Schweigepflicht.

»Ich esse Moltebeercreme«, sagte Martha. »Die ist gut, ihr solltet sie auch probieren. Ich hole noch Nachschlag.«

In der Küche stellte Anders sich hinter sie.

»Ich habe gehört, was er gesagt hat«, flüsterte er. »Ich liebe dich? Das war doch der Typ, den wir im Ila auf dem Flur getroffen haben. Mit dem du auf so merkwürdige Weise kommuniziert hast. Was läuft da eigentlich zwischen euch?«

»Anders, bitte …«

»Habt ihr gefickt?«

»Hör auf!«

»Er hat jedenfalls ein schlechtes Gewissen. Sonst hätte er ja wohl seine Pistole gezogen. Was wollte der hier? Mich erschießen? Ich rufe die Polizei …«

»Und was willst du der sagen? Dass du einen Mann angegriffen und ihm gegen den Kopf getreten hast, ohne dass er dich bedroht hat?«

»Und woher wollen die wissen, dass er mich nicht bedroht hat? Willst du ihnen das sagen?«

»Oder der Taxifahrer.«

»Du?« Er packte ihren Arm und lachte. »Doch, doch, du willst ihnen das sagen. Du würdest seine Partei ergreifen und deinen eigenen Mann verraten. Du blöde Hure …«

Sie riss sich los. Ein Dessertteller fiel zu Boden und zerbrach. Im Esszimmer war es vollkommen still geworden.

Sie lief auf den Flur, nahm ihr Cape und ging zur Tür. Hielt inne. Stand eine Sekunde still da. Dann drehte sie sich um und ging zurück ins Esszimmer. Sie ergriff einen Löffel, der noch weiß von Moltebeercreme war, und schlug gegen ein verschmier­tes Glas. Blickte auf und erkannte, dass sie längst die Aufmerksamkeit aller hatte.

»Liebe Freunde und Verwandte«, sagte sie. »Ich will nur sagen, dass Anders recht hatte. Wir schaffen es wirklich nicht, bis zum Sommer zu warten …«

Simon fluchte. Er stand mit seinem Auto mitten in Kvadraturen und starrte auf den Plan, den Bereich, in dem sich laut Telenor das Telefon befand, von dem aus Sonny Lofthus ihm die SMS geschickt hatte. Simon wusste inzwischen, dass es sich um ein Prepaid-Handy handelte, das auf Helge Sørensen registriert war. Logisch, Sonny hatte den Ausweis des krankgemeldeten Gefängniswärters genutzt.

Aber wo war er?

Der Bereich umfasste nur wenige Quadrate auf der Karte, diese bildeten jedoch eine der bevölkerungsreichsten Gegenden von ganz Oslo ab. Mit Geschäften, Büros, Hotels und Wohnungen. Simon zuckte zusammen, als jemand gegen das Seitenfenster klopfte. Ein stark geschminktes, untersetztes Mädchen, das Hot Pants trug und die Brüste in eine Art Korsett gezwängt hatte. Er schüttelte den Kopf, und sie schnitt ihm eine fürchterliche Grimasse. Simon hatte vergessen, dass er sich mitten im Strichviertel befand, wo ein einzelner Mann in einem geparkten Auto natürlich als potentieller Kunde angesehen werden musste. Sich einen im Auto blasen lassen oder eine Zehn-Minuten-Nummer im Bismarck oder an der Mauer der Akershus-Festung. Er hatte so etwas auch schon hinter sich, war aber alles andere als stolz darauf. Damals war er bereit gewesen, für ein bisschen menschliche Wärme und eine Stimme, die »Ich liebe dich« hauchte, zu zahlen. Eine »Zusatzleistung«, die mit zweihundert Kronen extra berechnet wurde.

Er rief die Nummer noch einmal an. Musterte die Leute, die auf dem Bürgersteig auf und ab gingen, und hoffte darauf, dass jemand zum Handy griff und sich so entlarvte. Seufzend beendete er die Verbindung und sah auf die Uhr. Das Telefon befand sich auf jeden Fall noch am selben Ort, was ja nur bedeuten konnte, dass Sonny sich ruhig verhielt und an diesem Abend keine weitere Teufelei plante. Warum sagte Simon sein Gefühl nur etwas anderes?

Bo saß in dem fremden Zimmer und starrte durch das große Panoramafenster nach draußen. Hinter ihm stand eine helle Lampe, deren Lichtstrahl zum Fenster gerichtet war, so dass man von draußen nur Bos Silhouette erkennen konnte und keine Details. Wobei natürlich zu hoffen war, dass Sonny Lofthus Yng­ve Morsand nicht kannte. Bo dachte, dass auch Sylvester so dagesessen hatte. Der gute, dumme, loyale, lärmende Sylvester. Auch er war von diesem Teufel ermordet worden. Wie, würden sie wohl nie erfahren. Denn es würde kein Verhör geben, keine Folter, bei der Bo die Rache hinauszögern und genießen konnte wie ein Glas Retsina. Viele mochten den harzigen Geschmack nicht, aber für Bo war das ein Geschmack der Kindheit, von ­Telendos, Freunden, einem sich auf den Wellen wiegenden Boot, in dem er lag und den immer blauen griechischen Himmel genoss, während er das Duett der plätschernden Wellen und des singenden Windes hörte. In seinem rechten Ohr klickte es.

»Unten auf dem Weg hat ein Auto gehalten und dann kehrtgemacht.«

»Ist jemand ausgestiegen?«, fragte Bo. Ohrhörer, Leitung und Mikrofon waren so diskret, dass sie von draußen und im Gegenlicht nicht zu sehen waren.

»Das konnten wir nicht erkennen, aber das Auto entfernt sich jetzt wieder. Vielleicht hatte sich nur jemand verfahren.«

»Okay, aber seid alle auf der Hut.«

Bo zog die schusssichere Weste zurecht. Er nahm nicht an, dass Lofthus überhaupt dazu kam, einen Schuss abzufeuern, wollte aber trotzdem kein Risiko eingehen. Er hatte zwei Männer draußen im Garten platziert, die Lofthus packen sollten, wenn er durchs Tor kam oder über den Zaun kletterte, und einer wartete im Flur hinter der unverschlossenen Eingangstür. Alle anderen Zugänge zum Haus waren verriegelt. Sie waren seit fünf Uhr nachmittags hier und wurden bereits müde, dabei hatte die Nacht gerade erst begonnen. Aber der Gedanke an Sylvester würde ihn schon wach halten. Der Wunsch, diesen Kerl zu erledigen. Denn kommen würde er. Wenn nicht in dieser Nacht, so morgen oder in der Nacht danach. Bo hatte sich schon oft dar­über gewundert, dass der Große – jemand, der überhaupt nicht menschlich war – sich so gut mit den Menschen auskannte. Was die normalen Menschen antrieb, wo ihre Schwächen lagen, welche inneren Motive sie hatten und wie sie unter dem Einfluss von Stress und Angst reagierten. Mit nur wenigen Informationen über ihr Temperament, ihre Laster und ihre Intelligenz konnte er ihre nächsten Schritte mit überraschender oder, wie er selbst sagte, enttäuschender Sicherheit vorhersagen. Leider lautete die Order des Großen, den jungen Mann sofort zu töten. Sie wollten keine Gefangenen, die Liquidierung würde rasch und viel zu schmerzfrei sein.

Bo setzte sich etwas anders hin, als er ein Geräusch hörte. Noch ehe er sich umgedreht hatte, kam ihm der Gedanke, dass er selbst nicht die Fähigkeit des Großen hatte, die nächsten Schritte eines Widersachers vorherzusagen. Damals nicht, als er Sylvester zurückgelassen hatte, und jetzt auch nicht.

Der Junge hatte sich ein blutiges Tuch um die Stirn gewickelt und stand in der Seitentür, die vom Wohnzimmer direkt in die Garage führte.

Wie zum Henker war er dort reingekommen, sie hatten die ­Garage doch gerade erst abgeschlossen? War er von hinten aus dem Wald gekommen? Eine Garagentür aufzubrechen war für einen Junkie vermutlich ein Leichtes. Das eigentliche Problem aber war die Waffe, die er in der Hand hielt. Sie erinnerte frappierend an eine Uzi, die israelische Maschinenpistole, die Blei im Kaliber 9x19 ausspuckte, und das schneller als jedes Exekutionskommando.

»Sie sind nicht Yngve Morsand«, sagte Sonny Lofthus. »Wo ist der?«

»Er ist hier«, sagte Bo, der den Kopf zum Mikrofon gedreht hatte.

»Wo?«

»Er ist hier«, wiederholte Bo etwas lauter. »Im Wohnzimmer.«

Sonny Lofthus sah sich um, während er mit gezückter Maschinenpistole auf Bo zuging, den Finger am Abzug. Er schien das 36er-Magazin geladen zu haben. Dann blieb er stehen. Vielleicht hatte er den Ohrhörer und das dünne Kabel mit dem Mikrofon bemerkt.

»Sie haben mit jemand anderem gesprochen«, sagte der junge Mann und schaffte es gerade noch, einen Schritt zurückzuweichen, als Stan mit gezogener Pistole in den Raum stürzte. Bo packte seine Ruger und hörte das trocken klackernde Husten der Uzi. Hinter ihm zersprang das Glas der Panoramascheibe. Weißer Polsterstoff quoll aus den Möbeln, und Holzsplitter spritzten aus dem Parkettboden. Der Kerl verfeuerte seine Kugeln großzügig und nicht gerade zielgerichtet. Trotzdem konnte eine Uzi zwei Pistolen locker in Schach halten, so dass Bo und Stan auf dem Boden hinter den nächsten Sofas Schutz suchten. Es wurde still. Bo lag auf dem Rücken, die Pistole im Doppelgriff, falls das Gesicht des Kerls über der Sofalehne auftauchte.

»Stan!«, rief er. »Schnapp ihn dir!«

Keine Antwort.

»Stan!«

»Mach’s doch selbst!«, schrie Stan hinter seinem Sofa an der anderen Wand. »Mann, der hat eine scheiß Uzi!«

Es klickte im Ohrhörer: »Was ist los, Chef?«

Im selben Moment hörte Bo das Geräusch eines Wagens, der angelassen wurde. Der Motor heulte laut auf. Morsand hatte seinen stattlichen Mercedes 280 CE Coupé, Baujahr 1982, mit nach Oslo zur Party des Zwillings genommen, aber der Wagen seiner Frau – ein süßer kleiner Honda Civic – war noch da. Ohne Frau, die hatte Morsand ja ermordet, dafür allem Anschein nach aber mit steckendem Schlüssel. Machte man das hier draußen auf dem Land wirklich so? Die beiden Jungs im Garten schrien:

»Der versucht abzuhauen!«

»Das Garagentor geht auf!«

Bo hörte, wie krachend der Gang eingelegt wurde. Und der Motor beim gleich darauffolgenden Abwürgen laut aufstöhnte. War dieser Kerl so ein Anfänger? Konnte er weder schießen noch Auto fahren?

»Holt ihn euch!«

Der Motor wurde erneut angelassen.

»Wir haben was von einer Uzi gehört …«

»Uzi oder Zwilling, your choice

Bo rappelte sich auf, rannte zum zerbrochenen Panoramafenster und sah gerade noch, wie der Wagen aus der Garage fuhr. Nubbe und Evgeni hatten sich vor dem Tor postiert. Nubbe feuerte mit seiner Beretta Schuss auf Schuss ab, während Evgeni seine bis zum Schaft abgesägte Remington 870 angelegt hatte. Er zuckte mit dem ganzen Körper, als er abdrückte. Bo sah die Windschutzscheibe explodieren, aber das Auto beschleunigte weiter, traf Evgeni mit der Stoßstange über dem Knie, hob ihn hoch, so dass er sich in der Luft drehte und schließlich von dem fensterlosen Wagen verschluckt wurde wie ein Seehund von einem Orca. Der Civic nahm den Torpfosten und Teile des Staketenzauns mit, fuhr quer über die schmale Schotterstraße und verschwand in dem Kornfeld auf der anderen Seite. Ohne langsamer zu werden, pflügte der Wagen sich in einer langgezogenen Kurve durch die goldenen, vom Mond beschienenen Halme, bis er viel weiter vorne wieder auf die Schotterstraße fuhr. Der Motor heulte noch lauter auf, es hörte sich an, als hätte der Fahrer die Kupplung getreten, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Er fuhr nun im zweiten Gang, noch einmal wäre der Motor fast abgesoffen, fing sich aber wieder, so dass sich das Auto über die Schotterstraße entfernte. Da der Fahrer kein Licht eingeschaltet hatte, war es gleich darauf nicht mehr zu sehen.

»Zu den Wagen!«, schrie Bo. »Wir müssen ihn kriegen, bevor er in die Stadt kommt!«

Pelle sah dem Honda ungläubig nach. Er hatte die Schüsse gehört und im Spiegel gesehen, wie der Honda Civic vom Grundstück gerast war und dabei Teile des hübschen weißen Zauns mitgenommen hatte, bevor er im Kornfeld verschwand und schließlich geschmückt mit allerlei subventionierten landwirtschaftlichen Produkten auf der anderen Seite wieder auftauchte und seine zweifelhafte Fahrt auf der Schotterstraße fortsetzte. Der junge Mann war kein routinierter Fahrer, so viel stand fest, aber Pelle seufzte erleichtert auf, denn er hatte im Licht des Mondes das blutige Taschentuch über dem Lenkrad hinter der kaputten Windschutzscheibe gesehen. Dann war er auf jeden Fall am Leben.

Er hörte Schreie drüben am Haus.

Das Laden von Gewehren schallte durch die stille Sommernacht.

Ein Motor wurde angelassen.

Pelle hatte keine Ahnung, wer sie waren. Der junge Mann hatte ihm erzählt – wahr oder nicht –, dass der Mann, der dort drüben wohnte, getötet hätte. Vielleicht hatte er besoffen hinter einem Steuer gesessen und seine Strafe in irgendeinem Gefängnis abgesessen. Pelle wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nach Monaten und Jahren, in denen er möglichst viel Zeit hinter dem Steuer verbracht hatte, wieder am gleichen Punkt war. Reagieren oder erstarren. Die Bahn der Himmelskörper verändern oder es nicht tun. Ein junger Mann, der diejenige, die er liebte, nicht bekommen konnte. Pelle fuhr mit dem Finger über das Bild neben dem Lenkrad. Dann legte er den Gang ein und fuhr hinter dem Honda her. Er raste den Hang hinunter und schoss auf die kleine Brücke zu. Oben sah er Scheinwerfer aufblitzen, die die Dunkelheit durchschnitten. Er gab Gas, wurde schneller, drehte das Lenkrad leicht nach rechts, packte die Handbremse und drückte die Pedale kurz und rhythmisch wie ein Organist, während er das Lenkrad hart nach links drehte. Das Heck kam, wie es sollte, er schleuderte. Und als der Wagen stehen blieb, stand er genau quer auf der schmalen Brücke. Pelle nickte zufrieden, er hatte das Feeling nicht verloren. Er schaltete die Zündung aus, legte den ersten Gang ein, zog die Handbremse an, schob sich auf den Beifahrersitz und stieg auf der anderen Seite aus.

Zufrieden stellte er fest, dass auf beiden Seiten das Geländer höchstens zwanzig Zentimeter entfernt war. Er verschloss die Türen mit der Zentralverriegelung, ging in Richtung Landstraße und dachte an sie. Nur an sie. Ob sie ihn jetzt sah? Ob sie sah, dass er laufen konnte? Sein Fuß schmerzte kaum noch, er hinkte nur noch wenig. Vielleicht hatten die Ärzte ja recht. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, die Krücken wegzuwerfen.


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