Kapitel 2
Arild Franck rief ein knappes »Herein!«, ohne von den Papieren auf seinem Schreibtisch aufzusehen.
Gleich darauf hörte er die Tür gehen. Seine Sekretärin Ina hatte ihm den Besuch bereits angekündigt, und einen Augenblick lang hatte Arild überlegt, sie zu bitten, den Gefängnispastor aus Zeitgründen abzuwimmeln. Im Grunde nicht einmal eine Lüge, denn in einer halben Stunde hatte er einen Termin beim Polizeipräsidenten im Präsidium. Aber Per Vollan war in der letzten Zeit nicht so stabil gewesen, wie sie sich das wünschten. Es konnte also nicht schaden, einen Blick auf ihn zu werfen und zu überprüfen, ob er noch im Lot war. Bei diesem Fall gab es keinen Spielraum, keiner von ihnen durfte jetzt einen Fehler machen.
»Sie brauchen sich gar nicht erst zu setzen«, sagte der stellvertretende Gefängnisleiter, unterzeichnete ein Schreiben und stand auf. »Erzählen Sie mir unterwegs, um was es geht.« Er ging zur Tür, nahm die Uniformmütze von der Garderobe und hörte den schlurfenden Gang des Pastors hinter sich. Arild Franck rief Ina kurz zu, dass er in anderthalb Stunden wieder zurück sein würde, und drückte den Zeigefinger auf den Fingerabdrucksensor an der Tür, die ins Treppenhaus führte. Das Gefängnis hatte zwei Etagen und kam ohne Aufzüge aus. Aufzüge bedeuteten Aufzugschächte, die wiederum mögliche Fluchtwege darstellten und im Brandfall geschlossen werden mussten. Feuer und eine damit verbundene chaotische Evakuierung waren eine der vielen Gelegenheiten, die intelligente Häftlinge zum Ausbruch nutzten. Aus demselben Grund waren alle elektrischen Leitungen, Sicherungskästen und Wasserrohre außer Reichweite der Häftlinge unter Putz oder an den Außenseiten verlegt worden. Im Staten hatten sie an alles gedacht. Im Staten hatte er an alles gedacht. Schon in der Planungsphase des Gefängnisses hatte er mit Architekten und internationalen Experten zusammengesessen. Ihr Vorbild war das Gefängnis in Lenzburg gewesen, im Schweizer Kanton Aargau. Hypermodern, aber einfach und mit dem Fokus auf Sicherheit und Effektivität statt auf Komfort. Arild Franck war dieses Gefängnis, und umgekehrt. Deshalb wurmte es ihn gewaltig, dass nicht er, sondern dieser idiotische Emporkömmling aus dem Gefängnis in Halden von der bescheuerten Personalkommission zum Direktor gewählt worden war. Klar, er war manchmal recht kantig und nicht gerade der Typ, der den Politikern nach dem Mund redete und jeder neuen, ach so tollen Reform des Gefängniswesens applaudierte – lange bevor die vorherige überhaupt umgesetzt war. Aber er verstand sein Handwerk und ließ niemanden entkommen, ohne dass deshalb jemand krank wurde oder starb oder zu einem noch schlechteren Menschen wurde. Und er war loyal denen gegenüber, die seine Loyalität verdienten. Diese Leute konnten sich auf ihn verlassen. Das war mehr, als man über die bis ins Mark korrupten Politiker sagen konnte, von denen sie abhängig waren. Früher, bevor er übergangen worden war, hatte Arild Franck davon geträumt, bei seiner Pensionierung mit einer Büste im Foyer des Gefängnisses geehrt zu werden, und das, obwohl seine Frau meinte, sein halsloser Torso und sein Bulldoggengesicht mit den schütteren Haaren eigneten sich nicht sonderlich als Büste. Wenn man nicht bekam, was man verdiente, musste man es sich halt nehmen, lautete Arilds Lebensmotto seither.
»Ich kann das nicht mehr«, sagte Per Vollan hinter ihm, während sie über den Flur liefen.
»Was?«
»Ich bin Pastor. Was wir diesem Jungen antun … er soll für etwas büßen, was er gar nicht gemacht hat! Für einen Ehemann sitzen, der …«
»Leise!«
Vor dem Kontrollraum – den Franck gerne als »Die Brücke« bezeichnete – begegneten sie einem älteren Mann, der gerade Pause hatte und Franck freundlich zulächelte. Johannes war der älteste Insasse des Gefängnisses und ein Mann ganz nach Francks Geschmack. Eine freundliche Seele, die irgendwann im letzten Jahrhundert Drogen geschmuggelt hatte, seither aber so gründlich indoktriniert, klientifiziert und passivisiert worden war, dass ihm jetzt nur noch vor dem Tag graute, an dem er das Gefängnis verlassen musste. Wobei solche Häftlinge natürlich nicht die Herausforderung boten, nach denen ein Gefängnis wie das Staten förmlich verlangte.
»Haben Sie ein schlechtes Gewissen, Vollan?«
»Ja, ja, das habe ich, Arild.«
Franck konnte nicht mehr genau sagen, seit wann seine Kollegen ihn als Vorgesetzten mit Vornamen ansprachen. Oder seit wann Gefängnisdirektoren in Zivil statt in Uniform herumliefen. In manchen Anstalten trugen jetzt sogar die Wachleute Zivil. Bei der Gefängnisrevolte im Francisco-de-Mar-Gefängnis in São Paulo waren Beamte mit Tränengas beschossen worden, weil Wächter und Gefangene nicht zu unterscheiden waren.
»Ich will raus aus der Sache«, fauchte der Pastor.
»Ach ja?« Franck lief eilig die Treppe nach unten. Für jemanden, der in nur zehn Jahren pensioniert werden sollte, war er in guter Form. Weil er trainierte. Eine weitere vergessene Tugend in einer Branche, in der Übergewicht bald die Regel und längst nicht mehr die Ausnahme war. Früher, als seine Tochter noch schwamm, hatte er sogar die Jugendmannschaft trainiert und damit auch in der Freizeit seinen Beitrag für die Gesellschaft geleistet, die so vielen so vieles gab. »Und wie schlimm sind Ihre Gewissensbisse, wenn es um die kleinen Jungs geht, an denen Sie sich vergangen haben, Vollan?« Franck drückte den Zeigefinger auf den Sensor der nächsten Tür. Dahinter lag der Flur, der in westlicher Richtung in den Zellentrakt und in östlicher zu den Angestelltengarderoben und dem Ausgang zum Parkplatz führte.
»Ich denke, Sie sollten sich klarmachen, dass Sonny Lofthus auch für Ihre Sünden büßt, Vollan.«
Nächste Tür, nächster Sensor. Franck legte den Zeigefinger darauf. Er liebte diese Erfindung, eine Kopie aus dem Obihiro-Gefängnis in Kushiro, Japan. Statt Schlüssel auszuteilen, die verloren, kopiert oder missbraucht werden konnten, waren die Fingerabdrücke von allen Autorisierten in einer Datenbank gespeichert. So hatten sie nicht nur das Risiko eines unachtsamen Umgangs mit den Schlüsseln eliminiert, sondern sich auch einen Überblick darüber verschafft, wer wann wo passierte. Es gab zwar auch Überwachungskameras, aber Gesichter konnte man verbergen, Fingerabdrücke nicht. Die Tür öffnete sich mit einem Zischen, und sie kamen in eine Schleuse.
»Ich sage Ihnen, ich schaffe das nicht mehr, Arild.«
Franck legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Zusätzlich zu den Überwachungskameras, die große Teile des Gefängnisareals abdeckten, hatten sie in den Schleusen Gegensprechanlagen montiert. Man konnte also mit dem Kontrollraum kommunizieren, sollte man aus irgendeinem Grund nicht weiterkommen. Sie traten aus der Schleuse und gingen weiter zu den Garderoben mit den Duschen. Dort hatte jeder Angestellte einen eigenen Spind für Kleidung und andere persönliche Dinge. Dass der stellvertretende Gefängnisleiter einen Universalschlüssel hatte, mit dem man alle Schränke öffnen konnte, mussten die Angestellten Francks Meinung nach nicht wissen, eher im Gegenteil.
»Ich dachte, Sie hätten begriffen, mit wem Sie es hier zu tun haben«, sagte Franck. »Sie können da nicht einfach aussteigen. Für diese Leute ist Loyalität eine Frage auf Leben und Tod.«
»Ich weiß«, sagte Per Vollan, und sein Keuchen klang unangenehm belegt. »Für mich geht es aber nicht um das Leben hier auf Erden, sondern um das ewige Leben und den Tod.«
Franck blieb vor dem Ausgang stehen und sah nach links in den Garderobenraum, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren.
»Sie wissen, was Sie riskieren?«
»Ich werde niemandem ein Wort sagen, und Gott weiß, dass ich die Wahrheit sage. Ich will, dass Sie ihnen genau das sagen, Arild. Ich werde verschlossen wie eine Auster sein und einfach nur aussteigen. Können Sie mich aus der Sache rausholen?«
Franck blickte zu Boden. Auf den Sensor. Nach draußen. Es gab nur zwei Wege aus dem Gefängnis heraus. Den Hinterausgang zu den Parkplätzen und den Haupteingang am Empfang. Keine Belüftungsrohre, keine Notausgänge, keine Abwasserrohre, durch die ein Mensch hindurchgepasst hätte. »Vielleicht«, sagte er und legte den Finger auf den Sensor. Das kleine rote Licht oben auf der Klinke zeigte an, dass die Datenbank durchsucht wurde. Es verlosch und wurde durch ein kleines grünes Licht ersetzt. Er drückte die Tür auf.
Die grelle Sommersonne blendete ihn, und er holte seine Sonnenbrille heraus, als sie über den Parkplatz liefen. »Ich werde das weitergeben«, sagte Franck und suchte nach den Autoschlüsseln, während er zum Wachhäuschen hinüberblinzelte. Dort saßen rund um die Uhr zwei bewaffnete Männer, außerdem waren sowohl die Ein- als auch die Ausfahrt mit Stahlschranken gesichert, die nicht einmal Arild Francks Porsche Cayenne durchbrechen konnte. Vielleicht hätte es der Hummer H1 geschafft, den er sich eigentlich hatte kaufen wollen, aber der war zu breit für die aus Sicherheitsgründen extra schmal gehaltene Durchfahrt gewesen. Aus denselben Gründen hatte er innerhalb des sechs Meter hohen Zauns rund um das Gefängnis herum Stahlbarrikaden errichten lassen. Franck hatte den Zaun eigentlich unter Strom setzen wollen, aber das war ihm verwehrt worden, da das Staten mitten in Oslo lag und man die unschuldigen Anwohner nicht gefährden wollte. Dabei hätten diese von der Straße aus erst eine fünf Meter hohe Mauer mit Stacheldraht überwinden müssen, um zu dem Zaun zu gelangen, und wer das tat, war sicher kein unschuldiger Anwohner.
»Wo müssen Sie denn hin?«
»Alexander Kiellands plass«, sagte Per Vollan voller Hoffnung.
»Sorry«, erwiderte Arild. »Das liegt nicht auf meinem Weg.«
»Kein Problem, der Bus fährt ja da vorne.«
»Gut, Sie hören von mir.«
Der stellvertretende Gefängnisleiter setzte sich in seinen Wagen und fuhr in Richtung Wachhäuschen. Die Vorschrift besagte, dass alle Wagen angehalten und ihre Insassen kontrolliert werden mussten, und das galt auch für ihn. Da die beiden Wachmänner aber gesehen hatten, wie er aus dem Gefängnis gekommen und in seinen Wagen eingestiegen war, durften sie die Schranke ohne Kontrolle öffnen. Franck erwiderte ihren militärischen Gruß.
Hundert Meter weiter hielt er an der Kreuzung zur Hauptstraße vor der Ampel und studierte sein geliebtes Staten im Rückspiegel. Es war fast perfekt. Fast. Wären da nicht das Bauamt, die idiotischen Vorschriften aus dem Ministerium und die korrupte Personalkommission gewesen. Er hatte für alle immer nur das Beste gewollt. Für die hart arbeitenden, ehrlichen Bürger der Stadt, für alle, die ein Leben in Sicherheit und Wohlstand verdienten. Doch, es hätte anders kommen können. Sein Fehler war es nicht gewesen. Es verhielt sich genau so, wie er es immer seinen Schwimmschülern gesagt hatte: Schwimmt oder geht unter, ihr bekommt nichts geschenkt! Dann kehrten seine Gedanken wieder zu der Nachricht zurück, die er überbringen sollte. Er zweifelte keine Sekunde am Ausgang dieser Geschichte.
Die Ampel wurde grün, und er gab Gas.