6 KONTAKT

Nachts lag er auf seiner Pritsche und hörte auf die Laute der Häftlinge: das heimliche Schluchzen eines jungen Burschen und den Gesang eines alten Zuchthäuslers, der auf seinem Blechnapf den Takt dazu schlug. Ein Wärter schrie nach jedem Vers: »Halt's Maul, George, du alter Schurke«, aber niemand nahm Notiz davon. Dann war ein Ire da, der Lieder über den Freiheitskampf sang, obgleich die anderen sagten, er sei wegen Vergewaltigung eingesperrt.

Leamas versuchte, am Tage möglichst viel Bewegung zu machen, um müde zu werden und nachts schlafen zu können, aber es half nichts. Nachts wußte man, dass man im Gefängnis war: Nachts gab es nichts, was einem geholfen hätte, den ekelhaften Zustand des Gefangenseins zu vergessen, keinen Trick der Einbildungskraft, keine Selbsttäuschung. Man konnte sich weder der Gefängnisluft entziehen noch dem Geruch der eigenen Sträflingskleidung, noch dem Gestank der Kübel, noch den Geräuschen der anderen Männer. Besonders in der Nacht schien die Würdelosigkeit der Haft kaum noch erträglich, und besonders dann sehnte sich Leamas nach einem Spaziergang im freundlichen Sonnenschein eines Londoner Parks. Besonders in der Nacht empfand er gegen den grotesken Stahlkäfig, in dem er eingeschlossen war, einen so großen Haß, dass er nur schwer dem Wunsch widerstehen konnte, mit den bloßen Fäusten gegen die Käfigstangen loszugehen, die Schädel seiner Wärter einzuschlagen und in den freien Raum Londons auszubrechen. Manchmal dachte er an Liz. Er hatte sich angewöhnt, die Gedanken wie das Objektiv einer Kamera auf sie zu richten, um für einen Augenblick die Erinnerung an die Berührung ihres weichen und doch straffen Körpers zu genießen und sie dann wieder aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Leamas war ein Mann, der gewohnt war, von Träumen zu leben.

Er verachtete seine Zellengenossen, und sie haßten ihn. Sie haßten ihn, weil er das war, was jeder heimlich zu sein wünschte: ein Geheimnis. Er bewahrte einen deutlich spürbaren Teil seiner Persönlichkeit vor dem Zugriff der Gefängnisgemeinschaft, indem er sich auch in sentimentalen Augenblicken nicht dazu hinreißen ließ, über sein Mädchen, seine Familie oder seine Kinder zu sprechen. Die anderen wußten nichts von Leamas. Sie warteten darauf, dass er sich ihnen anvertraute, aber er kam nicht zu ihnen.

Es gibt im großen und ganzen nur zwei Arten von Neulingen im Gefängnis, die einen sind von Scham, Furcht oder Schock in einen Zustand des starren Schrecks versetzt, in dem sie darauf warten, in die Lehre des Gefängnislebens eingeführt zu werden, während die anderen mit ihrer elenden Neuheit hausieren gehen, um sich bei der Gemeinschaft einzuschmeicheln. Leamas tat keines von beiden. Er schien zufrieden damit zu sein, sie alle zu verachten, und sie haßten ihn, weil sie von ihm ebensowenig wie von der Welt draußen gebraucht wurden. Nach ungefähr zehn Tagen waren sie es überdrüssig. Er hatte den Großen nicht gehuldigt und den Kleinen keinen Trost gespendet, so dass man ihn in der Essensschlange rempelte. Rempeln ist ein Gefängnisbrauch, der auf die im 18. Jahrhundert üblich gewesene Technik des Quetschens zurückgeht. Er hat den Vorteil, ein scheinbarer Zufall zu sein, bei dem der Inhalt des Eßgeschirrs auf die Uniform des Gefangenen geschüttet wird. Während Leamas von der einen Seite heftig gestoßen wurde, senkte sich auf der anderen eine gefällige Hand auf seinen Unterarm, schon war die Sache bewerkstelligt. Leamas sagte nichts, sondern prägte sich nur aufmerksam die Gesichter der beiden Männer ein. Den unflätigen Wutanfall des Aufsehers, der sehr wohl wußte, was vorgefallen war, ließ er stillschweigend über sich ergehen.

Es war vier Tage später, als er während der Arbeit am Blumenbeet des Gefängnisses mit seiner Hacke zu stolpern schien. Er hielt den Stiel des Werkzeuges mit beiden Händen quer vor sich hin. Als Leamas sein Gleichgewicht zurückerlangt hatte, hielt sich sein rechter Nebenmann mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengekrümmtem Leib den Arm über die Magengrube. Danach gab es kein Rempeln mehr.

Die seltsamste von jenen Erfahrungen, die Leamas im Gefängnis machte, war seine Reaktion auf das braune Papierpaket, mit dem man ihn entließ. In lächerlicher Weise erinnerte es ihn an eine Hochzeitszeremonie: mit diesem Ring besiegle ich den Bund unserer Ehe, mit diesem Papierpaket besiegle ich deine Rückkehr in die Gemeinschaft. Als man ihm das Paket übergab, mußte er ein Formular unterschreiben. Es enthielt alles, was er auf dieser Welt besaß. Leamas empfand diesen Augenblick als den niederdrückendsten während der drei Monate, und er beschloß, das Paket wegzuwerfen, sobald er draußen war.

Er schien ein ruhiger Gefangener zu sein. Es gab keine Klagen über ihn. Der Direktor, der an seinem Fall entfernt interessiert war, schob alles dem irischen Blut zu, das er in Leamas entdeckt haben wollte.

»Was werden Sie tun«, fragte er, »wenn Sie uns hier verlassen?«

Leamas erwiderte ohne die geringste Spur eines Lächelns, dass er einen neuen Anfang machen wolle. Der Direktor meinte, dies sei ein ausgezeichneter Vorsatz.

»Wie steht's mit Ihrer Familie?« fragte er. »Könnten Sie sich mit Ihrer Frau nicht wieder versöhnen?«

»Ich werde es versuchen«, antwortete Leamas gleichgültig, »aber sie ist wieder verheiratet.«

Der Bewährungsbeamte hätte es gerne gesehen, wenn Leamas Pfleger in der Nervenheilanstalt von Buckinghamshire geworden wäre, und Leamas versprach, sich bewerben zu wollen. Er ließ sich sogar die Anschrift geben und notierte die Abfahrtszeiten der Züge nach Buckinghamshire.

»Die Strecke ist bis Great Missenden elektrifiziert«, sagte der Bewährungsbeamte, und Leamas erwiderte, das sei eine große Hilfe. Man gab ihm also das Paket, und er verließ das Gefängnis. Er fuhr mit dem Bus bis Marble Arch und ging dann zu Fuß. Er hatte etwas Geld in der Tasche und wollte sich eine gute Mahlzeit gönnen. Er hatte deshalb vor, durch den Hydepark zum Piccadilly und über den Parliament Square durch White Hall zum Strand hinunterzuwandern, wo er im großen Café am Charing-Cross-Bahnhof für sechs Shilling ein ordentliches Lendenstück bekommen konnte.

Es war ein sonniger Tag im späten Frühjahr, und in den Parkanlagen blühten Krokusse und Narzissen. Er hätte den ganzen Tag im kühlen, erfrischenden Südwind laufen können. Aber er trug noch immer das Paket, und er mußte es loswerden. Die Abfallkörbe waren zu klein für sein großes Paket. Der Versuch, es in einen von ihnen zu stopfen, wäre lächerlich gewesen. Außerdem wollte er noch ein paar Dinge herausnehmen: seine zerknitterten Papiere, wie die Versicherungskarten, den Führerschein und seinen E. 93 - was immer das war -, der in einem braunen Umschlag steckte, wie er von amtlichen Dienststellen verwendet wurde. Aber plötzlich wollte er sich nicht mehr damit abgeben. Er setzte sich auf eine Bank und legte das Paket neben sich. Dann schob er sich von dem Paket weg ans andere Ende der Bank. Nach ein paar Minuten stand er auf und ließ das Paket, wo es lag. Er hatte den Fußweg gerade erreicht, als er einen Ruf hörte. Er wandte sich um, vielleicht sogar ein wenig heftig, und sah einen Mann in einem Armeegummimantel, der ihm zuwinkte und in der anderen Hand das braune Papierpaket hielt.

Leamas hatte die Hände in den Taschen, und dort ließ er sie, während er über seine Schulter zu dem Mann im Gummimantel zurückschaute. Der Mann zögerte. Offenbar erwartete er, dass Leamas näher kommen oder zumindest Interesse zeigen würde. Statt dessen zuckte er nur mit den Achseln und ging weiter. Er kümmerte sich nicht um die weiteren Rufe des Mannes, von dem er wußte, dass er hinter ihm herkam. Er hörte seine eiligen Schritte auf dem Kies, die rasch näher kamen, und dann eine etwas atemlose und ziemlich gekränkte Stimme:

»Hallo, Sie - hören Sie doch!«

Der Mann hatte ihn fast erreicht, als Leamas stehenblieb und ihn ansah. »Ja?«

»Das ist doch Ihr Paket? Sie haben es auf der Bank liegenlassen. Warum sind Sie nicht stehengeblieben? Ich habe Sie doch gerufen!«

Der Mann war groß, mit ziemlich gekräuseltem braunem Haar. Er trug einen orangefarbenen Schlips und ein blaßgrünes Hemd. Er wirkte ein klein wenig verdrossen. Ein bißchen schwul, dachte Leamas, könnte Lehrer sein, vielleicht leitete er in einem Vorort den Theaterklub. Kurzsichtig.

»Sie können es zurücklegen«, entgegnete Leamas. »Ich will es nicht haben.«

Der Mann lief rot an: »Es ist Abfall. Sie können es doch nicht einfach dort liegenlassen«, sagte er.

»Das kann ich sehr wohl«, erwiderte Leamas. »Irgend jemand wird schon eine Verwendung dafür haben.« Er wollte weitergehen, aber der andere stand noch immer vor ihm, das Paket wie ein Baby auf beiden Armen haltend. »Gehen Sie aus dem Licht«, sagte Leamas, »wenn ich bitten darf.«

»Hören Sie«, sagte der Fremde, wobei sich seine Stimme um einen Ton hob. »Warum sind Sie so verdammt unhöflich? Ich wollte Ihnen doch nur einen Gefallen tun.«

»Wenn Sie so scharf drauf sind, mir einen Gefallen zu tun«, antwortete Leamas, »dann sagen Sie mir, weshalb Sie mir jetzt schon seit mehr als einer halben Stunde nachlaufen?«

Er ist ziemlich gut, dachte Leamas. Er hat sich bisher noch nichts anmerken lassen, man muß ihn hart anfassen.

»Ich meinte, ich hätte Sie schon einmal in Berlin gekannt, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.«

»Deshalb sind Sie mir eine halbe Stunde nachgelaufen?« Leamas' Stimme war voller Sarkasmus. Seine braunen Augen wandten sich keinen Moment vom Gesicht des anderen ab.

»Es war keine halbe Stunde. Ich hab' Sie beim Marble Arch gesehen, und mir kam's vor, als wären Sie Alec Leamas - ein Mann, von dem ich mir einmal Geld geliehen hatte. Ich hab' beim britischen Rundfunk in Berlin gearbeitet, müssen Sie wissen, und da war auch dieser Leamas, der mir Geld borgte. Ich hab' seitdem oft Gewissensbisse gehabt, und als ich Sie sah, bin ich Ihnen gefolgt, um mir Gewißheit zu verschaffen.«

Leamas schaute ihn weiterhin wortlos an. Der Kerl war doch nicht so gut, wie er zuerst gedacht hatte, aber er war immerhin gut genug. Seine Geschichte war zwar nicht sehr plausibel, aber das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war, dass er jetzt eine neue Geschichte erfunden hatte und bei ihr blieb, nachdem sein erster, fast klassisch zu nennender Annäherungsversuch von Leamas zerstört worden war.

»Ich bin Leamas«, sagte er schließlich. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«

Er sagte, sein Name sei Ashe, mit einem »E«, wie er schnell hinzufügte, und Leamas wußte, dass er log. Er tat so, als sei er noch nicht ganz davon überzeugt, dass Leamas wirklich Leamas war, so dass sie während des Mittagessens das Paket öffneten und seinen Krankenversicherungsausweis betrachteten. Wie ein paar Schwächlinge vor einem schmutzigen Foto, dachte Leamas. Ashe bestellte das Essen, wobei er den Preisen um einen Bruchteil zuwenig Beachtung schenkte, und sie tranken Frankenwein, um sich der vergangenen Tage zu erinnern. Leamas begann das Gespräch mit der Versicherung, dass er sich nicht an Ashe erinnern könne, während Ashe beteuerte, dass ihn das überrasche. Er schien verletzt. Er sagte, sie seien sich auf einer Party begegnet, die Derek Williams in seiner Wohnung unweit des Kurfürstendammes (das war richtig beschrieben) einmal gegeben habe, alle Zeitungsleute seien dagewesen, und es sei ausgeschlossen, dass sich Alec jetzt nicht mehr daran erinnern könne.

Nein, Leamas konnte sich nicht erinnern. Aber ganz bestimmt mußte er doch noch Derek Williams vom Observer kennen, diesen netten Mann, der so reizende Pizzapartys gab? Leamas hatte jedoch für Namen ein sehr schlechtes Gedächtnis, und sie sprachen schließlich vom Jahre 1954. Seit damals ist eine Menge Wasser den Berg hinuntergeflossen … Ashe - sein Vorname war William, und die meisten Leute riefen ihn Bill - erinnerte sich jedoch klar und deutlich daran. Sie hätten anregende Sachen getrunken, Brandy und Crème de Menthe, und seien alle ziemlich angeheitert gewesen. Derek habe für ein paar prächtige Mädchen gesorgt, das halbe Kabarett vom »Malkasten«, daran müßte sich Alec doch jetzt erinnern? Leamas meinte, es werde ihm alles wieder einfallen, wenn Bill noch etwas weitererzählte.

Bill erzählte tatsächlich weiter, ohne Zweifel alles frei erfunden, aber er machte es gut, indem er das Sexuelle etwas in den Vordergrund spielte und erzählte, dass sie am Ende mit drei von diesen Mädchen in einem Nachtlokal gewesen seien. Nämlich Alec, ein netter Kerl vom politischen Beratungsbüro und Bill. Er selbst sei in Verlegenheit gewesen, weil er kein Geld bei sich gehabt habe, Alec habe bezahlt, und da Bill eines der Mädchen mit heimnehmen wollte, habe ihm Alec noch einen Hunderter geliehen.

»Aber klar!« rief Leamas. »Jetzt erinnere ich mich. Natürlich!«

»Ich war sicher«, sagte Ashe glücklich, indem er Leamas über sein Glas hinweg zunickte. »Laß uns noch einen trinken. Es ist so gemütlich.«

Ashe war ein Musterbeispiel jenes Typs, der seine Beziehungen zu anderen Menschen nach dem Prinzip von Angriff und Nachgiebigkeit gestaltet. Wo er Weichheit spürte, stieß er vor, wo er Widerstand fand, wich er zurück. Da er selbst weder eine bestimmte Meinung noch Geschmack besaß, verließ er sich stets auf das Urteil seiner jeweiligen Begleitung. Er hätte ebensogern Tee bei »Fortnum« wie Bier im Aussichtslokal von Whitby getrunken, wäre mit gleicher Begeisterung zur Militärmusik im St.-James-Park wie zum Jazz in einem Keller der Compton Street gegangen, und bei der Schilderung des Elends in dem farbigen Viertel von Sharpeville hätte seine Stimme ebenso bereitwillig vor Mitleid gebebt wie vor Zorn, wenn er über das Anwachsen der Negerbevölkerung in England gesprochen hätte. Leamas widerte diese ausgesprochen passive Art an, sie weckte die Kampflust in ihm, und er steuerte Ashe im Lauf des Gespräches mit spielender Leichtigkeit dauernd in Positionen hinein, in denen der andere festgelegt war, während er selbst sich zurückzog, so dass Ashe ständig versuchen mußte, aus jenen Sackgassen wieder herauszukommen, in die ihn Leamas gelockt hatte. Während des Nachmittags gab es Augenblicke, in denen die perverse Unverschämtheit von Leamas es Ashe ohne weiteres erlaubt hätte, das Gespräch abzubrechen - nicht zuletzt deshalb, weil er ja dafür zahlte. Aber Ashe überhörte dies alles geflissentlich und blieb.

Hätte der traurige kleine Mann am Nebentisch, der hinter seiner Brille in ein Buch über die Fabrikation von Kugellagern vertieft war, ihrer Unterhaltung zugehört, so hätte er zu dem Schluß kommen müssen, dass Leamas gerade seiner sadistischen Neigung freien Lauf ließ - oder, wäre er ein Mann von besonderem Scharfsinn gewesen, dass sich Leamas gerade eine Bestätigung dafür zu verschaffen suchte, dass nur ein sehr triftiger verborgener Grund einen Mann dazu bringen konnte, sich diese Behandlung gefallen zu lassen.

Es war fast vier Uhr, bevor sie die Rechnung verlangten, und Leamas versuchte ernsthaft, seinen Anteil zu zahlen. Aber Ashe wollte davon nichts hören, bezahlte die Rechnung und nahm ein Heft mit Überweisungsformularen heraus, um seine alte Schuld zu begleichen.

»Zwanzig von den Besten«, sagte er und füllte das Datum auf dem Formular aus. Dann schaute er Leamas treuherzig an. »Übrigens, eine Überweisung ist dir doch recht, wie?«

Leamas erwiderte etwas verlegen: »Ich stehe im Moment mit keiner Bank in Verbindung - bin gerade erst aus dem Ausland zurück und muß das erst regeln. Gib mir lieber einen Scheck, den ich bei deiner Bank einlösen kann.«

»Daran würde ich nicht im Traum denken, mein Lieber. Du müßtest nach Rotherhithe hinausfahren, um den zu kassieren.«

Leamas zuckte mit den Achseln, und Ashe lachte. Sie kamen überein, sich morgen mittag am gleichen Ort wieder zu treffen. Ashe werde das Geld in bar bringen.

An der Compton Street nahm Ashe ein Taxi, und Leamas winkte ihm nach, bis er außer Sicht war. Als der Wagen fort war, schaute er auf seine Uhr. Es war vier. Er nahm an, dass er noch beobachtet würde. Deshalb ging er die Fleet Street hinunter und trank eine Tasse Kaffee bei »Black and White«. Er schaute Buchläden an, las die Abendzeitungen, die in Schaukästen an den Verlagsgebäuden ausgehängt waren, und sprang dann plötzlich, so als sei ihm auf einmal etwas eingefallen, in einen Bus. Der Bus fuhr nach Ludgate Hill. In der Nähe einer U-Bahn-Station gab's eine Verkehrsstockung, die Leamas dazu benützte, abzuspringen und mit irgendeinem Zug der U-Bahn weiterzufahren, nachdem er eine Sechspennykarte gekauft hatte. Er stellte sich in den hintersten Wagen und stieg schon auf der nächsten Station wieder aus, wo gerade ein Zug nach Euston stand. Von dort fuhr er nach Charing Cross zurück. Es war neun Uhr, als er den Bahnhof erreichte, und ziemlich kalt. Auf dem Bahnhofsvorplatz wartete ein Lieferwagen, dessen Fahrer schlief. Leamas las das Nummernschild, ging hin und rief durch die Scheibe:

»Sind Sie von Clements?« Der Fahrer schreckte hoch und fragte:

»Mr. Thomas?«

»Nein«, antwortete Leamas. »Thomas konnte nicht kommen. Ich bin Amies aus Hounslow.«

»Steigen Sie ein, Mr. Amies«, erwiderte der Fahrer und machte die Tür auf. Sie fuhren Richtung King's Road. Der Fahrer kannte den Weg.

Der Chef öffnete die Tür. »George Smiley ist nicht da«, sagte er. »Ich habe sein Haus geliehen. Kommen Sie herein.«

Erst als Leamas drinnen und die Eingangstür geschlossen war, schaltete der Chef das Licht in der Diele ein.

»Ich wurde bis Mittag beschattet«, sagte Leamas. Sie gingen in den kleinen, mit Büchern gefüllten Wohnraum. Es war ein hübsches Zimmer, an der hohen Decke waren Stuckarbeiten aus dem 18. Jahrhunden, es hatte hohe Fenster und einen guten Kamin.

»Sie haben heute morgen Kontakt mit mir aufgenommen. Ein Mann namens Ashe.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ein Schwuler. Wir treffen uns morgen wieder.«

Der Chef hörte sich die Geschichte von Leamas Etappe für Etappe aufmerksam an, beginnend bei dem Tag, an dem Leamas den Krämer niedergeschlagen hatte, bis zur Begegnung mit Ashe.

»Wie war's im Gefängnis?« erkundigte sich der Chef. Genausogut hätte er fragen können, ob Leamas einen angenehmen Urlaub verbracht hatte. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen nicht mit kleinen Sondergeschichten gewisse Erleichterungen verschaffen konnten, aber das wäre ungeschickt gewesen.«

»Natürlich!«

»Man muß konsequent sein. Bei jeder Wende muß man konsequent sein. Außerdem wäre es falsch, den Reiz der Echtheit zu zerstören. Ich habe gehört, dass Sie krank waren. Das tut mir leid. Was war es?«

»Nur Fieber.«

»Wie lange waren Sie im Bett?«

»Ungefähr zehn Tage.«

»Wie unangenehm! Und niemand, der Sie versorgt hat, natürlich?«

Es entstand eine lange Pause.

»Sie wissen, dass sie in der Partei ist, wie?« fragte der Chef ruhig.

»Ja«, entgegnete Leamas. Wieder Schweigen. »Ich wünsche nicht, dass sie da hineingezogen wird.«

»Warum sollte sie?« fragte der Chef scharf. Leamas dachte für einen Augenblick, freilich nicht länger als einen Augenblick, er habe die Fassade fast wissenschaftlicher Unbeteiligtheit durchdrungen.

»Wer sagt, dass sie hineingezogen werden sollte?«

»Niemand«, erwiderte Leamas. »Ich weise nur darauf hin. Ich weiß, wie solche Dinge laufen - alle Operationen mit Angriffscharakter. Sie erzeugen unvorhergesehene Nebenwirkungen, machen plötzliche Wendungen in unerwarteter Richtung, man glaubt, dass man den einen Fisch gefangen hat, und entdeckt, dass es ein anderer ist. Ich wünsche, dass sie aus der Sache herausgehalten wird.«

»Oh, gewiß, gewiß.«

»Wer ist dieser Mann auf dem Arbeitsamt - Pitt? War er nicht während des Krieges im Rondell?«

»Ich kenne niemanden dieses Namens. - Pitt, sagten Sie?«

»Ja.«

»Nein. Mir unbekannt. Im Arbeitsamt?«

»Ja doch! Himmel noch mal!« sagte Leamas gereizt.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Chef und stand auf. »Ich vernachlässige meine Pflichten als stellvertretender Gastgeber. Wollen Sie etwas trinken?«

»Nein. Ich will noch heute hier weg, Chef. Ich möchte aufs Land und mir etwas Bewegung machen. Ist das Haus offen?«

»Ich habe einen Wagen bestellt«, sagte er. »Um welche Zeit treffen Sie morgen Ashe - ein Uhr?«

»Ja.«

»Ich werde nun Haldane anrufen und ihm sagen, dass Sie etwas Fruchtsaft wünschen. Sie würden auch besser einen Arzt aufsuchen. Wegen des Fiebers.«

»Ich brauche keinen Arzt.«

»Wie Sie wollen.«

Der Chef schenkte sich einen Whisky ein und begann uninteressiert die Bücher in Smileys Bücherschrank anzusehen.

»Warum ist Smiley nicht hier?« fragte Leamas.

»Er mag die Sache nicht«, antwortete der Chef gleichgültig. »Er findet sie widerwärtig. Er sieht zwar die Notwendigkeit ein, will aber nichts damit zu tun haben.« Mit einem sonderbaren kleinen Lächeln fügte der Chef hinzu: »Sein Fieber läßt merklich nach.«

»Man kann nicht sagen, dass er mich mit offenen Armen empfing.«

»Ganz recht. Er will nicht teilnehmen. Aber er hat Ihnen von Mundt erzählt und Ihnen den Hintergrund geschildert?«

»Ja.«

»Mundt ist ein sehr harter Mann«, sagte der Chef nachdenklich. »Wir sollten das nie vergessen. Und ein hervorragender Abwehrspezialist.«

»Weiß Smiley den Grund für die Operation? Kennt er die besondere Bedeutung?«

Der Chef nickte und nahm einen Schluck Whisky.

»Und er mag es trotzdem nicht?«

»Es ist keine Frage moralischer Überlegungen. Er ist wie ein Chirurg, der kein Blut mehr sehen möchte. Es genügt ihm, wenn andere operieren.«

Leamas gab sich nicht zufrieden: »Sagen Sie mir, woher Sie so sicher wissen, dass wir mit dieser Operation unser Ziel erreichen werden. Woher wissen Sie, dass die Ostdeutschen dahinterstecken und nicht die Tschechen oder die Russen?«

»Seien Sie versichert«, sagte der Chef etwas schwulstig, »dass man sich darum gekümmert hat.«

Als sie zur Tür kamen, legte der Chef seine Hand leicht auf Leamas' Schulter. »Dies ist Ihr letzter Auftrag«, sagte er. »Nachher können Sie aus der Kälte hereinkommen. Wegen des Mädchens: Wollen Sie, das irgend etwas ihretwegen unternommen wird - Geld oder so etwas?«

»Wenn es vorüber ist. Ich werde dann selbst für sie sorgen.«

»Richtig. Es wäre sehr gefährlich, jetzt etwas zu tun.«

»Ich will, dass sie in Frieden gelassen wird«, wiederholte Leamas mit Nachdruck. »Ich will nur nicht haben, dass man mit ihr Geschichten macht. Ich wünsche nicht, dass ein Akt angelegt wird oder etwas Ahnliches. Ich will, dass sie vergessen wird.«

Er nickte dem Chef zu und schlüpfte in die Nachtluft hinaus. In die Kälte.

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