Kapitel 27

Als Simon am Montagmorgen um 8.08 Uhr aus dem Aufzug trat und ins Morddezernat ging, dachte er an dreierlei: Else hatte im Bad gestanden und sich Wasser in die Augen gespritzt, ohne überhaupt zu merken, dass Simon im Schlafzimmer war und ihr zugesehen hatte. Er hatte Kari für einen Sonntag möglicherweise zu viel Arbeit aufgehalst, und er hasste Großraumbüros, insbesondere seit ein Freund von Else, ein Architekt, ihm gesagt hatte, es sei ein Mythos, mit Großraumbüros könne man Flächen einsparen, da man wegen der Lärmbelastung so viele Sitzungsräume und Pufferbereiche brauche, dass das auf der einen Seite Eingesparte auf der anderen wieder mehr als kompensiert werde.

Er ging zu Karis Platz.

»Früh da!«, sagte er.

Ein etwas verknittertes Morgengesicht sah ihn an. »Auch Ihnen einen guten Morgen, Simon Kefas.«

»Danke, gleichfalls. Etwas gefunden?«

Kari lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Obwohl sie gähnte, meinte Simon eine gewisse Zufriedenheit in ihrem Gesicht erkennen zu können.

»Was die Verbindung zwischen Iversen und Farrisen angeht, da konnte ich nichts finden. Dann sollte ich mich ja noch um die ­Urteile gegen Sonny Lofthus kümmern und nach möglichen anderen Verdächtigen suchen. Lofthus wurde wegen des Mordes an dem noch unbekannten, möglicherweise vietnamesischen Mädchen verurteilt. Sie starb an einer Überdosis, und die Polizei verdächtigte anfänglich Kalle Farrisen. Lofthus hat aber auch noch für einen anderen Mord eingesessen. An Oliver Jovic, einem Dealer, Kosovo-Serbe, der im Begriff war, sich in den Drogenmarkt zu drängen, bis er im Stensparken mit einer Colaflasche im Hals gefunden wurde.«

Simon schnitt eine Grimasse. »Halsschlagader?«

»Nee, nee, nicht so. Die Flasche ist ihm in den Hals gedrückt worden.«

»In den Hals?«

»Ja, mit der Öffnung voran. Dann geht das leichter. Ziemlich tief, so dass der Boden gegen die Innenseite der Zähne gepresst war.«

»Woher wissen Sie …?«

»Ich habe mir die Bilder angeguckt. Im Drogendezernat hielt man das erst für eine Insiderbotschaft, um potentiellen Konkurrenten zu zeigen, was passiert, wenn man zu viel vom Cocamarkt will.« Sie sah schnell zu Simon auf und fügte hinzu: »Coca wie in Kokain.«

»Danke, ich kenne die Terminologie.«

»Die Ermittlungen kamen damals irgendwie nicht weiter. Der Fall wurde zwar nie zu den Akten gelegt, aber es ist wenig passiert, bis Sonny Lofthus wegen des Mordes an dem asiatischen Mädchen verurteilt wurde. Da gestand er in einem Aufwasch auch noch den Mord an Jovic. Im Protokoll des Verhörs steht, dass er sich mit Jovic getroffen hat, um Schulden zu begleichen, aber nicht genug Geld hatte und Jovic ihn deshalb mit einer Pistole bedroht hat. Lofthus will ihn dann überwältigt und zu Boden geworfen haben. Die Polizei fand das glaubhaft, da Lofthus ja früher Ringer war.«

»Hm.«

»Interessant ist, dass die Polizei an der Flasche einen Fingerabdruck gefunden hat.«

»Und?«

»Und der war nicht von Lofthus.«

Simon nickte. »Und wie hat Lofthus das erklärt?«

»Er hat gesagt, er hätte die Flasche irgendwo aus einem Mülleimer in der Nähe genommen. Dass Junkies wie er das ständig machten.«

»Und?«

»Junkies sammeln keine Pfandflaschen. Damit kriegen sie nicht schnell genug das Geld für ihre tägliche Dosis zusammen. Außerdem stand im Bericht, dass der Abdruck auf dem Flaschenboden war und von einem Daumen stammte.«

Simon erkannte, auf was sie hinauswollte, wollte ihre Argumentation aber nicht kaputtmachen.

»Ich meine, wer drückt schon seinen Daumen beim Trinken auf den Flaschenboden? Will man aber jemandem eine Flasche in den Hals drücken …«

»Und Sie meinen, dass die Polizei damals nicht so gedacht hat?«

Kari zuckte mit den Schultern. »Ich denke, dass Morde zwischen Dealern für die Polizei noch nie erste Priorität hatten. Außerdem haben sie in ihrer Datei keinen Abdruck gefunden, der passte. Und wenn sie dann noch ein Geständnis für einen Mord kriegen, der schon eine Weile zurückliegt …«

»Dann nehmen sie das mit Kusshand und legen den Fall als aufgeklärt zu den Akten?«

»Arbeitet ihr nicht so?«

Simon seufzte. Ihr. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass das Ansehen der Polizei bei der Bevölkerung nach den Entwicklungen der letzten Jahre zwar langsam wieder stieg, aber noch immer nicht viel höher war als das der Bahn. Ihr. Kari schien froh zu sein, bereits jetzt einen Fuß außerhalb dieses Großraumbüros zu haben.

»Dann richtet sich der Verdacht bei beiden Morden, für die Sonny Lofthus verurteilt wurde, eigentlich aufs Drogenmilieu. Sie meinen, er ist so etwas wie ein professioneller Sündenbock?«

»Sie nicht?«

»Vielleicht. Aber wir haben nach wie vor nichts, was ihn mit Farrisen oder Agnete Iversen in Verbindung bringt.«

»Es gibt noch einen dritten Mord«, sagte Kari. »Eva Morsand.«

»Die Reedersfrau?«, fragte Simon und dachte an einen Kaffee. »Polizeidistrikt Buskerud.«

»Stimmt. Der wurde die Schädeldecke abgetrennt. Sonny Loft­hus stand auch da unter Verdacht.«

»Da muss ein Fehler vorliegen. Er saß doch ein, als das geschehen ist.«

»Nein, er hatte Freigang. Befand sich in der Nähe des Tatorts. Es wurden sogar Haare von ihm am Tatort gefunden.«

»Sie machen Witze«, sagte Simon und vergaß den Kaffee. »Das hätte doch in der Zeitung gestanden. Verurteilter Mörder schlägt wieder zu. Die Presse hätte sich mit Wonne auf so was gestürzt.«

»Der Ermittlungsleiter in Buskerud zog es vor, das nicht an die große Glocke zu hängen«, sagte Kari.

»Warum?«

»Fragen Sie ihn selbst.«

Kari streckte den Arm aus, und Simon bemerkte einen großgewachsenen, breiten Mann, der ihnen mit einem Becher in der Hand vom Kaffeeautomaten entgegenkam. Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er einen dicken Wollpullover.

»Henrik Westad«, sagte der Mann und streckte Simon die Hand entgegen. »Hauptkommissar beim Polizeidistrikt Buskerud. Wir sind für den Fall Eva Morsand zuständig.«

»Ich habe ihn gebeten, heute früh für ein Gespräch zu uns zu kommen«, sagte Kari.

»Von Drammen? Und das während der Rushhour?«, fragte Simon und ergriff Westads Hand. »Herzlichen Dank.«

»Vor der Rushhour«, sagte Westad. »Wir sitzen hier schon seit halb sieben. Eigentlich dachte ich, dass es über die Ermittlungen nicht viel zu sagen gäbe, aber Ihre Kollegin ist wirklich gründlich.« Er nickte Kari zu und nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz.

»Warum haben Sie nicht bekanntgegeben, dass Sie am Tatort Haare eines Vorbestraften gefunden haben?«, fragte Simon und sah neidisch auf den Becher, den der andere an die Lippen setzte. »Das ist doch beinahe schon die Lösung des Falls. Sonst hält die Polizei gute Nachrichten doch nicht zurück?«

»Stimmt alles«, sagte Westad. »Besonders wenn der Besitzer des Haares beim ersten Verhör sogar gestanden hat.«

»Und was ist dann passiert?«

»Leif.«

»Leif?«

Westad nickte langsam. »Ich hätte natürlich nach dem ersten Verhör bekanntgeben können, was wir hatten, aber es gab da ein paar Sachen bei ihm, die nicht ins Bild passten. Seine … Einstellung. Also habe ich gewartet. Und beim zweiten Verhör hat er sein Geständnis widerrufen und behauptet, ein Alibi zu haben. Ein Typ namens Leif mit einem Drammen-Sticker auf einem blauen Volvo. Aus irgendeinem Grund hielt er Leif für akut herzkrank. Ich habe daraufhin alle Volvo-Kunden in Drammen mit der Herzabteilung des Buskeruder Zentralklinikums abgeglichen.«

»Und?«

»Leif Krognæss, dreiundfünfzig Jahre. Er wohnt im Stadtteil Konnerud in Drammen und hat ihn sofort wiedererkannt, als ich ihm ein Bild gezeigt habe. Er war ihm auf einem Rastplatz an der alten Bundesstraße begegnet, die parallel zum Drammensveien verläuft. Sie wissen schon, so ein Platz mit Bänken und Tischen, wo man die Natur genießen kann. Leif Krognæss hatte eine Spritztour durch die Sonne gemacht und war dann ein paar Stunden lang auf diesem Rastplatz sitzen geblieben, weil er so seltsam müde war. Anscheinend ist da sonst nie jemand, der Verkehr geht ja fast ausschließlich über die neue Straße. Außerdem ist das ein Mückenloch. Aber wie dem auch sei, an diesem Tag saßen noch zwei Menschen an einem anderen Tisch. Sie sollen einfach nur dagesessen haben, ohne miteinander zu reden. Stundenlang. Dann soll der eine auf die Uhr gesehen und gesagt haben, jetzt könnten sie gehen. Als sie an Leifs Tisch vorbeikamen, fragte einer der beiden ihn nach seinem Namen und sagte, er solle zum Arzt gehen, mit seinem Herzen sei etwas nicht in Ordnung. Dann sei der aber von dem anderen weggezogen worden, so dass Leif dachte, es könnte sich um einen Patienten aus der Psychiatrie handeln, der Ausgang bekommen hatte. Danach sollen die beiden weggefahren sein.«

»Aber ganz spurlos ist das Gespräch an diesem Leif nicht vorbeigegangen«, sagte Kari. »Er ist tatsächlich zum Arzt gegangen, der seinen Herzfehler bestätigt und ihn sofort eingeliefert hat. Das ist auch der Grund, weshalb sich Leif so gut an den Typ erinnerte, mit dem er auf dem Rastplatz am Drammenselva gerade mal ein paar Worte gewechselt hatte.«

»Genau«, sagte Westad. »Leif Krognæss sagte, dieser Mann habe ihm das Leben gerettet. Aber darum geht es nicht. Entscheidend ist, dass aus dem Bericht der Rechtsmedizin hervorgeht, dass Eva Morsand genau zu der Zeit umgebracht worden ist, als die beiden auf dem Rastplatz saßen.«

Simon nickte. »Und das Haar? Haben Sie nicht überprüft, wie das an den Tatort gelangen konnte?«

Westad zuckte mit den Schultern. »Der Verdächtige hat ein Alibi.«

Simon fiel auf, dass Westad noch nicht den Namen des Mannes genannt hatte. Er räusperte sich: »Es könnte also sein, dass das Haar dort platziert worden ist. Und wenn der Freigang arrangiert wurde, damit Sonny Lofthus als der Schuldige in Frage kommt, müssen an dieser Sache auch Gefängnisbedienstete des Staten beteiligt sein. Haben Sie das deshalb noch nicht an die große Glocke gehängt?«

Henrik Westad schob den Becher ein Stück über Karis Schreibtisch. Der Kaffee schien ihm nicht mehr zu schmecken. »Ich habe den Befehl erhalten, den Mund zu halten«, sagte er. »Mein Chef hatte allem Anschein nach von weiter oben die Order, das erst einmal auf sich beruhen zu lassen, vermutlich sollten irgendwelche internen Ermittlungen angestellt werden.«

»Sie wollten die Fakten unter Kontrolle haben, bevor der Skandal an die Öffentlichkeit kommt«, sagte Kari.

»Hoffen wir, dass es sich wirklich so verhält«, sagte Simon leise. »Aber warum erzählen Sie uns das, wenn Sie doch den Befehl erhalten haben, den Mund zu halten, Westad?«

Westad zuckte wieder mit den Schultern. »Es ist hart, der Einzige zu sein, der Bescheid weiß. Und als Kari mir gesagt hat, dass sie mit Simon Kefas zusammenarbeitet … nun, Ihnen eilt der Ruf voraus, ein integrer Mensch zu sein.«

Simon sah zu Westad. »Sie wissen, dass das nur ein anderes Wort für Unruhestifter ist?«

»Ja«, sagte Westad. »Ich will keinen Ärger. Ich will aber auch nicht der Einzige sein, der Bescheid weiß.«

»Weil Sie sich dann sicherer fühlen?«

Westad zuckte zum dritten Mal mit den Schultern. Im Sitzen wirkte er nicht mehr so groß und breit. Und trotz des Pullovers schien er zu frieren.

In dem länglichen Sitzungsraum war es vollkommen still.

Hugo Nestors Blick war auf den Stuhl am Ende des Tisches geheftet.

Die hohe Rückenlehne aus weißem Büffelleder wirkte abweisend.

Der Mann auf dem Stuhl hatte um eine Erklärung gebeten.

Nestor hob den Blick und betrachtete das Gemälde, das an der Wand über dem Stuhl hing. Es zeigte eine Kreuzigung. Grotesk, blutig und übertrieben detailreich. Der Mann am Kreuz hatte zwei Hörner auf der Stirn und rotglühende Augen. Abgesehen davon war die Ähnlichkeit unverkennbar. Ein Gerücht besagte, der Künstler habe das Bild gemalt, nachdem der Mann hinter der Stuhllehne ihm zwei Finger abgetrennt hatte, weil er seine Schulden nicht bezahlt hatte. Das mit den Fingern stimmte, Nestor war selbst dabei gewesen. Das Gerücht besagte weiter, dass es der Mann auf dem Stuhl, nur zwölf Stunden nachdem der Künstler das Bild in seiner Galerie ausgestellt hatte, beschlagnahmen ließ. Das Bild und die Leber des Malers. Aber dieses Gerücht stimmte nicht. Es waren nur acht Stunden gewesen, und sie hatten die Milz genommen.

Was das Büffelleder anging, so konnte Nestor weder bestätigen noch berichtigen, dass der Mann hinter der Lehne dreizehntausendfünfhundert Dollar bezahlt hatte, um einen weißen Büffel, das heilige Tier der Lakota-Sioux, jagen und töten zu dürfen. Oder dass mit einer Armbrust gejagt worden war, die zwei Treffer in der Herzgegend aber nicht tödlich gewesen waren, so dass der Mann auf dem Stuhl sich schließlich rittlings auf das Tier gesetzt und ihm mit seinen Beinmuskeln den Hals gebrochen hatte. Nestor sah jedoch keinen Grund, dieses Gerücht anzuzweifeln. Der Gewichtsunterschied zwischen dem Tier und dem Mann konnte nicht sonderlich groß sein.

Hugo Nestor wandte den Blick von dem Gemälde ab. Neben ihm und dem Mann auf dem Büffellederstuhl waren noch drei andere Personen im Raum. Nestor hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und spürte, wie unter seiner Anzugjacke der Stoff des Hemdes am Rücken klebte. Er schwitzte selten. Nicht nur, weil er die Sonne, dicke Wolle, Training, Liebe oder andere physische Anstrengungen mied, sondern weil er, seinem Arzt zufolge, ein defektes körpereigenes Thermostat hatte, das bei anderen Menschen das Schwitzen auslöste. Nestor schwitzte nicht einmal bei Anstrengungen. Stattdessen lief er Gefahr, dass sein Körper sich überhitzte. Ein vererbtes Defizit, das bewies, was er schon immer gewusst hatte: Die Menschen, die sich für seine Eltern ausgaben, waren nicht seine Eltern. Die Träume von der Wiege in einer Stadt, die wie Kiew in den Siebzigern aussah, waren keine Träume, sondern frühste Kindheitserinnerungen.

Aber jetzt schwitzte er. Und das, obwohl er gute Neuigkeiten hatte.

Der Mann auf dem Stuhl hatte nicht die Kontrolle verloren. War wegen der Drogen und des Geldes, die aus Kalle Farrisens Büro verschwunden waren, nicht ausgerastet. Und er hatte auch nicht herumgebrüllt und Rechenschaft verlangt, warum Sylvester verschwunden und dieser Lofthus noch immer nicht in ihrer Gewalt war. Schließlich wussten sie doch alle, was auf dem Spiel stand. Es gab vier Szenarien, und drei davon waren schlecht. Schlechtes Szenario Nummer eins: Sonny hatte Agnete Iversen, Kalle und Sylvester getötet und würde auch all die anderen Partner, mit denen Nestor zusammengearbeitet hatte, ermorden. Szenario zwei: Sonny wurde festgenommen, gestand und sagte aus, wer hinter den Morden stand, für die er gebüßt hatte. Szenario drei: Ohne das Geständnis des Jungen wurde Yngve Morsand für den Mord an seiner Frau festgenommen, hielt dem Druck nicht stand und packte aus.

Als Morsand mit dem Wunsch zu ihnen gekommen war, seine untreue Frau zu ermorden, war Nestor zuerst davon ausgegangen, dass ein Killer beauftragt werden sollte. Morsand hatte dann aber darauf bestanden, die Tat selbst zu begehen. Nur sollte alles so arrangiert werden, dass jemand anderes die Schuld auf sich nehmen konnte. Als gehörnter Ehemann war er ja ohnehin der erste Verdächtige der Polizei. Und man konnte doch alles kaufen, wenn der Preis nur attraktiv genug war. In diesem Fall drei Millionen Kronen. Ein guter Stundenlohn für eine lebenslange Haftstrafe, hatte Nestor argumentiert, und Morsand war schließlich darauf eingegangen. Als Morsand ihm dann erläutert hatte, wie er das Luder fesseln, ihr die Säge an die Stirn setzen und ihr in die Augen schauen wollte, während er ihr den Schädel aufsägte, hatte Nestor gespürt, wie sich ihm die Haare am Rücken vor Abscheu und Erregung aufstellten. Sie hatten alles mit Arild Franck koordiniert. Den Freigang von Sonny, wo er sich aufhalten musste und welcher von Francks Vertrauten ihn begleiten sollte. Die Wahl war auf den ebenso korrupten wie gutbezahlten chubby chaser aus Kaupang gefallen, der sein Geld für Kokain, die Begleichung seiner Schulden und für Huren ausgab, die fett und hässlich waren. Eigentlich hätten die selbst dafür bezahlen müssen, dass sich jemand mit ihnen abgab.

Das vierte und einzig gute Szenario war einfach: Finde den Jungen und mach ihn kalt. Das heißt, eigentlich sollte es einfach sein – und längst erledigt.

Trotzdem redete der Mann mit ruhiger, tiefer Flüsterstimme. Und genau diese Stimme hatte Nestor den Schweiß auf die Stirn getrieben, denn sie wollte eine Erklärung von ihm. Mehr nicht. Eine Erklärung. Nestor räusperte sich und hoffte, dass seine Stimme nicht die Angst verriet, die er immer spürte, wenn er mit dem Großen in einem Raum war.

»Wir waren noch einmal im Haus und haben nach Sylvester gesucht. Gefunden haben wir aber nur einen leeren Sessel mit einem Einschussloch in der Lehne. Wir haben unseren Kontaktmann bei Telenor gefragt, aber keine ihrer Basisstationen hat seit dieser Nacht Signale von Sylvesters Handy empfangen. Lofthus hat Sylvesters Telefon also entweder komplett demontiert, oder es befindet sich an einem Ort ohne Empfang. Auf jeden Fall fürchte ich, dass Sylvester nicht mehr am Leben ist.«

Der Stuhl am Ende des Tisches drehte sich langsam, und der Mann kam zum Vorschein. Wirklich ein Abbild der Person oben auf dem Gemälde. Die gewaltige Größe, die Muskeln, die sich von innen gegen den Stoff des Anzugs pressten, die hohe Stirn, der längst außer Mode gekommene Schnurrbart und die kräftigen Augenbrauen über dem so in die Irre führenden, schläfrigen Blick. Hugo Nestor versuchte nun, diesem Blick zu begegnen. Nestor hatte Frauen, Männer und Kinder getötet und ihnen dabei in die Augen gesehen, und er hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Stattdessen hatte er sie beobachtet, um in ihren Blicken die Angst vor dem Tod zu finden, die Gewissheit über das Unausweichliche, die Einsicht, die Sterbende auf der Schwelle zum Jenseits haben sollten. Wie dieses weißrussische Mädchen, dem er die Kehle durchgeschnitten hatte, weil der andere keinen Mumm gehabt hatte. Als er ihren flehenden Blick sah, war er beinahe high geworden durch diese Mischung aus den eigenen Gefühlen, der Wut über die Schwäche des anderen und der stillen Kapitulation des Mädchens. Es erregte ihn, ein Leben in seinen Händen zu halten und darüber zu bestimmen, wann es zu Ende sein sollte. Er konnte sie noch eine oder zwei Sekunden am Leben lassen, oder auch nicht. Das alles war einzig und allein seine Entscheidung. Ihm war irgendwie klar, dass das der sexuellen Erregung am nächsten kam, von der andere Menschen ­redeten, die bei ihm aber nicht mehr war als der beklemmende, ebenso unangenehme wie peinliche Versuch, normal zu wirken. Irgendwo hatte er gelesen, dass unter hundert Menschen ein Asexueller war. Er war eine Ausnahme, deshalb aber noch lange nicht unnormal. Im Gegenteil, er konnte sich so auf das konzentrieren, was er wollte, sein Leben aufbauen, sich einen Namen machen, konnte sich Respekt verschaffen und die Furcht seiner Untergebenen genießen, ohne sich von dem Energieverlust schwächen und ablenken zu lassen, den die sexuelle Narkomanie gewöhnlich mit sich brachte. War das nicht rational und folglich normal? Er war ein normaler Mensch, der den Tod nicht fürchtete, sondern eher neugierig darauf war.

Aber er hatte auch gute Nachrichten für den Großen. Trotzdem schaffte Nestor es nur fünf Sekunden, dem Blick des anderen standzuhalten, denn was er darin sah, war kälter und leerer als Tod und Vernichtung. Es war Verdammnis. Das Versprechen, dass dir deine Seele genommen würde.

»Aber wir haben einen Tipp bekommen, wo Lofthus sich befinden könnte«, sagte Nestor.

Der große Mann zog eine der markanten Augenbrauen hoch. »Von wem?«

»Von Coco. Einem Dealer, der bis vor kurzem im Ila wohnte.«

»Die Tunte mit der Ahle?«

Nestor hatte nie herausgefunden, woher der Große seine Informationen hatte, schließlich war er nie draußen auf den Straßen zu sehen, und Nestor war auch nicht zu Ohren gekommen, dass jemand mit ihm gesprochen oder ihn gar getroffen hätte. Trotzdem wusste der Große alles. Das war immer so gewesen. Zu Zeiten des Maulwurfs war das noch verständlich, da hatte der Große Zugang zu allem, was bei der Polizei vor sich ging. Aber nachdem sie Ab Lofthus, der ihr ganzes Kartenhaus zum Einsturz bringen wollte, getötet hatten, war es mit den Aktivitäten des Maulwurfs vorbei gewesen. Das Ganze lag jetzt bald fünfzehn Jahre zurück, und Nestor hatte sich damit abgefunden, wohl nie zu erfahren, wer der Maulwurf gewesen war.

»Er hat über einen jungen Typ im Ila geredet, der über so viel Geld verfügt, dass er die Schulden seines Zimmergenossen beglichen hat«, sagte Nestor mit seinem genau einstudierten Tonfall und dem – wie er meinte – slawischen r. »Zwölftausend.«

»Keiner im Ila zahlt für einen anderen«, sagte Vargen, ein älterer Mann, der für den Import der Mädchen zuständig war.

»Genau«, sagte Nestor. »Aber er schon, obwohl sein Kumpel ihn beschuldigt hat, ein paar Ohrringe geklaut zu haben. Deshalb dachte ich …«

»Das Geld aus Kalles Safe?«, sagte der Große. »Und der Schmuck von Iversen?«

»Genau. Ich war deshalb bei Coco und habe ihm ein Bild von Lofthus gezeigt. Coco hat mir bestätigt, dass das der Typ aus der 323 ist. Die Frage ist eigentlich nur, wie wir ihn«, Nestor legte die Fingerkuppen aneinander und schmatzte, als suchte er eine andere Formulierung, »zur Strecke bringen können.«

»Wir kommen da nicht rein«, sagte Vargen. »Jedenfalls nicht unbemerkt. Das Tor ist verschlossen, die Rezeption ständig besetzt, und überall hängen Überwachungskameras.«

»Wir könnten das von einem der Bewohner erledigen lassen«, sagte Voss. Er war früher der Geschäftsführer einer Wachgesellschaft gewesen, ihm war aber gekündigt worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er in den Im- und Export von anabolen Steroiden verstrickt war.

»Nein, wir dürfen das keinem Junkie überlassen«, sagte Vargen. »Lofthus ist nicht nur unseren eigenen Leuten entkommen, also wirklich kompetenten Leuten, sondern hat wohl auch einen von ihnen ermordet.«

»Was sollen wir dann tun?«, fragte Nestor. »Draußen auf der Straße auf ihn warten? Im Haus gegenüber einen Scharfschützen postieren? Das ganze Hospiz anstecken und die Ausgänge verriegeln?«

»Lass die Witze, Hugo«, sagte Voss.

»Du solltest wissen, dass ich nie Witze mache.« Nestor spürte, dass sein Gesicht warm wurde, aber der Schweiß war versiegt. »Kriegen wir ihn nicht, bevor die Polizei ihn hat …«

»Gute Idee.« Die beiden Worte kamen so leise, dass sie kaum zu hören waren. Trotzdem dröhnten sie wie ein Donner durch den Raum.

Gefolgt von Stille.

»Was?«, fragte Nestor schließlich.

»Ihn nicht zu schnappen, bevor die Polizei ihn verhaftet«, sagte der Große.

Nestor sah sich um, um sich zu vergewissern, dass nicht nur er diese Worte gehört hatte. Dann fragte er: »Wie meinen Sie das?«

»Genau so«, flüsterte der Große, lächelte kurz und richtete den Blick auf die einzige Person im Raum, die sich bis jetzt nicht zu Wort gemeldet hatte. »Verstanden?«

»Ja«, sagte die Person. »Der Mann wird im Staten landen. Vielleicht nimmt er sich dort ja – wie sein Vater – das Leben.«

»Gut.«

»Dann gebe ich der Polizei einen Tipp, wo der Mann sich befinden könnte«, sagte die Person, hob den Kopf und zog das Doppelkinn aus dem Hemdkragen unter der grünen Uniform.

»Nicht nötig, um die Polizei kümmere ich mich«, sagte der Große.

»Wirklich?«, fragte Arild Franck verwundert.

Der große Mann drehte sich um und richtete sich an alle am Tisch: »Was ist mit diesem Zeugen in Drammen?«

»Er liegt im Krankenhaus in der Herzabteilung«, hörte Hugo Nestor jemanden sagen, während er selbst auf das Gemälde starrte …

»Und was machen wir mit ihm?«

… und starrte …

»Was wir machen müssen«, antwortete die tiefe Stimme.

… und auf den Zwilling starrte, der am Kreuz hing.

Erhängt.

Martha saß auf dem Dachboden und starrte an den Balken.

Den anderen hatte sie gesagt, dass sie überprüfen wollte, ob die Ablage auch anständig gemacht worden war, dabei war ihr das eigentlich vollkommen egal. Sie dachte nur an ihn, an Stig, und das war ebenso banal wie tragisch. Sie war verliebt. Sie hatte immer gemeint, gar nicht die Veranlagung für derart große Gefühle zu haben. Natürlich war sie schon mal verliebt gewesen, mehrmals, aber nicht so wie jetzt. Bisher war es immer nur ein Kitzeln gewesen, ein spannendes Spiel, geschärfte Sinne und glühende Haut. Aber das jetzt, das war … krank. Es hatte sich ­ihres Körpers bemächtigt und steuerte alles, was sie tat oder dachte. Verliebt. Welch treffendes Wort. Wie verstaucht oder ­verlaufen. Ver-liebt. In die Irre geraten. Unerwünscht. Destruktiv.

Waren das auch die Gefühle der Frau gewesen, die sich hier oben erhängt hatte? War auch sie einem Mann verfallen, von dem sie tief in ihrem Inneren wusste, dass er sich auf der falschen Seite befand? Und war auch sie von ihrer Verliebtheit so verblendet, dass sie mit sich selbst zu argumentieren begann, was richtig und was falsch war, um sich eine neue Moral zu erschaffen, die mit dieser wunderbaren Krankheit harmonierte? Oder erkannte sie all das – wie Martha – erst, als es zu spät war? Martha war, als alle frühstückten, in Zimmer 323 gegangen und hatte sich noch einmal die Joggingschuhe genau angesehen. Die Sohlen rochen nach Neutralseife. Wer wäscht denn die Sohlen eines beinahe neuen Paars Joggingschuhe? Das tat man doch nur, wenn man etwas zu verbergen hatte. Und warum war sie deshalb derart verzweifelt, dass sie nach hier oben fliehen musste? Herrgott noch mal, sie wollte ihn doch gar nicht.

Sie starrte an den Balken.

Aber sie würde nicht tun, was die andere getan hatte. Sie würde ihn nicht anzeigen. Es musste einen Grund für das geben, was er getan hatte, auch wenn sie den noch nicht kannte. Das Ganze passte überhaupt nicht zu ihm. Sie hörte bei ihrer Arbeit tagtäglich so viele Lügen, Ausflüchte und Umschreibungen der Wirklichkeit, dass sie irgendwann einmal aufgehört hatte, daran zu glauben, auch nur einer ihrer Bewohner sei derjenige, für den er sich ausgab. Trotzdem wusste sie, dass Stig kein kaltblütiger Mörder war.

Sie wusste das, weil sie verliebt war.

Martha verbarg ihr Gesicht in den Händen und spürte die Tränen. Ihr Körper zitterte. Er hatte sie küssen wollen. Sie hatte ihn küssen wollen. Wollte ihn küssen. Hier, jetzt, immer! Wollte in das Meer aus großen, warmen, angenehmen Gefühlen tauchen. Drogen nehmen, nachgeben, sich die Spritze setzen und den Rausch spüren, danken und verfluchen.

Sie hörte das Weinen. Und spürte, wie die Haare auf ihrem Arm sich aufstellten. Starrte auf das Walkie-Talkie. Jammerndes, klagendes Kinderweinen.

Als sie das Gerät ausschalten wollte, hielt sie plötzlich inne. Das Weinen klang dieses Mal anders. Als hätte das Kind Angst, als würde es sie rufen. Aber es war dasselbe Kind. Immer dasselbe Kind. Ihr Kind. Das verschwundene Kind. Gefangen in der Leere, im Nichts, versuchte es den Weg nach Hause zu finden. Und niemand konnte oder wollte helfen. Niemand wagte es. Weil sie nicht verstanden, wie das möglich war, und weil sie fürchteten, was sie nicht verstanden. Martha horchte auf das Weinen. Es wurde immer lauter. Dann war ein lautes Knacken zu hören, gefolgt von einer hysterischen Stimme:

»Martha! Martha! Bitte kommen …!«

Sie erstarrte. Was war denn jetzt wieder los?

»Martha! Die stürmen hier einfach so rein! Die haben Waffen! Mein Gott, wo bist du denn?«

Sie nahm das Walkie-Talkie und drückte den Sprechknopf. »Was ist los, Maria?« Sie ließ den Knopf los.

»Das sind total viele, und sie tragen schwarze Klamotten und Masken, haben Schilde und Gewehre! Du musst kommen, bitte!«

Martha stand auf und stürmte durch die Tür. Sie hörte das Gepolter ihrer eigenen Füße auf der Treppe nach unten. Riss die Tür auf, die auf den Flur im zweiten Stock führte, und sah einen der Schwarzgekleideten herumwirbeln und mit einem kurzen Gewehr oder einer Maschinenpistole auf sie zielen. Dann erblickte sie die drei anderen, die vor dem Zimmer 323 Stellung bezogen hatten. Zwei davon schwangen einen kurzen Rammbock zwischen sich.

»Was …?«, begann Martha, hielt aber inne, als der Mann mit der Maschinenpistole sich vor sie stellte und einen Finger an die Stelle legte, an der sie unter der schwarzen Sturmhaube seinen Mund vermutete. Sie blieb eine Sekunde stehen, ehe ihr bewusst wurde, dass nur diese idiotische Waffe sie aufhielt.

»Kann ich bitte einen Durchsuchungsbeschluss sehen! Sie dürfen hier nicht einfach so …«

Es splitterte und krachte laut, als der Rammbock die Tür direkt unter dem Schloss traf. Der Dritte drückte die Tür auf und warf etwas in den Raum, das wie zwei Handgranaten aussah. Dann drehten sie sich um und hielten sich die Ohren zu. Mein Gott, die konnten doch nicht …? Der Lichtschein aus der Türöffnung war so grell, dass die drei Polizisten auf dem hell erleuchteten Flur Schatten warfen, und Marthas Ohren waren taub von dem Knall. Dann stürmten die Männer das Zimmer.

»Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist, Mädchen!«

Die dumpfen Worte kamen von dem Polizisten, der vor ihr stand. Vermutlich schrie er sie an.

Martha blieb ein paar Sekunden stehen und sah ihn an. Er trug wie die anderen die schwarze Uniform des Sondereinsatzkommandos Delta sowie eine schusssichere Weste. Dann wich sie nach hinten durch die Tür ins Treppenhaus zurück. Lehnte sich an die Wand. Wühlte in ihren Taschen. Sie hatte noch immer die Visitenkarte, als wäre ihr die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass sie diese noch einmal brauchte. Sie wählte die Nummer, die unter dem Namen stand.

»Ja?«

Stimmen sind ein seltsam präzises Thermometer. Simon Kefas klang müde, gestresst. Aber nicht nach der Befriedigung, die eine wichtige Festnahme mit sich bringen sollte. Aus den Hintergrundgeräuschen schloss sie überdies, dass er nicht unten vor dem Haus auf der Straße stand, sondern irgendwo in einem Raum, umgeben von anderen Menschen.

»Sie sind hier«, sagte sie. »Sie haben Granaten geworfen.«

»Entschuldigung?«

»Hier ist Martha Lian aus dem Ila-Hospiz. Das SEK ist hier. Sie greifen uns an.«

In der Pause, die folgte, hörte sie eine Lautsprecherdurchsage, jemand wurde auf irgendeine postoperative Station gerufen. Der Kommissar war im Krankenhaus.

»Ich komme sofort«, sagte er.

Martha beendete die Verbindung, öffnete die Tür und ging wieder auf den Flur, wo mehrere Walkie-Talkies krächzten.

Der Mann richtete seine Waffe auf sie. »He, was habe ich eben gesagt?«

Eine metallische Stimme meldete durch sein Walkie-Talkie: »Wir bringen ihn jetzt raus.«

»Erschießen Sie mich, wenn Sie müssen, aber ich bin die Leiterin hier im Haus, und ich habe keinen Durchsuchungsbeschluss gesehen«, sagte Martha und ging an ihm vorbei.

Im selben Moment kamen sie aus Zimmer 323. Er trug Handschellen, und die beiden Polizisten hatten ihn in die Mitte genommen. Er trug nur eine etwas zu große weiße Unterhose und sah seltsam verwundbar aus. Trotz seines muskulösen Oberkörpers wirkte er dünn, eingefallen, fertig. Aus einem Ohr lief ein dünnes Rinnsal Blut.

Er hob den Blick. Sah Martha in die Augen.

Dann waren sie an ihr vorbei und auf dem Weg nach unten.

Es war zu Ende.

Martha atmete erleichtert auf.

Nachdem sie zweimal an die Tür geklopft hatte, öffnete Betty mit der Personalkarte die Tür der Suite. Wie gewöhnlich machte sie extra langsam, damit der Gast, sollte er doch anwesend sein, Zeit genug hatte, eine eventuell peinliche Situation zu vermeiden. Es gehörte zum Stil des Plaza Hotels, dass die Angestellten nicht sahen oder hörten, was nicht gesehen oder gehört werden sollte. Bettys Stil war das allerdings nicht. Ganz im Gegenteil. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Bettys Neugier ihr eines Tages noch echte Schwierigkeiten bereiten würde. Gut, das war wirklich so gekommen, mehr als einmal. Aber als Empfangsdame war es ihr auch von Nutzen gewesen, denn niemand sonst im Haus hatte eine derart gute Nase für Hotelbetrüger wie sie. Es war beinahe ihr Markenzeichen geworden, dass sie Menschen entlarvte, die vorhatten, umsonst zu wohnen, zu essen und zu trinken. In diesen Fällen ging sie gerne sehr aktiv vor. Betty hatte nie ein Hehl aus ihren Ambitionen gemacht. Während ihres letzten Mitarbeitergesprächs mit dem Chef hatte sie dieser für ihre Aufmerksamkeit gelobt, aber betont, dass sie diskret agieren müsse und immer erst an die Interessen des Hotels denken solle. Er hatte gesagt, dass sie es weit bringen könnte und die Rezeption für jemanden wie sie nur eine Etappe auf dem Weg nach oben war.

Die Suite war eine der größten des Hotels mit einem wunderbaren Blick aus dem Wohnzimmer über ganz Oslo. Bartisch, Kochnische, Bad und separater Schlafraum mit extra Bad. Durch die Schlafzimmertür hörte sie die Dusche.

Eingecheckt hatte er unter dem Namen Fidel Lae, und Geldprobleme schien er auch keine zu haben. Der Anzug, den sie bei sich hatte, war von TIGER of Sweden. Der Gast hatte ihn am Morgen im Bogstadveien gekauft, und anschließend war der Anzug von einem Schneider angepasst und mit einem Kuriertaxi zum Hotel gebracht worden. In den anderen Jahreszeiten arbeitete das Hotel mit einem Lieferservice zusammen, aber im Sommer war es so ruhig, dass die wenigen Botengänge vom Rezeptionspersonal selbst erledigt wurden. Betty hatte gleich eingewilligt, diese Aufgabe zu übernehmen. Dabei hatte sie keinen konkreten Verdacht. Beim Einchecken hatte der Gast für zwei Nächte im Voraus bezahlt, und das war nicht die Vorgehensweise eines ­Hotelbetrügers. Es waren andere Dinge, die irgendwie nicht zusammenpassten. Schließlich sah er wirklich nicht aus wie die Typen, die sonst in der obersten Etage in den Suiten wohnten. Eher wie jemand, der auf der Straße hauste oder in einem Backpackerhotel abstieg. Auch dass er so unsicher gewirkt und sich beim Einchecken so konzentriert hatte, als hätte er noch niemals zuvor in einem Hotel gewohnt, hatte sie alarmiert. Als hätte er sich vorher alles angelesen. Das Tüpfelchen auf dem i war dann, dass er auch noch bar bezahlt hatte.

Betty öffnete die Schranktür im Wohnzimmer und registrierte, dass dort bereits ein Schlips und zwei Hemden hingen. Auch von TIGER, vermutlich im selben Laden gekauft. Auf dem Boden stand ein Paar neuer schwarzer Schuhe mit dem Eindruck Vass auf der Innensohle. Neben den Schuhen befand sich ein ­hoher, weicher Koffer mit Rädern. Er war fast so groß wie Betty. Eigentlich kannte sie diese Koffer nur aus dem Winter, wenn damit Snowboards transportiert wurden. Sie dachte einen Moment lang darüber nach, ob sie den Reißverschluss aufziehen sollte, drückte dann aber nur von außen gegen die Wand des Koffers. Der Stoff gab nach. Leer, jedenfalls war kein Snowboard darin. Neben dem Koffer lag etwas, das als Einziges im Schrank nicht neu aussah: eine rote Sporttasche mit dem Aufdruck des Osloer Ringerclubs.

Sie schloss die Schranktüren, ging zur Tür des Schlafzimmers und rief in den Raum hinein: »Herr Lae! Entschuldigung, Herr Lae?«

Die Dusche wurde abgedreht, gleich darauf tauchte ein Gesicht auf. Die nassen Haare waren nach hinten gestrichen und auf Kinn, Wangen und Augenbrauen war Rasierschaum.

»Ich habe Ihren Anzug in den Schrank gehängt. Mir wurde gesagt, dass ich einen Brief entgegennehmen, frankieren und zur Post bringen soll?«

»Oh, ja, danke. Geben Sie mir eine Minute?«

Betty trat ans Fenster des Zimmers. Bewunderte die Aussicht auf die Oper und den Fjord. Die neuen Hochhäuser, die dicht an dicht standen wie die Latten eines Zauns. Den Ekeberg. Das Postgirogebäude und das Rathaus. Und die Schienen, die aus dem ganzen Land kamen und wie ein Nervenbündel unter ihr im Osloer Bahnhof zusammenliefen. Dann fiel ihr Blick auf einen Führerschein, der auf dem großen Schreibtisch lag. Er gehörte nicht Lae. Daneben lagen eine Schere und ein Passfoto von Lae mit der dominierenden Brille, ein eckiges schwarzes Gestell, die ihr schon beim Einchecken aufgefallen war. Am hinteren Rand des Schreibtisches lagen zwei gleiche und allem Anschein nach neue Aktenkoffer. Aus einem ragte die Ecke einer Plastiktüte ­heraus. Sie konnte den Blick nicht davon lassen. Auf dem durchsichtigen, aber stumpfen Plastik befanden sich auf der Innenseite Spuren von etwas Weißem.

Sie ging zwei Schritte zurück, so dass sie ins Schlafzimmer blicken konnte. Die Tür zum Bad war aufgegangen, und sie sah den Rücken des Gastes, der vor dem Spiegel stand. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen und konzentrierte sich aufs Rasieren. Also hatte sie ein bisschen Zeit.

Sie versuchte, den Koffer mit der Plastiktüte zu öffnen. Er war verschlossen.

Sie sah sich das Zahlenschloss an. Die kleinen Metallrollen zeigten 0999. Das Schloss des anderen Koffers war auf 1999 eingestellt. Hatten die beiden Koffer den gleichen Code? Dann konnte sie es mit 1999 probieren. Eine Jahreszahl, vielleicht ein Geburtsdatum. Oder der Song von Prince. Aber dann musste dieser andere Koffer offen sein.

Im Bad wurde jetzt das Wasser angedreht. Er spülte sich das Gesicht ab. Sie sollte es nicht tun.

Sie hob den Deckel des zweiten Koffers an, und ihr stockte der Atem.

Unzählige Geldbündel, bis unter den Rand des Koffers gestapelt.

Betty hörte Schritte im Schlafzimmer, klappte den Koffer schnell zu und war mit drei raschen Schritten wieder an der Tür. Ihr Herz hämmerte.

Er kam aus dem Schlafzimmer und lächelte sie an. Aber er wirkte verändert, vielleicht lag es daran, dass er seine Brille nicht trug. Oder an dem blutigen Papierschnipsel über dem einen Auge. Im selben Augenblick wurde ihr klar, was anders war. Er hatte sich die Augenbrauen abrasiert. Wieso das denn? Das machte doch niemand? Sah man mal von Bob Geldoff in The Wall ab. Aber der war ja auch verrückt. Spielte jedenfalls einen Verrückten. War der Mann, der vor ihr stand, auch verrückt? Aber Verrückte hatten keine Koffer voller Geld, die glaubten nur ­daran, solche Koffer zu haben.

Er zog die Schreibtischschublade auf, nahm einen braunen Umschlag heraus und reichte ihn Betty.

»Könnten Sie den noch heute auf die Post bringen?«

»Das kriegen wir schon hin«, sagte sie und hoffte, dass er ihr ihre Nervosität nicht ansah.

»Vielen, vielen Dank, Betty.«

Sie blinzelte zweimal. Natürlich, das Namensschild.

»Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Lae«, sagte sie lächelnd und legte die Hand auf die Klinke.

»Betty, warten Sie …«

Sie spürte, wie das Lächeln erstarrte. Er hatte gesehen, dass sie den Koffer geöffnet hatte, und würde sie jetzt …

»Es ist vielleicht üblich … äh … Trinkgeld für einen solchen Service zu geben?«

Sie atmete erleichtert aus. »Überhaupt nicht, Herr Lae, machen Sie sich deshalb keine Gedanken.«

Erst im Aufzug spürte sie, wie verschwitzt sie war. Warum konnte sie ihre Neugier nur nicht im Zaum halten? Sie konnte kaum jemanden erzählen, dass sie die Sachen ihrer Gäste durchwühlte. Und es war ja nicht verboten, einen Koffer voll Geld zu haben. Schon gar nicht, wenn man Polizist war. Denn auf dem braunen Umschlag stand: Polizeipräsidium, z. Hd. Simon Kefas, Grønlandsleiret 44.

Simon Kefas stand im Raum 323 und sah sich um.

»Delta hat den Raum also gestürmt?«, fragte er. »Und den, der unten im Bett lag, mitgenommen? Johnny … wie hieß er noch mal?«

»Puma«, sagte Martha. »Ich habe angerufen, weil ich dachte, dass Sie vielleicht …«

»Nein, ich habe damit wirklich nichts zu tun. Und Johnny wohnt hier mit …?«

»Er nennt sich Stig Berger.«

»Hm, und wo ist dieser Stig Berger jetzt?«

»Keine Ahnung. Das weiß niemand. Die Polizei hat schon alle befragt. Aber … wenn nicht Sie den Angriff angeordnet haben, wer ist dann dafür verantwortlich?«

»Keine Ahnung«, sagte Simon und öffnete den Schrank. »Jeder Delta-Einsatz muss vom Polizeipräsidenten genehmigt werden, fragen Sie den. Sind das Stig Bergers Kleider?«

»Soweit ich weiß.«

Er hatte das Gefühl, sie log ihn an und wusste ganz genau, dass es Stigs Sachen waren. Simon nahm die blauen Joggingschuhe, die am Boden des Schranks standen. Größe 43. Dann stellte er sie zurück, machte den Schrank zu und entdeckte das Bild, das daneben an die Wand geheftet war. Jetzt waren alle Zweifel ausgeräumt.

»Er heißt Sonny Lofthus«, sagte Simon.

»Was?«

»Der andere Mieter. Er heißt Sonny Lofthus, und das ist ein Bild seines Vaters, Ab Lofthus. Sein Vater war Polizist. Und der Sohn wurde ein Mörder, der bis jetzt sechs Personen auf dem Gewissen hat. Sie dürfen sich gerne beim Polizeipräsidenten beschweren, aber ich denke, wir können davon ausgehen, dass der Auftritt von Delta durchaus berechtigt war.«

Er sah, wie ihr Gesicht erstarrte und sich ihre Pupillen zusammenzogen, als wäre es auf einmal viel zu hell geworden. Sie ­waren hier einiges gewohnt, aber dass sie einen sechsfachen Mörder beherbergt hatten, musste auch für Martha ein Schock sein.

Er hockte sich hin und zog etwas unter dem Etagenbett hervor.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Eine Blendgranate«, sagte er und hielt ihr einen olivgrünen Gegenstand hin, der wie der Griff eines Fahrradlenkers aussah. »Sie macht einen grellen Lichtblitz und knallt dabei mit rund hundertundsiebzig Dezibel. Nicht direkt gefährlich, aber durch die Detonation sind die Menschen anschließend für ein paar Sekunden blind, taub, schwindelig und orientierungslos, so dass die Einsatzkräfte tun können, was sie tun müssen. Aber bei der hier haben sie den Sicherungsstift nicht gelöst, folglich ist sie nicht explodiert. So ist das Leben, stehen Menschen unter Druck, machen sie Fehler. Nicht wahr?«

Er sah noch einmal zum Schrank hinüber und blickte dann sie an. Aber ihre Augen strahlten Ruhe und Sicherheit aus, und er konnte nichts in ihnen erkennen.

»Ich muss zurück ins Krankenhaus«, sagte Simon. »Rufen Sie mich an, wenn er wieder auftaucht?«

»Fehlt Ihnen etwas?«

»Wahrscheinlich«, sagte Simon. »Meine Frau ist eingeliefert worden. Sie droht zu erblinden.«

Er sah auf seine Hände und hätte fast hinzugefügt: Genau wie ich.


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