7 KIEVER

Leamas kam am folgenden Tag mit zwanzig Minuten Verspätung zu seiner Verabredung mit Ashe. Er roch nach Whisky. Ashes Freude, Leamas zu sehen, war jedoch unvermindert. Er behauptete, er selbst sei erst in diesem Augenblick gekommen, er sei erst spät zur Bank gegangen. Er händigte Leamas einen Umschlag aus.

»Einzelne Scheine«, sagte Ashe. »Ich hoffe, dass es recht ist.«

»Danke«, erwiderte Leamas, »wir wollen einen trinken.« Er hatte sich nicht rasiert, und sein Kragen war schmutzig. Er rief den Kellner und bestellte Drinks, einen großen Whisky für sich und einen Gin für Ashe. Als die Drinks kamen und Leamas sich Soda ins Glas gießen wollte, zitterte seine Hand so sehr, dass er es fast danebenschüttete.

Sie aßen gut und tranken viel Alkohol dazu, wobei Ashe die Führung des Rennens übernahm. Wie Leamas erwartete, sprach er zuerst von sich, ein alter Trick, aber kein schlechter.

»Um ganz offen zu sein, bin ich kürzlich auf eine ganz gute Sache gestoßen«, sagte Ashe. »Ich schreibe als freier Mitarbeiter für Zeitungen im Ausland Englandreportagen. Nach Berlin ging es mir anfangs ziemlich dreckig. Man hatte meinen Vertrag nicht verlängert, und ich mußte einen Job annehmen - ich machte eine langweilige Reklamezeitschrift mit Freizeittips für Leute über sechzig. Gibt's noch was Schlimmeres? Das Blatt ging beim ersten Druckerstreik ein - ich kann dir nicht sagen, wie erleichtert ich war. Dann lebte ich eine Zeitlang bei meiner Mutter in Cheltenham. Sie hat ein Antiquitätengeschäft und läßt dir übrigens vielmals danken. Dann bekam ich einen Brief von einem alten Freund, Sam Kiever, der eine Agentur für kleine, speziell auf ausländische Blätter zugeschnittene Reportagen aus dem englischen Leben aufgemacht hatte. Du kennst diese Sachen - sechshundert Worte über den englischen Volkstanz und derlei Kram. Aber Sam hatte einen neuen Dreh: er verkaufte das Zeug übersetzt, und das macht einen Unterschied, weißt du. Man glaubt immer, jeder könnte einen Übersetzer bezahlen oder es selbst übersetzen. Aber wenn man nur noch eine halbe Spalte auf seiner Auslandsseite füllen muß, verschwendet man weder Zeit noch Geld für Übersetzungen. Sams Trick war es, mit den Redakteuren in persönlichen Kontakt zu kommen. Er zog wie ein Zigeuner durch Europa, der arme Kerl, aber es hat sich wirklich ausgezahlt.«

Ashe machte eine Pause. Offenbar wartete er darauf, dass Leamas die Einladung annehmen würde, über sich selbst zu sprechen. Aber Leamas überhörte das. Er nickte nur gelangweilt und sagte: »Verdammt gut.«

Ashe hatte eigentlich Wein bestellen wollen, aber Leamas sagte, er werde beim Whisky bleiben, und bis der Kaffee kam, war er schon beim vierten Doppelten. Er schien in schlechter Verfassung zu sein. Wie viele Trinker, schnappte er im letzten Augenblick, ehe das Glas seinen Mund berührte, nach dem Rand des Glases, als ob seine Hand ihn im Stich lassen und der Drink ihm entgegenkommen könnte.

Ashe verfiel für einen Augenblick in Schweigen.

»Du kennst Sam nicht, wie?« fragte er.

»Sam?«

Ein Ton von Gereiztheit kam in Ashes Stimme. »Sam Kiever, mein Chef. Ich hab' dir doch gerade von ihm erzählt.«

»War der auch in Berlin?«

»Nein. Er kennt Deutschland gut, aber in Berlin hat er nie gelebt. Er hat als freier Mitarbeiter manchmal in Bonn ausgeholfen. Er ist ein lieber Kerl. Du könntest ihm begegnet sein.«

»Glaube ich nicht.« Pause.

»Und du? Was machst du jetzt so, alter Knabe?« fragte Ashe.

Leamas zuckte die Achseln. »Ich bin kaltgestellt«, entgegnete er mit einem etwas dümmlichen Grinsen. »Raus aus dem Sack und aufs Regal gestellt.«

»Ich vergaß, was hast du in Berlin gemacht? Warst du nicht einer von diesen geheimnisvollen kalten Kriegern?«

Mein Gott, dachte Leamas, endlich fängst du an, ein bißchen in die Pedale zu treten.

Leamas zögerte. Dann sagte er mit rotem Gesicht und voll Ärger: »Bürodiener für die verdammten Yankees, wie wir alle.«

»Weißt du«, sagte Ashe, als ob er den Gedanken einige Zeit in seinem Kopf gewälzt hätte, »du solltest mit Sam zusammenkommen. Du wirst ihn mögen.« Ganz beiläufig fragte er dann: »Sag, Alec - ich weiß nicht einmal, wo du zu erreichen bist?«

»Nirgends«, sagte Leamas teilnahmslos.

»Wieso, alter Junge? Wo wohnst du denn?«

»Einmal hier, einmal da, ich schlage mich so durch. Hab' keine Stellung. Die Hunde haben mir nicht einmal eine richtige Pension gegeben.«

Ashe sah ihn entsetzt an.

»Aber Alec, das ist schrecklich. Warum hast du mir das denn nicht gesagt? Schau, warum kommst du nicht und wohnst bei mir? Es ist ja recht eng, aber für dich ist noch Platz, wenn du nichts gegen Feldbetten hast. Du kannst doch nicht auf den Bäumen leben, mein Lieber!«

»Für eine Weile bin ich ja versorgt«, antwortete Leamas und klopfte auf die Tasche, die den Umschlag enthielt. Dann sagte er entschlossen: »Ich bin dabei, mir eine Stellung zu suchen. In einer Woche oder so werde ich eine haben. Dann wird alles in Ordnung sein.«

»Was für eine Stellung?«

»Ich weiß nicht.«

»Aber du darfst dich nicht selbst wegwerfen, Alec! Du sprichst deutsch wie ein Deutscher, ich erinnere mich genau, dass es so ist. Es muß doch eine Menge Möglichkeiten für dich geben.«

»Ich habe ja schon einiges gemacht. Zum Beispiel Enzyklopädien für irgendeine verdammte amerikanische Firma verkauft, in einer Bibliothek Bücher sortiert, in einer stinkenden Leimfabrik Arbeitskontrollkarten gelocht. Was, zum Teufel, soll ich denn machen?« Er schaute nicht zu Ashe, sondern auf den Tisch vor sich, während seine Lippen zitterten.

Ashe ging auf seine Erregung ein. Er lehnte sich über den Tisch, wobei er nachdrücklich, fast triumphierend zu sprechen begann: »Aber Alec, du brauchst Kontakte, siehst du das nicht? Ich weiß, was es heißt, habe ja selbst in der Suppenküche Schlange gestanden. Das ist der Moment, wo du Menschen kennen mußt. Ich weiß nicht, was du in Berlin gemacht hast, ich will es nicht wissen, aber es war keine Stellung, in der du mit den richtigen Leuten zusammenkamst, nicht wahr? Wenn ich nicht vor fünf Jahren in Posen Sam über den Weg gelaufen wäre, stünde mir das Wasser noch immer bis zum Hals. Schau, Alec, komm und bleibe eine Woche oder so bei mir. Wir werden Sam zu uns bitten und vielleicht einen oder zwei Zeitungsleute, die mit uns in Berlin waren, vorausgesetzt, es sind ein paar davon jetzt in London.«

»Aber ich kann nicht schreiben«, sagte Leamas. »Ich könnte nicht eine verdammte Zeile schreiben.«

Ashe legte seine Hand auf Leamas' Arm: »Nun, reg dich nicht auf«, sagte er beschwichtigend. »Wir wollen eines nach dem anderen machen. Wo sind deine Sachen?«

»Meine was?«

»Deine Sachen: Kleider, Gepäck, und was sonst noch alles?«

»Ich habe nichts. Ich habe alles verkauft, mit Ausnahme des Paketes.«

»Welches Paket?«

»Das braune Papierpaket, das du im Park aufgehoben hast. Das ich loswerden wollte.«

Ashe hatte eine Wohnung am Dolphin Square. Sie entsprach genau der Vorstellung, die sich Leamas von ihr gemacht hatte: sie war klein und unpersönlich und mit ein paar hastig zusammengeholten Andenken aus Deutschland garniert, wie etwa Bierkrügen, einer Bauernpfeife und etlichen Nymphenburger Porzellanfiguren von der billigen Sorte.

»Ich verbringe die Wochenenden bei meiner Mutter in Cheltenham«, sagte Ashe. »Ich benütze die Wohnung hier nur an ein paar Tagen der Woche.« Er fügte entschuldigend hinzu: »Sie ist sehr praktisch.« Sie stellten das Feldbett in dem winzigen Wohnzimmer auf. Es war erst halb fünf.

»Wie lange wohnst du schon hier?« fragte Leamas.

»Ein Jahr ungefähr, oder mehr.«

»War sie leicht zu bekommen?«

»Diese Wohnungen kommen und gehen, weißt du. Du läßt deinen Namen registrieren, und eines Tages rufen sie dich an und sagen dir, dass es soweit ist.«

Ashe machte Tee, den Leamas mit der verdrossenen Miene eines Mannes trank, der an Komfort nicht gewöhnt ist. Selbst Ashe schien ein wenig bedrückt. Nach dem Tee sagte er: »Ich muß gehen und ein paar Besorgungen erledigen, ehe die Geschäfte schließen. Nachher werden wir beraten, was man deinetwegen unternehmen kann. Vielleicht werde ich später anrufen. Je eher ihr zwei zusammenkommt, desto besser, glaube ich. Schlaf ein bißchen. Du siehst mitgenommen aus.«

Leamas nickte. »All dies -«, er machte eine verlegene Handbewegung, »es ist verdammt nett von dir.«

Ashe gab ihm einen Klaps auf die Schulter, nahm seinen Armeegummimantel und ging.

Als Leamas überzeugt war, dass Ashe nicht mehr im Hause sein konnte, sorgte er dafür, dass die Wohnungstür nicht zuschnappte, und ging in die Eingangshalle hinunter, wo zwei Telefonkabinen waren. Er wählte die Nummer in Maida und fragte nach der Sekretärin von Mr. Thomas. Sofort sagte eine Mädchenstimme: »Hier Sekretariat von Mr. Thomas.«

»Ich rufe im Namen von Mr. Sam Riever an«, sagte Leamas. »Er hat die Einladung angenommen und hofft, mit Mr. Thomas heute abend persönlich in Verbindung treten zu können.«

»Ich werde das an Mr. Thomas weitergeben. Weiß er, wo er Sie erreichen kann?«

»Dolphin Square«, erwiderte Leamas und gab die Adresse an. »Auf Wiedersehen.«

Nachdem er sich beim Empfangstisch nach verschiedenen Dingen erkundigt hatte, kehrte er in die Wohnung zurück, setzte sich auf das Feldbett und betrachtete seine gefalteten Hände. Nach einer Weile legte er sich hin. Er beschloß, den Rat Ashes zu befolgen und etwas zu ruhen. Als er seine Augen schloß, fiel ihm Liz ein und wie sie neben ihm in der Wohnung in Bayswater gelegen hatte. Verschwommen beschäftigte ihn die Frage, was wohl aus ihr geworden sei.

Er wurde von Ashe aufgeweckt, der bei seiner Rückkehr von einem kleinen, ziemlich dicken Mann mit zurückgekämmtem Haar und zweireihigem Anzug begleitet war. Er sprach mit leichtem, vielleicht deutschem Akzent. Er sagte, sein Name sei Kiever, Sam Kiever.

Sie tranken Gin mit Tonic, wobei Ashe den Hauptteil der Unterhaltung bestritt. Es sei genau wie in den alten Zeiten, sagte er: die Jungens beisammen und die Nacht ihre Domäne. Kiever sagte, er wolle es nicht zu spät werden lassen, denn er habe morgen zu arbeiten. Sie kamen überein, in einem chinesischen Restaurant zu essen, das Ashe kannte. Es lag der Polizeiwache von Limehouse gegenüber, und man mußte seinen eigenen Wein mitbringen.

Seltsamerweise hatte Ashe in der Küche ein paar Flaschen Burgunder, die sie nun im Taxi mitnahmen.

Das Essen war sehr gut, und sie tranken beide Flaschen Wein, so dass Kiever schließlich begann, etwas aus sich herauszugehen: Er komme gerade von einer Reise durch Westdeutschland und Frankreich zurück. Frankreich sei in einem unsagbaren Durcheinander und de Gaulle auf dem besten Weg zu seinem Sturz, und Gott allein wisse, was dann werden solle. Mit hunderttausend demoralisierten algerischen Siedlern im Anrücken sei wohl damit zu rechnen, dass in Frankreich der Faschismus vor der Tür stehe.

»Was ist mit Deutschland?« fragte Ashe, um das Stichwort zu geben.

»Das hängt einfach davon ab, ob es die Yankees halten können.«

Kiever sah Leamas auffordernd an.

»Wie meinen Sie das?« fragte Leamas.

»Wie ich es sage. Mit der einen Hand hat ihnen Dulles eine Außenpolitik gegeben, die ihnen mit der anderen jetzt von Kennedy wieder weggenommen wird. Sie sind gereizt.«

Leamas nickte und sagte: »Typisch Yankee.«

»Alec scheint unsere amerikanischen Vettern nicht zu mögen«, sagte Ashe, indem er sich gleich mit schwerem Geschütz einmischte, aber Kiever murmelte nur: »Wirklich?« Kiever spielte auf lange Sicht, dachte Leamas. Er ließ einen zu sich kommen, wie jemand, der an Pferde gewöhnt war. Er spielte vollendet den Mann, der den Verdacht nicht loswerden kann, dass man ihn gleich um einen Gefallen bitten werde, den er nicht gerne erwies. Nach dem Essen sagte Ashe: »Ich kenne ein Lokal in der Wardour Street - du bist schon dort gewesen, Sam. Es ist recht angenehm dort. Nehmen wir einen Wagen und fahren wir hin.«

»Moment«, sagte Leamas. Etwas in seiner Stimme veranlaßte Ashe, ihn schnell anzusehen. »Verrate mir eines, ja? Wer wird für diese Lustbarkeit zahlen?«

»Ich natürlich«, sagte Ashe schnell. »Sam und ich.«

»Habt ihr das ausgemacht?«

»Nein.«

»Weil ich kein Geld habe, verdammt! Du weißt das doch! Jedenfalls habe ich keines zum Rauswerfen.«

»Freilich, Alec. Ich habe mich doch auch bis jetzt um dich gekümmert, oder nicht?«

»Ja«, antwortete Leamas. »Ja, das hast du.«

Es sah so aus, als wolle er noch etwas sagen, überlege es sich dann aber anders. Ashe schien weniger beleidigt als vielmehr beunruhigt zu sein, und Kiever wirkte so undurchsichtig wie zuvor.

Leamas wollte während der Fahrt im Taxi nichts sagen. Ashe versuchte es mit einer versöhnlichen Bemerkung, aber Leamas zuckte nur gereizt mit den Achseln. Als sie in der Wardour Street angekommen waren, machten weder Leamas noch Kiever irgendeinen Versuch, das Taxi zu zahlen. Ashe führte sie an einem Schaufenster voller Aktmagazine vorbei, eine enge Gasse hinunter, an deren entfernterem Ende ein flimmerndes Neonschild leuchtete: »Weidenkätzchenklub. Nur Mitglieder.« Zu beiden Seiten der Tür hingen Fotos von Mädchen, über die quer dünne Papierstreifen liefen, die mit der Hand geschrieben waren: »Naturstudium. Nur Mitglieder.«

Ashe drückte auf die Glocke. Sofort wurde von einem sehr großen Mann in weißem Hemd und schwarzen Hosen aufgemacht. »Ich bin Mitglied«, sagte Ashe. »Diese zwei Herren gehören zu mir.«

»… Ihre Karte sehen?«

Ashe nahm eine gelbe Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihm.

»Ihre Gäste zahlen für sofortige Mitgliedschaft ein Pfund pro Kopf. Auf Ihre Empfehlung, recht so?« Er hielt Ashe die Karte hin, Leamas schob sich an Ashe vorbei und nahm sie. Er betrachtete sie einen Augenblick und gab sie dann zurück.

Leamas zog zwei Pfund aus der Tasche und drückte sie dem wartenden Mann in die Hand.

»Zwei Pfund für die Gäste«, sagte Leamas. Er ignorierte den erstaunten Protest Ashes, schlug den Vorhang am Klubeingang zurück und ging ins Halbdunkel voraus.

Er sagte zu dem Portier: »Verschaffen Sie uns einen Tisch und eine Flasche Scotch. Und sorgen Sie dafür, dass wir in Ruhe gelassen werden.«

Der Portier zögerte einen Augenblick, entschied sich aber dafür, nicht zu widersprechen, und geleitete sie nach unten, von wo ihnen das gedämpfte Wehklagen undeutlicher Musik entgegenklang. Sie bekamen im hinteren Teil des Raumes einen Tisch für sich. Eine Zweimannkapelle spielte, und mehrere Mädchen saßen zu zweit und zu dritt herum. Zwei waren aufgestanden, als sie hereinkamen, aber der Portier winkte ihnen ab. Ashe schaute unruhig auf Leamas, während sie auf den Whisky warteten. Kiever schien leicht gelangweilt zu sein. Der Kellner brachte eine Flasche und drei Gläser, und sie beobachteten schweigend, wie er Whisky in jedes Glas einschenkte. Leamas nahm dem Kellner die Flasche aus der Hand und goß die gleiche Menge nach. Als er damit fertig war, lehnte er sich über den Tisch und sagte zu Ashe: »Vielleicht wirst du mir jetzt erklären, was hier vor sich geht.«

»Wie meinst du das?« Ashe war unsicher. »Was meinst du damit, Alec?«

»An dem Tag, als ich entlassen wurde«, begann Leamas ruhig, »bist du mir schon vom Gefängnis nachgelaufen, und zwar mit einer albernen Geschichte über unsere angebliche Begegnung in Berlin. Dann hast du mir Geld gegeben, das du mir nicht schuldig warst. Du hast mich zu teuren Mahlzeiten eingeladen und du nimmst mich in deine Wohnung auf.«

Ashe wurde verlegen und sagte: »Wenn dir das …«

»Unterbrich mich nicht«, sagte Leamas wütend. »Warte gefälligst, bis ich fertig bin, verstanden? Deine Mitgliedskarte für dieses Lokal ist auf den Namen Murphy ausgestellt. Ist das dein Name?«

»Nein, das ist er nicht.«

»Ich nehme an, ein Bekannter namens Murphy hat dir seine Mitgliedskarte geliehen?«

»Nein, das hat er nicht. Wenn du es schon wissen mußt: ich komme manchmal her, um mir ein Mädchen aufzulesen. Ich wollte nicht mit dem richtigen Namen in den Klub eintreten.«

»Warum ist am Dolphin Square dann Murphy als der Mieter deiner Wohnung eingetragen?«

Jetzt schaltete sich Kiever ein: »Geh nach Hause«, sagte er zu Ashe. »Ich werde mich um das Weitere kümmern.«

Auf der Bühne wurde ein Striptease vorgeführt. Das Mädchen war ein junges, langweiliges Ding. Sie war von jener armseligen, spindeldürren Nacktheit, die in Verlegenheit versetzt, weil keine Erotik von ihr ausgeht und weil sie kunstlos ist, ohne Verlangen zu wecken. Sie drehte sich langsam, wobei sie nur manchmal mit einem Arm oder einem Bein zuckte, so als höre sie die Musik nur in Bruchstücken. Dabei sah sie die ganze Zeit mit dem frühreifen Interesse eines Kindes, das in die Gesellschaft von Erwachsenen geraten ist, zu ihnen her. Plötzlich steigerte die Musik ihr Tempo, und das Mädchen reagierte darauf, wie ein Hund auf die Pfeife, indem es vor und zurück hüpfte. Beim letzten Akkord nahm sie ihren Büstenhalter ab, hielt ihn über ihren Kopf und stellte ihren mageren Körper zur Schau, von dem an drei Stellen Flitter herunterhing wie alter Christbaumschmuck.

Leamas und Kiever sahen schweigend zu.

»Ich nehme an, Sie werden mir jetzt erzählen, dass wir in Berlin Besseres gesehen haben«, bemerkte Leamas schließlich. Kiever merkte, dass der andere noch immer sehr ärgerlich war.

»Ich vermute, dass Sie das haben!« entgegnete Kiever liebenswürdig. »Ich selbst bin zwar oft in Berlin gewesen, aber leider muß ich gestehen, dass ich Nachtklubs verabscheue.« Leamas schwieg. »Ich bin nicht prüde, verstehen Sie, aber ich bin vernünftig. Ich weiß billigere Methoden, um eine Frau zu finden, wenn ich eine brauche. Und wenn ich tanzen will, kenne ich bessere Lokale.« Leamas hatte ihm nicht zugehört.

»Vielleicht erzählen Sie mir, warum sich dieser warme Bruder aufgedrängt hat«, schlug er vor.

»Gern«, nickte Kiever. »Ich gab ihm den Auftrag.«

»Warum?«

»Ich bin interessiert an Ihnen. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, einen journalistischen Vorschlag.«

Eine Pause entstand.

»Aha. Einen journalistischen«, wiederholte Leamas. »Ich verstehe.«

»Ich habe eine Agentur, einen internationalen Feuilletondienst. Die Agentur zahlt gut - sehr gut - für interessantes Material.«

»Wer wird es veröffentlichen?«

»Ich zahle so gut, dass ein Mann mit Ihren Erfahrungen im … im internationalen Geschehen, ein Mann mit Ihrem Hintergrund, verstehen Sie, der überzeugendes Tatsachenmaterial liefern kann, in verhältnismäßig kurzer Zeit aus allen finanziellen Schwierigkeiten heraus wäre.«

»Wer veröffentlicht das Material, Kiever?« In seiner Stimme war ein drohender Unterton, und für einen Augenblick schien sich Angst in Kievers glattes Gesicht zu schleichen.

»Internationale Kunden. Ich habe einen Mitarbeiter in Paris, der eine Menge meines Stoffes absetzt. Oft weiß ich gar nicht einmal, wo eigentlich etwas veröffentlicht wird.« Er setzte mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu: »Ich muß gestehen, dass ich mich nicht sonderlich darum kümmere. Man zahlt und verlangt nach mehr. Sehen Sie, Leamas: meine Kunden gehören zu den Leuten, die wegen dummer Einzelheiten keine großen Geschichten machen. Sie zahlen prompt und sind noch dazu froh, wenn sie in ausländischen Banken einzahlen können, wo niemand nach Steuern fragt.«

Leamas sagte nichts. Er hielt sein Glas mit beiden Händen und starrte hinein.

Jetzt überschlägt er sich direkt, dachte Leamas, es ist schon fast unanständig. Ein alberner Varietescherz fiel ihm ein: »Dies ist ein Angebot, das kein anständiges Mädchen annehmen kann - außerdem wüßte ich nicht, ob sich's bei ihr auszahlt.«

Taktisch handeln sie richtig, wenn sie es jetzt beschleunigen, dachte er. Ich bin über meine Vorgesetzten wütend, das Gefängniserlebnis ist frisch, der soziale Groll stark. Ich bin ein alter Gaul, der nicht erst zugeritten werden muß. Ich brauche nicht so zu tun, als hätten sie die Ehre eines englischen Gentlemens verletzt. Auf der anderen Seite würden sie sachliche Einwände erwarten. Sie erwarteten sicherlich, dass er Angst bekam, denn seine Organisation war bei der Verfolgung eines Verräters so unnachsichtig wie das Auge Gottes, das Kain durch die Wüste folgte.

Aber schließlich mußten sie wissen, dass es ein Glücksspiel war. Sie waren sich sicher im klaren darüber, dass die Unberechenbarkeit jedes menschlichen Entschlusses das bestgeplante Spionagenetz zerreißen konnte, denn es gab schon Betrüger, Lügner und Verbrecher, die allen schmeichlerischen Künsten zu widerstehen vermochten, während angesehene Gentlemen allein durch den wäßrigen Kohl in einer Regierungskantine zum größten Verrat gebracht worden waren.

»Sie werden eine Menge zahlen müssen«, murmelte Leamas schließlich. Kiever schenkte ihm noch einen Whisky ein.

»Man bietet Ihnen eine Sofortzahlung von fünfzehntausend Pfund. Das Geld liegt schon bei der Kantonalbank in Bern. Sie können es gegen Vorlage eines entsprechenden Ausweises abheben, den Sie von meinem Klienten bekommen werden. Meine Klienten behalten sich das Recht vor, während des Zeitraumes von einem Jahr Zahlungen von weiteren fünftausend Pfund Fragen an Sie zu richten. Sie werden Ihnen bei irgendwelchen … na, sagen wir: Problemen der Neuordnung Ihres künftigen Lebens behilflich sein.«

»Bis wann wollen Sie eine Antwort haben?«

»Jetzt. Man erwartet nicht, dass Sie alle Ihre Erinnerungen zu Papier bringen. Sie werden meinen Klienten treffen, und er wird es arrangieren, dass Ihr Material von irgend jemandem niedergeschrieben wird.«

»Wo soll ich ihn treffen?«

»Wir waren der Ansicht, dass es für alle Beteiligten das Einfachste wäre, sich außerhalb Englands zu treffen. Mein Klient schlug Holland vor.«

»Ich habe keinen Paß«, sagte Leamas gleichgültig.

»Ich bin so frei gewesen, Ihnen einen zu besorgen«, entgegnete Kiever verbindlich. Nichts in seiner Stimme oder in seinem Benehmen ließ erkennen, dass er etwas anderes als ein angemessenes Geschäft getätigt hatte.

»Wir fliegen morgen früh um neun Uhr fünfundvierzig nach Den Haag. Wollen wir in meine Wohnung gehen und noch weitere Einzelheiten besprechen?«

Kiever zahlte, und sie fuhren per Taxi zu einer recht guten Adresse unweit des St.-James-Parks.

Kievers Wohnung war teuer und luxuriös, aber ihre Einrichtung schien in Eile zusammengestellt worden zu sein. In London soll es Geschäfte geben, die Bücher nach dem laufenden Meter verkaufen, und Innenarchitekten, die die Farbzusammenstellung der Tapeten mit der eines Gemäldes in Harmonie bringen können. Da er nicht sonderlich empfänglich für solche Feinheiten war, hätte Leamas beinahe vergessen, dass er sich in einer Privatwohnung und nicht in einem Hotel befand.

Als ihm Kiever sein Zimmer zeigte, das einen düsteren Innenhof zu lag, fragte ihn Leamas: »Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Nicht lange«, entgegnete Kiever leichthin. »Einige Monate, nicht mehr.«

»Muß eine Menge kosten. Trotzdem, ich glaube, Sie sind es wert.«

»Danke.«

Es war eine Flasche Scotch in seinem Zimmer und ein Siphon mit Soda auf einem Silbertablett. Hinter einem Vorhang am hinteren Ende des Raumes führte ein Durchgang zu Badezimmer und Toilette.

»Ein ganz nettes Liebesnest. Wird vom großen Arbeiterstaat bezahlt?«

»Seien Sie still«, sagte Kiever ärgerlich. Dann fügte er hinzu: »Falls Sie mich brauchen - es gibt ein Haustelefon zu meinem Zimmer. Ich werde wach sein.«

»Ich denke, ich werde mit meinen Knöpfen jetzt allein fertig«, gab Leamas zurück.

»Dann gute Nacht«, sagte Kiever kurz angebunden und verließ das Zimmer. Er ist auch gereizt, dachte Leamas.

Leamas wurde durch das Telefon neben seinem Ben geweckt. Es war Kiever.

»Es ist sechs Uhr«, sagte er, »Frühstück um halb sieben.«

»Gut«, erwiderte Leamas und legte auf. Er hatte Kopfweh.

Kiever mußte nach einem Taxi telefoniert haben, denn um sieben Uhr ging die Türglocke, und Kiever fragte: »Haben Sie alles?«

»Ich habe kein Handgepäck«, antwortete Leamas, »außer einer Zahnbürste und einem Rasierapparat.«

»Dafür wird gesorgt. Sind Sie sonst fertig?«

Leamas zuckte mit den Schultern. »Ich glaube ja. Haben Sie Zigaretten?«

»Nein«, gab Kiever zurück, »aber Sie können welche im Flugzeug bekommen. Ich würde Ihnen raten, sich dies hier sorgfältig anzusehen.« Er gab Leamas einen britischen Paß, der auf seinen Namen ausgestellt und mit einem Foto versehen war. Quer über die Ecke lief das Tiefdrucksiegel des Außenministeriums. Er war weder alt noch neu, beschrieb Leamas als Büroangestellten und gab seinen Personalstand als ledig an. Leamas war ein wenig nervös, als er ihn zum erstenmal in der Hand hielt.

Es war wie beim Heiraten: Was auch geschehen mochte, die Dinge würden nie wieder so sein wie zuvor.

»Wie steht's mit Geld?« fragte Leamas.

»Sie werden keines brauchen. Es geht alles auf Kosten der Firma.«

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