Kapitel 10

Johannes kippte den Eimer im Waschbecken aus und stellte den Wischmopp in den Schrank. Er hatte alle Flure der ersten Etage und den Kontrollraum gewischt und sehnte sich nach dem Buch in seiner Zelle. Schnee auf dem Kilimandscharo. Trotz der vielen Kurzgeschichten, die darin abgedruckt waren, las er immer nur die eine über den Mann, der Wundbrand im Fuß bekommen hatte und wusste, dass er sterben musste. Doch diese Gewissheit machte ihn weder zu einem besseren noch zu einem schlechteren Menschen, sie steigerte nur seine Klarsicht, seinen Ernst und ließ ihn ungeduldiger werden. Johannes war nie ein großer Leser gewesen, aber da der Gefängnisbibliothekar ihm dieses Buch gegeben hatte und Johannes sich für Afrika interessierte, seit er mit dem Schiff nach Liberia und an die Elfenbeinküste gekommen war, hatte er die Kurzgeschichte über die anscheinend so kleine, unschuldige Wunde und den in seinem Zelt in der Savanne sterbenden Mann gelesen. Beim ersten Mal hatte er die Seiten nur überflogen, jetzt las er sie langsam, Wort für Wort, als wäre er auf der Suche nach etwas.

»Hallo.«

Johannes drehte sich um.

Sonny hatte nur geflüstert. Der Junge sah mit seinen eingefallenen Wangen und dem wilden Blick blass und fast durchsichtig aus. Wie ein Engel, dachte Johannes.

»Tag, Sonny. Hab gehört, dass du auf der Isolation warst. Wie geht’s dir?«

Sonny zuckte mit den Schultern.

»Du hast eine verdammt gute Linke«, sagte Johannes und zeigte auf die fehlenden Zähne in seinem Kiefer.

»Ich hoffe, du kannst mir das vergeben?«

Johannes schluckte. »Ich bin es, der Vergebung braucht, Sonny.«

Die beiden blieben stehen und sahen sich an. Johannes bemerkte, dass Sonny sich versicherte, dass niemand sonst auf dem Flur war. Er wartete.

»Willst du für mich ausbrechen, Johannes?«

Johannes ließ sich Zeit, er drehte die Worte in Gedanken hin und her, um zu sehen, ob sie dann vielleicht einen Sinn ergaben. Schließlich fragte er:

»Wie meinst du das denn? Ich will doch gar nicht ausbrechen. Außerdem: Wo sollte ich denn hin, die würden mich doch gleich wieder einsperren.«

Sonny antwortete nicht, aber die Verzweiflung in seinem Blick sprach Bände.

»Du willst … du willst, dass ich irgendwie nach draußen komme, um dir Boy zu besorgen.«

Sonny antwortete noch immer nicht, hielt dem Blick des alten Mannes aber mit der üblichen Intensität stand. Armer Junge, dachte Johannes. Dieses verfluchte Heroin.

»Warum fragst du gerade mich?«

»Weil nur du Zugang zum Kontrollraum hast. Außer dir kann das keiner machen.«

»Falsch, ich bin der Einzige, der Zugang zum Kontrollraum hat und daher weiß, dass das nicht klappt. Die Türen kann man nur mit registrierten und autorisierten Fingerabdrücken öffnen. Und meine gehören nicht gerade dazu, Sonny. Ich kann sie auch nicht einfach hinzufügen, denn dafür braucht es eine Bestätigung von vier verschiedenen Stellen. Ich habe diese Formulare gesehen …«

»Alle Türen können vom Kontrollraum aus geöffnet und geschlossen werden.«

Johannes schüttelte den Kopf. Er sah sich noch einmal um und versicherte sich, dass sie noch immer allein waren. »Selbst wenn man rauskommen würde, warten draußen doch noch die Wachleute an der Einfahrt. Und die verlangen von jedem, der rein oder raus will, den Ausweis.«

»Von absolut jedem?«

»Ich weiß nicht, außer vielleicht morgens direkt nach dem Wachwechsel, und entsprechend dann noch mal nachmittags und abends. Dann lassen sie bekannte Autos und Gesichter einfach so fahren.«

»Und Leute in Wachuniformen?«

»Vermutlich auch, ja.«

»Wenn du dir also eine Uniform besorgen und während des Wachwechsels fliehen würdest?«

Johannes legte Zeigefinger und Daumen an sein Kinn. Seine Wangenknochen schmerzten noch immer.

»Und wo sollte ich so eine Uniform hernehmen?«

»Aus Sørensens Garderobenschrank im Umkleideraum. Den kriegst du locker mit einem Schraubenzieher auf.«

Sørensen war ein Gefängnisangestellter, der seit mehr als zwei Monaten krankgeschrieben war. Nervenzusammenbruch. Johannes wusste, dass man das längst nicht mehr so nannte, aber egal, es war in jedem Fall ein schreckliches Chaos der Gefühle. Er hatte das selbst schon erlebt.

Johannes schüttelte den Kopf. »Und womit sollte ich alter Mann die Wachen bedrohen?«

Sonny zog sein langes weißes Hemd hoch und fischte das Zigarettenetui aus seiner Hosentasche. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und machte ein Feuerzeug an, das wie eine kleine Pistole aussah. Johannes nickte langsam. »Es geht nicht um Drogen. Ich soll da draußen etwas anderes für dich machen, nicht wahr?«

Sonny zog die Flamme in die Zigarette und atmete den Rauch aus. Er kniff die Augen zu.

»Würdest du das machen?« Seine Stimme klang so warm und brüchig.

»Wenn du mir dann meine Sünden vergibst«, sagte Johannes.

Arild Franck entdeckte sie gleich, als er um die Ecke kam. Sonny Lofthus hatte Johannes die Hand auf die Stirn gelegt. Der Alte stand mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen da. Sie ­sahen aus wie zwei verfluchte Homos. Er hatte auf dem Monitor im Kontrollraum gesehen, dass sie miteinander redeten. Manchmal ärgerte er sich, dass sie nicht alle Kameras mit Mikrofonen ausgestattet hatten, schließlich hatte er ihren wachsamen Blicken entnehmen können, dass sie nicht gerade über das Wetter redeten. Dann hatte Sonny etwas aus der Tasche gezogen und der Kamera den Rücken zugedreht, so dass er nicht erkennen konnte, was es war. Danach war allerdings Zigarettenrauch aufgestiegen.

»He! Hier in meinem Gefängnis wird nicht geraucht, verstanden?«

Johannes’ grauer Kopf wippte nach oben, und Sonny ließ die Hand sinken.

Franck ging zu ihnen und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Hau ab und geh irgendwo putzen, Halden.«

Franck wartete, bis der Alte außer Hörweite war. »Worüber habt ihr geredet?«

Sonny zuckte mit den Schultern.

»Ach ja, du hast ja Schweigepflicht.« Arild Franck lachte bellend. Das Geräusch wurde zwischen den kahlen Wänden hin und her geworfen. »Und, Sonny, hast du inzwischen nachgedacht?«

Der junge Mann drückte die Zigarette an der Schachtel aus, steckte beides wieder ein und kratzte sich am Unterarm.

»Juckt das?«

Sonny antwortete nicht.

»Ich denke, es gibt Schlimmeres als Jucken. Vermutlich auch als Drogensucht. Hast du mal von dem aus der 121 gehört? Der wollte sich am Lampenhaken aufhängen, hat das dann aber wohl bereut, nachdem er den Stuhl weggetreten hatte, und sich deshalb den Hals aufgekratzt. Wie war noch mal sein Name? Gómez? Díaz? Aber egal, auf jeden Fall war das einer von denen, die für Nestor gearbeitet haben. Es gab damals eine gewisse Unruhe. Angeblich soll er geredet haben. Beweise gab es nicht, aber manchmal reicht ja schon der Verdacht. Es muss seltsam sein, mitten in der Nacht im Gefängnis im Bett zu liegen und nichts mehr zu fürchten, als dass die Zellentür nicht verschlossen sein könnte. Dass jemand im Kontrollraum mit einem simplen Tastendruck dafür gesorgt haben könnte, dass alle Mörder dieser Einrichtung freien Zutritt haben.«

Der junge Mann hatte den Blick gesenkt. Aber Franck sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Dieser Kerl würde schon noch zur Vernunft kommen. Falls er klug war. Franck mochte keine Todesfälle in seinen Gefängniszellen, sie führten immer nur zu Nachforschungen, wie plausibel sie auch sein mochten.

»Ja.«

Es kam so leise, dass Franck sich automatisch nach vorn beugte. »Ja was?«, wiederholte er.

»Morgen. Morgen kriegt ihr euer Geständnis.«

Franck verschränkte die Arme vor der Brust und wippte auf den Füßen auf und ab. »Gut. Dann komme ich morgen früh mit Harnes wieder. Und dieses Mal machst du keine Dummheiten, verstanden! Und noch was, schau dir, bevor du ins Bett gehst, noch mal den Lampenhaken an.«

Der Junge hob den Kopf und begegnete dem Blick des stellvertretenden Gefängnisleiters. Franck hatte längst den Glauben aufgegeben, dass die Augen ein Spiegel der Seele waren. Dafür hatte er zu viele unschuldige Blicke gesehen, während ihm die Leute das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatten. Außerdem war das ein seltsamer Ausdruck. Spiegel der Seele? Hieß das nicht eigentlich, dass man seine eigene Seele sah, wenn man dem anderen in die Augen blickte? Vielleicht. War ihm der Blick dieses Mannes deshalb so unangenehm?

Franck wandte sich ab. Es kam darauf an, sich auf das Wichtige zu konzentrieren und nicht über etwas nachzugrübeln, was zu nichts führte.

»Weil es spukt, deshalb.«

Lars Gilberg führte die dünne Kippe mit aschgrauen Fingern an die Lippen und sah zu den zwei Polizisten hoch, die vor ihm in die Hocke gegangen waren.

Simon und Kari hatten drei Stunden gebraucht, bis sie ihn unter der Grünerbrua gefunden hatten. Sie hatten ihre Suche im Ila-Hospiz begonnen, wo Gilberg allerdings seit einer Woche nicht mehr gesehen worden war. Danach waren sie im Café der Stadtmission in der Skippergata gewesen, auf der Plata am Hauptbahnhof, die noch immer als Umschlagplatz für Drogen her­halten musste, und zuletzt bei der Heilsarmee in der Urtegata. Die dort erhaltenen Informationen hatten sie zur Elchstatue am Fluss geführt, die die Grenze zwischen Speed und Heroin markierte. Kari hatte Simon auf dem Weg dorthin erklärt, dass der Markt für Amphetamin und Methamphetamin von der Elchstatue bis zur Brücke im Viertel Vaterland fest in der Hand von Albanern und Nordafrikanern war. Vier Somalier standen um eine Bank herum in der Sonne und traten von einem Fuß auf den anderen, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Einer von ihnen nickte, als Kari ihm das Bild zeigte und deutete nach Norden in Richtung des Flussbereichs, in dem Heroin verkauft wurde. Dann fragte er mit einem Augenzwinkern, ob sie als Marschverpflegung nicht ein Gramm Crystal brauchten. Ihr Gelächter verfolgte Simon und Kari, als sie dem Pfad in Richtung Grünerbrua folgten.

»Du willst nicht mehr im Ila wohnen, weil du glaubst, dass es da spukt?«, fragte Simon.

»Ich glaube das nicht, Mann. Ich bin mir da verflucht sicher. Es war vollkommen unmöglich, in diesem Zimmer zu wohnen, das war schon besetzt, als ich gekommen bin, das habe ich ganz deutlich gespürt. Wenn ich nachts aufgewacht bin, habe ich zwar nie einen gesehen, aber ich wusste genau, dass mir gerade zuvor noch jemand ins Gesicht gepustet hatte. Und das war nicht bloß in meinem Zimmer so, frag mal die anderen da oben!« Gilberg starrte missbilligend auf seine abgebrannte Kippe.

»Und deshalb campst du lieber hier?«, fragte Simon und hielt ihm seine Snusdose hin.

»Spuken oder nicht, ich halte es in diesen engen Zimmern sowieso nicht aus. Und das hier …« Gilberg klopfte mit der Hand auf die Unterlage aus Zeitungen und den löchrigen Schlafsack neben sich. »… ist im Sommer doch klasse.« Er zeigte nach oben. »Ein Dach, das nicht leckt. Aussicht über das Wasser. Gratis und in unmittelbarer Nähe zum öffentlichen Nahverkehr und zu Geschäften. Was will man mehr?« Er nahm drei Snuspäckchen aus Simons Dose, schob sich eines unter die Oberlippe und steckte die anderen beiden in die Tasche.

»Und du arbeitest jetzt als Pastor?«, fragte Kari.

Gilberg legte den Kopf in den Nacken und sah fragend zu ­Simon.

»Wegen dem Kragen, den du trägst«, sagte der Polizist. »Wie du ja vielleicht in deinen Morgenzeitungen gelesen hast, wurde hier etwas oberhalb ein Pastor im Fluss gefunden. Tot.«

»Nee, davon weiß ich nichts.« Gilberg nahm die Snuspäckchen wieder aus der Tasche und steckte sie zurück in die Dose, bevor er sie Simon reichte.

»Die Kriminaltechnik wird keine zwanzig Minuten brauchen, um festzustellen, dass das der Kragen des toten Pastors ist, Lars. Und dann sitzt du zwanzig Jahre wegen Mordes.«

»Mord? Von Mord stand da nichts …«

»Aha, du liest also doch Zeitung. Der Mann war tot, bevor man ihn in den Fluss geworfen hat. Das konnten wir an den Blut­ergüssen sehen, die er hatte. Er ist auf den Steinen aufgeschlagen, aber die Haut reagiert anders, wenn man schon tot ist. Verstanden?«

»Nein.«

»Soll ich dir das wirklich erklären? Oder soll ich dich daran erinnern, wie schrecklich eng so eine Gefängniszelle ist?«

»Aber ich habe ihn nicht …«

»Na ja, auch als möglicher Verdächtiger musst du damit rechnen, ein paar Wochen in Untersuchungshaft zu sitzen. Und die U-Haft-Zellen sind noch kleiner.«

Gilberg sah sie nachdenklich an und saugte ein paarmal fest an dem Snuspäckchen.

»Was wollt ihr?«

»Dass du uns sagst, was passiert ist.«

»Das weiß ich doch nicht, habe ich doch schon gesagt.«

»Du hast gar nichts gesagt, Lars. Es hört sich aber an, als wäre es dir wichtig, nichts zu sagen. Warum?«

»Es geht doch bloß um diesen Kragen. Der ist einfach an Land getrieben und dann …«

Simon stand auf und nahm Gilberg am Arm. »Komm, dann gehen wir.«

»Moment!«

Simon ließ ihn los.

Gilberg senkte den Kopf. Atmete schwer. »Das waren Nestors Leute. Aber ich kann nicht … Du weißt, was Nestor mit Leuten macht, die …«

»Ja, das weiß ich. Und du weißt auch, dass er es erfährt, wenn dein Name in den Verhörprotokollen des Präsidiums steht. Deshalb schlage ich vor, dass du uns jetzt ganz genau erzählst, was du weißt, und ich überlege mir dann, ob wir es vielleicht dabei belassen können.«

Gilberg schüttelte langsam den Kopf.

»Jetzt, Lars!«

»Ich hab da unten auf der Bank unter den Bäumen gesessen, bei der Sannerbrua. Ich war nur zehn Meter weg und habe sie oben auf der Brücke ganz genau gesehen. Ich glaube aber nicht, dass sie mich gesehen haben. Das Laub ist im Sommer ja ziemlich dicht. Sie waren zu zweit. Der eine hielt den Pastor fest, während der andere den Arm so komisch um seine Stirn legte. Ich war so nah, dass ich das Weiß in den Augen des Pastors sehen konnte. Da war nur Weiß, der muss die Pupillen irgendwie komplett weggedreht haben. Er hat aber keinen Laut von sich gegeben. War mucksmäuschenstill. Als wüsste er, dass es keinen Sinn macht, sich zu wehren. Dann hat der Kerl seinen Kopf nach hinten gekippt, wie so ein scheiß Chiropraktiker. Ich habe es knacken gehört, echt, ich mach keine Witze. Das klang wie ein Zweig im Wald.« Gilberg drückte sich den Zeigefinger auf die Oberlippe, blinzelte zweimal und starrte vor sich hin. »Dann haben sie sich umgesehen. Mann, die hatten gerade mitten auf der Sannerbrua jemanden umgebracht, waren aber total cool und gelassen. Aber mitten im Sommer ist Oslo ja auch manchmal merkwürdig leer. Dann haben sie ihn am Ende des Geländers über den Rand der Mauer nach unten gestoßen.«

»Das passt zu den Steinen, die da aus dem Wasser ragen«, sagte Kari.

»Er lag einen Moment da, bis das Wasser ihn gepackt und weggespült hat. Ich habe vollkommen still dagesessen und mich nicht gerührt. Wenn diese Typen mitbekommen hätten, dass ich sie gesehen habe …«

»Aber das hast du«, sagte Simon. »Und du warst so nah dran, dass du sie identifizieren könntest, wenn du sie wiedersehen würdest.«

Gilberg schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Hab sie schon vergessen. Das ist einer der Nachteile, wenn man immer alle möglichen Drogen nimmt. Man wird verdammt vergesslich.«

»In deinem Fall ist das wohl eher ein Vorteil«, sagte Simon und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Und woher wusstest du gleich, dass die für Nestor arbeiten?« Kari trat unruhig von einem Bein aufs andere.

»Wegen der Klamotten«, sagte Gilberg. »Die sehen alle gleich aus, als hätten sie eine Charge Anzüge geklaut, die eigentlich für den Bestatterverband gedacht war.« Er schob das Snuspäckchen mit der Zunge zur Seite. »Klar?«

»Wir geben dem Fall wieder erste Priorität«, sagte Simon zu Kari, als sie mit dem Wagen zurück in Richtung Präsidium fuhren. »Ich will, dass Sie Vollans Bewegungen der beiden Tage vor seiner Ermordung kartieren und wir uns so eine Übersicht verschaffen über alle, absolut alle, die mit ihm zu tun hatten.«

»Okay«, sagte Kari.

Sie fuhren am Blå vorbei und hielten für eine Gruppe junger Leute. Bestimmt auf dem Weg zu irgendeinem Konzert, dachte Simon und blickte in Richtung Kuba. Auf dem Open-Air-Platz bemerkte er eine große Leinwand. Kari rief gerade ihren Vater an, um ihm zu sagen, dass sie nicht zum Essen kommen könne. Auf der Leinwand wurde ein Schwarzweißfilm gezeigt. Bilder aus Oslo. Fünfziger Jahre. Simon musste gleich an seine Jugend denken. Für die jungen Leute von heute war das sicher nur eine kuriose Welt, etwas Vergangenes, allenfalls charmant und unschuldig. Er hörte Gelächter.

»Eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Kari, und Simon ging auf, dass sie nicht mehr telefonierte. »Sie haben gesagt, dass Nestor es erfahren würde, wenn wir Gilberg offiziell zum Verhör holen würden. Meinen Sie das ernst?«

»Was denken Sie?«, fragte Simon und beschleunigte in Richtung Hausmanns gate.

»Ich weiß nicht, es hörte sich so an, als würden Sie das wirklich glauben.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Das ist eine lange Geschichte. Es kursierte vor Jahren das Gerücht, dass bei uns ein Maulwurf arbeitet, der Informationen an jemanden weitergibt, der den Drogenhandel in Oslo kontrolliert. Das ist lange her, und obwohl damals alle darüber geredet haben, konnte niemand beweisen, dass es diesen Maulwurf oder seinen Kontakt wirklich gab.«

»Und wer soll dieser Kontakt im Drogenmilieu sein?«

Simon sah aus dem Fenster. »Bei uns hieß er damals der Zwilling.«

»Der Zwilling«, sagte Kari. »Über den haben wir im Drogen­dezernat auch gesprochen. Etwa so wie Gilberg über die Gespenster in Ila. Gibt’s den wirklich?«

»Schon, der Zwilling ist wohl Realität.«

»Und dieser Maulwurf?«

»Tja. Es gab mal einen Abschiedsbrief von jemandem namens Ab Lofthus, in dem er eingestanden hat, der Maulwurf zu sein.«

»Reicht das nicht als Beweis?«

»Meiner Meinung nach nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil Ab Lofthus der am wenigsten korrupte Mensch war, der jemals bei der Osloer Polizei gearbeitet hat.«

»Woher wissen Sie das?«

Simon hielt bei Rot an der Storgata. Es war fast so, als kröche das Dunkel aus den Fassaden um sie herum – und mit der Dunkelheit kamen die Gestalten der Nacht. Sie schlurften dahin, lehnten nahe den Türen, aus denen Musik dröhnte, an den Wänden oder saßen in Autos mit heruntergelassenen Scheiben. Mit suchenden, hungrigen Blicken. Jäger.

»Weil er mein bester Freund war.«

Johannes sah auf die Uhr. Zehn nach zehn. Zehn Minuten nach der Schließzeit. Die anderen waren bereits in ihren Zellen, er selbst wurde manuell eingeschlossen, wenn er gegen elf mit seiner Putzrunde fertig war. Es war seltsam. Hatte man lange genug im Gefängnis gesessen, kamen einem die Tage wie Minuten vor, und die Kalendergirls konnten kaum mit den vergehenden Monaten mithalten. Die letzte Stunde aber hatte sich wie ein Jahr angefühlt. Ein nicht zu Ende gehen wollendes, ein übles Jahr.

Er betrat den Kontrollraum.

Drei Männer hielten darin Wache, einer weniger als tagsüber. Die Federn eines Stuhls knirschten. Einer der drei wandte sich von den Monitoren ab.

»Hallo, Johannes.«

Es war Geir Goldsrud. Er schob mit dem Fuß den Mülleimer unter dem Tisch nach vorne. Diese Bewegung war inzwischen selbstverständlich. Der ältere Wachleiter half dem alten Putzmann mit dem steifen Rücken schon seit langem. Johannes hatte Geir Goldsrud von Anfang an gemocht. Er zog die Pistole aus der Tasche und hielt sie dem Wachleiter vor das Gesicht.

»Cool! Wo hast du die denn her?«, sagte der blonde Beamte, der in der dritten Liga für Hasle-Løren Fußball spielte.

Johannes antwortete nicht, sondern hatte den Blick fest auf einen Punkt zwischen Goldsruds Augen gerichtet.

»Kannst du mir damit Feuer geben?« Der dritte Beamte hatte sich eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt.

»Tu die weg, Johannes.« Goldsrud redete leise, ohne zu blinzeln, und Johannes wusste, dass er von ihm verstanden worden war. Dieses Ding war nicht bloß ein lustiges Feuerzeug.

»Cooles James-Bond-Teil. Wie viel willst du dafür?« Der Fußballspieler war aufgestanden und kam auf Johannes zu, um sich das Ding genauer anzuschauen.

Johannes richtete die kleine Pistole auf einen der Monitore unter der Decke und drückte ab. Er wusste nicht, was er sich davon erwartete, und war ebenso überrascht wie die anderen, als es knallte, der Bildschirm explodierte und das Glas auf sie herabregnete. Der Fußballspieler erstarrte.

»Auf den Boden!« Johannes hatte eigentlich einen vollen Bariton, doch jetzt hörte sich seine Stimme so an wie die eines hysterischen Waschweibs.

Aber es wirkte. Die Gewissheit, dass ein verzweifelter Mann mit einer tödlichen Waffe vor ihnen stand, hatte einen größeren Effekt als jeder Kommandoton. Alle drei knieten sich hin und legten die Hände auf den Hinterkopf, als hätten sie trainiert, was im Falle einer Bedrohung mit Schusswaffen zu tun war, und vermutlich hatten sie das ja auch. Es gab keinen anderen Weg als die hundertprozentige Kapitulation. Auf dieser Lohnstufe sowieso nicht.

»Ganz auf den Boden! Die Nasen in den Dreck!«

Sie gehorchten. Es war beinahe magisch.

Er starrte auf das Instrumentenpanel. Suchte die Knöpfe, die die Türen öffneten und schlossen. Fand erst nur den, der die Schleusen an allen Ausgängen entriegelte, doch dann entdeckte er auch den roten Generalknopf, der absolut alle Türen öffnete und nur im Brandfall benutzt werden durfte. Er drückte ihn. Ein langer Pfeifton erklang und signalisierte, dass die Türen des Gefängnisses nicht mehr verschlossen waren. In diesem Moment kam ihm ein seltsamer Gedanke. Endlich war er da, wo er immer hingewollt hatte. Als Kapitän auf der Brücke eines Schiffs.

»Weiter nach unten schauen«, sagte er. Seine Stimme klang bereits wieder stabiler. »Wenn ihr mich aufzuhalten versucht, werden meine Kompagnons und ich mich an euren Familien rächen. Vergesst nicht, dass ich alles über euch weiß, Jungs. Trine, Valborg …« Er sagte die Namen von Frauen und Kindern auf, nannte die Schulen, auf die sie gingen, welche Interessen sie hatten und wo sie wohnten. All das Informationen, die die Beamten im Laufe der Jahre ganz nebenbei von sich gegeben hatten. Er warf einen letzten Blick auf die Monitore und verließ dann schnell den Raum. Auf dem Flur begann er zu laufen. Über die Treppe nach unten zur ersten Tür. Sie war offen. Dann über den nächsten Flur. Sein Herz hämmerte wild, er hatte schon lange nicht mehr trainiert und war alles andere als fit. Er musste in Zukunft wirklich mehr tun. Auch die zweite Tür war offen. Aber seine Beine wollten nicht mehr. Vielleicht hatte sich der Krebs bereits in die Muskeln gefressen und sie geschwächt. Die dritte Tür führte in die Schleuse. Eigentlich nur ein kleiner vergitterter Raum. Man musste erst die eine Tür schließen, bevor man die andere öffnen konnte. Er wartete darauf, dass die Gittertür hinter ihm mit einem leisen Summen ins Schloss fiel, und zählte die Sekunden. Über den Flur konnte er bis zu den Umkleiden schauen. Als er endlich das ersehnte Geräusch hörte, drückte er die Klinke vor sich nach unten.

Verschlossen.

Verdammt! Er versuchte es noch einmal. Aber die Tür rührte sich nicht.

Er drückte mit dem Zeigefinger auf die weiße Sensorfläche neben der Tür. Ein Lämpchen blinkte ein paar Sekunden lang gelb, ehe es verlosch und ein anderes rot zu leuchten begann. Johannes wusste, dass der Sensor keinen autorisierten Fingerabdruck erkannt hatte, er rüttelte aber trotzdem noch einmal an der Klinke. Verschlossen. Verloren. Er ließ sich vor der Tür auf die Knie sinken und hörte im selben Moment Geir Goldsruds Stimme durch die Sprechanlage.

»Tut mir leid, Johannes.«

Die Stimme kam aus dem Lautsprecher oben an der Wand. Sie klang ruhig, fast tröstend.

»Das ist unser Job, Johannes. Wenn wir jedes Mal den Schwanz einziehen würden, nur weil jemand unsere Familien bedroht, gäbe es in ganz Norwegen vermutlich keine Strafvollzugsbeamten mehr. Beruhige dich erst mal. Wir kommen gleich runter und holen dich. Schiebst du die Pistole durch die Gittertür, oder müssen wir dich erst mit Gas betäuben?«

Johannes schaute nach oben, in die Kamera. Erkannten sie die Verzweiflung in seinem Blick? Oder war es doch Erleichterung? War er froh darüber, hier gestoppt worden zu sein, darüber, dass sein Leben nun doch weitergehen konnte wie bisher? Zumindest in etwa so wie bisher. Den Boden des ersten Stocks würde er wohl nicht mehr wischen dürfen.

Er schob die vergoldete Pistole durch die Gitterstäbe. Dann legte er sich auf den Boden, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und rollte sich zusammen wie eine Biene, die gerade ihren einzigen und damit letzten Stachel verloren hatte. Als er die Augen wieder öffnete, hörte er aber keine Hyänen, war er nicht an Bord eines Flugzeugs auf dem Weg zum Gipfel des Kilimandscharos. Er war noch immer irgendwo im Nichts, er war am Leben, er war hier.


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