Kapitel 38

Draußen wurde es langsam hell.

Martha lag dicht an Sonny geschmiegt, hatte die Beine um seine geschlungen. Sie hörte, dass sich der gleichmäßige Rhythmus seines Atems veränderte. Aber seine Augen waren noch geschlossen. Sie streichelte ihm über den Bauch und sah, dass er leicht lächelte.

»Guten Morgen, lover boy«, flüsterte sie.

Er lächelte breit, schnitt aber eine Grimasse, als er sich zu ihr umdrehen wollte.

»Schmerzen?«

»Nur in der Seite«, stöhnte er.

»Es blutet aber nicht mehr, ich habe das heute Nacht ein paarmal überprüft.«

»Was? Du nimmst dir solche Freiheiten, während ich schlafe?« Er küsste sie auf die Stirn.

»Ich denke, du hast dir heute Nacht auch ein paar Freiheiten genommen, Herr Lofthus.«

»Du darfst nicht vergessen, für mich war es das erste Mal«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Freiheiten sind und was nicht.«

»Du bist ein elender Lügner«, sagte sie.

Er lachte.

»Ich habe nachgedacht«, sagte sie.

»Ja?«

»Lass uns verschwinden. Jetzt sofort.«

Er antwortete nicht, aber sie spürte, wie sich sein Körper automatisch anspannte. Und plötzlich kamen ihr die Tränen, unaufhaltsam, als wäre in ihr ein Damm gebrochen. Er drehte sich um und nahm sie in die Arme.

Wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

»Was hast du ihnen gesagt?«, fragte er.

»Dass Anders und ich es nicht schaffen, bis zum Sommer zu warten«, schniefte sie. »Dass wir uns schon jetzt trennen wollen. Dass ich das will. Und dann bin ich gegangen. Unten auf der Hauptstraße habe ich mir ein Taxi genommen. Ich sah ihn hinter mir herlaufen, mit seiner verfluchten Mutter im Schlepptau.« Sie lachte laut und begann dann wieder zu weinen. »Tut mir leid«, schluchzte sie. »Ich bin so … so dumm! Mein Gott! Was tue ich hier eigentlich?«

»Du liebst mich«, sagte er ihr leise ins Ohr. »Das tust du hier.«

»Ja und? Wer liebt denn jemanden, der Menschen umbringt? Jemanden, der alles tut, um selbst umgebracht zu werden, und dem das auch gelingen wird? Weißt du, wie sie dich im Internet nennen? Buddha mit dem Schwert. Sie haben ehemalige Häftlinge interviewt, die dich als eine Art Heiligen beschrieben haben. Aber weißt du was?« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich glaube, du bist genauso sterblich wie all die anderen, die ich im Ila kommen und gehen sah.«

»Wir verschwinden.«

»Wenn, dann jetzt.«

»Zwei sind noch übrig, Martha.«

Sie schüttelte den Kopf, und die Tränen flossen wieder, als sie mit den Fäusten auf seine Brust einhämmerte. »Es ist zu spät, verstehst du das denn nicht! Sie sind alle hinter dir her. Alle!«

»Es fehlen nur noch zwei. Der Typ, der beschlossen hat, dass mein Vater sterben muss, und so getan hat, als wäre mein Vater der Maulwurf. Und der Maulwurf selbst. Danach verschwinden wir.«

»Nur zwei? Du willst nur noch zwei Menschen umbringen und dann fliehen? Ist das für dich so leicht?«

»Nein, Martha. Es ist nicht leicht für mich. Bei keinem von denen war es leicht. Und es stimmt auch nicht, was man sagt. Es wird nicht leichter. Aber ich muss es tun, ich kann nicht anders.«

»Glaubst du wirklich, dass du das überleben wirst?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein.«

»Nein! Aber, mein Gott, warum redest du dann …«

»Weil Überleben das Einzige ist, was man planen kann.«

Sie wurde still.

Er streichelte ihr langsam über die Stirn, die Wange und den Hals. Dann begann er zu reden. Leise und langsam, als käme es darauf an, immer das richtige Wort zu wählen.

Sie hörte zu. Er sprach von seiner Kindheit und Jugend. Von seinem Vater. Von dessen Tod und von all dem, was danach passiert war.

Sie hörte zu und verstand. Hörte zu und konnte es nicht fassen.

Ein Streifen Sonnenlicht fiel durch die Gardine, als er fertig war.

»Weißt du eigentlich, was du da gesagt hast?«, flüsterte sie. »Wie verrückt das alles ist?«

»Ja«, sagte er. »Aber ich kann nicht anders.«

»Du kannst nichts anderes als Menschen umbringen?«

Er holte tief Luft. »Ich wollte immer nur so werden wie mein Vater. Als ich seinen Abschiedsbrief gelesen habe, war das alles mit einem Mal weg. Und ich auch. Aber dann, als ich im Gefängnis die wahre Geschichte erfuhr, dass er sein Leben für mich und meine Mutter geopfert hat, wurde ich neu geboren.«

»Geboren, um … das hier zu tun?«

»Ich wünschte mir wirklich, es gäbe einen anderen Weg.«

»Aber warum? Damit du in die Fußstapfen deines Vaters treten kannst? Damit der Sohn tut …« Sie kniff die Augen zusammen und presste die letzten Tränen heraus. Gelobte sich selbst, es würden die letzten sein. »… was der Vater nicht geschafft hat?«

»Er hat getan, was er tun musste. Und ich muss tun, was ich tun muss. Er hat uns zuliebe die Schande auf sich genommen. Wenn ich hiermit fertig bin, dann bin ich fertig. Das verspreche ich dir. Alles wird gut.«

Sie sah ihn lange an. »Ich muss nachdenken«, sagte sie schließlich. »Schlaf weiter.«

Er schlief, und sie lag wach. Erst als draußen die Vögel zu singen begannen, schlief auch sie wieder ein. Und da wusste auch sie es mit Sicherheit.

Sie war verrückt.

War es von dem Augenblick an gewesen, als sie ihn gesehen hatte.

Aber dass sie ebenso verrückt war wie er, hatte sie erst erkannt, als sie dieses Haus betrat, die Ohrringe von Agnete Iversen auf dem Küchentisch fand und sie anlegte.

Martha wachte vom Lachen und dem Herumgerenne der Kinder auf, die draußen auf der Straße spielten. Sie dachte daran, dass die Unschuld Hand in Hand mit der Unerfahrenheit ging. Dass Wissen nie Klarheit schaffte, sondern alles nur komplizierter machte. Er schlief so still neben ihr, dass sie einen Augenblick lang fürchtete, er sei bereits tot. Sie streichelte seine Wange. Er murmelte etwas, wachte aber nicht auf. Wie konnte ein gejagter Mann so gut schlafen? Der Schlaf des Gerechten? Bestimmt ein guter Schlaf.

Sie stieg aus dem Bett, zog sich an und ging nach unten in die Küche. Sie fand Brot, etwas Saft und Kaffee, sonst aber nichts. Vielleicht hatte er ja in der Gefriertruhe, auf der sie unten im Keller gesessen hatte, eine Tiefkühlpizza oder irgendetwas an­deres. Sie ging nach unten und zog an dem Griff der Truhe. Verschlossen. Sie sah sich um. An einem Nagel an der Wand hing ein Schlüssel mit einem nicht mehr lesbaren kleinen Aufkleber. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Voilà. Sie klappte den Deckel hoch, beugte sich vor, spürte die Kälte an Brust und Hals, schrie laut und kurz auf und ließ den Deckel wieder fallen. Sie drehte sich um und sank mit dem Rücken an der Truhe zu Boden.

Sie blieb in der Hocke sitzen und atmete heftig durch die Nase. Versuchte den Anblick der Leiche zu verdrängen, die sie mit offenem weißen Mund und Eiskristallen an den Wimpern angestarrt hatte. Marthas Puls ging so schnell, dass ihr schwindelig wurde. Sie hörte auf das Pochen ihres Herzens. Und auf die Stimmen.

Es waren zwei.

Die eine schrie ihr ins Ohr, sie sei verrückt, er sei verrückt, ein Mörder, und sie solle nach oben laufen und durch die Tür verschwinden!

Die andere sagte, diese Leiche sei nur die Bestätigung dessen, was sie bereits wusste und längst akzeptiert hatte. Ja, er hatte Menschen ermordet. Menschen, die das verdienten.

Die schreiende Stimme befahl ihr aufzustehen und übertönte die Stimme, die ihr beruhigend zuflüsterte, das sei nur die Panik, die ja irgendwann kommen musste. Schließlich habe sie in der letzten Nacht ja eine Entscheidung gefällt. Oder etwa nicht?

Nein, das hatte sie nicht.

Das wurde ihr erst jetzt klar. Die Entscheidung, ob sie sich mit ihm in den Abgrund stürzen und sein Leben teilen oder hier in der normalen Welt bleiben sollte, stand erst jetzt an.

Die letzte Chance für einen Rückzug. Die nächsten Sekunden waren die wichtigsten in ihrem Leben.

Die letzte Möglichkeit, um …

Sie stand auf. Ihr war noch immer schwindelig, trotzdem wusste sie, sie konnte schnell laufen und er könnte sie niemals einholen. Sie atmete tief ein, und das Blut transportierte den Sauerstoff ins Hirn. Sie stützte sich auf den Deckel der Gefriertruhe und sah ihr eigenes Spiegelbild auf dem blanken Lack. Die Ohrringe.

Ich liebe ihn. Ja, das tue ich.

Dann öffnete sie noch einmal den Deckel.

Der Leichnam hatte den größten Teil der Lebensmittel vollgeblutet. Außerdem kam ihr das Design der Fisch-Packungen, die sie sah, ziemlich unmodern vor. Mindestens zwölf Jahre alt. Das konnte stimmen.

Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, auf ihre Gedanken, darauf, all das zu verdrängen, was nicht wichtig war. Wenn sie etwas essen wollten, musste sie in einen Laden gehen. Sie konnte eines der Kinder fragen, wo der nächste Laden war. Ja, das würde sie tun. Eier und Speck. Frisches Brot, Erdbeeren. Joghurt.

Sie schloss die Truhe. Kniff die Augen zu. Glaubte wieder weinen zu müssen. Doch stattdessen begann sie zu lachen. Das hysterische Lachen eines Menschen, der sich im freien Fall befindet, dachte sie. Sie öffnete die Augen und ging zur Treppe. Oben merkte sie, dass sie ein Lied summte.

That you’ve always been her lover and you want to travel with her.

Verrückt.

… and you want to travel blind and you know that she will trust you.

Verrückt, verrückt.

… for you’ve touched her perfect body with your mind.

Markus spielte am offenen Fenster »Super Mario«, als draußen eine Tür ins Schloss fiel. Er sah aus dem Fenster. Es war die hübsche Frau. Auf jeden Fall war sie heute hübsch. Sie kam aus dem gelben Haus und ging zum Gartentor. Markus erinnerte sich ­daran, wie der Sohn gestrahlt hatte, als er von ihm erfuhr, dass die Frau ins Haus gegangen war. Markus verstand ja nichts davon, glaubte aber, der Sohn war in sie verliebt. Also vielleicht.

Die Frau ging zu den Mädchen, die Gummitwist spielten, und fragte sie irgendetwas. Sie streckten die Arme aus. Die Frau lächelte, rief ihnen etwas zu und ging in die angezeigte Richtung. Markus wollte sich wieder auf sein »Super-Mario«-Spiel konzentrieren, als er bemerkte, dass die Gardinen im Schlafzimmer zur Seite gezogen wurden. Er nahm sein Fernrohr.

Es war der Sohn. Er stand mit geschlossenen Augen vor dem Fenster, die Hand auf der bandagierten Seite. Er war nackt. Und lächelte glücklich. Wie Markus an Weihnachten, bevor er die ­Geschenke auspackte. Nein, eigentlich eher wie Markus, wenn er am 1. Weihnachtstag aufwachte und an all die Geschenke dachte, die er bekommen hatte.

Der Sohn nahm ein Handtuch aus dem Schrank, öffnete die Tür und wollte auf den Flur gehen, als er plötzlich stehen blieb. Er sah zur Seite, nach unten auf den Tisch. Nahm etwas, das dort lag. Markus stellte das Fernrohr scharf.

Es war ein Buch in einem schwarzen Ledereinband. Der Sohn öffnete das Buch und schien zu lesen. Dann ließ er das Handtuch fallen, setzte sich wieder aufs Bett und las weiter. Blätterte. Ein paar Minuten saß er so da. Markus sah, wie sein Gesichtsausdruck sich mehr und mehr veränderte und sein Körper erstarrte, bis er irgendwie krüppelhaft wirkte, eingefroren.

Dann sprang er unvermittelt auf, warf das Buch an die Wand, packte die Tischlampe und schleuderte sie hinterher.

Er fasste sich an die Seite, schrie etwas und setzte sich wieder. Senkte den Kopf und drückte ihn mit im Nacken verschränkten Händen nach unten. Sein Körper zitterte wie unter Krämpfen.

Markus verstand, irgendetwas Schreckliches musste passiert sein, wusste aber nicht, was. Am liebsten wäre er nach drüben gelaufen und hätte versucht, den Sohn zu trösten. Er konnte das, Mama musste er ganz oft trösten. Er musste einfach etwas sagen, über etwas reden, das sie gemeinsam gemacht hatten, und sie fragen, ob sie sich daran erinnerte. Viel Auswahl hatte er dabei nicht, es waren die immer gleichen drei bis vier Dinge, an die sie sich erinnerte. Danach lächelte sie immer traurig und wuschelte ihm durch die Haare. Und das war das Beste. Aber mit dem Sohn hatte er ja noch nichts Schönes gemacht. Vielleicht wollte der auch lieber allein sein. Markus konnte das gut verstehen, er war selbst auch so. Wenn Mama ihn trösten wollte, weil jemand gemein zu ihm gewesen war, ärgerte ihn das Vorgefallene nur noch mehr. Als machten die tröstenden Worte ihn noch schwächer, ja, als gäben sie den Idioten, die ihn als Hasenfuß und Muttersöhnchen bezeichnet hatten, nachträglich auch noch recht.

Aber der Sohn, der war doch kein Hasenfuß.

Oder vielleicht doch?

Jetzt war er aufgestanden und hatte sich zum Fenster gedreht. Er weinte. Seine Augen waren rot, die Wangen nass von Tränen.

Und wenn Markus sich in ihm geirrt hatte? Wenn er genau wie er war? Schwach und feige, jemand, der weglief und sich versteckte, um nicht verprügelt zu werden? Aber nein, das konnte nicht sein, nicht der Sohn! Er war groß und stark und mutig und half all denen, die es nicht waren. Oder noch nicht.

Der Sohn hob das Buch wieder auf, setzte sich und begann zu schreiben.

Nach einer Weile riss er die beschriebene Seite aus dem Buch, knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb, der neben der Tür stand. Erneut schrieb er eine Seite. Dieses Mal aber weniger Text. Er riss den Zettel heraus und las durch, was er geschrieben hatte. Schließlich kniff er die Augen zusammen und drückte die Lippen auf das Papier.

Martha stellte die Tasche mit den Lebensmitteln auf den Küchentisch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Weg zum Laden war weiter gewesen, als sie gedacht hatte, auf dem Rückweg war sie deshalb gerannt. Sie wusch die Erdbeeren unter fließendem Wasser, nahm die beiden größten rötesten Beeren und den Strauß Wiesenblumen, den sie am Wegrand gepflückt hatte. Als sie an seinen heißen Körper unter der Decke dachte, spürte sie ein Kribbeln. Wie eine Süchtige, die an Heroin dachte. Er war jetzt ihre Droge. Von nun an ihr Schicksal. Sie war verloren, und sie liebte das!

Schon als sie auf der Treppe die offene Schlafzimmertür sah, spürte sie es. Irgendetwas stimmte nicht. Es war zu still.

Das Bett war leer. Die Lampe an der Wand zerschmettert. Seine Kleider verschwunden. Unter den Scherben der Lampe entdeckte sie das schwarze Buch, das sie unter dem Lattenrost gefunden hatte.

Sie rief seinen Namen, aber sie wusste ganz genau, sie würde keine Antwort erhalten. Das Gartentor hatte offen gestanden, dabei war sie sicher gewesen, es geschlossen zu haben. Sie hatten ihn geholt, wie er gesagt hatte. Wahrscheinlich hatte er sich gewehrt, aber ohne Erfolg. Sie hatte ihn im Schlaf verlassen, nicht auf ihn aufgepasst, hatte nicht …

Sie drehte sich um, und ihr Blick fiel auf den Zettel auf dem Kopfkissen. Er war vergilbt und sah aus, als hätte Sonny ihn aus dem Buch gerissen. Die Worte waren mit dem alten Stift geschrieben, der neben dem Kopfkissen lag. Dem Stift seines Vaters, dachte sie. Und noch bevor sie gelesen hatte, wusste sie, dass die Geschichte sich wiederholte. Sie las, ließ die Blumen fallen, schlug sich die Hand vor den Mund, eine automatische Bewegung, um die hässliche Grimasse zu verbergen, als ihr Mund sich verzog und ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Liebe Martha. Vergib mir, aber ich verschwinde jetzt. Ich liebe Dich bis in alle Ewigkeit. Sonny


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