Kapitel 7

»Ich kannte deinen Vater«, sagte Johannes Halden.

Draußen hatte es geregnet. Es war ein warmer Tag mit viel Sonne gewesen, bis die Wolken sich immer höher aufgetürmt hatten und der leichte Sommerregen über die Stadt gekommen war. Er erinnerte sich noch daran, wie es sich anfühlte, wenn die kleinen Tropfen sich erwärmten, kaum dass sie auf die sonnenwarme Haut gefallen waren. Wie sich der Geruch des Staubs von der Straße erhob und ihn der Duft von Blumen, Gras und Laub erregte und richtiggehend geil machte. Wild. Jugend. Oh, Jugend.

»Ich war sein Spitzel«, sagte Johannes.

Sonny saß in seiner Ecke im Dunkeln. Es war unmöglich, sein Gesicht zu sehen. Johannes hatte nicht viel Zeit, gleich musste jeder für die Nacht in seine Zelle.

Er holte tief Luft. Jetzt musste er raus. Der Satz, vor dem ihm schon so lange graute. Andererseits freute er sich darauf loszuwerden, was er schon so lange mit sich herumschleppte.

»Es ist nicht wahr, dass er sich erschossen hat, Sonny.«

So, jetzt hatte er es gesagt.

Stille.

»Schläfst du, Sonny?«

Er sah das Weiß in den blinzelnden Augen.

»Ich kann mir vorstellen, wie es für dich und deine Mutter gewesen sein muss, deinen Vater zu finden. Tot. Und dann noch diesen Brief zu lesen, in dem er zugibt, der Maulwurf gewesen zu sein, der gemeinsame Sache mit Drogen- und Menschenhändlern gemacht hat. Dass er sie über Razzien, Spuren und Verdächtige informiert hat …«

Johannes sah, dass der Körper in der Ecke sich bewegte.

»Es war genau andersherum, Sonny. Dein Vater war dem Maulwurf auf der Spur. Ich habe ein Telefonat belauscht, in dem Nestor mit seinem Chef gesprochen hat. Sie redeten darüber, einen Polizisten namens Lofthus zur Strecke zu bringen, bevor der alles kaputtmachte. Ich habe deinem Vater das alles gesagt, ihn gewarnt, dass er in Gefahr sei und die Polizei endlich zuschlagen müsse. Aber dein Vater sagte nur, er könne niemanden in die Sache hineinziehen. Diese Sache müsse er allein durchziehen, da Kollegen von ihm auf Nestors Lohnliste stünden. Dann hat er mir das Versprechen abgerungen, niemals mit jemandem dar­über zu reden. Und dieses Versprechen habe ich gehalten, bis heute.«

Bekam er das mit? Vielleicht nicht. Aber es war nicht entscheidend, dass der Junge ihn hörte oder welche Folgen das hatte. Er wollte es sich nur endlich von der Seele reden. Den Mund aufmachen, hier, wo es hingehörte.

»Dein Vater war an diesem Wochenende allein, deine Mutter und du, ihr wart bei einem Ringerwettkampf außerhalb der Stadt. Er wusste, dass sie kamen, und hatte sich in eurem gelben Haus oben in Berg verschanzt.«

Johannes glaubte im Dunkel vor sich eine Bewegung wahrzunehmen. Eine Veränderung in Puls und Atmung.

»Trotzdem gelang es Nestor und seinen Leuten, ins Haus zu kommen. Sie wollten keinen Ärger wegen eines erschossenen Polizisten und zwangen deinen Vater, diesen Abschiedsbrief zu schreiben.« Johannes schluckte. »Als Gegenleistung versprachen sie, dich und deine Mutter in Ruhe zu lassen. Dann schossen sie ihm aus nächster Nähe mit seiner Pistole in den Kopf.«

Johannes schloss die Augen. Es war vollkommen still, trotzdem hatte er das Gefühl, als brüllte ihm jemand ins Ohr. Und den Druck, den er in Hals und Brust spürte, hatte er schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr wahrgenommen. Mein Gott, wie lange war es her, dass er zum letzten Mal geweint hatte? Bei der Geburt seiner Tochter? Aber er konnte nicht einfach aufhören, musste zu Ende bringen, was er angefangen hatte.

»Du fragst dich jetzt sicher, wie Nestor ins Haus gekommen ist.«

Johannes hielt die Luft an. Auch Sonny schien das Atmen eingestellt zu haben, denn er selbst hörte nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.

»Jemand hatte mich mit deinem Vater reden sehen, und Nestor war der Meinung, die Polizei habe bei einigen seiner letzten Lieferungen zu viel Glück gehabt. Ich leugnete jede Beziehung zu deinem Vater und gab vor, dass er mich um Informationen gebeten hatte, weil wir uns flüchtig kannten. Nestor meinte daraufhin, dass mir dein Vater sicher die Tür aufmachen würde, wenn er mich für einen möglichen Spitzel hielt. Außerdem könne ich so meine Loyalität beweisen …«

Johannes hörte, dass der andere jetzt wieder atmete. Schnell und hart.

»Dein Vater machte mir die Tür auf. Schließlich vertraut man seinem Spitzel, nicht wahr?«

Er konnte die Bewegung erahnen, hörte oder sah aber nichts, bevor der Schlag ihn traf. Und während er am Boden lag, das Blut auf der Zunge schmeckte und den losen Zahn in seinen Rachen rutschen spürte, hörte er den Jungen wie einen Wilden toben, bis die Zellentür aufging. Dann folgten das Rufen und Schlagen der Wächter, dann das Klirren von Handschellen. Er wunderte sich über die verblüffende Geschwindigkeit und Präzision des Jungen. Und er dachte an die Vergebung. Die Vergebung, die ihm nicht zuteilgeworden war. Und an die Zeit. Die Sekunden, die vergingen.

Und an die Nacht, die näher rückte.


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