15 AUFFORDERUNG ZUM TANZ
Während Liz den Brief der Parteizentrale betrachtete, fragte sie sich, wie man wohl gerade auf sie gekommen war. Sie fand das etwas rätselhaft. Sie mußte zugeben, dass sie geschmeichelt war, aber warum hatten sie nicht vorher mit ihr gesprochen? Wer hatte ihren Namen ausgewählt, das Distriktskomitee oder die Zentrale? Aber ihres Wissens war sie doch niemandem in der Zentrale bekannt. Sie war freilich schon mit einigen Rednern zusammengekommen, und auf der Distriktsversammlung hatte sie dem Organisationsleiter der Partei die Hand geschüttelt. Vielleicht hatte sich dieser Mann vom Kulturaustausch ihrer erinnert. Er war ein gefälliger, etwas weibischer Mann, sehr liebenswürdig. Ashe war sein Name. Er hatte etwas Interesse an ihr gezeigt, und sie nahm an, dass er ihren Namen weitergegeben oder sich vielleicht selbst an sie erinnert hatte, als das Stipendium vergeben wurde. Ein seltsamer Mensch: er hatte sie nach der Versammlung ins »Black and White« auf einen Kaffee eingeladen, sie nach ihren Freunden ausgefragt. Dabei hatte er gar nicht verliebt getan oder so - sie hatte sich gedacht, dass er vielleicht schwul war, um ehrlich zu sein -, aber er hatte ihr unzählige Fragen über sie selbst gestellt. Wie lange sie schon in der Partei sei, ob sie Heimweh habe, da sie doch getrennt von ihren Eltern lebe? Ob sie viele Freunde habe, oder ob sie einen bestimmten vorziehe? Sie hatte sich nicht allzuviel aus ihm gemacht, aber seine Reden waren bei ihr gut angekommen: der Arbeiterstaat in der Deutschen Demokratischen Republik, der Begriff des Arbeiterdichters und all das. Bestimmt wußte er alles über Osteuropa, er mußte viel gereist sein. Sie hatte wegen seiner etwas belehrenden, gewandten Art vermutet, dass er Lehrer war. Bei der Sammlung im Anschluß an die Versammlung hatte Ashe ein Pfund gegeben; sie war verblüfft gewesen. Er hatte ihren Namen beim Londoner Distrikt erwähnt, und der Londoner Distrikt hatte ihn an die Zentrale weitergegeben, oder so ähnlich. Natürlich blieb es eine seltsame Art, derartige Angelegenheiten zu regeln. Aber diese Geheimnistuerei gehörte wohl nun einmal zu einer revolutionären Partei. Zwar machte es keinen guten Eindruck auf sie, weil es so nach Unaufrichtigkeit aussah, aber sie dachte, es sei wohl notwendig, und es gab, weiß Gott, genug Leute, für die das etwas Erregendes war. Sie las den Brief nochmals. Er trug den fettgedruckten roten Briefkopf der Zentrale und begann mit »Liebe Genossin«. Liz empfand das als unangenehm militärisch. Sie hatte sich nie richtig an »Genossin« gewöhnen können.
Liebe Genossin, wir haben uns kürzlich mit Genossen von der Sozialistischen Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik wegen der Möglichkeit eines Austausches von unseren Parteimitgliedern mit den Genossen im Demokratischen Deutschland besprochen. Es wurde geplant, die Voraussetzungen für einen Austausch der Mitglieder unserer beiden Parteien zu schaffen. Die SED weiß, dass ihren Delegierten durch die diskriminierenden Vorschriften des britischen Innenministeriums in unmittelbarer Zukunft keine Einreise ins Vereinigte Königreich möglich sein wird, aber sie glaubt, dass gerade deshalb ein Erfahrungsaustausch besonders wichtig wäre. Man hat uns großzügigerweise eingeladen, fünf erfahrene Bezirkssekretäre auszuwählen, die bereits den Nachweis erbracht haben, dass sie die Massen zu Aktionen auf den Straßen anfeuern können. Jeder ausgewählte Genosse wird drei Wochen damit verbringen, Parteiversammlungen beizuwohnen, Fortschritte in der Industrie und der sozialen Wohlfahrt kennenzulernen und aus erster Hand die Beweise der faschistischen Provokation durch den Westen zu studieren. Dies ist eine große Gelegenheit für unsere Genossen, aus den Erfahrungen eines jungen sozialistischen Systems zu lernen.
Wir haben deshalb den Distrikt ersucht, uns solche junge Arbeiter aus den Kadern seines Gebietes zu melden, die den größten Nutzen aus dieser Reise ziehen können. Ihr Name ist uns genannt worden. Wenn es sich irgendwie ermöglichen läßt, wünschen wir sehr, dass Sie an dem Austausch teilnehmen und dadurch zur Verwirklichung des zweiten Teiles in diesem Plan beitragen, nämlich zur Herstellung eines Kontaktes zwischen Ihrer eigenen Parteigruppe und einer solchen in der Deutschen Demokratischen Republik, deren Mitglieder aus einem vergleichbaren Industriemilieu stammen und ähnliche Probleme haben. Die Ortsgruppe Bayswater-Süd wird deshalb mit Neuenhagen, einem Vorort von Leipzig, in Verbindung gebracht. Frieda Lüman, Sekretärin des Neuenhagener Bezirkes, bereitet einen großen Empfang vor. Wir sind überzeugt, dass Sie die richtige Genossin für diese Aufgabe sind und dass Ihr Unternehmen ein sehr großer Erfolg wird. Alle Unkosten werden vom Kulturamt der Deutschen Demokratischen Republik getragen.
Wir sind überzeugt davon, dass Ihnen die Ehre dieses Auftrages klar ist, und wir vertrauen darauf, dass Sie sich nicht durch persönliche Überlegungen von der Ausführung des Auftrages abhalten lassen werden. Die Abreise ist für das Ende des nächsten Monats vorgesehen, also für etwa den 23. Die ausgewählten Genossen werden getrennt reisen, da ihre Einladungen nicht gleichzeitig sind. Wollen Sie uns bitte so bald wie möglich wissen lassen, ob Sie annehmen können. Wir werden Sie dann über weitere Einzelheiten unterrichten.
Je öfter sie es las, desto seltsamer kam es ihr vor: die Benachrichtigung so kurz vor dem Reisetermin, und woher wußten sie, dass sie bei der Bibliothek wegkonnte? Dann fiel ihr zu ihrer eigenen Überraschung wieder ein, dass sich Ashe nach ihren Ferienplänen und danach erkundigt hatte, ob sie in diesem Jahr bereits Urlaub genommen habe, und ob sie Urlaubstermine schon immer lange im voraus anmelden müsse. Weshalb teilte man ihr nicht mit, wer die anderen Kandidaten waren? Sicherlich gab es keinen besonderen Grund, es ihr mitzuteilen. dass man es unterließ, war dennoch sonderbar. Auch war es ein so langer Brief. Bei der Zentrale gab es so wenig Schreibkräfte, dass die Briefe gewöhnlich sehr kurz gefaßt waren, wenn man die Genossen nicht einfach bat, im Sekretariat anzurufen. Dieser hier war so sauber und gut getippt, dass er gar nicht danach aussah, als komme er von der Zentrale. Aber er war vom Kulturleiter unterzeichnet. Es war seine Unterschrift, kein Zweifel daran. Sie hatte sie oft genug auf vervielfältigten Rundschreiben gesehen. Und der Brief hatte diesen ungeschickten, halb bürokratischen, halb messianischen Stil, an den sie sich gewöhnt hatte, ohne ihn freilich zu mögen. Es war eine törichte Behauptung, dass sie Erfahrungen in der Leitung von Massenaktionen besitze. Sie besaß sie nicht. In Wirklichkeit haßte sie diese Sorte von Parteiarbeit: die Lautsprecher an den Fabriktoren, den Verkauf des Daily Worker an den Straßenecken, die Lauferei von Tür zu Tür während des Wahlkampfes. Gegen die Arbeit für den Frieden hatte sie nicht soviel einzuwenden, denn das bedeutete ihr etwas, und es hatte Sinn. Wenn man auf der Straße ging, brauchte man nur die kleinen Kinder zu sehen, die Mütter mit ihren Kinderwagen, die alten Leute vor den Haustüren, und man konnte sich sagen: »Ich tue es für sie.« Das hieß wirklich für den Frieden kämpfen.
Den Kampf um Wählerstimmen und größeren Absatz der Zeitung hatte sie noch nie in dieser Weise betrachten können. Es lag vielleicht daran, dachte sie, dass es so ernüchternd war. Es war so leicht, die Welt neu aufzubauen, in der Vorhut des Sozialismus zu marschieren und von dem unvermeidlichen Lauf der Geschichte zu sprechen, wenn man zu zehnt oder so bei einem Gruppentreffen beisammensaß. Aber anschließend mußte man mit einem Arm voll Daily Worker auf die Straße gehen und ein, zwei Stunden warten, ehe eine Nummer verkauft war. Manchmal mogelte sie, ebenso wie die anderen, und zahlte für ein halbes Dutzend Zeitungen aus eigener Tasche, nur um sie loszuwerden und nach Hause zu kommen. Beim nächsten Treffen brüsteten sie sich dann mit ihren Verkaufserfolgen. Sie vergaßen einfach, dass sie die Zeitungen selbst gekauft hatten. »Genossin Gold am Samstag achtzehn verkauft - achtzehn!« Es wurde im Protokoll vermerkt und kam ins Bulletin der Gruppe. Beim Distrikt rieb man sich die Hände, und Liz wurde vielleicht auf der ersten Seite des Bulletins in der kleinen Spalte über den Kampffonds erwähnt. Es war eine so kleine Welt, und Liz wünschte, dass man hätte ehrlicher sein können. Aber sie belog sich ja auch selbst über alles. Vielleicht machten es alle so. Oder vielleicht verstanden die anderen besser, warum man soviel lügen mußte. Es war schon so merkwürdig, wie man sie zur Sekretärin der Gruppe gemacht hatte. Mulligan hatte sie vorgeschlagen: »Unsere junge, energische und außerdem attraktive Genossin …« Er hatte geglaubt, sie werde mit ihm schlafen, wenn er ihr zum Posten der Gruppensekretärin verhalf. Die anderen hatten sie dann gewählt, weil man sie gut leiden mochte, und weil sie maschineschreiben konnte. Man nahm an, sie werde die Arbeit tun und nicht versuchen, einen an den Wochenenden auf Stimmen-Werbung zu schicken. Nicht zu oft, auf jeden Fall. Man wählte sie, weil alle einen annehmbaren kleinen Klub haben wollten, nett und revolutionär, mit nicht allzuviel Wirbel. Es war alles so ein Schwindel. Alec schien das verstanden zu haben: er hatte es nicht ernst genommen. »Manche halten Kanarienvögel, andere treten der Partei bei«, hatte er einmal gesagt. Und das war die Wahrheit. Auf jeden Fall in Bayswater-Süd, und der Distrikt wußte das genau. Aus diesem Grund war es seltsam, dass man sie ausgewählt hatte, und deshalb konnte sie eigentlich nicht glauben, dass der Distrikt auch nur etwas damit zu tun haben sollte. Sicherlich war Ashe des Rätsels Lösung. Womöglich war er gar nicht schwul, sondern sah nur so aus.
Liz zuckte etwas übertrieben mit den Achseln, wie es Menschen manchmal tun, wenn sie aufgeregt und allein sind. Es war Ausland, kostenlos, und schien interessant. Sie war noch nie im Ausland, und aus eigener Tasche hätte sie die Reisekosten nicht aufbringen können. Es würde Spaß machen. Sie hatte in Bezug auf Deutschland allerdings Vorbehalte. Sie hatte oft gehört, dass Westdeutschland militaristisch und revanchistisch, Ostdeutschland aber demokratisch und friedliebend sei. Sie bezweifelte jedoch, dass alle guten Deutschen auf der einen Seite und alle schlechten auf der anderen leben sollten. Und die schlechten hatten ihren Vater umgebracht. Vielleicht war sie deshalb von der Partei ausgesucht worden, gewissermaßen als großzügiger Akt der Versöhnung. Möglicherweise hatte Ashe schon daran gedacht, als er ihr diese Fragen stellte. Natürlich - das war die Erklärung. Plötzlich durchströmte sie ein Gefühl der Wärme und Dankbarkeit. Es waren wirklich anständige Menschen, und sie war stolz und dankbar, dieser Partei angehören zu dürfen. Sie ging zum Schreibtisch und öffnete eine Schublade, wo sie in einem alten Schulranzen das Briefpapier ihrer Ortsgruppe und die Briefmarken aufbewahrte. Sie spannte ein Blatt in ihre alte Schreibmaschine, die der Distrikt geschickt hatte, weil sie tippen konnte. Die Buchstaben sprangen manchmal, aber sonst war die Maschine in Ordnung. Liz schrieb einen netten, dankbaren Brief, in dem sie die Einladung annahm. Die Zentrale war großartig: streng, wohltätig, unpersönlich, ewig. Es waren gute Menschen. Menschen, die für den Frieden kämpften. Als sie das Schubfach schloß, erblickte sie Smileys Karte.
Es fiel ihr wieder ein, wie der kleine Mann mit dem ernsten, faltigen Gesicht in der Tür ihres Zimmers gestanden und gefragt hatte: »Wußte die Partei von Ihnen und Alec?« Wie dumm sie gewesen war. Nun, diese Reise würde sie auf andere Gedanken bringen.