Kapitel 9

Einar Harnes hatte nie vorgehabt, die Welt zu retten. Allenfalls einen kleinen Teil davon. Genauer gesagt, seinen Teil. Deshalb hatte er auch Jura studiert. Ein bisschen. Genau so viel, wie er für sein Examen brauchte. Er war in einer Kanzlei angestellt worden, die in der absolut untersten Liga der Osloer Kanzleien operierte, und hatte dort exakt so lange gearbeitet, bis er seine Zulassung bekommen hatte. Danach hatte er mit dem meist alkoholisierten und nicht mehr ganz jungen Erik Fallbakken eine eigene Firma gegründet, die die unterste Liga der Osloer Kanzleien fortan neu definierte. Sie hatten die unmöglichsten Fälle angenommen, alle verloren, aber sich trotzdem seltsamerweise den Ruf als Verteidiger der Ärmsten der Armen erworben, der Elendsten der Gesellschaft. Und dadurch Zugang zu einer Klientel bekommen, die ihre Rechnungen bei der Kanzlei Harnes und Fallbakken in der Regel dann zahlte, wenn die Sozialhilfe ausbezahlt wurde. Einar Harnes hatte früh erkannt, dass er nicht der Gerechtigkeit diente, sondern eher eine etwas teurere Alternative darstellte zu Geldeintreibern, Arbeitsämtern und Wahrsagerinnen. Er drohte denen mit Klagen, die zu bedrohen er bezahlt wurde, verschaffte den hoffnungslosesten Existenzen der Stadt Arbeitsplätze auf Mindestlohnbasis und versprach finanzkräftigen Klienten das Blaue vom Himmel, wenn sie sich durch sie vertreten ließen. Am Leben gehalten wurde die Kanzlei aber von einem einzigen Mandanten. Und zu diesem gab es keinerlei Akten im Kanzleiarchiv, wollte man das umfassende Chaos in den Schränken der beinahe dauerkrankgeschriebenen Anwaltsgehilfin denn als Archiv bezeichnen. Dieser Mandant zahlte zuverlässig, in der Regel in bar und verlangte nie eine Rechnung. Und das würde auch für die nächsten Stunden gelten.

Sonny Lofthus saß mit überkreuzten Beinen auf dem Bett. Aus seinen Augen sprach blanke Verzweiflung. Seit dem denkwür­digen Verhör waren sechs Tage vergangen, und der junge Mann musste eine harte Zeit hinter sich haben. Er hatte aber länger durchgehalten, als sie erwartet hatten. Die Berichte der anderen Insassen, zu denen Harnes Kontakt hatte, waren bemerkenswert. Sonny hatte nicht einmal versucht, in den Besitz von Drogen zu kommen, sondern stattdessen alle Angebote von Speed oder Hasch ausgeschlagen. Er war sogar im Trainingsraum auf dem Laufband gesichtet worden. Zwei Stunden sollte er durchgehalten und dann sogar noch eine Stunde Gewichte gestemmt haben. Nachts waren aus seiner Zelle Schreie zu hören gewesen. Aber er hatte standgehalten. Ein junger Mann, der zwölf Jahre das große H genommen hatte. Harnes hatte so etwas nur bei Menschen erlebt, die die Drogen durch etwas ebenso Starkes, ebenso Stimulierendes ersetzt hatten. In Frage kam da nicht viel. Bei manchen war es eine religiöse Offenbarung, bei anderen die Liebe oder Kinder. Ein plötzliches Ziel, das dem Leben einen neuen und anderen Sinn gab. Mitunter war es aber auch nur das letzte Aufbäumen eines Ertrinkenden gewesen. In nur einer Hinsicht war Einar Harnes sich sicher, dass sein Mandant Antworten erwartete. Falsch, nicht Antworten, Resultate.

»Es gibt Indizien, Sonny, du wirst also verurteilt werden, ob du nun gestehst oder nicht. Warum die Qualen also unnötig verlängern?«

Keine Antwort.

Harnes fuhr sich mit der Hand so fest über seine nach hinten gekämmten Haare, dass es am Haaransatz schmerzte. »Ich kann dir binnen einer Stunde ein Briefchen Superboy besorgen, was also ist das Problem? Ich brauche nur deine Unterschrift.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die drei A4-Zettel auf dem Aktenkoffer, der auf seinen Knien lag.

Der junge Mann versuchte, seine trockenen, aufgesprungenen Lippen zu benetzen. Seine Zunge war so weiß, dass Harnes unwillkürlich an Salzablagerungen dachte.

»Danke, ich werde darüber nachdenken.«

Danke? Nachdenken? Verdammt, er bot einem Junkie, der im höchsten Maße auf Turkey war, Drogen an! Hatte der Mann die Schwerkraft aufgehoben?

»Hör mal, Sonny …«

»Und danke für Ihren Besuch.«

Harnes schüttelte den Kopf und stand auf. Der hielt das doch niemals durch. Er musste noch einen Tag warten. Bis das Wunder vorüber war.

Nachdem Harnes von einem Wärter durch alle Türen und Schleusen bis zum Empfang gelotst worden war, wo er sich ein Taxi rufen ließ, befiel ihn die Sorge, was sein Mandant sagen würde. Was würde er tun, wenn er, Harnes, nicht die Welt rettete.

Also seinen Teil der Welt.

Geir Goldsrud beugte sich auf dem Stuhl vor und starrte auf den Monitor.

»Was zum Henker macht der da?«

»Sieht aus, als wollte er Kontakt zu jemandem«, sagte einer der anderen Wachleute.

Goldsrud starrte auf den jungen Mann. Der lange Bart hing ihm bis auf die nackte Brust. Er war vor der Überwachungskamera auf einen Stuhl geklettert und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Linse, während er mit den Lippen unverständliche Worte mimte.

»Finstad, komm mit«, sagte Goldsrud und stand auf. Auf dem Flur kamen sie an Johannes vorbei, der den Boden wischte.

Die Szene erinnerte Goldsrud an etwas, möglicherweise an eine Szene aus einem Film, den er gesehen hatte. Sie gelangten über die Treppe nach unten, verschafften sich Zutritt zum Zellentrakt, gingen durch die gemeinsame Küche und fanden Sonny im Gang auf dem Stuhl sitzend, auf dem er gerade noch gestanden hatte.

Goldsrud erkannte an Oberkörper und Armen des Häftlings, dass er gerade erst trainiert haben musste. Muskeln und Adern zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Er hatte gehört, dass einige der hartgesottensten Junkies im Trainingsraum Gewichte stemmten, bevor sie sich ihre Spritzen setzten. Amphetamin und alle möglichen Pillen waren im Umlauf, aber das Staten war eines der wenigen, vielleicht das einzige Gefängnis in Norwegen, wo es eine weitreichende Kontrolle über die Einfuhr von ­Heroin gab. Trotzdem schien es so, als wäre es für Sonny nie ein Problem gewesen, sich seine Drogen zu beschaffen. Bis auf die letzten Tage. Goldsrud konnte am Zittern des Mannes erkennen, dass er seine Medizin schon eine Weile nicht mehr bekommen hatte. Kein Wunder, dass er verzweifelt war.

»Helfen Sie mir«, flüsterte Sonny, als er sie kommen sah.

»Aber natürlich«, sagte Goldsrud und zwinkerte Finstad zu. »Zweitausend für ein Quad.«

Es war als Witz gedacht, aber Finstads Miene verriet eine gewisse Unsicherheit.

Sonny schüttelte den Kopf. Sogar die Muskeln an Hals und Nacken waren angespannt. Goldsrud hatte gehört, dass der Junge mal ein vielversprechender Ringer gewesen sein sollte. Vielleicht stimmte es ja, dass man sich die Muskeln, die man vor seinem zwölften Lebensjahr aufgebaut hatte, ein Leben lang immer wieder schnell antrainieren konnte.

»Schließen Sie mich ein.«

»Wir schließen erst um zehn Uhr abends, Lofthus.«

»Bitte.«

Goldsrud stutzte. Eigentlich baten Insassen nur darum, eingeschlossen zu werden, wenn sie Angst hatten. Ob berechtigt oder nicht. Angst war eine ziemlich normale Nebenwirkung eines kriminellen Daseins. Oder umgekehrt. Aber Sonny war vermutlich der Einzige im Staten, der unter den anderen Häftlingen keine Feinde hatte. Im Gegenteil, sie behandelten ihn wie eine heilige Kuh. Er hatte nie auch nur einen Anflug von Angst gezeigt, und Körper und Geist schienen auch die Drogen besser wegzustecken, als das bei anderen der Fall war. Warum also …?

Der Junge kratzte sich den Schorf auf den Einstichstellen an seinen Unterarmen auf, und mit einem Mal verstand Goldsrud. Alle Einstichstellen waren von Schorf bedeckt. Keine dieser Stellen war frisch. Sonny hatte aufgehört. Deshalb wollte er eingeschlossen werden. Er hatte Angst vor seiner eigenen Sucht und wusste genau, dass er das nächste Angebot annehmen würde, egal, was es war.

»Komm«, sagte Goldsrud.

»Nimmst du mal deine Beine weg, Simon?«

Simon blickte auf. Die alte Putzfrau war so krumm, dass sie ihren Putzwagen kaum überragte. Sie hatte schon im Präsidium geputzt, als Simon irgendwann im letzten Jahrtausend dort angefangen hatte. Eine Frau mit der unumstößlichen Einstellung, dass eine Putzfrau genau das war, was die Berufsbezeichnung versprach, egal ob Mann oder Frau.

»Hallo, Sissel, schon da?« Simon sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Die offizielle Arbeitszeit war damit bereits beendet, und die norwegischen Arbeitsschutzgesetze forderten mit allem Nachdruck, dass man der eigenen Gesundheit und dem Wohle des Vaterlandes zuliebe dann auch nach Hause gehen sollte. Normalerweise kümmerte Simon sich nicht um diese Regeln, doch heute war das anders. Er wusste, dass Else wartete. Sie hatte schon vor Stunden mit dem Kochen angefangen, würde aber trotzdem, wenn er nach Hause kam, behaupten, dass sie nur schnell etwas aus dem Ärmel geschüttelt habe. Und dabei hoffen, dass er das Chaos in der Küche nicht bemerkte. All die Beweise, dass ihre Augen noch schlechter geworden waren.

»Wir haben lange keine Zigarette mehr zusammen geraucht, Simon.«

»Ich nehme jetzt Snus.«

»Wegen deiner jungen Frau? Noch immer keine Kinder?«

»Noch immer nicht pensioniert, Sissel?«

»Oder hast du schon irgendwo ein Kind, willst du deshalb keine mehr?«

Simon musterte sie lächelnd, während sie den Mopp unter seinen Füßen hindurchzog. Wieder fragte er sich, wie es einer derart kleinen Person wie Sissel Thou möglich gewesen war, einen derart großen Nachkommen herauszupressen. Rosemaries Baby. Er räumte seine Unterlagen weg. Sie hatten den Vollan-Fall auf Eis gelegt. Niemand im Mietshaus an der Sannerbrua hatte etwas gesehen, und es hatten sich auch keine anderen Zeugen gemeldet. Solange sie sich nicht wirklich sicher waren, dass ein Verbrechen vorlag, konnten sie die Sache nicht vorrangig behandeln, hatte der Dezernatsleiter gesagt. Er hatte Simon gebeten, sich in den nächsten Tagen darum zu kümmern, die Berichte zu zwei noch ungeklärten Mordfällen zu ergänzen. Die Staatsanwältin hätte sie als »etwas mager« bezeichnet und sich eine »gründlichere Ausarbeitung der Details« gewünscht. Dabei hatte sie gar keine formalen Fehler gefunden.

Simon schaltete den PC aus, warf sich die Jacke über und ging in Richtung Ausgang. Es war immer noch Sommer. Viele, die nicht in den Ferien waren, gingen bereits um drei. Es war warm, und in dem Großraumbüro, in dem nur das Klappern weniger Tastaturen zu hören war, roch es nach dem von der Sonne aufgewärmten Leim der Trennwände. Hinter einer Wand entdeckte er Kari. Sie hatte die Füße auf den Tisch gelegt und las ein Buch. Er steckte den Kopf zu ihr hinein.

»Heute kein Essen mit Freunden?«

Sie klappte das Buch automatisch zu und sah mit einer Mischung aus Scham und Verärgerung zu ihm hoch. Öffentliches Recht stand auf dem Umschlag. Er wusste, dass sie wusste, dass sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, wenn sie im Dienst Jura lernte. Schließlich war ihr keine sinnvolle Aufgabe zugeteilt worden. Es lag in der Natur der Sache, dass man im Morddezernat nichts zu tun hatte, wenn niemand ermordet wurde. Das schlechte Gewissen kam wohl also eher daher, dass ihr Jurastudium sie von hier wegbringen würde und sie damit ihrem Arbeitgeber gegenüber eine gewisse Illoyalität erkennen ließ. Und ihre Verärgerung war vermutlich gegen sie selbst gerichtet, da sie das Buch sofort zugeklappt hatte, obwohl sie ja eigentlich gar kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte.

»Sam ist über das Wochenende zum Surfen an der Westküste. Ich dachte, ich lerne heute mal hier statt zu Hause.«

Simon nickte. »Unser Job ist nicht immer so spannend. Nicht mal hier im Morddezernat.«

Sie sah ihn an.

Simon zuckte mit den Schultern. »Gerade hier im Morddezernat nicht.«

»Und warum sind Sie dann Ermittler geworden?«

Sie hatte die Schuhe abgestreift und zog die nackten Füße unter sich auf den Stuhl. Als erwartete sie eine ausführlichere Antwort, dachte Simon. Vermutlich gehörte sie zu den Menschen, die jede Art von Gesellschaft dem Alleinsein vorzogen. Deshalb lernte sie auch hier statt zu Hause, wo sie garantiert Ruhe und Frieden hatte.

»Ob Sie es glauben oder nicht, aber das war eine Art Widerstand, eine Revolte«, sagte er und setzte sich auf die Tischkante. »Mein Vater war Uhrmacher und wollte, dass ich das Geschäft übernehme. Ich wollte aber keine schlechte Kopie von ihm werden.«

Kari schlug die Arme um ihre langen Insektenbeine. »Haben Sie das jemals bereut?«

Simon sah zum Fenster. Draußen flimmerte die Wärme.

»Mit Uhren sind Menschen reich geworden.«

»Mein Vater nicht«, erwiderte Simon. »Auch er mochte keine Kopien. Hat sich geweigert, den Trend der Billiguhren oder dieser digitalen Plastikmonster mitzumachen. Er hielt das alles nur für den Weg des geringsten Widerstands. Es wurde ein stiller Konkurs.«

»Tja, dann verstehe ich, dass Sie kein Uhrmacher werden wollten.«

»Ich wäre trotzdem fast so etwas geworden.«

»Wie das?«

»Kriminaltechnik. Ballistikexperte. Flugbahnen und so etwas. Fast das Gleiche wie Uhren zusammenschrauben. Wir sind denen, von denen wir abstammen, unter Umständen ähnlicher, als uns lieb ist.«

»Und was ist dann passiert?« Sie lächelte. »Sind Sie auch in Konkurs gegangen?«

»Tja.« Er sah auf die Uhr. »Irgendwann hat mich das Warum ein bisschen mehr interessiert als das Wie. Aber ich weiß nicht, ob die Entscheidung, taktischer Ermittler zu werden, so gut war. Kugeln und Schusswunden sind weniger beunruhigend als das menschliche Hirn.«

»Und dann sind Sie zur Wirtschaftskriminalität gewechselt?«

»Sie kennen meinen Lebenslauf aber gut.«

»Man erkundigt sich über Menschen, mit denen man eng zusammenarbeiten muss. Waren Sie das Blut und die Morde leid?«

»Nein, aber ich fürchtete, Else, meiner Frau, könnte es so gehen. Vor unserer Hochzeit habe ich ihr geregeltere Arbeitszeiten und einen weniger schrecklichen Alltag versprochen. Es ging mir gut im Dezernat für Wirtschaftskriminalität. Es war ein bisschen so, wie mit Uhren zu arbeiten. Apropos Frau …« Er stand auf.

»Warum haben Sie da aufgehört, wenn es Ihnen gefallen hat?«

Simon lächelte müde. Darüber stand nichts in seinem Lebenslauf.

»Lasagne. Ich glaube, sie macht heute Lasagne. Dann sehen wir uns morgen.«

»Es hat mich übrigens einer meiner alten Kollegen angerufen. Er hat mir erzählt, dass einer der alten Junkies mit einem Pastorenkragen herumläuft.«

»Einem Pastorenkragen?«

»Ja, wie Per Vollan ihn getragen hat.«

»Wie haben Sie darauf reagiert?«

Kari schlug das Buch wieder auf. »Gar nicht. Ich habe ihm gesagt, der Fall sei auf Eis gelegt worden.«

»Nicht ganz, nur nicht mehr erste Priorität. Wie heißt der Junkie und wo hält er sich auf?«

»Gilberg, im Hospiz.«

»Sie meinen das Wohn- und Pflegeheim. Wie wäre es mit einer Lernpause?«

Kari schlug das Buch seufzend zu. »Und was ist mit der La­sagne?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Schon okay. Ich rufe Else an, sie versteht das. Lasagne schmeckt ohnehin am besten aufgewärmt.«


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