Kapitel 11

Es war kurz nach halb acht. Morgenregen fiel auf den Parkplatz vor dem Staten.

»Das war doch nur eine Frage der Zeit«, sagte Arild Franck und hielt die Tür zum Wachwechselbereich an den Garderoben auf. »Junkies haben von Natur aus einen schwachen Charakter. Ich weiß, diese Behauptung passt nicht in die Zeit, aber glauben Sie mir, ich kenne diese Menschen!«

»Solange er unterschreibt, ist mir alles egal.« Einar Harnes wollte hineingehen, musste aber drei Beamten Platz machen, die das Gefängnis verließen. »Ich will heute Abend selbst mit ein paar Gläsern Rauschmittel feiern.«

»Oh, werden Sie so gut bezahlt?«

»Als ich das erste Mal Ihr Auto gesehen habe, wurde mir klar, dass ich mehr Honorar verlangen muss.« Er nickte grinsend in Richtung des Porsche Cayenne auf dem Parkplatz. »Ich habe über eine Schmutzzulage gesprochen, und Nestor meinte …«

»Pst!« Franck hielt Harnes mit einem Arm zurück, damit noch mehr Beamte passieren konnten. Die meisten hatten ihre Zivilkleidung an, nur einige wenige hatten es so eilig, von der Nachtschicht nach Hause zu kommen, dass sie in den grünen Staten-Uniformen direkt zu ihren Autos liefen. Harnes erntete einen prüfenden Blick von einem, der seinen langen Mantel lose über die Uniform gezogen hatte. Er wusste, dass er das Gesicht schon einmal gesehen hatte, er war ja auch in letzter Zeit wirklich oft genug im Gefängnis gewesen. Dass er selbst es nicht schaffte, den Gesichtern Namen zuzuordnen, hieß noch lange nicht, dass die anderen nicht wussten, wer er war. Dafür war sein Gesicht zu oft in Verbindung mit zweifelhaften Fällen in der Zeitung aufgetaucht. Vielleicht fragte sich dieser Wärter gerade, warum er so häufig am Hintereingang des Staten anzutreffen war. Dass er jetzt auch noch Nestors Namen aus seinem Mund gehört hatte, machte es nicht gerade besser …

Sie bahnten sich einen Weg durch alle Türen, bis sie zu der Treppe kamen, die nach oben führte.

Nestor hatte ihm klargemacht, dass sie dieses Geständnis noch heute brauchten. Wurden die Ermittlungen gegen Yngve Morsand nicht sofort eingestellt, konnten Sachverhalte ans Licht kommen, die Sonnys Geständnis noch unglaubwürdiger erscheinen ließen. Woher Nestor diese Informationen hatte, wollte Harnes gar nicht wissen.

Das Büro des Gefängnisdirektors war zwar größer, aber dafür hatte man von dem seines Stellvertreters, das ganz am Ende des Korridors lag, einen wunderbaren Blick auf die Moschee und den Ekebergåsen. Es war mit hässlichen Gemälden einer jungen Malerin geschmückt, die immer nur Blumen malte und in der Öffentlichkeit ausschließlich über ihre eigene Libido redete.

Franck drückte den Knopf der Gegensprechanlage und bat dar­um, dass der Gefangene aus Zelle 317 zu ihm gebracht werde.

»1,2 Millionen«, sagte Franck.

»Ich wette, dass die Hälfte allein für das Porschezeichen vorn auf dem Kühler draufgegangen ist«, sagte Harnes.

»Und die andere Hälfte für Steuern und Abgaben an den Staat.« Franck seufzte und ließ sich auf den Bürostuhl mit der ungewöhnlich hohen Lehne fallen. Ein Thron, dachte Harnes.

»Aber wissen Sie was?«, sagte Franck. »Ich finde das ganz in Ordnung. Wer Porsche fährt, sollte auch etwas für die Gemeinschaft tun.«

Es klopfte an der Tür.

»Ja«, rief Franck.

Ein Gefängnisbeamter kam herein, die Uniformmütze unter den Arm geklemmt. Er legte die Hand an die Stirn. Harnes hatte sich schon manchmal gefragt, wie Franck die Angestellten dazu gebracht hatte, in einem modernen Betrieb militärische Grüße zu akzeptieren. Und welche anderen Regeln sie noch zu schlucken hatten.

»Was ist los, Goldsrud?«

»Ich bin auf dem Weg nach Hause, wollte mich aber erst noch erkundigen, ob Sie irgendwelche Fragen zu meinem Wachbericht von letzter Nacht haben.«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir den anzusehen. Ist irgendetwas Wichtiges passiert?«

»Nicht wirklich wichtig. Ein Fluchtversuch, wenn man den denn so nennen will.«

Franck presste die Handflächen aneinander und lächelte. »Es freut mich, dass die Häftlinge Initiative und Einsatzwillen zeigen. Wer und wie?«

»Johannes Halden aus Zelle 2…«

»Der Alte aus 238? Wirklich?«

»Er ist irgendwie in den Besitz so einer Miniaturwaffe ge­kommen. War vermutlich nur eine fixe Idee. Ich wollte nur sagen, dass es nicht so dramatisch war, wie es im Bericht vielleicht klingt. Wenn Sie mich fragen, reicht eine milde Strafe voll­kommen aus. Der Mann leistet seit Jahren gute Arbeit für uns und …«

»Nicht unklug, sich erst das Vertrauen der Leute zu sichern und sie dann zu überrumpeln, oder?«

»Also …«

»Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass er Sie getäuscht hat, Goldsrud? Wie weit ist er gekommen?«

Harnes litt mit dem Wachmann, der sich mit dem Zeigefinger über die schwitzende Lippe fuhr. Er hielt immer zu den Außenseitern und identifizierte sich gern mit ihnen.

»Bis in die Schleuse. Es gab aber zu keinem Zeitpunkt eine reelle Gefahr, dass er es weiter hätte schaffen können, trotz dieser Pistole. Das Wachhäuschen ist durch schusssicheres Glas gesichert, hat Schießscharten und …«

»Danke für die Informationen, aber Sie wissen ja, dass ich dieses Gefängnis weitestgehend selbst entworfen habe, Goldsrud. Wie ich sehe, haben Sie eine Schwäche für diesen Typen. Sie sind ihm in den letzten Jahren wohl etwas zu nahe gekommen. Mehr sage ich aber nicht, ehe ich nicht den Bericht gelesen habe. Sie sollten Ihre Mannschaft schon mal auf ein paar kritische Fragen vorbereiten. Und was Halden angeht, müssen wir hart bleiben. Unsere Klientel würde jedes Anzeichen von Schwäche sofort ausnutzen. Verstanden?«

»Verstanden.«

Das Telefon klingelte.

»Abtreten«, sagte Franck und griff zum Hörer.

Harnes erwartete einen erneuten Gruß und ein Auf-dem-Absatz-kehrt, aber Goldsrud verließ das Büro auf zivile Art. Der Anwalt sah ihm nach und zuckte zusammen, als Arild Franck plötzlich brüllte:

»Was? Wie meinen Sie das? Verschwunden?«

Franck starrte auf das sorgsam gemachte Bett der Zelle 317. Davor stand ein Paar Sandalen. Auf dem Nachttisch lag die Bibel, auf dem Schreibtisch eine eingeschweißte Einmalspritze, und über dem Stuhl hing ein weißes Hemd. Das war alles. Trotzdem wiederholte der Beamte hinter Franck die überflüssigen Worte:

»Er ist nicht da.«

Franck sah auf die Uhr. Die Zellentüren wurden erst in vierzehn Minuten geöffnet, ergo konnte der Gefangene in keinem der Aufenthaltsräume sein.

»Er muss heute Nacht die Zelle verlassen haben, als Johannes vom Kontrollraum aus alle Schlösser geöffnet hat«, sagte Goldsrud, der mit ihnen gekommen war und im Türrahmen stand.

»Mein Gott«, flüsterte Harnes und legte aus alter Gewohnheit die Fingerkuppen an die Nasenwurzel. Früher hatte da seine Brille gesessen, bis er sich in Thailand für fünfzehntausend Kronen einer Laseroperation unterzogen hatte. »Wenn der getürmt ist …«

»Halten Sie den Mund«, sagte Franck. »Am Wachhäuschen kommt er nicht vorbei. Er ist noch irgendwo hier drinnen. Goldsrud, schlagen Sie Alarm. Machen Sie alles dicht, dann kann keiner raus oder rein.«

»Okay, aber meine Kinder müssen …«

»Nicht Sie auch noch …«

»Und was ist mit der Polizei?«, fragte einer der Vollzugsbeamten. »Müssen wir die nicht auch informieren?«

»Nein!«, rief Franck. »Lofthus ist noch im Staten, das habe ich doch gerade gesagt. Kein Wort zu niemandem!«

Arild Franck starrte den alten Mann an. Er hatte die Tür hinter sich geschlossen und dafür gesorgt, dass draußen keine Beamten standen.

»Wo ist Sonny?«

Johannes lag auf dem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ist er nicht in seiner Zelle?«

»Du weißt verdammt gut, dass er da nicht ist!«

»Dann ist er wohl abgehauen.«

Franck beugte sich hinunter, packte den Ausschnitt von Johannes’ T-Shirt und zog ihn zu sich hoch.

»Hör auf zu grinsen, Halden. Ich weiß, dass der Wachmann unten niemanden gesehen hat. Also muss er noch hier sein. Und wenn du mir nicht sagst, wo, kannst du die Krebstherapie vergessen.« Franck sah die Verblüffung des Alten. »Ja, ich weiß, der Arzt hat Schweigepflicht, aber ich habe meine Augen und Ohren überall. Und?« Er ließ Johannes los, der zurück in die Kissen fiel.

Der Alte schob seine dünnen Haare zurecht und legte die Hände hinter den Kopf.

»Weißt du was, Chef?«, sagte er mit einem Räuspern. »Eigentlich habe ich lange genug gelebt. Draußen wartet ja doch niemand auf mich. Und meine Sünden sind mir vergeben worden. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich also die Chance, da oben aufgenommen zu werden. Vielleicht sollte ich diese Chance nutzen, solange ich sie habe. Was meinst du?«

Arild Franck biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Füllungen beinahe platzten.

»Halden, ich glaube, dir ist nicht eine deiner Sünden vergeben worden. Denn hier bin ich Gott, und ich verspreche dir einen langsamen, quälenden Krebstod. Ich werde schon dafür sorgen, dass du hier drinnen elend verfaulst, ohne dass dir irgendjemand Schmerzmittel bringen kann. Du wärst nicht der Erste, um das mal so zu sagen.«

»Lieber diese Hölle als die, die dich erwartet, Chef.«

Franck war sich nicht sicher, ob das Gurgeln, das aus dem Hals des Alten kam, ein letztes Röcheln oder ein Lachen war.

Wieder auf dem Weg zu Zelle 317, erkundigte Franck sich via Walkie-Talkie nach Sonny Lofthus, aber es gab noch immer keine Spur von ihm. In Kürze mussten sie die Fahndungsmeldung rausgeben.

Er ließ sich auf Sonnys Bett fallen und den Blick über Decke, Boden und Wände schweifen. Das war doch unmöglich! Verdammt noch mal unmöglich! Er nahm die Bibel vom Nachtschränkchen und schleuderte sie an die gegenüberliegende Wand. Sie fiel zu Boden und klappte auf. Vollan hatte mit dieser Bibel Heroin ins Staten geschmuggelt. Franck musterte die ausgehöhlten Seiten. Ramponierte Glaubensbekenntnisse und halbe Sätze, die keinen Sinn mehr ergaben.

Dann warf er fluchend das Kissen an die Wand.

Als es auf dem Boden landete, fielen seitlich kurze rote Haare heraus, die nach Bart aussahen. Er trat wütend gegen das Kissen, und neben den kurzen roten kamen auch verfilzte Strähnen blonder Haare zum Vorschein.

Kurzgeschnitten und rasiert.

In diesem Augenblick dämmerte es ihm.

»Die Nachtschicht!«, schrie er ins Walkie-Talkie. »Alle Beamten überprüfen, die Nachtschicht hatten!«

Franck sah auf die Uhr. Zehn nach acht. Er wusste, was los war. Und er wusste, dass er daran nichts mehr ändern konnte. Er stand auf und trat so fest gegen den Stuhl, dass er den Spiegel neben der Tür zerschmetterte.

Der Busfahrer studierte den Vollzugsbeamten, der vor ihm stand und betroffen auf das Ticket und die fünfzig Kronen starrte, die er für seinen Hunderter bekommen hatte. Der junge Mann musste es eilig haben, denn unter dem langen, offenen Mantel trug er noch die Uniform. Er hatte nicht einmal die ID-Karte abgenommen. Unter dem Bild, das wieder mal bewies, wie schlecht manche Aufnahmen waren, stand der Name Sørensen

»Ist wohl lange her, dass Sie zuletzt Bus gefahren sind?«, fragte der Fahrer.

Der kahlgeschorene Mann nickte.

»Wenn Sie das Ticket vorher am Automaten kaufen, kostet es nur sechsundzwanzig Kronen«, sagte der Fahrer, sah dem Mann aber an, dass er auch diesen Preis noch ziemlich deftig fand. Typisch für Leute, die in Oslo schon seit Jahren nicht mehr Bus gefahren waren.

»Danke für den Tipp«, sagte der Mann.

Der Fahrer fuhr aus der Haltestelle und sah den Beamten im Rückspiegel nach hinten gehen. Er wusste nicht, was ihn so berührt hatte, vielleicht seine warme, gefühlvolle Stimme. Als hätte er diesen Dank wirklich ernst gemeint. Er sah, wie der Mann Platz nahm und verwundert aus dem Fenster sah. Fast wie einer dieser ausländischen Touristen, die sich manchmal in seinen Bus verirrten. Dann nahm er einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und studierte ihn, als hätte er ihn nie zuvor gesehen. Der Busfahrer beobachtete noch, dass der Mann aus der anderen Tasche ein Päckchen Kaugummi hervorholte, musste sich dann aber wieder auf den Verkehr konzentrieren.


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