Kapitel 20

Simon fuhr an den Fußballplätzen vorbei und bog in die Straße ein, in der sie wohnten. Die Nachbarn grillten wieder. Ihr lautes, sonnen- und biermariniertes Lachen unterstrich die sommerliche Stille des Viertels. In den meisten Häusern war es dunkel, und in der ganzen Straße stand nur ein Auto.

»Da wären wir«, sagte Simon und hielt vor ihrer Garage.

Er wusste nicht, warum er das sagte. Else konnte schließlich sehen, dass sie da waren.

»Und danke für den schönen Kinoabend«, sagte Else und legte ihre Hand über die seine, die noch auf dem Schaltknüppel lag, als hätte er sie nur nach Hause gebracht und wollte jetzt wieder fahren. Niemals, dachte Simon und lächelte sie an. Im Stillen fragte er sich, ob sie von dem Film viel mitbekommen hatte. Es war ihr Vorschlag gewesen, ins Kino zu gehen. Er hatte sie während des Films mehrmals angesehen, sie hatte an den richtigen Stellen gelacht. Wenigstens das. Aber Woody Allens Humor transportierte sich ja auch mehr über die Dialoge als über Slapstick. Ja, sie hatten einen schönen Abend gehabt. Einen mehr.

»Ich glaube aber, du vermisst Mia Farrow«, sagte sie schelmisch.

Er lachte. Das war ihr Standardwitz. Der erste Film, in den er sie mitgenommen hatte, war Rosemaries Baby gewesen, Polanskis abstoßend genialer Film mit Mia Farrow, die ein Kind auf die Welt bringt, das sich als der Sohn des Teufels entpuppt. Else war noch lange danach verstört gewesen und hatte vermutet, er hätte ihr auf diese Weise sagen wollen, dass er gegen Kinder war. Ein Gefühl, das sich noch verstärkt hatte, nachdem er den Film ein zweites Mal hatte sehen wollen. Erst später – nach dem vierten Allen-Film mit Mia Farrow – hatte sie verstanden, dass ihn Mia Farrow und nicht der Sohn des Teufels verzaubert hatte.

Als sie vom Auto zur Haustür gingen, blitzte Licht auf der Straße auf. Kurz, wie von einem Leuchtturm. Jemand hatte in dem geparkten Wagen die Lichthupe betätigt.

»Was ist das?«, fragte Else.

»Keine Ahnung«, sagte Simon und schloss die Tür auf. »Machst du schon mal Kaffee, ich komme gleich.«

Simon ließ sie stehen und ging zur Straße. Schon als sie gekommen waren, hatte er das Auto bemerkt, das nicht in ihre Straße gehörte. Und auch in keine der angrenzenden Nebenstraßen. Limousinen fuhren in Oslo fast nur Botschafter, Mitglieder des Königshauses oder die Regierung. Er kannte nur noch einen anderen, der mit getönten Scheiben durch die Stadt kutschierte und seinen eigenen Chauffeur hatte. Gerade war er ausgestiegen und hatte Simon die Tür geöffnet.

Simon beugte sich hinunter, blieb aber draußen stehen. Der kleine Mann im Innenraum hatte eine spitze Nase und ein rundes Gesicht mit roten Bäckchen, das auf den ersten Blick angenehm wirkte. Der blaue Blazer mit den goldenen Knöpfen – eine Art Lieblingsmontur von Finanzleuten, Reedern und Schlagersängern der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts – hatte Simon immer dazu veranlasst, sich zu fragen, ob sich die norwegischen Männer tief in ihrem Innern nicht doch wünschten, Schifffahrtskapitän zu sein.

»Guten Abend, Hauptkommissar Kefas«, sagte der Kleine mit heller, munterer Stimme.

»Was tun Sie in meiner Straße, Nestor? Ich glaube, Ihr Zeug ist hier nicht sonderlich gefragt.«

»Oh, oh, noch immer der alte Polizeikrieger?«

»Geben Sie mir einen Grund, Sie festzunehmen, und ich tue es.«

»Wenn es nicht gegen das Gesetz verstößt, Menschen aus Notlagen zu helfen, wird das kaum notwendig sein. Steigen Sie doch kurz ein, damit wir in Ruhe reden können, Kefas.«

»Ich sehe nicht, wofür das gut sein sollte.«

»Sehen Sie auch schlecht?«

Simon starrte Nestor an. Kurze Arme an einem kleinen, dicken Körper. Aber die Ärmel des Blazers waren trotzdem so geschnitten, dass die goldenen Manschettenknöpfe, die ein S und ein N formten, zur Geltung kamen. Er gab vor, Ukrainer zu sein, aber laut der Akte, die sie über Hugo Nestor hatten, war er in Florø in Norwegen geboren und aufgewachsen. Er kam aus einer Fischerfamilie, die Hansen geheißen hatte, bis er den Namen geändert hatte. Er war nie länger im Ausland gewesen, mal abgesehen von dem früh abgebrochenen Wirtschaftsstudium im schwedischen Lund. Woher er seinen merkwürdigen Akzent hatte, wussten die Götter, aber Ukrainisch war es nicht.

»Ich frage mich, ob Ihre junge Frau weiß, wer welche Rollen gespielt hat, Kefas. Aber dass Allen selbst nicht mitgespielt hat, hat sie wohl mitbekommen, oder? Dieser Jude hat ja so eine unangenehm kläffende Stimme. Nicht, dass ich etwas gegen Juden hätte, wenn sie einzeln auftreten, aber was die Rasse angeht, hatte Hitler schon recht. Das gilt übrigens auch für die Slawen. Obwohl ich selbst Ostslawe bin, stimme ich ihm durchaus zu, dass Slawen nicht dazu in der Lage sind, sich selbst anzuführen. Dieser Allen, ist der nicht auch pädophil?«

In der Akte stand auch, dass Hugo Nestor der wichtigste Akteur des norwegischen Drogen- und Traffickingmarkts war. Trotzdem war er nie verurteilt, nie angeklagt, nie verdächtigt worden. Dieser Aal war zu klug und vorsichtig.

»Das weiß ich nicht, Nestor. Wohl aber, dass es Gerüchte gibt, dass es Ihre Laufburschen waren, die den Gefängnispastor umgebracht haben. Hat er Ihnen Geld geschuldet?«

Nestor lächelte nachsichtig. »Ist es nicht unter Ihrer Würde, Gerüchte zu streuen, Kefas? Sie hatten früher doch Stil, ganz anders als Ihre Kollegen. Hätten Sie mehr als Gerüchte, zum Beispiel einen glaubwürdigen Zeugen, der bereit ist, vor Gericht auszusagen, hätten Sie wohl jemanden verhaftet. Oder?«

Aal.

»Aber wie dem auch sei. Ich habe ein Angebot für Sie und Ihre Frau. Sie können schnell an Geld kommen. Genug Geld für eine teure Augenoperation, zum Beispiel.«

Simon schluckte. Seine Stimme klang heiser, als er antwortete: »Haben Sie das von Fredrik?«

»Ihr früherer Kollege im Wirtschaftsdezernat? Sagen wir einfach, dass ich gerüchteweise von Ihrer Notlage erfahren habe. Wenn Sie sich an ihn wenden, dann doch wohl, damit es auch meine Ohren erreicht. Oder etwa nicht, Kefas?« Er lächelte. »Sei’s drum. Ich biete Ihnen eine Lösung, von der ich glaube, dass sie gut für uns beide ist. Nun, wollen Sie nicht einsteigen?«

Simon griff nach der Autotür, und Nestor rutschte automatisch zur Seite, um ihm mehr Platz zu machen. Er konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen, damit seine Wut seine Stimme nicht zu sehr zittern ließ: »Reden Sie nur weiter, Nestor. Geben Sie mir endlich einen Grund, Sie festzunehmen.«

Nestor zog die Augenbrauen hoch: »Wieso das denn, Herr Hauptkommissar?«

»Versuchte Bestechung eines Polizeibeamten.«

»Bestechung?« Nestor lachte kurz und wiehernd. »Nennen wir es ein Geschäft. Sie werden sehen, dass …«

Simon bekam den Rest nicht mit, da die Limousine allem Anschein nach in alle Richtungen gut geräuschisoliert war. Er ging, ohne sich noch einmal umzublicken, und wünschte sich, er hätte die Tür noch fester zugeknallt. Der Motor wurde gestartet, und Reifen rollten über Asphalt.

»Hast du dich aufgeregt, Liebling?«, fragte Else, als er sich an den Küchentisch setzte, auf dem bereits die Kaffeetassen standen. »Was war denn los?«

»Ach, da hatte sich nur einer verfahren«, sagte Simon. »Ich habe ihm den Weg beschrieben.«

Else kam mit der Kaffeekanne. Simon starrte aus dem Fenster. Die Straße war leer. Im selben Moment spürte er einen brennenden Schmerz auf den Oberschenkeln.

»He! Heiß!«

Er schlug ihr die Kaffeekanne aus den Händen, so dass sie polternd über den Boden rutschte, und schrie sie an: »Pass doch auf, du gießt mir den Kaffee auf die Beine! Bist du denn …« Ein Teil seines Hirns hatte bereits reagiert und versuchte das Wort zurückzuhalten, aber es war wie mit der Tür dieses Wagens, er wollte nicht, er weigerte sich, wollte alles kaputtmachen, lieber ein Messer in sich rammen. Und in sie.

»… blind?«

Es wurde still in der Küche, nur der Deckel der Kanne rollte irgendwohin, und der auslaufende Kaffee gluckerte. Nein! Genau das wollte er nicht. Das nicht.

»Entschuldige, Else, ich …«

Er stand auf, um sie zu umarmen, aber sie war bereits auf dem Weg zum Waschbecken. Drehte den kalten Hahn auf und hielt ein Handtuch darunter. »Zieh die Hose aus Simon, ich muss …«

Er umarmte sie von hinten. Legte die Stirn an ihren Hinterkopf. Flüsterte: »Entschuldige, entschuldige. Bitte, kannst du mir verzeihen? Ich … ich weiß einfach nur nicht, was ich tun soll. Ich würde so gern etwas für dich tun, aber ich … ich schaffe es einfach nicht, ich … weiß nicht, wie …«

Er hörte ihr Weinen nicht, spürte aber, dass sich das Zittern ihres Körpers auf den seinen übertrug. Und dass sich sein Hals zuschnürte. Ob er selbst weinte, konnte er nicht sagen, dafür zitterten sie beide viel zu stark.

»Ich muss mich entschuldigen«, schluchzte sie. »Du hättest jemand Besseren verdient, nicht so eine wie mich, die … die dich verbrüht.«

»Es gibt keine Bessere«, flüsterte er. »Und es ist in Ordnung, es ist gut so, du darfst mich so oft verbrühen, wie du willst, ich lasse dich nicht los, okay?«

Er spürte, wie wahr jedes seiner Worte war. Er würde alles tun, alles ertragen, alles opfern.

Damit es meine Ohren erreicht …

Nur dass er es nicht getan hatte.

Draußen hörte er das ekstatische Lachen des Nachbarn, während ihr die Tränen still über die Wangen liefen.

Kalle sah auf die Uhr. Zehn nach halb elf. Es war ein guter Tag gewesen. Sie hatten mehr Superboy verkauft als sonst an einem ganzen Wochenende, entsprechend hatten das Zählen und die Vorbereitung der neuen Tütchen länger als sonst gedauert. Er nahm die Mundbinde ab, die sie trugen, wenn sie den Stoff feinhackten und streckten. Diese Arbeit machten sie an dem Tisch in dem einfachen, zwanzig Quadratmeter großen Raum, der Büro, Drogenfabrik und Bank in einem war. Der Stoff war zwar schon gestreckt, wenn er ihn bekam, aber Superboy war trotzdem das Reinste, das er in seiner Karriere als Dealer jemals in den Händen gehabt hatte. So rein, dass sie ohne Mundschutz nicht nur high werden, sondern das Zeitliche segnen würden, wenn sie die Partikel einatmeten, die beim Hantieren mit dem braun-weißen Pulver aufwirbelten. Er legte den Mundschutz in den Safe vor die Geldbündel und Drogentütchen. Sollte er Vera anrufen, weil er sich verspäten würde? Oder war es an der Zeit, ihr mal klarzumachen, wer hier der Chef war und das Geld nach Hause brachte? Er konnte sich doch nicht jedes Mal rechtfertigen?

Kalle bat Pelvis, den Flur zu überprüfen.

Von der Stahltür des Büros bis zu dem Fahrstuhl auf der rechten Seite waren es nur zwei oder drei Meter. Am Ende des Flurs war eine Tür, die in ein Treppenhaus führte, aber diese Tür hatten sie – ganz entgegen der Brandschutzverordnung – mit einer Kette gesichert.

»Cassius, check the parking place!« Kalle verschloss den Safe. Obwohl der Raum, in den nur die Geräusche der unten liegenden Probenräume aufstiegen, klein war, liebte er es, laut zu rufen. Cassius war der größte und fetteste Afrikaner in der ganzen Stadt. Sein Körper war derart ausladend, dass man nicht immer wusste, was was war. Aber auch wenn nur zehn Prozent dieses Kolosses aus Muskeln bestanden, reichten die, um aufzuhalten, was auch immer sich ihnen in den Weg stellte.

»No cars, no people at the parking place.« Cassius schaute durch das vergitterte Fenster nach draußen.

»Die Luft ist rein.« Pelvis schaute durch die Luke der Tür.

Kalle verstellte das Rädchen mit der Kombination. Er liebte den glatten, geölten Widerstand und das sanfte Klicken. Er hatte die Kombination im Kopf und nur dort. Sie war nirgends notiert und folgte auch keiner Logik, war keine Kombination von Geburtsdaten oder irgendein anderer Unsinn.

»Dann gehen wir«, sagte er und richtete sich auf. »Have your gun ready, both of you.«

Sie sahen ihn fragend an.

Kalle gingen die Augen, die durch die Luke gestarrt hatten, irgendwie nicht aus dem Kopf. Der Typ hatte ihn am Tisch sitzen gesehen. Okay, vielleicht war es wirklich nur irgendein schlechter Musiker, der von Management träumte, aber die Drogen und das Geld, das auf dem Tisch gelegen hatten, konnten jemanden schwach werden lassen. Hoffentlich hatte der Typ auch die beiden Pistolen auf dem Tisch bemerkt, die Cassius und Pelvis gehörten. Kalle ging zur Tür. Das Schloss konnte nur mit seinem Schlüssel geöffnet werden, auch von innen. Kalle schloss die Leute im Raum also ein, wenn er selbst mal rausmusste. Auch die Gitter vor den Fenstern ließen sich nicht öffnen. Kurz gesagt, niemand, der für Kalle arbeitete, konnte mit Geld oder Drogen einfach so abhauen. Oder ungebetene Gäste reinlassen.

Kalle blickte durch die Luke. Nicht weil er sich nicht daran erinnerte, dass Pelvis gerade gesagt hatte, die Luft sei rein, sondern weil er damit rechnete, dass Pelvis seinen Chef hintergehen würde, wenn ihm dafür jemand genug bezahlte. Aber verflucht, Kalle hätte das Gleiche getan. Hatte das Gleiche getan.

Vor der Tür war niemand zu sehen. Er überprüfte den Spiegel, den er an der Wand gegenüber angebracht hatte, damit sich ­keiner direkt unter der Luke der Tür verstecken konnte. Der nur schwach beleuchtete Flur war leer. Er drehte den Schlüssel her­um und hielt den beiden anderen die Tür auf. Pelvis ging als Erster nach draußen, danach Cassius und dann er selbst. Er drehte sich um, um die Tür zu verriegeln.

»Was zum …«, sagte Pelvis.

Kalle drehte sich um und bemerkte erst jetzt, was er durch die Luke nicht hatte sehen können: Die Fahrstuhltür stand offen. Da kein Licht im Aufzug war, konnte er allerdings nicht erkennen, ob dort jemand stand. Nur etwas Weißes am Rand der Fahrstuhltür fiel ihm auf. Die Lichtschranke des Fahrstuhls war mit Gaffatape verklebt worden, und auf dem Boden lagen Glassplitter.

»Vorsicht …«

Aber Pelvis war bereits die drei Schritte zum Fahrstuhl vorgetreten.

Kalles Hirn nahm das Mündungsfeuer im Aufzug wahr, bevor er den Knall hörte.

Pelvis’ Kopf schlug zur Seite, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige gegeben. Er starrte Kalle mit überraschtem Gesichtsausdruck an. Es sah aus, als hätte er im Wangenknochen ein drittes Auge. Dann verließ ihn das Leben, und sein Körper fiel in sich zusammen, als hätte sein Besitzer ihn achtlos fallen gelassen.

»Cassius, schieß, verdammt …!«

Kalle vergaß in der Panik, dass Cassius nur Englisch sprach, aber dieser hatte ihn trotzdem verstanden und seine Pistole bereits auf das Dunkel im Fahrstuhl gerichtet und abgedrückt. Kalle spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Er war noch nie auf der falschen Seite einer Pistole gewesen, verstand aber mit einem Mal, warum diejenigen, auf die er seine Waffe gerichtet hatte, erstarrt waren, als hätte man sie mit Zement gefüllt. Die Schmerzen in der Brust breiteten sich aus, er konnte nicht mehr atmen, musste aber irgendwie den Rückzug antreten. Hinter der schusssicheren Tür gab es Luft, Sicherheit, ein Schloss, das er verriegeln konnte. Aber seine Hand gehorchte ihm nicht mehr, und er bekam den Schlüssel nicht ins Schloss. Es war genau wie im Traum, als bewegte er sich unter Wasser. Zum Glück deckte ihn der riesenhafte Cassius, der einen Schuss nach dem anderen abgab. Dann glitt der Schlüssel endlich in den Spalt, und Kalle drehte ihn herum, riss die Tür auf und schlüpfte hinein. Die nächsten Schüsse klangen anders, sie mussten aus dem Inneren des Fahrstuhls kommen. Er warf sich zur Seite, um die Tür zu schließen. Aber sie wurde durch Cassius blockiert, der seinen baumdicken Arm und seine Schulter in den Raum gestemmt hatte. Verdammt! Er versuchte, ihn nach draußen zu schieben, aber Cassius wollte hinein.

»Dann komm schon rein, du elendiger Feigling!«, fauchte Kalle und öffnete die Tür.

Der Afrikaner wälzte sich ihm entgegen, wie ein Hefeteig, den man aus der Schüssel kippte. Und blieb auf der Türschwelle liegen. Kalle starrte in die glasigen Augen. Sie quollen hervor wie bei einem zu schnell hochgeholten Tiefseefisch, und Cassius’ Mund öffnete und schloss sich.

»Cassius!«

Cassius’ Antwort war ein nasses Schmatzen, als eine große rosa Luftblase zwischen den Lippen des Afrikaners zerplatzte. Kalle stieß sich mit den Beinen an der Wand ab und versuchte, das schwarze Monster nach draußen zu drücken, damit er endlich wieder die Tür schließen konnte. Es war zwecklos. Dann beugte er sich hinunter und versuchte es in die andere Richtung. Aber der Mann war ganz einfach zu schwer. Gleich darauf hörte Kalle leichte Schritte. Die Pistole! Cassius war auf seinen Unterarm und seine Hand gefallen. Kalle setzte sich rittlings auf die Leiche und wühlte sich mit der Hand unter den toten Körper, aber nach jedem Fettwulst, den er überwunden hatte, legte sich ihm ein neuer in den Weg. Von der Pistole keine Spur. Er hatte den Arm bis zum Ellenbogen unter Cassius geschoben, als die Schritte draußen fast bei ihm waren. Er wusste genau, was passieren würde. Versuchte zu fliehen, aber es war zu spät. Die Tür knallte gegen seine Stirn, und alles wurde dunkel.

Als Kalle die Augen wieder öffnete, lag er auf dem Rücken und starrte einen Mann in einem Kapuzenpulli an. Er trug gelbe Gummihandschuhe und hatte seine Pistole auf ihn gerichtet. Kalle drehte den Kopf zur Seite, konnte aber außer Cassius, der noch immer auf der Schwelle lag, niemanden sehen. Aus seiner jetzigen Position sah er aber den Lauf der Pistole unter Cassius’ Körper hervorragen.

»Was willst du?«

»Dass du den Safe öffnest. Du hast sieben Sekunden.«

»Sieben?«

»Ich habe mit dem Zählen angefangen, als du noch bewusstlos warst. Sechs.«

Kalle rappelte sich auf. Ihm war schwindelig, er schaffte es aber bis zum Safe.

»Fünf.«

Er drehte das Kombinationsrädchen.

»Vier.«

Noch eine Ziffer, dann war der Safe offen und das Geld weg. Und für das Geld haftete er persönlich. So lauteten die Spiel­regeln.

»Drei.«

Er zögerte. Wenn er es nur bis zu Cassius schaffen würde!

»Zwei.«

Würde er wirklich schießen oder bluffte er nur?

»Eins.«

Der Mann hatte die beiden anderen umgebracht, ohne mit der Wimper zu zucken, ein dritter Mord spielte da keine Rolle mehr.

»So …« Kalle trat zur Seite. Er wollte den Stapel Geldscheine und die Drogentütchen gar nicht sehen.

»Pack alles da rein«, befahl der Typ und reichte ihm eine rote Sporttasche.

Kalle tat, was von ihm verlangt wurde. Weder langsam noch schnell. Er stopfte den Inhalt in die Tasche und zählte auto­matisch mit. Hunderttausend Kronen. Zweihunderttausend Kronen …

Als er fertig war, bat der Typ ihn, die Tasche vor ihm auf den Boden zu werfen. Kalle tat auch das. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass der Typ jetzt schießen musste, sollte das seine Absicht sein. Hier. Er wurde nicht mehr gebraucht. Kalle machte zwei Schritte in Richtung Cassius. Musste jetzt alles auf diese Pistole setzen.

»Wenn du das lässt, werde ich dich nicht erschießen«, sagte der Typ.

Verdammt, konnte der Gedanken lesen?

»Leg die Hände hinter den Kopf und geh nach draußen auf den Flur.«

Kalle zögerte. Wollte der ihn wirklich am Leben lassen? Er stieg über Cassius.

»Lehn dich an die Wand, die Hände über dem Kopf.«

Kalle gehorchte wieder. Drehte den Kopf zur Seite. Der andere hatte schon Pelvis’ Waffe sichergestellt und kniete nun neben Cassius. Kalle ließ er nicht aus den Augen. Er nahm auch Cassius’ Pistole an sich.

»Hol bitte die Kugel da vorne aus der Wand.« Als der Typ den Arm ausstreckte, wusste Kalle plötzlich, wo er ihn schon mal gesehen hatte. Am Fluss, es war der Jogger. Er musste ihnen gefolgt sein. Kalle schaute hoch und erahnte in der Wand das verformte Hinterteil einer Pistolenkugel. Eine feine, wie auf den Putz aufgesprühte Blutspur führte von der Wand zu Pelvis’ Kopf. Die Kugel hatte nicht mehr viel Fahrt gehabt, Kalle konnte sie mit dem Fingernagel aus der Wand knibbeln.

»Hierher«, sagte der Typ und nahm die Kugel mit der freien Hand entgegen. »Und jetzt musst du meine andere Kugel finden und die beiden Geschosshülsen. Du hast dreißig Sekunden.«

»Und was, wenn die in Cassius steckt?«

»Das glaube ich nicht. Neunundzwanzig.«

»Guck dir dieses Monster doch mal an!«

»Achtundzwanzig.«

Kalle warf sich auf die Knie und suchte. Mann, warum hatte er sich keine helleren Lampen geleistet?

Bei dreizehn hatte er vier von Cassius’ Hülsen gefunden und eine von dem anderen. Bei sieben hatte er die andere Kugel gefunden, die auf sie abgefeuert worden war. Sie musste tatsächlich durch Cassius Körper geschlagen sein und die Stahltür getroffen haben, denn in dem Metall war eine kleine Delle.

Als der Countdown runtergezählt war, fehlte ihm noch immer die letzte Geschosshülse. Er schloss die Augen und spürte, wie das eine, etwas zu kleine Lid über das Auge kratzte, während er Gott anflehte, doch noch einen weiteren Tag leben zu dürfen. Dann hörte er den Schuss, spürte aber keine Schmerzen. Er öffnete die Augen und kniete noch immer auf allen vieren auf dem Boden.

Der Typ nahm die Mündung von Pelvis’ Pistole von Cassius.

Verdammt, dieser Typ hatte mit Pelvis’ Pistole noch einmal auf Cassius geschossen! Er wollte wirklich kein Risiko eingehen und ging jetzt zu Pelvis, richtete Cassius’ Pistole auf die Einschusswunde, justierte den Winkel und feuerte.

»Verdammt!«, schrie Kalle und hörte das Weinen in seiner eigenen Stimme.

Der Typ legte die beiden anderen Pistolen in die rote Tasche und zeigte mit seiner auf Kalle. »Komm, Aufzug fahren!«

Der Fahrstuhl. Das Glas. Das war seine Chance. Dort drinnen musste er ihn überwältigen.

Sie traten ein, und im schwachen Flurlicht konnte Kalle erkennen, dass auch auf dem Fahrstuhlboden Glassplitter lagen. Er wählte einen länglichen Splitter aus, der ihm geeignet erschien. Wenn die Türen erst geschlossen waren und es stockfinster wurde, musste er sich nur bücken, die Scherbe nehmen und sie in einer glatten Bewegung … Er musste das hinkriegen …

Die Türen schlossen sich, und der Typ schob die Pistole unter seinen Gürtel. Perfekt! Es würde wie das Schlachten eines Huhns sein. Es wurde dunkel. Kalle bückte sich. Seine Finger fanden die Scherbe. Er richtete sich auf. Und war gefangen.

Kalle wusste nicht, was für ein Griff das war, nur dass er wie in einem Schraubstock steckte und keinen Finger rühren konnte. Vergeblich versuchte er, sich loszureißen, hatte aber den Eindruck, am falschen Ende eines Knotens zu ziehen, er konnte sich gar nicht mehr rühren und sein Nacken und seine Arme schmerzten höllisch. Die Scherbe glitt aus seiner Hand. Das musste irgend so ein Kampfsporttrick sein. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Als die Türen sich öffneten, empfing sie das immer gleiche Bassgedröhne, und der Griff löste sich. Kalle riss den Mund auf und sog lautstark Luft ein. Die Pistole war wieder auf ihn gerichtet und zeigte ihm den Weg über den Flur.

Kalle wurde in einen der leeren Übungsräume dirigiert, und dort wurde ihm befohlen, sich auf den Boden zu setzen, mit dem Rücken an eine Heizung. Er saß einfach nur da und starrte auf eine Basstrommel mit dem Namenszug The Young Hopeless, während der Typ ihn mit einem langen schwarzen Kabel an die Heizung fesselte. Widerstand war zwecklos, und hätte der Typ ihn umbringen wollen, hätte er das längst erledigt. Und Geld und Drogen waren zu ersetzen. Natürlich müsste er selbst dafür aufkommen, aber im Augenblick beschäftigte ihn mehr, wie er Vera erklären sollte, dass auch dieses Jahr die fette Shoppingtour in irgendeine Metropole der Welt ausfallen würde. Der Typ hatte zwei Gitarrensaiten vom Boden aufgehoben und legte die dickere der beiden in Höhe der Nasenwurzel um seinen Kopf, die dünnere über dem Kinn. Anschließend verdrehte er sie offenbar hinter dem Heizungsrohr, denn Kalle spürte, wie sich die dünnere der Saiten in seine Haut grub und sein Zahnfleisch gegen den Unterkiefer drückte.

»Beweg deinen Kopf«, sagte der Typ. Er musste wegen der dröhnend lauten Musik, die über den Flur hereinschallte, fast schreien. Kalle versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen, aber die Saiten saßen zu stramm.

»Gut.«

Der Typ stellte den Ventilator auf den Hocker des Schlagzeugers, schaltete ihn ein und richtete den Luftstrom auf Kalles Gesicht. Kalle schloss die Augen und spürte bereits seinen Schweiß trocknen. Als er die Augen wieder öffnete, hatte der Mann einen Kilobeutel reines Superboy vor dem Ventilator auf den Stuhl gestellt und sich den Kapuzenpulli vor Nase und Mund gezogen. Was hatte er denn jetzt vor? Dann fiel Kalles Blick auf die läng­liche Glasscherbe.

Plötzlich legte sich eine eiskalte Hand um sein Herz.

Er wusste, was passieren würde.

Kalle riss sich zusammen, als der Typ mit der Spitze der Scherbe den Plastikbeutel aufschnitt. In der nächsten Sekunde war die Luft erfüllt von dem weißen Pulver. Kalle bekam es in die Augen, den Mund und die Nase. Er presste die Lippen zusammen. Musste aber husten und schloss den Mund wieder. Er schmeckte das bittere Pulver, das sich brennend auf seine Schleimhäute gelegt hatte, und wusste, dass die Wirkstoffe bereits auf dem Weg in sein Blut waren.

Das Bild von Pelle und seiner Frau hing zwischen Lenkrad und Tür am Armaturenbrett. Pelle fuhr mit dem Finger über die glatte, inzwischen etwas speckige Oberfläche. Er war wieder zurück an seinem Standplatz in Gamlebyen, aber die Aussichten waren schlecht, denn es war Sommer, und die Fahrten, die auf dem Bildschirm auftauchten, waren für ihn außer Reichweite. Aber es gab Hoffnung, denn weiter vorne kam jemand aus dem alten Fabrikgebäude. Der Mann bewegte sich so, als hätte er es eilig, ja, als hielte er nach der erstbesten Taxe Ausschau. Doch dann stoppte er plötzlich, beugte sich zur Hauswand vor und drückte den Rücken durch. Da er direkt unter einer Laterne stand, konnte Pelle sehen, wie sein Mageninhalt auf den Asphalt klatschte. Nee, so einen wollte er nicht in seinem Auto haben. Der Mann blieb nach vorn gebeugt stehen und spuckte aus. Pelle kannte das und hatte schon allein vom Zusehen Gallengeschmack auf der Zunge. Dann wischte der Mann sich den Mund mit dem Ärmel seines Kapuzenpullis ab, richtete sich auf, schob den Griff seiner Tasche auf der Schulter hoch und kam auf Pelle zu. Erst als er unmittelbar vor dem Taxi stand, merkte Pelle, dass es derselbe Mann war, den er gerade erst gefahren hatte. Dem das Geld für die Fahrt bis zum Hospiz gefehlt hatte. Er machte Pelle ein Zeichen, dass er einsteigen wollte. Pelle drückte auf den Knopf der Zentralverriegelung und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Er wartete, bis der Mann direkt neben das Auto getreten war und vergeblich am Türgriff zog.

»Sorry, mein Freund, aber dieses Mal fahre ich dich nicht.«

»Bitte?«

Pelle musterte ihn. Auf den Wangen des Mannes waren Spuren von Tränen, aber was ging es ihn an, was mit diesem Typen los war? Es konnte ja sein, dass seine Geschichte wirklich traurig war, aber in Oslo überlebte man als Taxifahrer nicht, wenn man dem Ärger und den Sorgen der anderen Tür und Tor öffnete.

»Hör mal, ich habe dich kotzen gesehen. Wenn du im Auto kotzt, kostet dich das tausend Kronen und mich einen verlorenen Arbeitstag. Und als du beim letzten Mal aus meinem Auto gestiegen bist, warst du vollkommen blank. Deshalb verzichte ich lieber, verstanden?«

Pelle fuhr die Scheibe wieder ganz nach oben, richtete den Blick nach vorn und hoffte, dass der junge Mann ging und keinen Ärger machte. Andernfalls würde er einfach wegfahren. Verdammt, sein Bein schmerzte an diesem Abend höllisch. Durch das Seitenfenster sah er den Mann etwas aus der Tasche nehmen und in den Spalt der Scheibe klemmen.

Pelle drehte leicht den Kopf. Es war ein Tausender.

Er schüttelte den Kopf, aber der Typ blieb einfach stehen und wartete. Pelle war nicht wirklich beunruhigt, der Kerl hatte auch bei der letzten Fahrt keinen Ärger gemacht. Im Gegenteil, statt zu nörgeln und von Pelle zu verlangen, doch noch ein bisschen weiter zu fahren, wie es die meisten ohne Geld wohl getan hätten, hatte er sich bedankt, als der Betrag aufgebraucht war und Pelle ihn abgesetzt hatte. Und dieser Dank hatte so aufrichtig geklungen, dass Pelle ein schlechtes Gewissen bekommen hatte, ihn nicht doch bis zum Hospiz gefahren zu haben. Mehr als zwanzig Minuten hätte er dafür nicht gebraucht.

Pelle seufzte und öffnete per Knopfdruck die Türen.

Der Mann ließ sich auf den Rücksitz fallen. »Danke, vielen, vielen Dank.«

»Schon okay. Wohin?«

»Erst hoch nach Berg, ich muss da nur kurz etwas abgeben, da können Sie vielleicht warten, und anschließend ins Hospiz. Ich bezahle natürlich im Voraus.«

»Nicht nötig«, sagte Pelle und ließ den Motor an. Seine Frau hatte recht, er war zu gut für diese Welt.


Загрузка...