Kapitel 42

Um fünf nach halb sieben unterdrückte die Empfangsdame der Kanzlei Tomte & Øhre ein Gähnen, während sie sich daran zu erinnern versuchte, in welchem Film sie solch einen Trenchcoat gesehen hatte, wie ihn die Frau vor ihr trug. Irgendwie musste sie an Audrey Hepburn denken. Frühstück bei Tiffany? Dazu passten auch der seidene Schal und die Sonnenbrille. Alles 60er-Jahre-Stil. Die Frau stellte eine Tasche hinter dem Empfangstresen ab, sagte, sie habe mit Jens Øhre vereinbart, die Tasche hier abzugeben, und ging.

Eine halbe Stunde später spiegelte sich die Sonne auf den Fenstern in der roten Backsteinfassade des Osloer Rathauses, die ersten Fähren legten am Kai von Aker Brygge an, und die Pendler aus Nesoddtangen, Son und Drøbak strömten an Land und zu ihren Arbeitsplätzen. Es würde wieder ein wolkenloser Tag werden, aber die prickelnde, klare Luft ließ erkennen, dass auch dieser Sommer nicht endlos währen sollte. Zwei Männer gingen Seite an Seite über die Uferpromenade, vorbei an Restaurants mit noch hochgestellten Stühlen, den morgendlich geschlossenen Boutiquen und den Straßenverkäufern, die gerade ihre Sachen auspackten, um einen neuen Angriff auf die Sommertouristen zu starten. Der jüngere der beiden trug einen eleganten, aber zerknitterten grauen Anzug mit Flecken. Der andere eine karierte Jacke aus dem Schlussverkauf von Dressman und eine Hose, die bestenfalls preislich zu der Jacke passte. Sie hatten die gleichen Sonnenbrillen auf, die sie vor gerade einmal zwanzig Minuten an einer Tankstelle erworben hatten, und hielten jeder einen Aktenkoffer in der Hand.

Die beiden Männer verschwanden in einer schmalen, menschenleeren Gasse. Fünfzig Meter weiter gingen sie eine Stahltreppe zu der unauffälligen Tür eines Restaurants hinunter, das dem Namen nach – er stand in diskreten Buchstaben an der Tür – Meeresfrüchte anbot. Der Ältere legte seine Hand auf den Griff der Tür. Sie war verschlossen. Er klopfte. Ein Gesicht, verzerrt wie in einem Jahrmarktspiegel, tauchte hinter dem Bullauge in der Tür auf. Der Mund bewegte sich, und die Worte klangen, als kämen sie aus der Tiefe eines Sees: »Zeigen Sie mir Ihre Hände.«

Sie taten, was der Mann wollte, und die Tür ging auf.

Der Mann war blond und stämmig. Sie sahen nach unten auf die Pistole, die er auf sie gerichtet hatte.

»Guten Morgen«, sagte der ältere der beiden Männer und schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn.

»Reinkommen«, sagte der Blonde.

Sie traten in das Restaurant und wurden sofort von zwei schwarzgekleideten Männern einer Leibesvisitation unter­zogen, während der Blonde mit gezogener Waffe entspannt am Garderobentresen lehnte. Die Pistole aus dem Schulterhalfter des Älteren wurde ihm gereicht.

»Der hier ist sauber«, sagte der eine Schwarzgekleidete und nickte in Richtung des Jüngeren. »Aber er hat diese seltsame Bandage um den Kopf.«

Der Blonde starrte ihn an. »So, so, dann bist du also dieser Buddha mit dem Schwert? Angel from Hell, was?«

Der Junge antwortete nicht. Der Blonde spuckte vor dessen blankgeputzten Vass-Schuhen auf den Boden. »Passt doch, sieht schließlich aus, als hätte dir jemand ein scheiß Kreuz in die Stirn geschnitten.«

»Ihnen auch.«

Der Blonde runzelte die Stirn. »Wie meinst du das denn, Bud­dha?«

»Spüren Sie das nicht?«

Der Blonde trat einen Schritt vor und stellte sich auf die Zehenspitzen, so dass ihre Nasen sich beinahe berührten.

»Immer mit der Ruhe«, sagte der Ältere.

»Halt den Mund, alter Mann!«, schimpfte der Blonde. Er schob die Jacke des Jungen zur Seite und zog ihm das Hemd aus der Hose. Dann ließ er seine Finger über den Verband am Bauch gleiten.

»Hier?«, fragte er, als er mit den Fingern an der Seite des jungen Mannes angekommen war.

Zwei Schweißperlen standen über der Sonnenbrille auf der Stirn des Jungen. Der Blonde bohrte einen Finger in den Verband. Der Junge öffnete den Mund, aber es kam kein Laut über seine Lippen.

Der Blonde fletschte die Zähne. »Na, da habe ich ja die richtige Stelle.« Er bohrte weiter und kniff ihm in die Haut.

Ein heiseres Stöhnen kam aus dem Mund des Jungen.

»Bo, der Chef wartet«, sagte einer der anderen.

»Ist ja schon gut«, sagte der Blonde leise, ohne den Blick von dem schwer atmenden Jungen zu nehmen. Der Blonde kniff noch fester zu. Eine einzelne Träne kam unter der Sonnenbrille auf der bleichen Wange des Jungen zum Vorschein.

»Schöne Grüße von Sylvester und Evgeni«, flüsterte der Blonde. Dann ließ er ihn los und wandte sich an die anderen. »Nehmt ihre Koffer und bringt sie rein.«

Die beiden gaben ihre Aktenkoffer ab und gingen ins Res­taurant.

Der Ältere wurde automatisch langsamer.

Die Silhouette eines Mannes – eines großen Mannes – zeichnete sich vor dem grünen Licht des Aquariums ab, in dem ein großer weißer Stein lag, in dem ein Kristall blinkte. Fäden stiegen von ihm auf, und Luftblasen tanzten an ihnen entlang nach oben. Bunte Fische flitzten hin und her, und unten am Boden lagen Hummer, deren Scheren mit Draht zusammengehalten wurden.

»Wie versprochen …«, flüsterte der Ältere. »Hier ist er.«

»Aber ich sehe keinen Maulwurf«, sagte der Junge.

»Vertrau mir, er kommt noch.«

»Hauptkommissar Simon Kefas«, donnerte der Große. »Und Sonny Lofthus. Wie lange habe ich darauf gewartet. Kommen Sie, setzen Sie sich.«

Die Bewegungen des Jungen waren steifer als die des älteren Mannes, als sie gegenüber von dem großen Mann Platz nahmen.

Ein Mann kam lautlos durch die Schwingtür, die zur Küche führte. Wie die anderen hatte er breite Schultern und einen Stiernacken. »Sie sind allein gekommen«, sagte er und stellte sich zu den beiden anderen des Willkommenskomitees, so dass sie hinter dem Jungen und dem Alten eine Art Halbkreis bildeten.

»Ist es zu hell hier drinnen!«, fragte der Große den Jungen, der noch immer seine Sonnenbrille trug.

»Ich sehe, was ich sehen will, aber danke der Nachfrage«, sagte der junge Mann tonlos.

»Gute Antwort, ich wünschte mir, ich hätte auch noch so junge, frische Augen.« Der Große zeigte auf seine Augen. »Wussten Sie, dass mit fünfzig die Lichtempfindlichkeit der Augen schon um dreißig Prozent reduziert ist? So gesehen, ist das Leben eine Wanderung ins Dunkel und nicht ins Licht, nicht wahr? No pun intended, was Ihre Frau angeht, Kefas, aber deshalb sollten wir alle so früh wie möglich lernen, auch ohne unsere Augen durchs Leben zu navigieren. Wir müssen uns die Fähigkeiten des Maulwurfs aneignen, mit anderen Sinnen zu erkennen, ob vor uns Hindernisse und Bedrohungen sind.«

Er breitete die Arme aus. Seine Hände wirkten wie zwei Baggerschaufeln.

»Oder man kauft sich einen Maulwurf, der dann für dich sieht. Das Problem mit Maulwürfen ist nur, dass sie sich meistens unter der Erde aufhalten, so dass sie leicht verlorengehen. Wie ich meinen verloren habe. Ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben ist. Und wenn ich richtig verstanden habe, sind auch Sie auf der Suche nach ihm?«

Der Junge zuckte mit den Schultern.

»Lassen Sie mich tippen. Kefas hat Sie mit dem Versprechen hierhergelockt, dass Sie dem Maulwurf begegnen, stimmt’s?«

Der Ältere räusperte sich: »Sonny ist freiwillig zu diesem Treffen mitgekommen, weil er Frieden schließen will. Er meint, die Rechnung seines Vaters ist inzwischen beglichen. So dass beide Seiten Frieden schließen können. Um Ihnen zu zeigen, dass er es wirklich ernst meint, hat er das Geld und das Dope mitgebracht, das er Ihnen gestohlen hat. Als Gegenleistung sollte dann aber auch die Jagd auf ihn abgeblasen werden. Könnte uns jemand die Koffer bringen?«

Der Große nickte dem Blonden zu, der die beiden Aktenkoffer auf den Tisch legte. Der Ältere streckte die Hand nach einem Koffer aus, aber der Blonde schlug sie weg.

»Also bitte«, sagte der Ältere und hob beide Hände. »Ich wollte nur zeigen, dass Herr Lofthus ein Drittel des Geldes und ein Drittel der Drogen mitgebracht hat. Den Rest bekommen Sie gegen die Zusage einer Waffenruhe, vorausgesetzt natürlich, wir kommen hier wieder lebend raus.«

Kari schaltete den Motor des Wagens aus und sah hinüber zu dem Neonschild an der Wand des früheren Werkstattgebäudes. Rote Buchstaben bildeten die Worte A-K-E-R B-R-Y-G-G-E. Menschen quollen aus den Fähren, die gerade angelegt hatten.

»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie als Polizeipräsident ohne Backup zu diesen Kriminellen reingehen sollten? Ist das Risiko nicht zu hoch?«

»Ein Freund von mir hat immer gesagt«, erwiderte Pontius Parr und überprüfte seine Pistole, bevor er sie wieder ins Schulterhalfter steckte, »kein Risiko, kein Gewinn

»Hört sich schwer nach Simon an«, sagte Kari. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Turm des Rathauses. Zehn nach sieben.

»Genau«, sagte Parr lächelnd. »Und wissen Sie was, Adel? Ich habe das Gefühl, dies wird ein ehrenhafter Tag für uns. Außerdem möchte ich, dass Sie anschließend mit mir zu dieser Pressekonferenz gehen. Der Polizeipräsident und die junge Beamtin.« Er schmatzte, als ließe er sich die Worte auf der Zunge zergehen. »Ja, ich glaube, das gefällt denen.« Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus.

Kari musste beinahe rennen, um auf der Promenade mit ihm Schritt zu halten.

»Und?«, fragte der Ältere. »Hört sich das nach einem Deal an, mit dem alle leben können? Sie kriegen zurück, was Ihnen gestohlen worden ist, und Sonny bekommt freies Geleit und verschwindet aus dem Land.«

»Und Sie kriegen Ihre kleine Provision für die Vermittlung, nicht wahr?«, ergänzte der Große lächelnd.

»Genau.«

»Hm.« Der Große sah Simon etwas unschlüssig an. »Bo, mach mal die Taschen auf.«

Der Blonde trat vor und versuchte, die Aktenkoffer zu öffnen. »Die sind verschlossen, Chef.«

»1«, sagte Sonny mit weicher, fast flüsternder Stimme. »9–9–9.«

Der Blonde stellte die Ziffern ein. Hob den Deckel und drehte den geöffneten Koffer zu seinem Chef.

»Guck mal einer an«, sagte der Große und nahm einen der Beutel mit der weißen Substanz. »Ein Drittel. Wo ist der Rest?«

»An einem geheimen Ort«, sagte der Ältere.

»Natürlich. Und der Code für den Koffer mit dem Geld lautet?«

»Es ist derselbe«, sagte Sonny.

»1999, das Jahr, in dem dein Vater von uns gegangen ist, nicht wahr?«

Der Junge antwortete nicht.

»Okay?«, fragte Simon, der angestrengt lächelte, und klatschte in die Hände. »Können wir jetzt gehen?«

»Oh, ich dachte, wir würden noch zusammen essen«, sagte der Große. »Sie mögen doch Hummer? Oder etwa nicht?«

Keine Reaktion.

Er seufzte tief. »Ehrlich gesagt, ich mag auch keinen Hummer. Aber wissen Sie was? Ich esse ihn trotzdem. Warum? Weil das von einem Mann in meiner Position erwartet wird.« Die Anzugjacke öffnete sich etwas, als er die Arme ausbreitete, und seine breite Brust kam zum Vorschein. »Hummer, Kaviar, Champagner. Ferraris, bei denen Ersatzteile fehlen, Exmodels, die Un­terhalt fordern, Einsamkeit auf der Yacht und Hitze auf den ­Seychellen. Wir machen viel, was wir eigentlich gar nicht wollen, nicht wahr? Aber man muss sich mit so etwas umgeben, um die Motivation aufrechtzuerhalten. Nicht meine, aber die der Leute, die für mich arbeiten. Sie brauchen diese Statussymbole. Die sichtbaren Beweise für all das, was ich erreicht habe. Und was sie erreichen können, wenn sie ihren Job machen, verstanden?« Der Große steckte sich eine Zigarette zwischen die fleischigen Lippen. Sie wirkte vor dem gewaltigen Gesicht seltsam klein. »Aber natürlich sind das auch Machtsymbole, um poten­tiellen Konkurrenten und Gegnern zu zeigen, in welcher Position ich bin. Das Gleiche gilt für Gewalt und Brutalität. Eigentlich mag ich das gar nicht. Aber manchmal sind diese Dinge für die Motivation einfach nötig. Damit mir alle bezahlen, was sie mir schulden, und niemand auf die Idee kommt, gegen mich zu ­arbeiten …« Er zündete sich die Zigarette mit einem Feuerzeug an, das wie eine Pistole aussah. »Zum Beispiel gab es da mal ­jemand, der für mich Waffen modifiziert hat. Er ist ausge­stie­gen. Ich akzeptiere, dass ein Mann lieber an Motorrädern herumschraubt, als Schusswaffen herzustellen. Ich kann aber nicht akzeptieren, dass er eine Uzi an einen Dritten weitergibt, von dem er weiß, dass er bereits mehrere meiner Leute getötet hat.«

Der Große klopfte mit dem Zeigefinger gegen das Aquarium.

Simon und Sonny folgten seinem Finger mit dem Blick. Der Jüngere zuckte zusammen, der Ältere starrte nur ins Wasser.

Auf den weißen Stein mit den wogenden Fäden. Es war kein Stein. Und es war auch kein Kristall, der blinkte. Es war ein Goldzahn.

»Mag sein, es wirkt übertrieben, einem Mann den Kopf abzuschlagen, aber manchmal sind bestimmte Maßnahmen notwendig, wenn es um Loyalität geht. Ich bin sicher, dass Sie da ganz meiner Meinung sind, Herr Hauptkommissar.«

»Entschuldigung?«, sagte Simon.

Der Große legte den Kopf leicht auf die Seite und betrachtete ihn. »Probleme mit dem Gehör, Herr Kommissar?«

Simon richtete den Blick nun wieder auf den Großen. »Ich fürchte, das ist das Alter. Es wäre leichter für mich, wenn Sie etwas lauter sprechen könnten.«

Der Zwilling lachte überrascht. »Lauter?« Er zog an der Zigarette und sah den Blonden an. »Habt ihr sie nach Mikrofonen durchsucht?«

»Ja, Chef, das Restaurant auch.«

»Sie werden also wirklich schwerhörig, Kefas? Wie wollen Sie und Ihre Frau dann … na, wie sollen wir das nennen? Soll die Blinde den Tauben leiten?«

Er sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um, und die vier Männer lachten.

»Sie lachen, weil sie Angst vor mir haben«, sagte der Große zu Sonny. »Haben Sie Angst, junger Mann?«

Sonny antwortete nicht.

Simon sah auf die Uhr.

Kari sah auf die Uhr. Sieben Uhr vierzehn. Parr hatte gesagt, sie müssten pünktlich sein.

»Hier ist es«, sagte Parr, zeigte auf den Namen an der Fassade, ging zur Tür des Restaurants und hielt sie für Kari auf.

In der Garderobe war es still und dunkel, aber aus dem angrenzenden Raum kamen Stimmen.

Parr nahm die Pistole aus dem Schulterhalfter und bedeutete Kari, dasselbe zu tun. Nach der Aktion in Enerhaugen hatte sie einen gewissen Ruf und deshalb hatte sie dem Polizeipräsidenten noch einmal gesagt, mit gefährlichen Aufträgen habe sie wenig Erfahrung. Er hatte erwidert, Simon habe darauf bestanden, dass gerade sie käme, außerdem reiche es in neun von zehn Fällen ohnehin aus, die Polizeimarke zu zeigen. Und in neunundneunzig von hundert Fällen, wenn die Marke zusammen mit einer Waffe präsentiert wurde. Trotzdem klopfte Karis Herz wild, während sie rasch auf die Tür des Speisesaals zugingen.

Als sie den Raum betraten, verstummten die Stimmen.

»Polizei!«, sagte Parr und richtete die Pistole auf die Männer an dem einzigen besetzten Tisch. Kari war zwei Schritte zur Seite getreten, die Waffe auf den größeren der Männer gerichtet. Einen Augenblick lang war es vollkommen still, bis auf Johnny Cashs Stimme, die mit »Give My Love To Rose« leise aus dem kleinen Lautsprecher kam, der zwischen dem Büfet und dem ausgestopften Kopf eines Stiers mit langen Hörnern hing. Anscheinend ein Steakhaus, das Frühstück servierte. Die beiden Männer am Tisch trugen hellgraue Anzüge und blickten sie überrascht an. Kari registrierte, dass doch noch mehr Leute in dem hellen Raum waren. An einem Tisch am Fenster saß ein älteres Ehepaar, das simultan einen Herzanfall zu bekommen schien. Sie waren am falschen Ort, dachte Kari. Das konnte unmöglich das Restaurant sein, in das Simon sie bestellt hatte. Doch dann wischte sich der kleinere der beiden Männer mit der Serviette den Mund ab und sagte:

»Danke, dass Sie persönlich kommen konnten, Herr Polizeipräsident. Ich versichere Ihnen, keiner von uns ist bewaffnet oder hat böse Absichten.«

»Wer sind Sie?«, bellte Parr.

»Mein Name ist Jan Øhre, ich bin Anwalt und vertrete diesen Herrn hier, Iver Iversen senior.« Er deutete auf den größeren Mann, und Kari bemerkte die Ähnlichkeit mit Iversen junior.

»Was tun Sie hier?«

»Dasselbe wie Sie, denke ich.«

»Ach ja? Mir wurden Kriminelle zum Frühstück versprochen.«

»Dieses Versprechen werden wir einhalten, Parr.«

»Nun«, sagte der Große. »Sie sollten Angst haben.«

Er nickte dem Blonden zu, der ein schmales Messer mit langer Klinge unter dem Gürtel hervorzog, einen Schritt vortrat und den Unterarm um den Kopf des Jungen legte, die Klinge drückte er gegen dessen Kehle.

»Hast du wirklich geglaubt, ich kümmere mich um das Kleingeld, das du mir geklaut hast, Lofthus? Das ist mir scheißegal. Ich habe Bo versprochen, dass er Hackfleisch aus dir machen kann. Das Geld und das Dope, das ich nie mehr wiedersehe, betrachte ich als gute Investition. Es motiviert, das ist doch klar. Natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, am wenigsten tut es weh, wenn du uns sagst, was du mit Sylvester gemacht hast. Wir wollen ihn nämlich wie einen anständigen Christen beerdigen. Verstanden?«

Sonny schluckte, antwortete aber nicht.

Der Große schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Gläser tanzten. »Hörst du jetzt auch schlecht?«

»Kann schon sein«, grinste der Blonde, der das Gesicht dicht am Ohr des Jungen hatte. »Buddha hat Ohropax im Ohr.«

Die anderen lachten.

Der Große schüttelte resigniert den Kopf, als er den Code des anderen Aktenkoffers einstellte.

»Also los, Bo, er gehört dir.« Mit einem Pling wurde der große Aktenkoffer aufgeklappt, aber die Männer waren zu sehr auf Bos Messer konzentriert, um den kleinen Metallstab zu bemerken, der aus dem Koffer auf den Steinboden gefallen war.

»Ihre kleine, kluge Mutter hatte in Vielem recht, aber nicht, was Sie angeht«, sagte Simon. »So eine Teufelsbrut wie Sie hätte sie niemals an ihre Brust lassen dürfen.«

»Was zum Henker …?«, sagte der Große. Die Männer drehten sich um. Im Koffer lag neben einer Uzi und einer Pistole ein olivgrüner Gegenstand, der wie der Griff eines Fahrradlenkers aussah.

Der Große blickte wieder auf und bemerkte gerade noch, wie Simon seine Sonnenbrille aufsetzte.

»Es stimmt, ich habe mit Simon Kefas abgesprochen, dass ich Sie hier mit meinem Klienten treffe«, sagte Jan Øhre. Er zeigte Pontius Parr seinen Anwaltsausweis. »Hat er Ihnen das nicht gesagt?«

»Nein«, sagte Pontius Parr. Kari sah ihm seine Wut und Verwirrung an.

Øhre wechselte einen Blick mit seinem Klienten. »Heißt das, Sie wissen nichts von unserer Vereinbarung?«

»Was für eine Vereinbarung?«

»Strafminderung?«

Parr schüttelte den Kopf. »Simon Kefas hat mir nur gesagt, ich bekäme ein paar Kriminelle auf dem Silbertablett serviert. Um was geht es hier eigentlich?«

Øhre wollte schon antworten, als Iver Iversen sich über den Tisch beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Øhre nickte, und Iversen lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Kari sah ihn an. Er sieht verdammt fertig aus, dachte sie. Erschöpft, resigniert.

Øhre räusperte sich. »Hauptkommissar Kefas glaubt, gewisse … äh … Beweise gegen meinen Klienten und seine ver­storbene Frau zu haben. Es geht um eine Reihe von Immobiliengeschäften mit einem gewissen Levi Thou. Vielleicht besser bekannt unter seinem Spitznamen Zwilling.«

Thou, dachte Kari. Kein üblicher Name, trotzdem hatte sie ihn erst vor kurzem gehört. Von jemandem, der ihr vorgestellt worden war. Im Präsidium. Sicher nicht wichtig.

»Kefas hat angeblich auch Beweise für einen Auftragsmord, hinter dem Agnete Iversen stehen soll. Mit Rücksicht auf Iversens Sohn wollte er diese Beweise aber nicht liefern. Und was die Immobiliengeschäfte angeht, wollte er für den Fall, dass mein Klient gesteht und vor Gericht gegen Thou alias Zwilling aussagt, Strafminderung erwirken.«

Pontius Parr nahm seine rechteckige Brille ab und putzte sie mit dem Taschentuch. Kari war überrascht, wie kindlich blau seine Augen waren.

»Klingt nach einem Angebot, das wir honorieren könnten.«

»Gut«, sagte Øhre, öffnete die Mappe, die auf dem Stuhl neben ihm lag, nahm einen Umschlag heraus und schob ihn zu dem Polizeipräsidenten hinüber.

»Hier sind die Ausdrucke mit den Details aller Immobilientransaktionen, die vorgenommen wurden, um für Levi Thou Geld zu waschen. Iversen ist auch bereit, gegen Fredrik Ansgar auszusagen, der im Dezernat für Wirtschaftskriminalität dafür gesorgt hat, dass sich niemand diese Transaktionen genauer angesehen hat.«

Parr nahm den Umschlag entgegen und wog ihn in der Hand.

»Da ist etwas Hartes drin«, sagte er.

»Ein Speicherstick mit einer Tondatei, die der Hauptkommissar meinem Klienten telefonisch übermittelt hat, und den wir Ihnen auch aushändigen sollten.«

»Wissen Sie, was das für eine Datei ist?«

Øhre wechselte wieder einen Blick mit Iversen, der sich räusperte: »Darauf ist jemand zu hören. Hauptkommissar Kefas meinte, Sie wüssten dann schon, wer das ist.«

»Ich habe einen Laptop dabei, falls Sie gleich wissen wollen, wer es ist«, sagte Øhre.

Der geöffnete Koffer. Die Waffe. Die olivgrüne Granate.

Hauptkommissar Simon Kefas schaffte es gerade noch, die Augen zuzukneifen und sich die Ohren zuzuhalten. Der Lichtblitz schlug ihm wie eine Zunge ins Gesicht, und der Knall war wie ein Faustschlag in den Bauch.

Dann öffnete er die Augen wieder, beugte sich blitzschnell vor, schnappte sich die Pistole, die im Koffer lag, und drehte sich um. Der Blonde stand da, als hätte er der Medusa in die Augen ge­sehen, noch immer mit dem Arm um Sonnys Kopf und dem Messer in der Hand. Simon sah in diesem Moment, dass der Kerl tatsächlich ein Kreuz auf der Stirn hatte, wie bei einem Zielfernrohr. Simon schoss und sah das Loch unter dem blonden Haaransatz. Der Mann ging zu Boden, und Sonny schnappte sich die Uzi. Simon hatte ihm erklärt, sie hätten maximal zwei Sekunden, bevor die paralysierende Wirkung nachließ. Sie hatten im Hotelzimmer im Bismarck wieder und wieder die Vorgehensweise trainiert, die Waffen ergriffen und geschossen. Natürlich hatten sie den Handlungsablauf nicht im Detail vorhersehen können, und unmittelbar bevor der Zwilling den Koffer geöffnet und damit die Explosion der Granate ausgelöst hatte, war Simon überzeugt davon gewesen, alles würde schiefgehen. Aber als er sah, wie Sonny auf den Abzug drückte und auf einem Fuß eine Pirouette drehte, wusste er, der Zwilling würde am Ende dieses Arbeitstages nicht zufrieden nach Hause gehen. Die stotternde Waffe, die nie mehr als die erste Silbe vollendete, spuckte Kugel um Kugel aus. Zwei Männer waren bereits gefallen, der dritte schaffte es noch, die Hand unter die Jacke zu schieben, als der Kugelhagel quer über seine Brust hinwegging. Einen Moment blieb er stehen, dann erhielten auch seine Knie die Nachricht, dass er tot war. Simon hatte sich in diesem Moment bereits zum Zwilling umgedreht und starrte verblüfft auf den leeren Stuhl. Wie konnte sich ein derart großer Mann so schnell …?

Er erblickte ihn am Ende des Aquariums, unmittelbar vor der Schwingtür, die zur Küche führte.

Simon zielte und drückte dreimal in rascher Folge ab. Er sah ein Zucken in der Jacke des Zwillings, dann splitterte das Glas des Aquariums. Das Wasser schien in seiner kubischen Form zu verharren, aus Gewohnheit oder von unsichtbaren Kräften gehalten, ehe es sich ihnen als grüne Wand entgegenwälzte. Simon versuchte noch, zur Seite zu springen, kam aber zu spät. Er trat auf einen knackenden Hummer, spürte, dass seine Knie nachgaben, und wurde von der Springflut mitgerissen. Als er wieder aufblickte, sah er keinen Zwilling, nur die schwingende Küchentür.

»Sind Sie okay?«, fragte Sonny und wollte Simon auf die Beine helfen.

»Mir geht es gut«, stöhnte Simon und schlug seine Hand weg. »Aber wenn der Zwilling jetzt abhaut, ist er für immer verschwunden.«

Simon rannte zur Küchentür, trat sie auf und stürzte mit gezückter Pistole hinein. Es roch scharf nach Großküche. Sein Blick glitt über Tische und Herde aus Edelstahl und Reihen von Tiegeln, Töpfen und Pfannenwendern, die von der Decke herabhingen und ihm den Blick verstellten. Simon hockte sich hin und suchte nach Schatten oder Bewegungen.

»Der Boden«, sagte Sonny.

Simon blickte nach unten. Rote Flecken auf blaugrauen Steinfliesen. Er hatte richtig gesehen, er hatte ihn mindestens einmal getroffen.

Dann hörten sie, wie weit weg eine Tür zufiel.

»Los.«

Die Blutflecken führten sie aus der Küche und über einen dunklen Flur, wo Simon die Sonnenbrille absetzte. Dann mussten sie eine Treppe hoch und über einen weiteren Flur, der an einer Stahltür endete. Diese Tür musste das Geräusch gemacht haben. Simon öffnete trotzdem alle anderen Türen, die seitlich von dem Flur abgingen, und warf einen Blick in die Räume dahinter. Neun von zehn Menschen flohen auf dem kürzesten Weg vor zwei Männern mit einer Uzi, aber der Zwilling war der Mensch Nummer zehn. Immer kalt, immer rational kalkulierend. Ein Typ, der auch einen Schiffsuntergang überlebt. Vielleicht hatte er die Tür auch nur geöffnet und wieder zufallen lassen, um sie zu verwirren.

»Der haut ab«, sagte Sonny.

»Ruhig«, sagte Simon und riss die letzte Seitentür auf. Niemand.

Außerdem waren die Blutspuren eindeutig. Der Zwilling war hinter der Stahltür.

»Bereit?«, fragte Simon.

Sonny nickte und baute sich mit seiner Uzi vor der Stahltür auf.

Simon presste den Rücken neben der Tür an die Wand, drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür.

Sonnenlicht.

Simon ging nach draußen und spürte den Wind im Gesicht. »Verdammt …«

Sie starrten auf eine leere Straße. Vor ihnen lag die Kreuzung Ruseløkkveien und Munkedamsveien, der zum Schlosspark hinaufführte. Keine Autos, keine Menschen.

Und kein Zwilling.


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